Der Hunger in der Welt

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Schreiben

Päpstlicher Rat Cor Unum
im Pontifikat von Papst
Johannes Paul II.
Der Hunger in der Welt - Eine Herausforderung für alle - Solidarische Entwicklung
4. Oktober 1996

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; auch in: VAS 128 oder in: DAS 1996, 1055-1110)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Inhaltsverzeichnis

GELEITWORT

Voller Zustimmung übergebe ich der Öffentlichkeit das Dokument »Der Hunger in der Welt. Eine Herausforderung für alle: solidarische Entwicklung«. Der Päpstliche Rat »Cor Unum« hat es mit großer Sorgfalt erarbeitet, und zwar auf Anweisung des Heiligen Vaters Johannes Pauls II. Der Nachfolger Petri hat sich immer wieder zur Stimme derer gemacht, denen das Existenzminimum fehlt — so auch in diesem Jahr in seiner Botschaft für die Fastenzeit: »Die Masse der Hungernden, die aus Kindern, Frauen, alten Menschen, Auswanderern, Flüchtlingen und Arbeitslosen besteht, erhebt zu uns ihren Schmerzensschrei. Sie flehen uns an in der Hoffnung, Gehör zu finden«.

Das Dokument steht auf dem Boden der von Christus seinen Jüngern hinterlassenen Lehre. Jesu Person und Wort haben ja zur Mitte die Botschaft »Gott ist Liebe« (1 Joh 4, 8) - eine Liebe, die den Menschen erlöst und ihn seinem vielfältigen Elend entreibt, um ihm seine volle Würde zurückzugeben. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Kirche auf unzählige Weise diese Absicht Gottes vollzogen. Ihre Geschichte könnte auch geschrieben werden als eine Geschichte der Liebe zu den Armen: Glaubende bezeugen ihren bedürftigen Mitmenschen die Liebe Christi, der sein Leben für den Nächsten gibt.

Die hier veröffentlichte Studie möchte die Christen für ihren Dienst zurüsten, sich der Not des heutigen Menschen anzunehmen. Die in ihr behandelten Inhalte sind höchst aktuell. Sie zeigen den Hunger in der Welt auf, sowie die ethischen Implikationen einer Problematik, die alle Menschen guten Willens angeht. Die Publikation ist von besonderem Gewicht für die Vorbereitung des Großen Jubiläums 2000, das die Kirche zu feiern sich anschickt. Der Geist der Stellungnahme verdankt sich nicht irgendeiner Ideologie, sondern er lässt sich von der Logik des Evangeliums leiten und lädt dazu ein, die Nachfolge Christi im Alltag zu leben. Ich kann mir nur eine weite Verbreitung dieses Dokuments wünschen und hoffe, dass es zur Formung des Gewissens beiträgt, damit sich die Menschen stärker als bisher von Gerechtigkeit und Solidarität leiten lassen.

† Kardinal Angelo Sodano

Kardinalstaatssekretär
Vatikanstadt, den 4. Oktober 1996, Fest des Hl. Franz von Assisi.

DER HUNGER IN DER WELT. EINE HERAUSFORDERUNG FÜR ALLE: SOLIDARISCHE ENTWICKLUNG

»Der Umfang des Problems führt uns zur Prüfung der Strukturen und Mechanismen im Bereich der Finanzen und des Geldwertes, der Produktion und des Handels, die mit Hilfe von verschiedenen politischen Druckmitteln die Weltökonomie beherrschen: sie zeigen sich unfähig, die aus der Vergangenheit überkommenen Ungerechtigkeiten aufzufangen oder den Herausforderungen und ethischen Ansprüchen der Gegenwart standzuhalten. Indem sie den Menschen selbstverursachten Spannungen aussetzen, in beschleunigtem Tempo die Reserven an Rohstoffen und Energie vergeuden und den geophysischen Lebensraum schädigen, bewirken sie, dass sich die Zonen des Elends mit ihrer Last an Angst, Enttäuschung und Bitterkeit unaufhörlich weiter ausdehnen... Man wird auf diesem schwierigen Weg der unbedingt notwendigen Veränderung der Strukturen des Wirtschaftslebens nur dann Fortschritte machen, wenn eine wahre Umkehr der Mentalität, des Willens und des Herzens stattfindet. Die Aufgabe erfordert den entschlossenen Einsatz der Menschen und Völker in Freiheit und Solidarität«.

(Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis, 1979, Nr. 16)


HINFÜHRUNG<ref> Das Dokument wurde in französischer Sprache verfasst. Bei seiner Ausarbeitung wurden unterschiedliche neuere Studien berücksichtigt. Wenn sie in vorliegendem Text zitiert werden, so kommt dies dennoch nicht notwendig einer Zustimmung ihres gesamten Inhalts gleich.</ref>

Das Recht auf Ernährung ist eines der Prinzipien, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte<ref>Vgl. UNO (Organisationen der Vereinten Nationen), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet und verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, Art. 25.1.</ref> im Jahre 1948 verkündet worden sind.

Die Erklärung über Fortschritt und Entwicklung im sozialen Bereich wies 1969 darauf hin, dass es gilt, »den Hunger und die Mangelernährung zu beseitigen und das Recht auf angemessene Ernährung zu garantieren«.<ref>UNO, Erklärung über Fortschritt und soziale Entwicklung, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 2542 (XXIV) vom 11. Dezember 1969, II, Art. 10b.</ref> Desgleichen unterstreicht die 1974 verabschiedete Allgemeine Erklärung zur endgültigen Beseitigung von Hunger und Mangelernährung, dass jeder Mensch »das unveräußerliche Recht darauf hat, von Hunger und Mangelernährung befreit zu werden, um sich frei entfalten und seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten erhalten zu können«.<ref>UNO, Welternährungskonferenz, Rom, 16. November 1974, Punkt 1.</ref>

1992 erkennt die Weltdeklaration zur Ernährung den »gefahrlosen Zugang zu angemessenen Nahrungsmitteln zur Ernährung als allgemeines Recht«<ref>FAO (Food and Agriculture Organisation - Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen) und WHO (Weltgesundheitsorganisation), Welternährungskonferenz, Weltdeklaration zur Ernährung, Schlussbericht der Konferenz, Punkt 1, 1992.</ref> an.

Diese Definitionen sind eindeutig. Das Gewissen der Öffentlichkeit hat sich unmißverständlich geäußert. Und doch leiden immer noch Millionen Menschen an Hunger, Mangelernährung oder unter den Folgen ihrer prekären Ernährungssituation. Ist diese Situation in einem Mangel an Lebensmitteln begründet? Mitnichten! Es ist allgemein bekannt, dass die Ressourcen der Erde - als eine Gröbe betrachtet - alle Bewohner ernähren können.<ref>Vgl. ibidem Punkt 1. Vgl. auch FAO, Dimensions of Need. Atlas der Landwirtschaft und Ernährung, Rom 1995, S.16: »Unsere Erde könnte durchaus jedem ihrer Bewohner täglich Nahrung mit einem durchschnittlichen Brennwert von 2700 Kalorien zuführen, also genug, um seinen Energiehaushalt aufrechtzuerhalten, Aber die Nahrungsmittel werden ungleichmäßig produziert und verteilt. Einige Länder produzieren mehr als andere, und letztendlich entscheiden Verteilungswege und Einkommen der Haushalte über den Zugang zu Nahrungsmitteln«.</ref> Tatsächlich sind die pro Person zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel in den letzten Jahren weltweit um ca. 18% gestiegen.<ref>Vgl. FAO, Landwirtschaft: Horizont 2010, Doc. c 9324, Rom 1993, 1.</ref>

Die Herausforderung an die gesamte Menschheit ist natürlich wirtschaftlicher und technischer, aber vor allem ist sie ethischer, spiritueller und politischer Natur. Es geht gleichermaßen um gelebte Solidarität und Entwicklung, die diesen Namen verdient, und um materiellen Fortschritt.

1. Die Kirche geht davon aus, dass man bei der Behandlung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Fragen die transzendente Dimension des Menschen nicht außer acht lassen darf. So lehrten schon die griechischen Philosophen, die die westliche Welt grundlegend geprägt haben, dass der Mensch aus eigener Kraft die Wahrheit, das Gute und die Gerechtigkeit nur finden und ihnen nacheifern kann, wenn sein Geist von göttlicher Kraft erleuchtet ist.

Eben solche göttliche Kraft ist es, die es der menschlichen Natur ermöglicht, die selbstlose Pflichterfüllung am Nächsten zu berücksichtigen. So besagt die christliche Lehre, dass die göttliche Gnade den Menschen befähigt, nach Gottes Einsicht<ref>Vgl. Conc. Oecum. Vat. II, Pastorale Konstitution Gaudium et spes (1965), Nr. 40: »So geht denn diese Kirche... den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft. Dieses Ineinander des irdischen und himmlischen Gemeinwesens kann nur im Glauben begriffen werden...«.</ref> zu handeln. Und doch ruft die Kirche alle Menschen guten Willens auf, die gewaltige Aufgabe zu erfüllen. Das 2. Vatikanische Konzil betonte: »Speise den vor Hunger Sterbenden, denn ihn nicht speisen heißt ihn töten«.<ref>Conc. Oecum. Vat. II, Pastorale Konstitution Gaudium et spes (1965), Nr. 69.</ref>

Eine solch ernste und gewichtige Aussage fordert jeden einzelnen dazu auf, sich entschieden dem Kampf gegen den Hunger zu stellen.

2. Die Dringlichkeit des Problems hat den Päpstlichen Rat dazu veranlaßt, Elemente einer entsprechenden Untersuchung hier vorzulegen; es ist seine Pflicht, an die Verantwortung der Gemeinschaft und jedes einzelnen zu appellieren, damit probatere Lösungen gefunden werden können. Er unterstützt jeden, der sich bereits mit großer Hingabe diesem hehren Ziel verschrieben hat.

Das vorliegende Dokument hat es sich zum Ziel gesetzt, die Ursachen und Auswirkungen des Phänomens »Hunger in der Welt« umfassend, wenn auch nicht erschöpfend, zu analysieren und zu beschreiben. In unserer Arbeit haben wir uns vom Licht des Evangeliums und der kirchlichen Soziallehre leiten lassen. Wir verfolgen nicht in erster Linie ein konjunkturelles Ziel; daher werden wir uns nicht bei Statistiken aufhalten, die die momentane Situation beschreiben oder die errechnet haben, wieviele Menschen Gefahr laufen, Hungers zu sterben, wieviel Prozent der Menschheit unterernährt sind, welche Regionen am meisten bedroht sind, und welche wirtschaftlichen Maßnahmen dagegen einzuleiten sind. Das vorliegende Dokument gründet sich auf den seelsorgerlichen Auftrag der Kirche und möchte an seine Mitglieder und an die gesamte Menschheit einen Dringlichkeitsappell richten, denn die Kirche ist »erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen, und diese Erfahrung veranlaßt sie, ihre religiöse Sendung notwendigerweise auf die verschiedenen Bereiche auszudehnen, in denen Männer und Frauen wirken, um im Einklang mit ihrer Würde als Person das stets begrenzte Glück zu suchen, das in dieser Welt möglich ist«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987), Nr. 41.</ref> Heute richtet die Kirche dieselbe anklagende Frage an die Menschheit, die Gott an Kain richtete, als er von ihm Rechenschaft über das Leben seines Bruders Abel forderte: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden« (Gen 4, 10). Es ist weder ungerecht noch beleidigend, dieses harte, fast unerträgliche Wort auf die Situation unserer Mitmenschen anzuwenden, die den Hungertod sterben: Dieses Bibelwort zeigt uns das vorrangige Ziel und soll unser Gewissen aufrütteln. Es wäre eine Illusion, vorgefertigte Lösungen für das Problem zu erwarten; wir stehen vor einem Phänomen, das eng mit den wirtschaftlichen Entscheidungen der Regierungen, der Verantwortlichen, aber auch der Produzenten und Konsumenten verknüpft ist; es gründet auch in unserem Lebensstil. So wendet sich dieser Appell an jeden einzelnen, und wir geben die Hoffnung nicht auf, dass eine entscheidende Verbesserung durch wachsende Solidarität zwischen den Menschen gelingen wird.

Dieses Dokument richtet sich an die Katholiken in der ganzen Welt, an die Verantwortlichen auf nationaler und internationaler Ebene, die Verantwortung und Kompetenz auf sich vereinen; aber es möchte auch alle humanitären Organisationen und jeden Menschen guten Willens ansprechen. Es hofft, besonders die unzähligen Menschen verschiedenster Lebens- und Berufssituationen zu erreichen, die sich täglich dafür einsetzen, dass allen Völkern das gleiche Recht zugestanden wird, »mit am Tisch des gemeinsamen Mahles zu sitzen«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987), Nr. 33; vgl. auch Paul VI., Enzyklika Populorum progressio (1967), Nr. 7.</ref>

I. HUNGER ALS REALITÄT

Die Herausforderung des Hungers

4. Die Erde könnte gegenwärtig den Nahrungsbedarf jedes Menschen decken.<ref>Vgl. FAO, Dimensions of Need. Atlas der Nahrungsmittel und der Landwirtschaft, Rom 1995, S. 15. Vgl. auch Fußnote 6.</ref>


Eine Schande für die Menschheit, aber immer noch Realität:
Hunger zerstört Leben

5. Hunger und Mangelernährung dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Hunger gefährdet nicht nur das Leben des Menschen, sondern auch seine Würde. Unzureichende Nahrungszufuhr über einen längeren Zeitraum zerstört den Organismus, führt zu Apathie, Verlust des Gemeinsinns, Gleichgültigkeit, manchmal sogar zu Grausamkeit gegenüber Kindern und alten Menschen, also den Schwächsten. Ganze Gruppen von Menschen sind dazu verdammt, elendig zu sterben. Im Laufe der Geschichte hat sich diese Tragödie mehrfach wiederholt; unser Gewissen erkennt heute jedoch besser als früher, dass der Hunger eine Schande für die Menschheit ist.

Bis ins 19. Jahrhundert hatten die Hungersnöte, die ganze Völker dezimierten, meist natürliche Ursachen. Die Hungersnöte unserer Zeit sind regional begrenzt und in den meisten Fällen vom Menschen verursacht. Hier einige Fälle, die dies belegen: Äthiopien, Kambodscha, das ehemalige Jugoslawien, Ruanda, Haiti... In einer Zeit, da der Mensch besser als früher in der Lage ist, Hungersnöte zu bekämpfen, stellen diese Beispiele eine wirkliche Schande für die Menschheit dar.

Mangelernährung raubt der Bevölkerung Gegenwart und Zukunft

6. Die enormen Anstrengungen, die unternommen worden sind, haben bereits Früchte getragen, und doch müssen wir zugeben, dass Mangelernährung weiter verbreitet ist als Hunger und dab sie viele verschiedene Gesichter hat. Man kann sich falsch ernähren, ohne Hunger zu leiden. Dennoch wirkt sich Mangelernährung negativ auf die körperlichen, intellektuellen und sozialen Fähigkeiten des Menschen aus.<ref>Vgl. Alan Berg, Malnutrition: What can be done? Lesson from World Bank experience, The John Hopkins University Press für World Bank, Baltimore MD 1987.</ref> Mangelernährung kann eine qualitativ schlechte Ernährung als Ursache haben, also eine unausgewogene Ernährung meinen und sowohl Mangel als auch Überfluss beinhalten. Meist jedoch bedeutet Mangelernährung gleichzeitig auch quantitativ mangelhafte Ernährung, die in Hungerzeiten akut wird. Man spricht hier auch von Unterernährung.<ref>Studien der FAO und der WHO haben gezeigt, dass der Mensch mind. ca. 2100 Kcal pro Tag benötigt, wenn der Kalorienverbrauch pro Tag den 1,55-fachen Grundstoffwechsel ausmachen soll: unterhalb dieser Grenze kann eine Person als chronisch unterernährt bezeichnet werden (Vgl. FAO und WHO, Welternährungskonferenz, Ernährung und Entwicklung. Eine Gesamtbewertung, Rom, 1992). Es gibt heute noch ca. 800 Mio. unterernährte Menschen auf der Welt: Im Durchschnitt benötigt ein Erwachsener ca. 2500 Kcal pro Tag. Während die Menschen in den Industrieländern täglich ca. 800 überflüssige Kcal. zu sich nehmen, müssen sich die Menschen in den Entwicklungsländern mit zwei Dritteln dieser Menge zufriedengeben. (Vgl. Le Sud dans votre assiette. L'interdépendance alimentaire mondiale, Ottawa, CRDI, 1992, S. 26).</ref> Durch Mangelernährung können sich verschiedene Infektionskrankheiten und Endemien schneller ausbreiten; weiterhin ist sie für einen Anstieg der Kindersterblichkeit, besonders bei Kindern unter fünf Jahren, die Ursache.

Hauptopfer: die schwächsten Völker

7. Die Hauptopfer von Hunger und Mangelernährung in der Welt sind die Armen. Arm zu sein heißt fast immer auch, leichter den zahlreichen Gefahren, die den Menschen bedrohen, zu unterliegen, und anfälliger für körperliche Krankheiten zu sein. Seit den 80er Jahren bedroht dieses Phänomen in zunehmendem Maße eine immer größere Anzahl von Menschen in den meisten armen Ländern. In einer armen Bevölkerung sind die ersten Opfer immer die Schwächsten: Kinder, Schwangere, stillende Mütter, Kranke und Alte. Weitere Risikogruppen in diesem Sinne sind Flüchtlinge, Vertriebene und Opfer politischer Ereignisse. Traurige Spitzenreiter in der Hungerstatistik sind jedoch die 42 am wenigsten entwickelten Länder, allein 28 davon liegen in Afrika.<ref>Vgl. Dokument der UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) zur Vorbereitung der zweiten Konferenz der Vereinten Nationen zu den am wenigsten entwickelten Ländern, Paris 1990.</ref> »Fast 780 Millionen Einwohner der Entwicklungsländer, das entspricht 20% der Gesamtbevölkerung - sind immer noch nicht in der Lage, sich täglich die für ihr körperliches Wohlergehen benötigten Nahrungsmittel zu beschaffen«.<ref>FAO und WHO, Welternährungskonferenz. Weltdeklaration zur Ernährung, Schlussbericht der Konferenz, Punkt 2, Rom 1992.</ref>

Hunger gebiert Hunger

8. In den Entwicklungsländern kommt es häufig vor, dass die Bevölkerung als Selbstversorger von einer Landwirtschaft abhängig ist, die zu wenig Ertrag bringt. Folge davon ist, dass die Menschen zwischen zwei Ernten Hunger leiden müssen. Wenn die vorhergehende Ernte schon schlecht gewesen ist, kann eine Hungersnot die Folge sein und zu akuter Mangelernährung führen: Der Organismus wird geschwächt, die Menschen verlieren ihre Kräfte genau in dem Moment, da sie sie für die Vorbereitung der nächsten Ernte dringend bräuchten. Der Hunger raubt ihnen ihre Zukunft: Man ißt die Saat, man treibt Raubbau mit den natürlichen Ressourcen, und das beschleunigt Erosion, Ermüdung und Versteppung der Böden.

Neben der Unterscheidung zwischen Hunger (oder Hungersnot) und Mangelernährung muss noch als drittes Merkmal die unsichere Ernährungssituation erwähnt werden: Sie hat Hunger, bzw. Hungersnot zur Folge. Sie hindert die Menschen daran, zu planen und die langfristigen Arbeiten in Angriff zu nehmen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen.<ref>Vgl. Weltbank, Poverty and Hunger, 1986. Dieses Dokument beschreibt die Abstufungen der unsicheren Ernährungssituation (als Übergangsphase oder als Dauerzustand), die wirtschaftlichen Gründe dieser Situation und die Möglichkeiten, um ihr mittel-, aber auch möglichst langfristig zu begegnen. Diese Unterscheidung ist nützlich, aber sie lässt leider den Zusammenhang zwischen den einzelnen Gründen außer acht. So wird nicht deutlich, wie die einzelnen Gründe gewichtet werden müssen; einige Ursachen sind gleichzeitig Auswirkungen tieferliegender Gründe. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung bedeutete zunächst eine umweltverträgliche Entwicklung. Heute beinhaltet der Begriff auch die Dauerhaftigkeit der Entwicklung. </ref>

Erkennbare Gründe

9. So gewichtig klimatische Faktoren und Katastrophen aller Art auch sein mögen, sie stellen keinesfalls die einzigen Gründe für Hunger und Mangelernährung dar. Um das Problem des Hungers wirklich zu verstehen, müssen die Gründe - solche, die von der Konjunktur abhängen und solche, die von dauerhafter Natur sind - in ihrer Gesamtheit betrachtet und auf ihren Zusammenhang hin untersucht werden. Wir werden die Hauptursachen darstellen und sie in die hierfür üblichen Kategorien einteilen: wirtschaftliche, sozialekulturelle und politische Gründe.

A. WIRTSCHAFTLICHE GRÜNDE

Die tieferliegenden Ursachen

10. Hunger entsteht zunächst einmal aus Armut. Ernährungssicherheit hängt hauptsächlich von der Kaufkraft der Menschen ab und nicht von der physischen Verfügbarkeit der Nahrung.<ref>Vgl. Weltbank, Poverty and Hunger, 1986.</ref> Hunger existiert in allen Ländern: Er ist in den west- und osteuropäischen Ländern erneut aufgetreten, und er ist in den weniger entwickelten Ländern sehr verbreitet.

Dennoch zeigt die Geschichte des 20. Jahrhundert, dass wirtschaftliche Armut kein unabwendbares Schicksal ist. Zahlreiche Länder haben einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und machen hierbei weiter Fortschritte; andere hingegen schlittern immer tiefer in die Armut. Sie sind Opfer einer nationalen oder internationalen Politik, die von falschen Prämissen ausgeht.

Hunger entsteht aus folgenden Gegebenheiten:

a) Eine nicht optimale Wirtschaftspolitik in allen Ländern; schlechte Politik in den Entwicklungsländern wirkt sich indirekt, aber dennoch in besonders starkem Maße auf die wirtschaftlich Schwachen aller Länder aus.

b) Strukturen und Gewohnheiten, die die Ressourcen des Landes wenig effizient nutzen oder sogar schlicht zerstören:

– Auf nationaler Ebene in den entwicklungsschwachen<ref>Der französische Ausdruck pays en mal de développement übersteigt eine blob ökonomische Betrachtungsweise. Er wird auf die Länder angewandt, deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung einen hohen Preis an menschlichem Verzicht und an finanziellen Mitteln kostet und gleichzeitig fordert, erprobte Kenntnisse und Praktiken aufzugeben sowie lange vertraute Aktivitäten zu opfern.</ref> Ländern selbst: Große staatliche oder private Institutionen haben Monopolmacht (was zum Teil unumgänglich ist) und hemmen so häufig die Entwicklung statt sie anzukurbeln; die Umstrukturierungen, die seit zehn Jahren in zahlreichen Ländern durchgeführt werden, belegen dies.

– Auf nationaler Ebene in den Industrieländern: Ihre Schwächen zeigen sich weniger auf internationaler Ebene, schaden aber direkt oder indirekt den Ärmsten der Welt.

– Auf internationaler Ebene: Handelshemmnisse und zum Teil übertriebene wirtschaftliche Anreize.

c) Ein moralisch verwerfliches Verhalten mit dem Ziel, sich selbst zu bereichern, Macht und Ansehen zu gewinnen; der Dienst an der Gemeinschaft verliert zugunsten des einzelnen oder der Kasten an Bedeutung; und denken wir nur an die Korruption, die beträchtliche Ausmaße und vielfältige Formen angenommen hat. Kein Land kann sich rühmen, frei von Korruption zu sein.

All dies zeigt, welche Vielzahl von Faktoren menschliches Handeln berücksichtigen muss. Trotz guter Absichten wurden häufig Fehler gemacht, die zu prekären Situationen geführt haben. Um diese zu beheben, ist es notwendig, sie zu benennen.

Wirtschaftliche Entwicklung muss gelernt werden. Jeder muss Verantwortung tragen, der einzelne Mensch, aber auch die Institutionen. Der Staat kann seine Rolle am sinnvollsten übernehmen, wenn er sich von der Soziallehre der Kirche und den Analysen ihre Sozialenzykliken leiten lässt.

Die eigentliche Ursache für eine fehlende oder unzureichende Entwicklung liegt darin begründet, dass es am Willen und an der Fähigkeit zum unentgeltlichen Dienst am Menschen, durch den Menschen und für den Menschen mangelt. Dieser Dienst ist eine Frucht der Liebe. Dieser Wille und diese Fähigkeit durchdringen die gesamte komplexe Wirklichkeit, alle Bereiche der Technik im weitesten Sinne, die Strukturen und die Gesetzgebung sowie auch die Sittlichkeit des menschlichen Verhaltens. Sie zeigen sich in der Planung und Durchführung seines Handelns, dessen wirtschaftliche Tragweite mehr oder wenig weitreichend sein kann.

Unangemessene Strukturen, die einen Dienst am Menschen zum bestmöglichen Preis verhindern, moralisch falsches Verhalten eines jeden einzelnen und fehlende Liebe sind die Ursachen des Hungers. Jede Unzulänglichkeit bezüglich irgendeines dieser Aspekte an einem beliebigen Ort der Welt hat zur Folge, dass die Scheibe Brot dessen, der schon Hunger leidet, noch dünner wird.

Die jüngsten internationalen wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklungen illustrieren diese komplexen Phänomene. Technik und sittliche Moral beeinflussen sie in besonderem Maße und sind für die wirtschaftlichen Ergebnisse verantwortlich. Es ist von der Schuldenkrise zu sprechen, die den Großteil der schwach entwickelten Länder heimsucht und über die Anpassungsmaßnahmen, die schon durchgeführt wurden oder geplant sind.

Die Verschuldung der entwicklungsschwachen Länder

11. Die drastische Erhöhung der Ölpreise 1973 und 1979 hat die Länder, die kein Erdöl fördern, hart getroffen. Das Bankensystem versuchte, die beträchtlichen Geldströme, die frei wurden, neu anzulegen; das allgemeine Wirtschaftswachstum wurde gebremst. Hauptopfer dieser Ereignisse wurden die armen Länder. Aus verschiedenen Gründen haben die meisten Länder in den 70er und 80er Jahren hohe Kredite mit variablen Zinssätzen aufnehmen können. Die Länder Lateinamerikas und Afrikas konnten ihren staatlichen Sektor in spektakulärer Weise ausbauen. Während dieser Zeit des »leichten Geldes« kam es zu vielfältigen Exzessen: unnötige, bzw. schlecht geplante oder durchgeführt Projekte, brutale Zerstörung des traditionellen Wirtschaftssystems, Anstieg der Korruption in allen Ländern. Einige Länder Asiens haben diese Fehler nicht gemacht, was ihnen dann eine sehr schnelle Entwicklung erlaubte.

Der explosionsartige Anstieg der Zinssätze - ausgelöst durch die unkontrollierten und wahrscheinlich auch nicht kontrollierbaren Marktkräfte - hat dazu geführt, dass die meisten Länder Lateinamerikas und Afrikas nicht mehr in der Lage waren, ihre Schulden aufzufangen. Es kam zum Phänomen der Kapitalflucht, was sehr bald zu einer Gefahr für das soziale Netz vor Ort wurde - auch wenn dies ohnehin schon löchrig war - und letztendlich für das Bankensystem selbst. Schon bald wurde deutlich, welche Ausmaße die Schäden auf wirtschaftlichem, strukturellem und moralischem Gebiet annahmen. Wie immer wurden zunächst Lösungen rein technischer Natur gesucht. Es wurde jedoch deutlich, dass diese Maßnahmen, sofern sie denn nötig und nützlich sind, immer einhergehen müssen mit einer grundlegenden Verhaltensänderung jedes einzelnen, vor allem aber derer - egal, in welchem Land sie leben und in welchem Bereich sie arbeiten -, die nicht von jenen Zwängen betroffen sind, die die Armut dem Menschen bei seiner Lebensgestaltung auferlegt.

In der Anfangsphase der Anpassungsmaßnahmen kehrte sich das Vorzeichen der Geldtransfers um: Die Kredite wurden gesperrt, die Ölpreise wurden auf einem künstlich hohen - für die Entwicklungsländer zu hohen - Niveau eingefroren, die Rohstoffpreise sanken ab, hervorgerufen durch das verlangsamte Wirtschaftswachstum, für das wiederum die hohen Ölpreise und die Schuldenkrise verantwortlich waren. Die internationalen Organisationen haben zu langsam darauf reagiert, um z.B. den Ländern Liquidität zur Verfügung zu stellen. Eine Ausnahme bildet der Internationale Währungsfonds. In dieser Zeit begann der Lebensstandard in den verschuldeten Ländern drastisch zu sinken.

Man kann leicht ermessen, wieviel Weisheit der Umgang mit Geld erfordert. Technisches und wirtschaftliches Wissen reicht nicht aus. Die Bereitstellung beträchtlicher finanzieller Mittel zeitigt negative strukturelle und personelle Folgen anstatt überall zu spektakulären Verbesserungen der Situation der Ärmsten zu führen.

Zentrale Schlussfolgerungen müssen wir aus dem Gesagten ziehen: Voraussetzung für die Entwicklung des Menschen ist die Fähigkeit zum Altruismus, d.h. zur Liebe. Für die praktische Umsetzung ist dies von elementarer Wichtigkeit. Auf den Punkt gebracht und auf die Gegenwart bezogen, heißt dies: Nächstenliebe ist kein Luxus, sondern die Voraussetzung für das Überleben einer großen Anzahl von Menschen.

Die strukturellen Anpassungsprogramme

12. Das Ausmaß und die Härte der monetären Phänomene haben vielen Ländern drastische Maßnahmen abverlangt, die Krise zu bewältigen und möglichst überall das Gleichgewicht wiederherzustellen. Logische Folge dieser Maßnahmen ist ein beträchtlicher durchschnittlicher Kaufkraftverlust in den betreffenden Ländern.

Wirtschaftskrisen haben erhebliche Probleme und Leiden für die Bevölkerung zur Folge, selbst wenn sie zuguterletzt zu mehr Wohlstand führen.

Durch die Krise werden die Schwächen des Landes deutlich, ob sie nun von außen kommen oder dem System innewohnen. Dazu gehören Fehler in der Politik zur Entwicklung des Landes, die von den aufeinanderfolgenden Regierungen, ihren Partnerländern oder sogar der Weltgemeinschaft gemacht worden sind. Oft werden die vielfältigen Schwächen erst im nachhinein deutlich sichtbar. Andere gründen in der Unabhängigkeitspolitik. So kann das, was die Stärke der Kolonialmacht ausmachte, nun für die Schwäche des unabhängigen Landes verantwortlich sein, ohne dass dies durch flankierende Maßnahmen abgefedert wird. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die großen Projekte, denn sie gewinnen in einer Zeit an Bedeutung, da im ganzen Land Solidarität besonders wichtig wird. In Wahrheit zielt die Politik des Wiederaufbaus aber darauf ab, die Ausgaben zurückzufahren und somit die Einkommen zu senken. Die wirtschaftlich Schwachen des Landes haben die Wahl, den aufeinanderfolgenden Regierungen zu vertrauen oder zu versuchen, sich ihrer zu entledigen. Oft werden sie Opfer ehrgeiziger Gruppierungen, die unter Umgehung demokratischer Regeln, aus ideologischen Gründen oder aus Ehrgeiz, an die Macht wollen, und die auch bereit sind, sich dabei fremde Kräfte zunutze zu machen.

Wirtschaftsreformen verlangen von der Regierung die Fähigkeit, politische Entscheidungen zu treffen. Über den Erfolg entscheiden nicht nur die technischen Aspekte der Stabilisierungsmaßnahmen, sondern auch die Frage, ob die Mehrheit der Bevölkerung, darunter auch die Ärmsten der Bevölkerung, die Regierung und die Maßnahmen unterstützen wird. Die Regierung muss folglich alle Schichten der Bevölkerung dazu bringen, einen beträchtlichen Teil der Last zu tragen. Gemeint sind hier die wenigen Personen mit internationalem Durchschnittseinkommen, aber auch die Beamten und Angestellten des Staates, die bis dato beneidenswert gut lebten und die nun Gefahr laufen, von heute auf morgen einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens einzubüben. Es geht also um gelebte Solidarität in traditionellem Sinn: Die Armen waren schon immer bereit, ihre Familie in prekärer Situation zu unterstützen, die man überwunden glaubte.

Die Unterstützung der Ärmsten während solcher Anpassungsphasen wurde erst nach und nach von den Verantwortlichen auf nationaler und internationaler Ebene berücksichtigt. Mehrere Jahre vergingen, bis ein erstes Konzept begleitender Maßnahmen für die gefährdetsten Gruppen der Bevölkerung erstellt wurde. So wie häufig in Notsituationen besteht auch hier die Gefahr, zu spät und zu abrupt auf die Bremse zu treten, was die schwächsten Glieder besonders hart trifft.

In Afrika und Lateinamerika<ref>Asien war aufgrund einer effizienteren Politik und einer besseren Umsetzung im allgemeinen leistungsstärker. Die zwischenmenschlichen Beziehungen waren jedoch nicht besser, noch war die Korruption weniger ausgeprägt.</ref> wurden umfangreiche Projekte in Angriff genommen. Im einzelnen:

– strukturelle Anpassungsprogramme, die strenge makroökonomische Maßnahmen beinhalten,

– die Bewilligung weiterer hoher Kredite,

– eine weitreichende Reform der örtlichen ineffizienten Strukturen; hier vor allem im Bereich der staatlichen Monopole, die einen Großteil des nationalen Einkommens binden, ohne dafür in zufriedenstellendem Maße Dienstleistungen zum Wohl der Allgemeinheit bereitstellen. In vielen Ländern haben die öffentlichen Dienste an Effizienz eingebüßt, und da Spreu und Weizen oft schwer zu trennen sind, wurden auch leistungsstarke Bereiche in Mitleidenschaft gezogen.<ref> In einigen Ländern mussten die Mittel im Bildungsbereich gekürzt werden. Viele Länder mit Entwicklungsproblemen tendieren dazu, die Grundschulbildung zugunsten der höheren Schulbildung zu vernachlässigen. Dieses häufig anzutreffende Problem muss von den internationalen Institutionen im Dialog mit diesen Ländern angegangen werden.</ref>

Einige Regierungen haben Erstaunliches geleistet, was international oft nicht anerkannt wird. Sie haben politischen Mut bewiesen und die unumgänglichen Maßnahmen durchgesetzt und dabei dem Druck und den verschiedenen Meinungen von außen Rechnung getragen. Sie haben sich nicht geschont und sich beispielhaft für mehr Solidarität und eine bessere Zusammenarbeit in ihrem Land eingesetzt, um Rückschlägen vorzubeugen. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang der Einfluss, den das Regierungsoberhaupt hat - nicht nur durch seine Führungsqualitäten und seine sinnvollen Entscheidungen, sondern auch durch seine Fähigkeit, der sozialen Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, die in solchen Situationen immer anzutreffen ist.

Die Industrieländer müssen sich ernsthaft fragen, ob sie sich bei ihrer Haltung bzw. Präferenz gegenüber entwicklungsschwachen Ländern von der Kompetenz der politisch Verantwortlichen im sozialen, technischen oder politischen Bereich leiten lassen, oder ob sie andere Kriterien als Maßstab nehmen.

B. SOZIALE UND KULTURELLE GRÜNDE

Die sozialen Verhältnisse

13. Man hat festgestellt, dass einige soziale und kulturelle Faktoren die Gefahr einer Mangelernährung oder einer Hungersnot erhöhen. Nahrungsmittel, die tabu sind, der soziale Status der Familie und der Frau - der eng verknüpft ist mit den familiären Strukturen - ihr tatsächlicher Einfluss auf die Familie, mangelnde Kenntnisse der Frauen über Ernährung, allgemeiner Analphabetismus, zu frühe Mutterschaft oder eine solche in zu kurzen Abständen, unsichere Arbeitsplätze oder Arbeitslosigkeit. All dies sind Faktoren, die, wenn sie sich häufen, zu Mangelernährung und ins Elend führen können. Die Industrieländer sind in gewisser Weise ebenfalls davon betroffen: Die gleichen Faktoren führen hier zu zeitweiser oder chronischer Mangelernährung der sogenannten new poor, die mitten im Überfluss Hunger leiden.

Die demographische Entwicklung

14. Vor 10.000 Jahren lebten wahrscheinlich 5 Mio. Menschen auf der Erde. Im 17. Jahrhundert, zu Beginn der Neuzeit, stieg die Bevölkerungszahl auf 500 Mio. Das Bevölkerungswachstum beschleunigte sich immer mehr: Anfang des 19. Jahrhundert lebten 1 Mrd. Menschen auf der Erde, 1960 waren es bereits 3 Mrd., 1975 4 Mrd., 1990 5,2 Mrd., 1993 5,5 und 1994 5,6.<ref>Vgl. UNPF (United Nations Population Fund), The State of World Population 1993, New York 1993; United Nations, World Population Prospects: the 1992 Revision, New York, 193. Vgl. auch: UNPF, The State of World Population 1994, Entscheidung und Verantwortung.</ref> Über einen gewissen Zeitraum hinweg hat sich die Bevölkerung in den »reichen« Ländern anders entwickelt als in den »armen« Ländern.<ref>UNDP (Entwicklungsprogrogramm der Vereinten Nationen), Weltbevölkerungsbericht 1990, Economica Paris 1990. Vgl. ibidem S. 94: In den Entwicklungsländern, also da, wo die meisten Menschen hungern, hat sich die Landbevölkerung mehr als verdoppelt; die Stadtbevölkerung hat sich innerhalb von 30 Jahren (1950-1980) verdreifacht oder vervierfacht.</ref> Diese Tendenz verstärkt sich noch. Ist das Überleben seiner Art in Gefahr, reagiert der Mensch (wie auch die Natur) mit vermehrter Zeugung von Nachkommen.

Studien haben gezeigt, dass sich bei Völkern, deren Wohlstand sich erhöht, die Bevölkerungsentwicklung umkehrt: War die Geburtenrate zunächst hoch, so ist sie nun niedrig. Umgekehrt verhält es sich mit der Sterberate.<ref>Vgl. Franz Böckle u.a., Armut und Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt, herausgegeben von der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1991.</ref> Die Übergangszeit birgt besondere Gefahren in sich, was die Ernährungssituation angeht, denn die Sterberate sinkt vor der Geburtenrate. Technologische Veränderungen müssen mit dem Bevölkerungswachstum schritthalten, ansonsten ist der Kreislauf der landwirtschaftlichen Produktion unterbrochen: Ermüdung der Böden, Verringerung des Brachlands, fehlende Fruchtwechselwirtschaft.

Ihre Folgen

15. Ist ein zu schnelles Bevölkerungswachstum Ursache oder Folge der Unterentwicklung? Die Bevölkerungsdichte - abgesehen von Extremfällen - bietet keine Erklärung für Hungersnöte. Halten wir zunächst fest: In den Deltas und übervölkerten Tälern Asiens wurden zunächst die landwirtschaftlichen Techniken der »grünen Revolution« zur Anwendung gebracht. Weniger dicht besiedelte Länder wie Zaire oder Zambia andererseits kämpfen weiterhin mit Ernährungsproblemen, obwohl sie zwanzigmal mehr Menschen ernähren könnten, ohne dass größere Bewässerungsprojekte nötig wären: Die Ursache hierfür ist nur in den vom Staat, von den Politikern und der wirtschaftlichen Verwaltung zu verantwortenden Ungleichgewichten zu suchen, nicht in wirtschaftlicher Armut oder anderen objektiven Gegebenheiten. Man geht heute davon aus, dass es sinnvoller ist, die Massenarmut zu bekämpfen, um das Bevölkerungswachstum zu bremsen und sich - nicht umgekehrt - auf ein Absenken der Wachstumsrate der Bevölkerung zu beschränken, um die Armut zu besiegen.<ref>Vgl. Pontificia Academia Scientiarum, Population and Ressources. Report, Vatican City 1993. (Die aufgeführten Statistiken wurden bereits überarbeitet).</ref>

Die Bevölkerungssituation wird sich solange nicht ändern, wie die Familien in den Entwicklungsländern davon ausgehen, dass nur eine grobe Kinderzahl sie absichern kann. Unterstrichen werden muss hier, dass wirtschaftliche und soziale<ref>Päpstlicher Rat für die Familie, Demographische Entwicklungen, ihre ethischen und pastoralen Dimensionen, in: L'Osservatore Romano (Ausgabe in deutscher Sprache), Nr. 35 vom 2. September 1994. Vgl. Le contrôle des naissances dans les pays du Sud: promotion des droits des femmes ou des intérêts du Nord, (Geburtenkontrolle in den südlichen Ländern: Förderung der Rechte der Frauen oder die Interessen den Nordens), »Inter-Mondes«, Bd. 7, Nr. 1, Oktober 1991, S.7: Viele Studien haben unlängst gezeigt, dass neben der Geburtenkontrolle drei weitere Faktoren in gleichem Maße dazu beitragen, das Wachstum der Weltbevölkerung zu verringern: wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Verbesserung der Lebensbedinungen der Frauen und, auch wenn es paradox klingt, Verringerung der Kindersterblichkeit. Vgl. auch UNICEF (United Nations Children's Fund), La situation des enfants dans le monde (Die Situation der Kinder in der Welt), Genf 1991.</ref> Veränderungen nötig sind, damit Eltern es als Geschenk annehmen können, ein Kind zu bekommen. Von grundlegender Bedeutung für eine Verbesserung der Situation ist der soziale Hintergrund und das Bildungsniveau der Eltern. Sie sollten auf eine verantwortliche Elternschaft, die sich auf die ethischen Prinzipien gründet, vorbereitet werden. Ihnen muss Zugang zu Methoden der Familienplanung, die in Einklang mit der wahren Natur des Menschen stehen, gewährt werden.<ref>Vgl. Johannes Paul II. Ansprache an die Teilnehmer der Studienwoche über »Ressourcen und Bevölkerung«, organisiert von der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (22. November 1991), Anm. 4 und 6: »Die Kirche ist sich der Komplexität des Problems bewusst... Die Dringlichkeit der Situation darf nicht zum Vorschlag von irrigen Eingriffen führen. Wer Methoden anwendet, die nicht der wahren Natur des Menschen entsprechen, verursacht am Ende tragisches Leid... das schwerste Lasten den ärmsten und schwächsten Gesellschaftsgruppen aufbürdet und damit Unrecht auf Unrecht häuft.« AAS 84 (1992) 12, 1120-1122. Vgl. auch: Kardinal Angelo Sodano, Stellungnahme während der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (13. Juni 1992), dt. Text in: L'Osservatore Romano (Ausgabe in deutscher Sprache), Nr. 26 vom 26. Juni 1992.</ref>

C. POLITISCHE GRÜNDE

Der Einfluss der Politik

16. Nahrungsentzug wurde im Laufe der Geschichte genauso wie heute als politische oder militärische Waffe eingesetzt. Bisweilen kann von Verbrechen gegen die Menschheit gesprochen werden.

Viele Fälle stammen aus dem 20. Jahrhundert Hier einige Beispiele:

– Stalin verwehrte den ukrainischen Bauern um 1930 systematisch jegliche Nahrung. Die Bilanz: ca. 8 Mio. Tote. Lange war dieses Verbrechen nicht bekannt. Erst unlängst wurde es im Zusammenhang mit der Öffnung der Archive des Kremls bestätigt.

– Die jüngste Belagerung Bosniens, insbesondere der Stadt Sarajewo. Die Hilfsorganisationen selbst wurden als Geiseln genommen.

– Die Vertreibung der Bevölkerung Äthiopiens durch die regierende Einheitspartei zur Erlangung der politischen Kontrolle. Hunderttausende Vertriebene verhungerten, weil sie ihre Felder verlassen mussten.

– Aushungern der Bevölkerung in Biafra in den 70er Jahren als Waffe gegen die politische Spaltung.

Viele Auslöser von Bürgerkriegen sind durch den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr vorhanden: Ausweglose Revolutionen, Vertreibung der Bevölkerung, schlechte Bewirtschaftung der Felder, Stammesfehden, Völkermorde. Dennoch gibt es immer noch Situationen bzw. sind neue entstanden, die zu diesen Phänomenen führen können. Auch wenn sie nicht die gleichen Dimensionen haben, so leidet dennoch die Bevölkerung darunter. Zu nennen ist hier vor allem das Wiederaufflammen des Nationalismus, der in einigen Staaten mit ideologisch geprägter Regierung gefördert wird oder da lokaler Ausprägung ist, wo entwickelte Länder um Einfluss kämpfen. Er entsteht auch, wo ein Machtkampf wütet, vor allem in einigen Ländern Afrikas.

Zu nennen sind hier auch Länder wie Kuba oder der Irak, über die aus politischen Gründen ein Embargo verhängt wurde. Das Regime in diesen Ländern wird als Bedrohung für die internationale Sicherheit angesehen und die Bevölkerung als Geisel des Regimes. Opfer dieser Embargos ist in erster Linie die Bevölkerung, die doch vorrangig geschützt werden soll. Daher müssen die Folgen für die Menschen bei solchen Entscheidungen genau berücksichtigt werden. Andererseits setzen einige Verantwortliche das Elend ihres Volkes, das sie selbst zu verantworten haben, als Mittel ein, um die Staatengemeinschaft zu zwingen, ihre Lieferungen wieder aufzunehmen. Den Besonderheiten einer Situation muss jeweils im Sinne der Weltdeklaration zur Ernährung Rechnung getragen werden. In dieser Erklärung heißt es: »Hilfe in Form von Lebensmitteln darf nicht aus Gründen politischer, geographischer, geschlechts- und altersspezifischer Zugehörigkeit oder der Zugehörigkeit zu einer ethischen, Stammes- oder religiösen Gruppe verwehrt werden«.<ref>FAO und WHO, Welternährungskonferenz. Weltdeklaration zur Ernährung. Schlussbericht der Konferenz, Punkt 15, Rom 1992.</ref>

Politisches Handeln kann auch aus anderen Gründen Hunger zur Folge haben. Mehrfach haben die Industrieländer ihre Überschüsse aus der landwirtschaftlichen Produktion (beispielsweise Weizen) unentgeltlich in solche entwicklungsschwachen Länder exportiert, wo die Nahrungsgrundlage aus Reis besteht. Ziel war es, den Binnenkurs zu stützen. Diese Gratisexporte wirkten sich verheerend aus: Die Bevölkerung änderte ihre traditionellen Ernährungsgewohnheiten, und den Produzenten im Land wurde die Existenzgrundlage entzogen.

Bündelung der Mittel

17. Der wirtschaftliche Graben innerhalb der entwicklungsschwachen Länder ist tiefer als der in den Industrieländern oder der zwischen den Ländern selbst. Reichtum und Macht liegen in der Hand einer kleinen, aber komplexen Bevölkerungsschicht, die Verbindungen zum Ausland hat und eine Kontrollfunktion gegenüber dem schwachen Staat ausübt. Jede Verbesserung der Situation wird verhindert; zuweilen ist sogar wirtschaftlicher und sozialer Rückschritt zu verzeichnen. Der Lebensstandard der einzelnen Bevölkerungsschichten ist äußerst uneinheitlich, was nicht nur zu Konfliktsituationen und gehäufter Gewaltanwendung führt, sondern auch die Klientelwirtschaft als einzige Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung fördert. Dadurch werden mögliche Initiativen im wirtschaftlichen Bereich gedrosselt, und altruistisch motivierte Menschen, die es in jeder traditionellen Gesellschaft gibt, gebremst. In dieser Situation spielt der Staat eine äußerst wichtige Rolle, sobald er die Exportsektoren der Produktion begünstigt - was zunächst einmal positiv ist, aber der Bevölkerung vor Ort wenig Gewinn einbringt.

In anderen Fällen legen die staatlichen Institutionen die Preise für landwirtschaftliche Produkte auf so niedrigem Niveau fest, dass die Bauern die Stadtbevölkerung finanziell unterstützen müssen; eine Situation, die die Landflucht verstärkt. Medien, Elektronik und Werbung tragen ebenfalls zur Entvölkerung der ländlichen Regionen bei. Die Entwicklungshilfe, die diesen Ländern zugute kommt, bestärkt die Regierungen mehr oder weniger unverhohlen, ihre gefährliche Politik weiter zu betreiben: Sie kommen unberechtigt in den Genuß von Finanzspritzen, weil ihre Politik den wahren Interessen ihres Volkes diametral entgegengesesetzt ist. Die Industrieländer müssen sich fragen lassen, ob sie nicht über Jahre hinweg falsche Zeichen gesetzt haben.

Verschiebungen in den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen

18. Verschiebungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sind die Folgen einer schlechten Wirtschaftspolitik und die Reaktion auf nationalen und internationalen politischen Druck (vgl. die Nummern 11-13 und 17). Führen wir uns nochmals einige dieser Verschiebungen vor Augen, die häufig vorkommen und sich besonders negativ auswirken:

a) Die politisch Verantwortlichen im Land senken unter dem Druck der armen Stadtbevölkerung künstlich die Preise für landwirtschaftliche Güter, da die unzufriedene Stadtbevölkerung als Gefahr für die politische Stabilität des Landes angesehen wird. Sie schaden damit aber den Nahrungsmittelproduzenten vor Ort. In Afrika hat sich dieses Szenario in den Jahren 1975-85 sehr häufig abgespielt und dazu geführt, dass die Produktion des Landes drastisch zurückgegangen ist. Zahlreiche Länder, die große landwirtschaftliche Reichtümer besitzen, wie Zaire und Sambia, wurden plötzlich zu Nettoimporteuren.

b) Die Politik in den meisten Industrieländern schützt ihre eigene Landwirtschaft und verteidigt ihr im Vergleich zu den Weltmarktpreisen höheres inländisches Preisniveau. Ohne diese Eingriffe wären die Weltmarktpreise höher, was den anderen produzierenden Ländern zugute käme. Diejenigen, die von diesen Eingriffen profitierten, finden sich nun in einer neuen ungerechten Situation wieder. Viele Jahre über wurden sie dazu ermuntert, möglichst viel zu produzieren, was letztendlich zu den Verschiebungen im landwirtschaftlichen System selbst geführt hat. Diese Politik wurde von der öffentlichen Meinung mehrheitlich befürwortet; sie kann aber den Interessen der Konsumenten in der ganzen Welt, ob sie nun zu den Privilegierten oder zu den Ärmsten gehören, zutiefst widersprechen. Darüber hinaus ist der Wettbewerb beim Export der unvermeidlichen Überschüsse ein Handicap für die Produktion der entwicklungsschwachen Länder.

c) Eine falsch ausgerichtete Wirtschaftspolitik schadet der traditionellen Getreide- und Viehwirtschaft. Ein Beispiel hierfür ist die traditionelle Produktion, die der industriellen Landwirtschaft weichen musste - entweder aus Exportgründen (grobe Mengen landwirtschaftlicher Produkte für den Export, die abhängig von den Weltmärkten sind) oder als Austauschprodukte für das eigene Land. (In Brasilien wurde beispielsweise Zuckerrohr zur Herstellung von Treibstoff angebaut, um weniger Erdöl importieren zu müssen. Folge war eine Abwanderung der Bauern, denen die Ernährungsgrundlage entzogen worden war.)

D. DIE ERDE KANN IHRE BEWOHNER ERNÄHREN

Die erstaunlichen Fortschritte der Menschheit

19. Neben den enormen Fehlentwicklungen, die wir angesprochen haben, dürfen wir nicht vergessen: Beeindruckende Fortschritte haben dazu geführt, dass die Weltbevölkerung von 3 Mrd. auf 5,3 Mrd. Menschen innerhalb von 30 Jahren (1960-1990) angewachsen ist.<ref>Vgl. FAO, Agriculture: Horizon 2010, Dok. C 9324, Punkt 2.13, Rom 1993.</ref> In den Entwicklungsländern ist die »Lebenserwartung bei der Geburt von sechsundvierzig Jahren im Jahre 1960 auf zweiundsechzig Jahre im Jahre 1987 angestiegen. Die Sterberate der Kinder unter 5 Jahren konnte um 50% gesenkt werden, und zwei Drittel der Säuglinge unter einem Jahr sind gegen die Hauptkinderkrankheiten geimpft... Die Kalorienzufuhr pro Einwohner ist zwischen 1965 und 1985 um ca. 20% gestiegen«.<ref>Vgl. UNDP, Weltbevölkerungsbericht 1990, Economica Paris 1990, S. 18.</ref>

Zwischen 1950 und 1980 hat sich die Nahrungsmittelproduktion weltweit verdoppelt und »es gibt insgesamt auf der Welt genug Nahrung für alle«.<ref>FAO und WHO, Internationale Ernährungskonferenz. Weltdeklaration zur Ernährung. Schlussbericht der Konferenz, Punkt 1, Rom 1992.</ref> Trotzdem herrscht immer noch Hungersnot. Die Gründe hierfür sind struktureller Natur: »Das Hauptproblem besteht in den ungleichen Zugangsbedingungen zu dieser Nahrung«.<ref> Ibidem.</ref> Es wäre ferner irrig, den tatsächlichen Nahrungsmittelkonsum der Familien einzig und allein an der statistischen Größe der Verfügbarkeit von Getreide pro Einwohner zu messen. Hunger ist kein Problem von Verfügbarkeit, sondern von erfüllbarer Nachfrage, d.h. vom Wenden vorhandener Not. Im übrigen muss darauf hingewiesen werden, dass viele Menschen dank einer Schattenwirtschaft überleben können: Diese ist aber unsicher und per definitionem weder öffentlich bekannt noch meßbar.

Die Nahrungsmittelmärkte

20. Auf den Weltmärkten für Nahrungsmittel wird zum Teil mit Produkten gehandelt, die nicht immer mit denen identisch sind, die in den meisten entwicklungsschwachen Ländern konsumiert werden.<ref>Argentinien gehört zu den wichtigsten Weizen- und Rindfleischexporteuren, ist also kein entwicklungsschwaches Land, sondern ein Industrieland, dessen Wirtschaftsschwäche über lange Zeit hinweg im politischen System begründet lag. In den letzten Jahren hat sich die Situation grundlegend geändert, und die wirtschaftlichen Auswirkungen sind bereits sichtbar.</ref> Die enormen Preisschwankungen schaden den Interessen der Produzenten genauso wie den der Konsumenten. Hervorgerufen werden sie durch spontane Anpassungsmechanismen, die noch verstärkt werden durch die Funktionsweise der Märkte. Stabilisierungsversuche zeitigten wenig Erfolg. Sie wirkten sich teilweise sogar noch negativ für die Produzenten aus. Andererseits schließt ein funktionierender Markt einen Anstieg der Preise aus. Die begrenzte Anzahl internationaler Handelsunternehmen erlaubt keine Änderung der Wechselkurse. Sie verhindert sogar, dass neue Marktteilnehmer auf den Markt kommen, was sich negativ auswirkt. Die Entstehung neuer Produktionskapazitäten hängt vor allem davon ab, in welchem Ausmaß technischer Fortschritt (Fortschritt bei der Entwicklung und bei der Anwendung) Verbreitung findet. Die durchschnittliche Reisproduktion in Indonesien ist innerhalb von einer Generation von 4 auf 15 Tonnen Hektar gestiegen, also sehr viel schneller als die Bevölkerung, die schon in Rekordgeschwindigkeit wächst. In den meisten Ländern, in denen die Landwirtschaft Fortschritte macht, steigen die landwirtschaftlichen Erträge stark, obschon die Zahl der Landwirte gleichzeitig deutlich abnimmt.

Die moderne Landwirtschaft

21. Intensive Landwirtschaft wird in wachsendem Maße für Umweltschäden verantwortlich gemacht, vor allem für die Verschmutzung der natürlichen Ressourcen wie Wasser und Böden durch den übermäßigen Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln. Intensivierung der Landwirtschaft wird in erster Linie definiert als Erhöhung des Verhältnisses aus dem Verbrauch von Rohstoffen und Maschinen (hauptsächlich industrieller Natur) und der genutzten landwirtschaftlichen Fläche. Wir beobachten eine Entkoppelung der landwirtschaftlichen Produktionstechnologien von ihrer natürlichen Grundlage, den Böden. Die Beziehung zwischen diesen beiden Größen weicht einer riskanten Dualität von landwirtschaftlicher Technologie und wirtschaftlichem Umfeld.

Eine Intensivierung der Landwirtschaft erfordert im allgemeinen einen hohen Kapitaleinsatz. In den meisten Entwicklungsländern herrscht jedoch eine Selbstversorgungskultur vor, die vornehmlich auf »menschlichem« Kapital gründet und nur über begrenzte technische Hilfsmittel und Wasservorräte verfügt. Die »grüne Revolution« hat zwar gewisse Erfolge gehabt; das Nahrungsmittelproblem vieler Entwicklungsländer hat sie jedoch nicht lösen können.

Wenn nun weitere Maßnahmen zur Verbesserung der intensiven Landwirtschaft und des Umweltschutzes anstehen, so sollten hierfür - wie in den industrialisierten Ländern - andere Produktionssysteme zum Einsatz kommen, die die natürlichen Ressourcen besser schützen und eine weite Streuung des Produktionseigentums aufrechterhalten. Deshalb sollten landwirtschaftliche Züchterverbände, die verantwortliche Verwaltung der Wasserressourcen und die Ausbildung zu kooperativen Organisationsformen gefördert werden.

II. EINE ETHISCHE HERAUSFORDERUNG FÜR ALLE

Die ethische Dimension des Problems

22. Um dem Problem des Hungers und der Mangelernährung in der Welt begegnen zu können, muss man den ethischen Aspekt des Problems erfassen.

Die Ursache des Hungers ist sittlicher Natur; sie liegt jenseits aller physischen, strukturellen und kulturellen Gründe. Somit ist auch die Herausforderung sittlicher Natur. Ein Mensch guten Willens, der an die universellen Werte innerhalb der verschiedenen Kulturen glaubt, wird diese Herausforderung annehmen. Dies gilt vor allem für den Christen, der selbst die Erfahrung der persönlichen Beziehung zum allmächtigen Herrn gemacht hat, jener Beziehung, die Gott zu jedem einzelnen Menschen knüpfen möchte.

Diese Herausforderung beinhaltet ein vertieftes Verständnis der Phänomene, die Fähigkeit der Menschen, sich gegenseitig zu dienen - das kann natürlich auch durch das Spiel der wirtschaftlichen Marktkräfte geschehen, wenn sie in rechter Weise verstanden werden - und den Rückgang jedweder Korruption. Mehr noch: Es geht um unser aller Freiheit, sich tagtäglich dafür einzusetzen, dass jeder einzelne Mensch und die ganze Menschheit sich entwickeln können, d.h. es geht um die Entwicklung des Gemeinwohls.<ref>Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Paulus-Verlag Linz u.a., 1993, Nr. 1906. Hier wird Gemeinwohl in Anlehnung an GS 26,1 folgendermaßen definiert: »Die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ermöglichen, die eigene Vollendung voller und leichter zu erreichen«.</ref> Eine solche Entwicklung beinhaltet soziale Gerechtigkeit, Zugang aller Menschen zu den Reichtümern der Erde, gelebte Solidarität und Subsidiarität, Frieden und Achtung der Umwelt. Diese Richtung muss eingeschlagen werden, wenn wir Hoffnung verbreiten wollen und wenn wir eine Welt schaffen wollen, die die uns nachfolgenden Generationen freundlicher empfängt. Um diesen Fortschritt zu ermöglichen, muss die organische Förderung des Gemeinwohls geschützt und gegebenenfalls als notwendige Komponente bei allen Entscheidungs- und Denkprozessen der politisch und wirtschaftlich Tätigen in allen Bereichen und allen Ländern neu mit Leben gefüllt werden.

Die Motivation von Einzelpersonen und Institutionen ist nötig, damit eine Gesellschaft und eine Familie funktionieren. Aber für jeden einzelnen sowie für die Gemeinschaft gilt: Die Menschen müssen umkehren und lernen, das Ziel des Gemeinwohls nicht zugunsten persönlicher Interessen, der Interessen ihrer Nächsten, ihrer Arbeitgeber, ihres Clans oder ihres Landes zu opfern, so berechtigt deren Interessen auch seien.

Die von der Kirche Schritt für Schritt in ihrer Soziallehre verkündeten Grundsätze sind ein wertvoller Leitfaden für den Menschen und sein Handeln im Kampf gegen den Hunger. Das Ziel des Gemeinwohls ist Schnittpunkt folgender Elemente:

– Suche nach größtmöglicher Leistungsfähigkeit in der Verwaltung der Güter der Erde;

– höhere Achtung der sozialen Gerechtigkeit, die durch die universelle Bestimmung der Güter möglich wird;

– ständig und sinnvoll gelebte Subsidiarität, die die Verantwortlichen davor schützt, die Macht an sich zu reißen, denn die Macht ist ihnen zum Dienst gegeben;

– gelebte Solidarität, die davon abhält, dass die Reichen die finanziellen Mittel an sich reißen; so wird niemand vom sozialen und wirtschaftlichen Bereich ausgeschlossen oder seiner menschlichen Würde beraubt.

Die kirchliche Soziallehre als Ganze muss also das Handeln der Verantwortlichen bestimmen, ob sie diese nun bewusst oder unbewusst anwenden.

Die Gefahr besteht, dass eine solche Forderung auf Skepsis oder sogar Zynismus stößt. Das Handeln vieler Verantwortlicher wird von der unbeugsamen, manchmal grausamen Umwelt bestimmt, die Angst erzeugt und zur arroganten Suche nach Macht und Machterhalt führt. Viele Menschen können geneigt sein, ethische Erwägungen als Bremsklotz anzusehen. Und doch zeigt die alltägliche Erfahrung in mannigfacher Weise und an den verschiedensten Orten, dass dem nicht so ist; denn nur eine ausgewogene Entwicklung, die das Gemeinwohl sucht, ist eine förderliche Entwicklung, und nur sie kann auf Dauer zur sozialen Stabilität beitragen: In allen Ländern und auf allen Ebenen handeln Menschen ohne Unterlaß und ohne viel Aufhebens unter Berücksichtigung der legitimen Interessen ihresgleichen.

Die riesige Aufgabe des Christen ist es, überall ein solches Verhalten zu unterstützen; wie ein wenig Sauerteig inmitten eines sehr harten Teiges sind sie dazu aufgerufen durch ihre Nähe zu der Liebe, die der Herr allen Menschen zuteil werden lässt und die sie an sich selbst erfahren.

Ihre wunderbare Aufgabe besteht darin, in allen Bereichen vorbildlich zu sein: technisch, organisatorisch, sittlich und geistlich. Sie können sich gegenseitig auf allen Ebenen der Verantwortlichkeit beistehen und jeden motivieren, der nicht durch seine soziale Lage »ausgeschlossen« ist.

Nächstenliebe im Dienst der Entwicklung

23. Die Suche nach dem Gemeinwohl muss auf die Sorge um den Menschen und die Liebe zu ihm gründen. In den verschiedensten Situationen stehen Menschen tagtäglich vor der Alternative: persönliche und kollektive Selbstzerstörung oder Nächstenliebe. Letztere zeugt also von einem verantwortungsvollen Gewissen, das weder vor seinen eigenen Grenzen noch vor der gewaltigen Herausforderung zurückschreckt, weil die Liebe zu den Menschen es antreibt. »Wie würde die Geschichte über eine Generation urteilen, die alle Mittel besitzt, um die Bevölkerung des ganzen Planeten zu ernähren, sich aber in brudermörderischer Blindheit weigerte, dies zu tun? Was für eine Wüste würde eine Welt sein, auf der das Elend nicht der Liebe begegnet, die Leben spendet«?<ref>Johannes Paul II. Ansprache am Sitz der Westafrikanischen Wirtschaftskommission (CEAO) in Ougadougou, 29. Januar 1990, AAS 82 (1990) 8, 818.</ref>

Die Liebe geht über das Geben im strengen Sinne hinaus. Entwicklung wird durch das Handeln der mutigsten, kompetentesten und aufrichtigsten Menschen vorangetrieben. Diese Pioniere empfinden Solidarität mit allen Menschen, die nah oder fern unter dem Handeln oder den Unterlassungen der für sie Verantwortlichen leiden. Derartige konkrete Verantwortung aller ist sichtbares Zeichen des Altruismus.

Solidarität ist natürlich von allen gefordert. Glücklicherweise brauchen wir nicht darauf zu warten, dass die Mehrheit der Menschen zur Nächstenliebe umkehrt, um die Früchte des Handelns derer zu ernten, die schon jetzt zupacken. Die Auswirkungen des Handelns dieser Menschen, die sich auf allen Ebenen in ihrem Alltag als Diener am Menschen und an der Menschheit einsetzen, sind ein sicheres Fundament für unsere Hoffnung.

Soziale Gerechtigkeit und universelle Bestimmung der Güter

24. Im Herzen der sozialen Gerechtigkeit steht das Prinzip der universellen und allgemeinen Bestimmung der Güter der Erde. Papst Johannes Paul II. hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Gott hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt, ohne jemanden auszuschließen oder zu bevorzugen, auf dass sie alle seine Mitglieder ernähre«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Centesimus annus (1991), Nr. 31.</ref> Diese Aussage zieht sich durch die christliche Tradition, und sie kann gar nicht oft genug wiederholt werden, obwohl sie natürlich die gesamte Menschheit über alle konfessionellen Grenzen hinweg betrifft. Das Axiom ist ein notwendiger Baustein für die Errichtung einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität herrschen. Jede Generation muss sich dessen bewusst sein, dass sie nur eine Zeitlang die Ressourcen der Erde und das Produktionssystem verwaltet. Im Hinblick auf die Vollendung der Schöpfung ist das Recht auf Eigentum keine absolute Größe; es ist Ausdruck der Würde jedes einzelnen, aber es ist nur rechtmäßig, wenn es sich dem Gemeinwohl unterordnet und wenn es zum Wohl aller beiträgt. In den verschiedenen Kulturen wird Gemeinwohl übrigens unterschiedlich gesehen und gehandhabt.

Die kostspielige Abkehr vom Gemeinwohl: die »Strukturen der Sünde«

25. Ein Mensch, der das Gemeinwohl missachtet, jagt dem persönlichen Wohl in Form von Geld, Macht und Ruf nach. Sie werden als absolute Größen um ihrer selbst willen begehrt, das heißt, es sind Abgötter. So entstehen »Strukturen der Sünde«,<ref>Vgl. Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Reconciliatio et paenitentia, (1984), Nr. 16, (soziale Sünde führt zu sozialen Übeln), Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987), Nr. 36-37, und Enzyklika Centesimus annus (1991), Nr. 38. In diesen Dokumenten finden sich Ausdrücke wie »Situationen der Sünde« oder »Soziale Sünden«. Als Gründe für die Sünde werden immer Egoismus, Suche nach Profit und Machthunger genannt.</ref> das sind alle Situationen und Umstände, in denen Menschen sich sündig verhalten, und in denen jeder Schrittmacher viel Mut aufbringen muss, will er dieses Verhalten nicht annehmen. Die »Strukturen der Sünde« sind vielfältig; sie sind mehr oder weniger weitläufig, manche sind auf der ganzen Welt verbreitet, wie zum Beispiel die Mechanismen und Verhaltensweisen, die zu Hungersnöten führen; andere sind von sehr viel begrenzterem Ausmaß, führen aber zu Ungleichgewichten, die es den betroffenen Menschen schwer machen, Gutes zu tun. Diese »Strukturen« fordern von den Menschen einen hohen Tribut: Sie zerstören das Gemeinwohl.

Seltener wird auf Negativfolgen und Kosten solcher »Sünden« im wirtschaftlichen Bereich hingewiesen. Hier gibt es einige frappierende Beispiele.<ref>Die Produktion von Chemiewaffen, die keine positiven Folgen zeitigen, sondern nur dazu dienen, anzugreifen oder zu verteidigen, legt beredtes Zeugnis davon ab. Die 500.000 Tonnen tödliches Material, die 60 Mrd. Menschen vernichten können, und die in der ehemaligen Sowjetunion lagern, haben in der Produkten ca. 200 Mrd. US-$ gekostet, und es kostet noch einmal so viel, sie zu zerstören. Es handelt sich letztendlich um Ressourcen, die einen herben Verlust für unseren Planeten bedeuten. Dieses widersinnige Abenteuer führte zum Absinken des Lebensstandards der Menschen (im allgemeinen, nicht nur in der ehemaligen Sowjet-Union) und zu Hunger in Familien , die ohne dieses Abenteuer Hunger nie gekannt hätten.</ref> Es sind nicht nur Ignoranz und Nachlässigkeit, die die Entwicklung behindern, sondern auch die vielfältigen und weit verbreiteten »Strukturen der Sünde«. Sie zweckentfremden die Güter der Erde, die für alle bestimmt sind, für menschenfeindliche Ziele und machen so eine förderliche Entwicklung für alle unmöglich.

Der Mensch kann sich die Erde nur untertan machen und sie beherrschen, wenn er den falschen Göttern abschwört: Geld, Macht und Ruf. Sie werden Selbstzweck und sind nicht länger Mittel im Dienst an jedem einzelnen Menschen und der gesamten Menschheit. Habgier, Hochmut und Eitelkeit verblenden denjenigen, der ihnen erliegt. Der Mensch sieht schließlich nicht mehr, dass seine Sichtweise begrenzt ist und sein Handeln selbstzerstörerisch.

Die universelle Bestimmung der Güter beinhaltet, dass Geld, Macht und Ruf als Mittel für folgende Ziele dienen:

– Schaffen von Produktionsmitteln für Güter und Dienstleistungen, die sozial sinnvoll sind und das Gemeinwohl fördern.

– Teilen mit den Ärmsten, die in den Augen aller Menschen guten Willens die Notwendigkeit des Gemeinwohls verkörpern. Sie sind die lebenden Zeugen für den Mangel an diesem Gut. Für die Christen sind sie die geliebten Kinder Gottes, der sich uns durch sie und in ihnen zeigt.

Die Verabsolutierung dieser Reichtümer verhindert ganz oder teilweise, dass die Ärmsten das Gemeinwohl mittragen. Die Weltwirtschaft funktioniert allgemein gesehen nur mäßig - verglichen vor allem mit den Spitzenleistungen, die einige Länder über einen relativ langen Zeitraum erbringen - und ist, in menschlichen Kategorien gesprochen, sehr kostenintensiv (dort, wo sie funktioniert und auch dort, wo sie nicht funktioniert). Der Grund hierfür liegt darin, dass sie unter den Kosten, die die schlechten Gewohnheiten verursachen, leidet. Diese stellen eine sittliche Zwangsjacke dar, die die Menschen einengt.

Auf der anderen Seite sind dort erstaunliche Fortschritte erzielt worden, wo Gruppen von Menschen es schaffen, gemeinsam zu arbeiten und den Dienst der Gemeinschaft und jedes einzelnen dabei mit einzubeziehen. Menschen, die bislang wenig Nützliches taten, leisten erstaunliche Arbeit. Die positiven Auswirkungen verändern Schritt für Schritt die materiellen und psychologischen Voraussetzungen sowie die Einstellung der Menschen. In Wirklichkeit ist dies das positive Gegenbild der »Strukturen der Sünde«: Man könnte sie »Strukturen des Gemeinwohls« nennen, die die »Zivilisation der Liebe«<ref>Vgl. Paul VI., Weihnachtsbotschaft zum Ende des Heiligen Jahres., AAS 68 (1976) 2, 145. Dieses Bild wurde erstmalig von Papst Paul VI. benutzt.</ref> einleiten. Erfahrungen mit »Strukturen des Gemeinwohls« geben uns einen ersten Einblick in die Welt, so wie sie einmal sein könnte: Menschen achten viel häufiger bei all ihrem Handeln und in ihrer Verantwortung auf gemeinsame Interessen und auch das Schicksal eines jeden einzelnen.

Vor allem den Armen Gehör schenken und ihnen dienen, d.h. mit ihnen teilen

26. Der im wirtschaftlichen Sinn arme Mensch beweist leider den Mangel an menschlicher Sorge um das Gemeinwohl. Doch hat er uns etwas zu sagen, das wir nur von ihm lernen können. Was das praktische Leben angeht, so hat er seine eigene Sichtweise, seine eignen Erfahrungen, die die Reichen nicht kennen. Papst Johannes Paul II. hat dies in seiner Enzyklika Centesimus annus folgendermaßen ausgedrückt: »Vor allem aber ist es notwendig, eine Denkweise aufzugeben, die die Armen der Erde - Personen und Völker - als eine Last und als unerwünschte Menschen ansieht, die das zu konsumieren beanspruchen, was andere erzeugt haben...Die Hebung der Armen ist eine große Gelegenheit für das sittliche, kulturelle und wirtschaftliche Wachstum der gesamten Menschheit«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Centesimus annus (1991), Nr. 28.</ref>

Die Sichtweise der Mittellosen ist gewiß nicht exakter oder vollständiger als die der Verantwortlichen; aber sie ist wichtig für die letzteren, wenn diese nicht wollen, dass ihr Handeln auf lange Sicht zur Selbstzerstörung führt. Wer eine kostspielige und schwierige Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt, ohne die Sichtweise des Kleinsten zu berücksichtigen, läuft Gefahr, nach einer gewissen Zeit in eine Sackgasse zu laufen, was sehr kostenintensiv für die gesamte Welt werden kann. Genau das ist bei der Verschuldung der Dritten Welt passiert. Hätten Gläubiger und Schuldner die Sichtweise der Ärmsten als ein wichtiges Stück Realität berücksichtigt, dann hätte dies zu mehr Vorsicht geführt, und in vielen Ländern wäre dieses riskante Unterfangen nicht so negativ verlaufen, hätte sogar ein gutes Ende genommen.

Die Komplexität der zu lösenden Probleme oder - besser gesagt - der Situationen, die es zu verbessern gilt, erfordert von uns, den Ärmsten aufmerksam zuzuhören. Nur so können wir vermeiden, Sklaven des kurzfristigen Denkens zu werden, im Bereich von Technologie, Bürokratie, Ideologie oder durch verklärte Vorstellungen von den Möglichkeiten des Staates oder des Marktes: Beide haben eine wichtige Rolle zu spielen, aber sie sind nur Mittel, nicht Selbstzweck.

Rolle der Vermittlungsinstanzen ist es, den Armen Gehör zu verschaffen und ihre Sichtweisen, Bedürfnisse und Wünsche festzuhalten. Diese Vermittlungsinstanzen sind aber gerade mit dieser Aufgabe überfordert. Sie leiden selbst unter ihrer eigenen Monopolstellung, die von ihnen verlangt, ihre Machtstellung zu festigen, oder sie leiden unter der Konkurrenz, die die Armen als Mittel zur Macht ausnutzen will. Die Gewerkschaften haben hier eine sehr wichtige Ziele. Sie müssen fast heldenhafte Leistungen erbringen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, ohne dabei verdrängt oder vereinnahmt zu werden.<ref>Vgl. Larry Salmen, Listen to the People, Participant-Observer Evaluation of Development Projects, The World Bank and Oxford University Press, 1987. In diesem Zusammenhang interessiert, wie der beteiligte Beobachter - ein Berater der Weltbank - vorgegangen ist. Er ließ sich von der Liebe zu den Menschen leiten und hat nicht davor zurückgeschreckt, mehrmals drei bis sechs Monate ununterbrochen in den »Favelas« Südamerikas zu leben (Quito und La Paz), um das Leben der Bevölkerung zu teilen. Er hatte die Gelegenheit, die Architekten bei Bauarbeiten in der Stadt zu beraten, damit die neuen Bauten nicht systematisch von den neuen Bewohnern, die aus ihren Elendsvierteln kamen, heruntergewohnt wurden. Er paarte aufmerksames Zuhören - hier war der Arme gleichzeitig Kunde - mit gesundem Menschenverstand und sehr viel Mut. Später ging er ebenso in Thailand vor. Er setzte die Autorität der Weltbank ein, um die hohen Beamten in Thailand dazu zu ermuntern, selbst einmal eine Zeitlang das Leben ihrer armen Mitbürger zu teilen, um so den Erfolg der städtischen Wohnungsbauprogramme zu garantieren. Auch der unglaubliche Einsatz eines englischen protestantischen Pastors sollte hier genannt werden. Stephen Carr hat zwanzig Jahre lang in zwei afrikanischen Dörfern gelebt und nur die dort üblichen traditionellen Techniken genutzt. In beiden Dörfern gewann er großen Einfluss. Als er unvorhergesehen in Washington Station machte, interviewte ihn die Weltbank 1985/86. Sein Zeugnis war sehr aufschlußreich für die Experten der Bank, die mit ihren landwirtschaftlichen Projekten in Afrika Mißerfolg auf Mißerfolg verzeichnen mussten. Es herrscht eine Symbiose zwischen dem Bauern und dem Boden. Der Boden in Afrika ist schön und fruchtbar, aber sehr anfällig. Die neuen Verhaltensweisen der Bauern, hervorgerufen durch die moderne Wirtschaft und der Verlust ihres althergebrachten Glaubens, führte zur Zerstörung des Bodens. Die katholischen Missionare - und vielleicht auch andere - hatten dies erfasst. Immer achteten die Missionare die Talente und vor allem die traditionellen Erfahrungen. Einige ONG, z.B. die Fidesco, die ihren Sitz in Frankreich hat und in verschiedenen anderen Ländern arbeitet, haben diese wiederentdeckt.</ref>

In solchen Situationen wird Teilen zu einer echten Zusammenarbeit, zu der jeder beiträgt, indem er allen das gibt, was die Gemeinschaft braucht. Der Ärmste hat seine eigene wichtige Aufgabe, wichtig gerade deshalb, weil er tatsächlich ausgeschlossen ist.<ref>Vgl. die Veröffentlichungen von P. Joseph Wrejinsky und ATD Vierte Welt.</ref> Dieses Paradoxon sollte den Christen nicht erstaunen. Die Pflicht, jedem das gleiche Zugangsrecht zum nötigen Existenzminimum zu gewähren, wird nicht nur als moralische Verpflichtung des Teilens mit dem Ärmsten gesehen, was an sich schon sehr wichtig ist, sondern auch als deren Wiedereingliederung in die Gemeinschaft selbst, die ohne den Ärmsten zu verkümmern droht. Der Platz des Ärmsten ist nicht am Rand, in der Marginalität, aus der man ihn mehr schlecht als recht herauszureiben versucht. Der Ärmste steht im Mittelpunkt unserer Anliegen und Sorgen. Er steht im Zentrum der Menschheitsfamilie. Dort kann er seine einzigartige Rolle in der Gemeinschaft spielen.

Von diesem Blickwinkel aus gesehen, zeigt sich die wahre Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit, die auch eine ausgleichende Gerechtigkeit ist. Sie ist Grundlage allen Handelns für die Verteidigung der Rechte. Sie garantiert den sozialen Zusammenhalt, die friedlichen Koexistenz der Nationen, aber auch ihre gemeinsame Entwicklung.

Eine integrierte Gesellschaft

27. Das Bild von der Gerechtigkeit, die in der menschlichen Solidarität verwurzelt ist und also solche dem Stärksten aufträgt, dem Schwächsten zu helfen, muss uns überall dorthin führen, wo die Stimmen der Ärmsten ertönen, damit wir in Gerechtigkeit, Frieden und Nächstenliebe vereint an der einen, alle umfassenden Gesellschaft arbeiten.

Gesellschaften sind letztendlich zum Scheitern verurteilt, wenn sie einige ihrer Glieder ausstoßen. Diese Feststellung wäre nicht kohärent, beinhaltete sie nicht auch das Recht der Armen, sich zusammenzuschließen, um besser Hilfe von allen Seiten zu erhalten und ihr Elend zu überwinden.

Frieden: Rechte im Gleichgewicht

28. Dauerhafter Frieden ist nicht das Ergebnis eines Gleichgewichts der Kräfte, sondern eines Gleichgewichts der Rechte. Frieden ist auch nicht gleichbedeutend mit dem Sieg des Starken über den Schwachen, sondern mit dem Sieg der Gerechtigkeit über die ungerechten Privilegien, dem Sieg der Freiheit über die Tyrannei, der Wahrheit über die Lüge,<ref>Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (1963), Kap. III, AAS 55 (1963) 5, 279-291.</ref> der Entwicklung über den Hunger, das Elend und die Erniedrigung innerhalb jedes Volkes und zwischen den Völkern. Will man wahrhaften Frieden und wirkliche internationale Sicherheit schaffen, reicht eine bloße Vermeidung von Kriegen und Konflikten nicht aus. Man muss Entwicklung fördern, Bedingungen schaffen, die in der Lage sind, die Grundrechte des Menschen zu garantieren.<ref>Johannes Paul II. Ansprache zum 50. Jahrestag der Gründung der FAO (23. Okt. 1995), Punkt 2, L'Osservatore Romano, Ausgabe in deutscher Sprache, Nr. 45 vom 10.11.1995.</ref> Demokratie und Abrüstung sind zwei Forderungen des Friedens, der unabdingbar für ein wirkliche Entwicklung ist.

Dringlichkeit der Abrüstung

29. Regionale Konflikte haben innerhalb von fünfzig Jahren ca. siebzehn Millionen Menschenleben gefordert. »In den achtziger Jahren sind die Militärausgaben auf den höchsten Stand in Friedenszeiten gestiegen; sie werden auf eine Billion (tausend Milliarden) Dollar (pro Jahr) geschätzt. Sie machten etwa fünf Prozent des gesamten Welteinkommens aus«.<ref>Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1990, Washington 1990, S. 19.</ref> Hier zeigt sich, wie wichtig und vordringlich es ist, dass alle politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen handeln, damit diese gigantischen Summen, die bislang für den Tod ausgegeben wurden - auf der nördlichen wie auf der südlichen Halbkugel - von nun an für das Leben ausgegeben werden. Eine solche Haltung entspräche den sittlichen Kräften, die für eine schrittweise Abrüstung kämpfen. So würden beachtliche finanzielle Mittel frei, die den Entwicklungsländern zugute kommen könnten; denn sie benötigen sie dringend für ihren Fortschritt.<ref>Vgl. Päpstlicher Rat »Justitia et Pax«, Der internationale Waffenhandel. Ethische Überlegungen, Vatikanstadt 1994.</ref>

Eine besonders hartnäckige »Struktur der Sünde« ist der Export von Waffen in einer Quantität, die weit über das berechtigte Bedürfnis nach Selbstverteidigung des Käuferlandes hinausgehen oder die für den internationalen Waffenhandel bestimmt sind. Heutzutage kann jeder, der über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, per Katalog modernste Waffen bestellen. In diesem Bereich breitet sich die Korruption aus. Schlimmer aber noch ist diese üble Praxis in sich. Wir sollten den Hut vor jenen Regierungen ziehen, die den Mut hatten, Verträge über Waffenkäufe, die ihre Vorgänger - Regime, die sich bis an die Zähne bewaffnet haben - eingegangen waren, nicht zu verlängern und die so Gefahr liefen, sich den Unmut der exportierenden Länder zuzuziehen.

Achtung der Umwelt

30. Die Natur ist dabei, uns eine Lektion in Sachen Solidarität zu erteilen, aber wir beachten sie kaum. Bei der Herstellung von Nahrungsmitteln sind alle Menschen aktive oder passive Bausteine eines Ökosystems. Dem Bewusstsein eröffnet sich so ein neues Feld der Verantwortung.

Man kann nicht eine wachsende Anzahl von Menschen satt machen wollen und gleichzeitig die Landwirtschaft schwächen. Und doch verschmutzt die Landwirtschaft derart die Umwelt (massenhafter Einsatz von Dünger, Pestiziden und Maschinen), dass sie zum Industriesektor geworden ist; eine saubere Produktionsweise ist in diesem Sektor noch nicht Wirklichkeit geworden. Umweltverschmutzung, übermäßiger Konsum, Versteppung und Entwaldung gefährden neben anderen lebensnotwendigen Ressourcen Luft, Wasser, Böden und Wälder. Innerhalb von fünfzig Jahren wurde die Hälfte des tropischen Regenwaldes abgeholzt mit dem Ziel, die Böden anders zu nutzen oder durch beschleunigte Ausbeutung die Schuldenlast abbauen zu können. Welche Kurzsichtigkeit! In den ärmsten Regionen wird die Versteppung durch Überlebensstrategien hervorgerufen, die die Armut noch vergrößern: Überweidung, Abholzen von Bäumen und Büschen zum Kochen von Nahrung oder zum Heizen.<ref>Vgl. FAO, Nachhaltige Entwicklung und Umwelt, Politik und Aktivitäten der FAO, Rom, 1992.</ref>

Ökologie und ausgewogene Entwicklung

31. Ein ökologisch verantwortliches Umgehen mit der Erde ist dringend geboten. Wir möchten zwei Aspekte aus dem Bereich der Nahrungsmittelproduktion, die einen bedeutenden Sektor darstellt, hervorheben. Zunächst einmal sind die anfallenden Kosten in den Wirtschaftsprozess einzubinden;<ref>Vgl. Johannes Paul II. Ansprache anlässlich der 25. Tagung der Konferenz der FAO, 16. November 1989, Nr. 8, AAS 82, (1990) 7, 672-673.</ref> wir müssen uns die Frage stellen, ob es immer die Armen sein müssen, die diese Last in Form von Nahrungsproblemen zu tragen haben. Zweitens beschleunigt der Wunsch, die Zusammenhänge zwischen Ökologie und Wirtschaft besser zu verstehen, die Idee einer dauerhaften Entwicklung. Diese Erkenntnis kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ausgewogene Entwicklung mit mehr Kraft als bisher gefördert werden muss. Schließlich kann eine Entwicklung ja nur dauerhaft sein, wenn sie ausgewogen ist. Ansonsten laufen wir Gefahr, zu den vorhandenen Ungleichgewichten neue hinzuzufügen.

Die Herausforderung gemeinsam annehmen

32. Hunger und Mangelernährung erfordern konkretes Handeln, das von der Bemühung um eine umfassende Entwicklung der Menschen und der Völker nicht getrennt werden kann. Die Aufgabe ist so gewaltig, dass die Katholische Kirche in immer stärkerem Maße zur Verbesserung der Situation beitragen muss. Sie muss alle dazu aufrufen, gemeinsam und mit Ausdauer an dieser Aufgabe zu arbeiten.

Glücklicherweise haben schon viele Menschen, Nicht-Regierungs-Organisationen, Behörden und Internationale Organisationen sich dafür eingesetzt, den Hunger zu besiegen. Erinnern wir nur an die internationale Kampagne gegen den Hunger und weitere Initiativen, an denen sich Christen gern beteiligen.

Den Beitrag der Armen zur Demokratie anerkennen

33. Es bleibt weithin unbeachtet, wie dynamisch arme Menschen sind. Damit dies bekannt wird, müssen sich sehr viele Einstellungen und Handlungsweisen - im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bereich - ändern. Wenn Arme nicht an der Ausarbeitung von sie betreffenden Projekten teilhaben dürfen, dann - so lehrt die Geschichte - können sie meist auch nicht in vollem Maße aus diesen Projekten Nutzen ziehen. Wir müssen Solidarität in der Gemeinschaft schaffen. Wir lernen nur, das tägliche Brot zu teilen, wenn wir bereit sind, Bewusstsein und Handeln in der gesamten Gesellschaft neu auszurichten.<ref>Vgl. die Päpstlichen Autographen der Errichtung der Stiftungen »Johannes Paul II für die Sahelzone«, gegründet am 22. Februar 1984 und »Populorum Progressio«, gegründet am 13. Februar 1992. Der Sitz der beiden Stiftungen ist beim Päpstlichen Rat »Cor Unum« im Vatikanstaat; der Sitz des Verwaltungsrats der Stiftung »Johannes Paul II. für die Sahelzone« ist in Ougadougou (Burkina Faso) und der der Stiftung »Populorum Progressio« in Santafé de Bogotà (Kolumbien).</ref> Eine solche Haltung führt zu wirklicher Demokratie.

Die Demokratie wird gemeinhin als unabdingbares Element für die menschliche Entwicklung anerkannt, weil sie eine verantwortliche Teilnahme an der Verwaltung der Gesellschaft ermöglicht. Demokratie und Entwicklung gehen Hand in Hand; die Anfälligkeit der einen kann die andere gefährden. Wenn das Gleichheitsprinzip sich dem Kräfteverhältnis unterordnen muss, kann das für die Armen heißen, dass sie nur noch das Existenzminimum erhalten. Eine Demokratie wird daran gemessen, wie sie Freiheit und Solidarität miteinander in Einklang bringt, ohne einem absoluten Liberalismus oder einer anderen Lehre das Wort zu reden, die die Bedeutung von Freiheit nicht anerkennt oder die echte Solidarität behindert.<ref>Vgl. Johannes Paul II. Ansprache vor den Vereinten Nationen zum 50jährigen Bestehen der Weltorganisation (5. Oktober 1995), Nr. 12 und 13, L'Osservatore Romano (Ausgabe in deutscher Sprache), Nr. 41 vom 13. Oktober 1995.</ref>

Gemeinschaftliche Initiativen

34. Eine wachsende Anzahl von Menschen und Gruppen antwortet auf das Elend mit der Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktionen. Sie sind es wert, gefördert zu werden. Mehr und mehr Länder unterstützen die Beteiligung der Bevölkerung an diesen Initiativen, aber verschiedene Kräfte versuchen immer noch, sie zu zerstören, weil sie ihnen lästig sind - was zum Teil folgenschwer ist - obwohl sie doch unerlässliche Grundlage einer echten Entwicklung sind.

Verschiedene Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) im Entwicklungssektor wurden aufgrund örtlicher Initiativen ins Leben gerufen. Sie haben die Entstehung einer neuen volksnahen Bürgerschaft in mehreren Entwicklungsländern gefördert. Diese NRO haben verschiedenste Möglichkeiten der Konzertierung und Unterstützung auf den Weg gebracht. Dank der aktiven Mithilfe des Volkes, die dadurch entstand, konnte eine große Anzahl armer Menschen ihr Elend überwinden und ihre Situation, die von Hunger und Mangelernährung geprägt war, verbessern.

In den letzten Jahren haben Internationale Katholische Verbände und neue Kirchliche Gemeinschaften Initiativen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich verwirklicht. In ihrem Kampf gegen Hunger und Elend sind sie geistige Erben etwa von mittelalterlichen Berufsverbänden, vor allem von den Genossenschaften des 19. Jhdts. Die Initiatoren, die sich für das Gemeinwohl einsetzten, gründeten Institutionen im Sinne des Evangeliums oder in Anlehnung an soziale Solidarität. Der erste, der die Bedeutung der Hilfe zur Selbsthilfe hervorhob, war der Quäker P.C. Plockboy (1695). Andere Pioniere sind besser bekannt: Félicité Robert de Lamennais (1854), Adolf Kolping (1865), Robert Owen (1858), Baron Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1877). Heute entstehen Vereinigungen, die das Gemeinwohl der Gesellschaft anstreben und Egoismus, Hochmut und Habgier, die häufig das Gemeinschaftsleben regieren, zurückdrängen wollen. Die Erfahrungen, die im Laufe der Geschichte gemacht worden sind und die Ergebnisse dieser neuen Initiativen geben Anlaß zu der Hoffnung, dass in Zukunft ihre Früchte geerntet werden können.<ref>Wir möchten hier einige dieser Initiativen nennen: Ökonomie der Gütergemeinschaft Opera di Maria, Bewegung der Fokolare (Rocca di Papa Italien); AVSI Comunione e Liberazione (Mailand); Fidesco Communauté Emmanuel (Paris); Familienmission Gemeinschaft des Neukatechumenats (Madrid Rom); Sozialwerk »Kolping International« (Köln).</ref>

Zugang zu Krediten

35. »Einer der großen Erfolge der NRO war es, den Armen den Zugang zu Krediten zu ermöglichen«.<ref>UNDP, op. cit., S. 31 (vgl. Fußnote 30).</ref> Der Zugang von breiteren Bevölkerungsgruppen zu Krediten hat enorm an Bedeutung gewonnen. Er kann einer Selbstversorgungswirtschaft dabei helfen, die Grundlagen für eine echte Volkswirtschaft zu legen. Bislang hat man einen entscheidenden Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht erreichen können, aber man muss berücksichtigen, welche Bedeutung das Phänomen in sich birgt und wohin es führt. Wenn die Gemeinschaftsinitiativen Unterstützung finden und den Partnern vor Ort Vertrauen entgegengebracht wird, dann kann aus einer bloßen Unterstützung langsam die Grundlage einer umfassenden Entwicklung erwachsen.<ref>Vgl. IFAD (International Fund for Agricultural Development - Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung), The Role of Rural Credit Projects in Reaching the Poor, Rom-Oxford 1985.</ref>

Die ausschlaggebende Rolle der Frauen

36. Im Kampf gegen Hunger und für Entwicklung spielen die Frauen eine ausschlaggebende Rolle, die allzu oft noch nicht ausreichend anerkannt und geschätzt wird. Frauen sind eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben ganzer Völker, vor allem in Afrika; denn sie produzieren den Hauptteil der Nahrung für die Familien. Sie haben in den Entwicklungsländern die schwere Aufgabe, ihre Familien mit einer gesunden und ausgewogenen Ernährung zu versorgen. Sie sind auch die ersten Opfer von Entscheidungen, die ohne ihr Wissen getroffen werden - wie zum Beispiel die Aufgabe der Getreidefelder und der regionalen Märkte, die sie hauptsächlich verwalten. Solche Entscheidungen missachten die Frau und schaden der Entwicklung. Der Übergang zur Marktwirtschaft und die Einführung neuer Technologien können sich unter solchen Umständen trotz bester Absichten negativ auswirken und die Arbeitsbedingungen der Frauen noch verschlechtern.

Frauen sind von der Mangelernährung in besonderer Weise betroffen: In erster Linie sind sie es, die darunter leiden, und sie geben den Mangel schon in der Schwangerschaft an ihre Kinder weiter. Die gesundheitliche und schulische Zukunft ihrer Kinder ist in Gefahr. Doch ein noch viel höheres Ziel steht an: Es geht darum, den sozialen Status der Frauen in den armen Länder zu verbessern, indem man ihnen einen besseren Zugang zu Gesundheit, Bildung und auch zu Krediten ermöglicht. So können die Frauen sich im Einsatz für ein Wachstum der Bevölkerung, für Entwicklung und für wirtschaftlichen und politischen Fortschritt in ihren Ländern verwirklichen.<ref>Vgl. Johannes Paul II. Brief an die Frauen, (29. Juni 1995), Nr. 4, AAS 87 (1995) 9, 805-806.</ref>

Dieser Fortschritt sollte freilich die Rolle des Mannes und der Frau schützen und erhalten, ohne einen Graben zwischen ihnen entstehen zu lassen; ohne die Männer weiblich zu machen oder die Frauen männlich.<ref>Vgl. Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (1988) Nr. 6-7. Vgl. auch Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (1988), Nr. 50.</ref> Dennoch darf die wünschenswerte Weiterentwicklung der Situation der Frau nicht auf Kosten der Aufmerksamkeit gehen, die sie dem Leben, das entsteht und sich entfaltet, schenken soll. Einige Entwicklungsländer gehen hier mit ihrem Beispiel voran, indem sie der überzogenen Umgestaltung der weiblichen Empfindsamkeit, wie wir sie zur Zeit im Westen beobachten, einen Riegel vorschieben, ohne dabei die Frau in ihre rechtlose Rolle zurückzudrängen. Hüten wir uns davor, in diesem Bereich wieder den Fehler zu machen, traditionelle Strukturen zugunsten westlicher Modelle aufzugeben, obwohl diese den örtlichen Gegebenheiten überhaupt nicht angepabt sind bzw. nicht schematisch übertragen werden können.

Integrität und soziales Bewusstsein

37. Die Gesamtheit der sozialen und wirtschaftlichen Kräfte muss mobilisiert werden, eine Entwicklungspolitik auf den Weg zu bringen, die allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht und die geforderten Anstrengungen und Opfer erbringt. Bedingung dafür ist, dass die Verantwortlichen eindeutige Zeichen der Integrität und des Gemeinsinns setzen. Phänomene wie Kapitalflucht, Verschwendung oder Aneignung von Ressourcen zugunsten einer familiären, sozialen, ethnischen oder politischen Minderheit sind weit verbreitet und bekannt. Diese Mißstände werden oft angeprangert, aber keiner der Schuldigen wird unmißverständlich dazu aufgefordert, dieses schädliche Tun, das auf Kosten der Armen geht, zu unterlassen, obwohl es unglaubliche Ausmaße angenommen hat.<ref>Das ungefähre Ausmaß der Korruption ergibt sich aus den »gewaschenen« Geldsummen, deren Höhe von den zuständigen Behörden, die Betrugsvergehen ahnden, geschätzt wird.</ref>

Gerade die Korruption<ref>Vgl. Johannes Paul II. Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987), Nr. 44, 576-577.</ref> stellt häufig ein Hindernis für notwendige Reformen zur Förderung von Gemeinwohl und Gerechtigkeit - zwei Seiten derselben Medaille - dar. Die Gründe für Korruption sind vielfältig; aber immer stellt sie einen schweren Vertrauensmißbrauch dar, begangen von einer Person, die von der Gesellschaft beauftragt wurde, sie zu vertreten und die statt dessen diese sozialen Befugnisse für persönliche Vorteile mißbraucht. Die Korruption erweist sich als ein Mechanismus, der aus den »Strukturen der Sünde« erwächst, und der Preis, den unsere Welt dafür zahlen muss, ist weitaus höher als die Gesamtsumme der unterschlagenen Gelder.

III. FÜR EINE SOLIDARISCHERE WIRTSCHAFT

Dem einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit besser dienen

38. Wachsender Wohlstand ist für die Entwicklung notwendig, aber die makroökonomischen Reformen, die immer mit einer Begrenzung der Einkommen einhergehen, können scheitern, wenn die Strukturreformen - vor allem im staatlichen Sektor - nicht mit der nötigen politischen Entschlossenheit verwirklicht werden: Reform der Rolle des Staates, Abbau der Hindernisse im politischen und sozialen Bereich. Ansonsten wird unnötigem Leid und einem schnellen Scheitern Vorschub geleistet. Diese anspruchsvollen, manchmal sogar äußerst brutalen Reformen werden immer von Hilfen der internationalen Gemeinschaft begleitet, die Druck auf die politisch Verantwortlichen ausübt - oft auf deren Wunsch hin, damit dem Land vor Augen tritt, welche Entscheidungen nötig sind, Entscheidungen, die die Industrieländer seit den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu treffen hatten.

Es ist Aufgabe der internationalen Institutionen, Vorkehrungen zu treffen, um das Leiden derer abzumildern, die von den Neuerungen am meisten betroffen werden. Diese flankierenden Maßnahmen müssen in die von den Regierungen ausgearbeiteten Pläne integriert werden. Dabei ist auf deren Ratschläge zu hören. Die Internationalen Organisationen sollten gleichfalls das Vertrauen in die Regierung des Landes fördern, damit diese in Zeiten der Reformen die nötige finanzielle Unterstützung von staatlicher oder privater Seite erhält. Sie müssen ebenfalls auf die Regierung Druck ausüben, alle sozialen Gruppen an der gemeinsamen Anstrengung mitwirken zu lassen. Sonst wird kein höheres Gemeinwohl und keine soziale Gerechtigkeit erreicht, die unter solchen Gegebenheiten so schwer zu erhalten ist, gerade weil sie in den Kinderschuhen steckt.

Das Personal der internationalen Institutionen muss unabdingbar über technisches Know-how verfügen, was glücklicherweise im allgemeinen der Fall ist, aber auch über Einfühlungsvermögen, das nicht durch bürokratische Regelungen oder eine rein wirtschaftliche Ausbildung erlernt werden kann. Gerade hier verdienen die Armen besonders aufmerksames Gehör. Es geht darum, konkrete Maßnahmen im Einklang mit den NRO und den Katholischen Verbänden sowie im Dialog mit den Ärmsten zu treffen. Die Bedeutung dieses Aspekts kann nicht oft genug betont werden. National und international Verantwortliche neigen dazu, dies zu vergessen, da allein der technische Aspekt schon enorme Probleme mit sich bringt.

Alle nationalen und internationalen Organisationen, die ständig mit entwicklungsschwachen Ländern im Dialog stehen, müssen persönliche und informelle Kommunikation ermöglichen zwischen den örtlichen Helfern und denen, die im technischen Bereich die Linien der Reformen vorgeben. Hierbei ist das gegenseitige Vertrauen derer, die gemeinsam den Menschen, jedem einzelnen Menschen dienen, von großer Wichtigkeit, damit Ökonomismus oder Ideologie vermieden werden.

Das Handeln aller in Einklang bringen

39. Die reichsten Länder des Westens tragen besondere Verantwortung bei der Reform der Weltwirtschaft. In letzter Zeit haben sie die Beziehungen zu den Ländern ausgebaut, die erste wirtschaftliche Erfolge verzeichnen und damit wirklich »Entwicklungs«-länder sind und auch zu den Ländern Osteuropas, die ihnen - geographisch gesehen - näher stehen und deren weitere Entwicklung bedrohlich werden könnte.

In den reichen Ländern selbst gibt es genug wirtschaftlich Arme und schwierige Reformen, die im Land selbst durchgesetzt werden müssen. Daher liegt die Versuchung nahe, die Armen in den Entwicklungsländern an die zweite Stelle zu setzen. »Wir sind nicht für das Elend der ganzen Welt verantwortlich«, lautet eine Aussage, die in den reichen Ländern immer wieder zu hören ist.

Eine solche Haltung ist verwerflich und hätte, würde sie von vielen eingenommen, schlimme Folgen. Alle Menschen, wo sie auch leben, vor allem diejenigen, die über wirtschaftliche Mittel verfügen und Einfluss haben, müssen sich immer vom Elend der Ärmsten in Frage stellen lassen und deren Interessen in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Dieser Appell ergeht an alle wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte.

Er richtet sich auch an all diejenigen, die in den verschiedenen Ländern oder auf internationaler Ebene der Entwicklung des Gemeinwohls im Wege stehen, weil sie nur ihre eigenen Interessen - so legitim sie auch seien - verfolgen. Die Wahrung dieser erworbenen Rechte in einem Land kann zur Folge haben, dass der Hunger irgendwo in der Welt zunimmt, ohne dass man eine konkrete Verbindung zwischen Ursache und Opfer herstellen könnte. Daher ist es einfach, den Zusammenhang zu leugnen. Konservatives Denken in anderen Bereichen und an anderen Orten kann ähnliche Folgen haben.

Die Reform des Welthandels schreitet voran und ist weiterhin wünschenswert. Sie betrifft vor allem die Armen der reichen Länder. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass hinter diesem Ziel die Ärmsten der armen Länder nicht zurücktreten müssen - diejenigen, die keine Stimme haben, die sie international zu Gehör bringen könnten. Sie müssen ins Zentrum internationaler Anliegen treten und gleichrangig neben die anderen Anliegen gestellt werden. Begrüßenswert ist sicherlich, dass die Weltbank seit einigen Jahren das Ziel verfolgt, »das Elend auszutilgen«.

Die Verantwortlichen in den Entwicklungsländern dürfen nicht auf eine eventuelle internationale Reform warten, bevor sie in ihrem Land die nötigen Reformen - sie sind oftmals deutlich zu benennen - für einen wirtschaftlichen Aufschwung unternehmen. Dieser Aufschwung hängt nicht von besonders hohen Einnahmen ab, sondern von einer mutigen und konsequenten Anwendung einfacher Regeln: Sie erlauben es denen, die in der Lage sind, sinnvolle Initiativen ins Werk zu setzen und einen Teil des Ertrags zu behalten. Und sie verbieten denen, die dazu nicht in der Lage sind, die nationalen Ressourcen auszubeuten und eine unangemessene Belohnung einzustecken. Die Völker müssen überzeugt sein, »dass bei diesem wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Aufstieg ihnen selbst die erste Verantwortung zukommt und dass sie dabei die Hauptarbeit zu leisten haben«.<ref>Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris, Kap. III.</ref> Wie schon erwähnt, muss ein klares Signal für eine verantwortungsbewusste und mutige Haltung zum Dienst an der Gemeinschaft des Landes von den Regierungen und Institutionen ausgehen, die mit den Entwicklungsländern zusammenarbeiten.

Der politische Wille der Industrieländer

40. Die staatlichen Organe der reichen Länder müssen darauf hinwirken, dass die öffentliche Meinung für die Not der Armen - ob nah oder fern - sensibilisiert wird. Ihre Aufgabe ist es auch, Initiativen internationaler Institutionen so gut wie möglich zu unterstützen, wenn diese darauf abzielen, das Leiden zu mildern. Sie sollten ihnen helfen, sofort Maßnahmen zu treffen, die den Hunger in der Welt langfristig lindern können. Das fordert die Kirche mit Nachdruck seit mehr als hundert Jahren: Sie verlangt, dass die Rechte der Schwächsten durch das Eingreifen staatlicher Instanzen geschützt werden.<ref>Vgl. Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum, 15. Mai 1891, Leonis XIII P.M. Acta, XI, Romae 1892, 97-144.</ref>

Bei der Sensibilisierung und Mobilisierung der Weltgemeinschaft, vor allem was die ethische Dimension der Herausforderung betrifft, helfen wertvolle und aussagegewichtige Texte beispielsweise des Wirtschafts -und Sozialrates (vor allem der Kommission der Menschenrechte), der UNICEF oder der FAO, deren Arbeiten wir hier erwähnen wollen; denn die bereits erwähnte Konvergenz zwischen kirchlicher Lehre und Bemühungen der Weltgemeinschaft um wachsende Mobilisierung zeigt sich sehr deutlich in folgenden Texten: Charta der Bauern in Internationale Erklärung zur Agrarreform und ländlichen Entwicklung (1979),<ref>Vgl. FAO, Charta der Bauern: Grundsatzerklärung und Aktionsprogramm in Bericht der Weltkonferenz zur Argrarreform und ländlichen Entwicklung, Rom 1979.</ref> Weltpakt für Ernährungssicherheit (1985),<ref>Vgl. FAO, Konferenzbericht der 23. Tagung, C85/REP, Seite 46, Rom, 9.-28. November 1985.</ref> Welternährungserklärung und Aktionsplan, verabschiedet von der Welternährungskonferenz (1992);<ref>Vgl. Fußnote 4.</ref> nicht zu vergessen einige Verhaltenskodizes oder internationale Verpflichtungen - politisch oder moralisch bindend - über Pestizide, pflanzengentechnische Ressourcen usw. Zu unterstreichen ist hier, dass die Weltbank sich diese ethischen Standpunkte unlängst zu eigen gemacht hat.<ref>Vgl. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1990, Vorwort, Washington 1990.</ref>

Menschliche Entwicklung entsteht nicht durch wirtschaftliche Mechanismen, die automatisch funktionieren, und die es einfach aufrechtzuerhalten gilt. Die Wirtschaft wird menschlicher, wenn in allen Bereichen Reformen durchgeführt werden, die sich vom bestmöglichen Dienst am Gemeinwohl leiten lassen, d.h. von einer ethischen Sichtweise, die auf dem unermesslichen Wert jedes einzelnen Menschen und aller Menschen gründet; eine Wirtschaft, die sich inspirieren lässt von der »Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen den Völkern auf der Basis eines konstanten Austauschs der Gaben aufzubauen, einer wahren Kultur des Schenkens, die jedes Land für die Bedürfnisse der Benachteiligten vorbereiten sollte«.<ref>Johannes Paul II. Ansprache zum fünfzigsten Jahrestag der Gründung der FAO, Nr. 4; L'Osservatore Romano vom 23./24.10.1995.</ref>

Die Austauschverhältnisse gerecht festlegen

41. Ein funktionierender Markt, der Entwicklung fördert, benötigt vernünftige Regelungen; er hat seine eigene Gesetzlichkeit, die die Entscheidungsfähigkeit der Teilnehmer überfordert, sobald diese eine gewisse Anzahl übersteigen und voneinander abhängig sind. Im Fall der Rohstoffmärkte etwa besteht die Spannung zwischen Regelung und Eigengesetzlichkeit fort - trotz beachtlicher Bemühungen der Regierungen und internationaler Organisationen wie der UNCTAD (Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen) und verschiedener Unternehmer aus dem Privatsektor. Es ist eben aus politischen wie humanitären Gründen nicht möglich, sich von einem Preisniveau loszukoppeln, das aus dem blinden Funktionieren der Märkte entsteht. Man muss in jedem Fall sorgen, dass nicht versucht wird, diese Märkte zu manipulieren.

Darüber hinaus sollen die Importländer für den Abbau von Barrieren sorgen bzw. dafür, dass keine neuen entstehen, die selektiv potentielle Importe behindern, die aus solchen Ländern kommen, in denen ein Großteil der Bevölkerung Hunger leidet. Die Importländer müssen darauf achten, dass die Gewinne derartiger Handelsgeschäfte zum Großteil den Ärmsten zugute kommen - eine nicht einfache Angelegenheit, die Mut und Präzision im Handeln erfordert.

Das Schuldenproblem lösen

42. Wie weiter oben schon erwähnt, wird die Schuldenlast sei 1985 von der Weltgemeinschaft verwaltet. Wichtigstes Anliegen ist es, das Finanzsystem, das die Finanzinstitutionen aller Länder verbindet, aufrechtzuerhalten. Dieses System hat in verschiedenen Ländern und im Laufe verschiedener Krisen dazu geführt, dass die Schulden sich auf einem bestimmten Niveau eingependelt haben und die Gläubiger eines Landes alle auf der gleichen Stufe stehen. Diese Situation hat nichts mit Recht oder sozialer Gerechtigkeit zu tun. Im Gegenzug dazu haben alle Kreditgeber einen gewissen Teil ihrer Forderungen aufgeben müssen, je nach Schuldensituation. Dies erfordert sehr viel Wachsamkeit und Gerechtigkeitssinn, damit die mutigsten und tüchtigsten Reformländer nicht gegen über anderen benachteiligt werden.

Natürlich muss der Schuldenberg noch weiter abgetragen werden. Aber die Verringerung der Schulden muss um der Gerechtigkeit willen mit Reformen in allen Ländern einhergehen, damit sie nicht Opfer neuer Ungleichgewichte werden, nachdem sie die Ursachen, die sie in die Schuldenkrise geführt hat, schon vergessen haben: defizitärer Staatshaushalt, nicht sinnvoll eingesetzte öffentliche Finanzmittel, private Entwicklung ohne wirtschaftliche Interessen, übersteigerte Konkurrenz zwischen Kreditgeberländern und Exportländern, die unnötige oder sogar schädliche Verkäufe fördern. Wichtig ist es zu erkennen, dass eine Verbesserung der Lage eines Entwicklungslandes nur möglich ist, wenn der soziale und politisch-institutionelle Rahmen stabiler gemacht wird.

Die staatliche Entwicklungshilfe aufstocken

43. Ziel des UNCTAD-Projekts für das zweite Entwicklungsjahrzehnt war es, die Entwicklungshilfe auf 0,7% des BIP der Industrieländer anzuheben. Nur einige Länder haben dieses Ziel erreicht;<ref>Vgl. UNDP, Weltentwicklungsbericht 1992, Economica Paris, 1992, S. 49. Vgl. auch UNO, Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro 1992, § 33.13:«Die Industrieländer wiederholen ihre Absicht, 0,7% ihres BIP für die SEH (Staatliche Entwicklungshilfe) aufzuwenden - die Zahl wurde von der UNO festgelegt und von ihnen übernommen - und, wenn das noch nicht der Fall sein sollte, ihre Hilfsprogramme zu verstärken, um diese Zahl so bald wie möglich zu erreichen... Einige Länder haben sich dafür ausgesprochen, diese Zahl vor dem Jahre 2000 zu erreichen.« Die Länder, die die erwähnte Zahl schon erreicht haben, werden zu diesem Erfolg beglückwünscht und dazu ermuntert, weiter für das gemeinsame Ziel zu arbeiten, die nötigen zusätzlichen Mittel bereitzustellen.</ref> auf dem »Gipfel« von Kopenhagen wurde es dennoch nochmals verkündet.<ref> Vgl. UNO, Bericht des Weltsozialgipfels (Kopenhagen, 6.-12.März 1995), Erklärung und Aktionsprogramm, § 88b.</ref> Im Durchschnitt beträgt die Entwicklungshilfe zur Zeit 0,33%; das ist noch nicht einmal die Hälfte des angestrebten Betrags!

Dass einige Länder ihr Versprechen einlösen, andere aber nicht, zeigt, dass Solidarität das Ergebnis der Entschlossenheit von Völkern und Staaten ist und nicht von technischen Automatismen. Es ist auch wichtig, dass ein größerer Teil dieser Hilfe für die Unterstützung von Projekten aufgewendet wird, an deren Entwicklung die Armen selbst mitarbeiten. Da die politisch Verantwortlichen in einer Demokratie von der öffentlichen Meinung abhängig sind, stehen in der Entwicklungshilfe verstärkt Bemühungen der Bewusstseinsbildung an. »Alle tragen wir gemeinschaftlich Verantwortung für die unterernährten Bevölkerungen. Daher heißt es das Bewusstsein erziehen zum Gefühl der Verantwortung, die auf allen und jedem, besonders auf den Wohlhabenden lastet«.<ref>Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra (1961), Kap. III.</ref>

Die staatliche Hilfe stellt die Geber- wie auch die Empfängerländer vor vielfältige ethische Probleme. Die Rechtfertigung neuer Geldströme ist überall ein Problem; ethische Fehler können Interessengruppen in den Exportländern mehr oder weniger offiziell Vorteile bringen. So werden Machtsituationen festgeschrieben, die als »Strukturen der Sünde« zu bezeichnen sind und die einer Klientelwirtschaft von allen Seiten Vorschub leisten.

Diese wirkungsvollen Mechanismen verhindern wirkliche Reformen und eine Förderung des Gemeinwohls. Die Auswirkungen können bedrohlich sein und zu Unruhen oder Stammesfehden in einem Land führen, das besonders anfällig dafür ist. Der Kampf gegen die »Strukturen der Sünde« bedeutet anderseits eine große Hoffnung für die ärmsten Länder.

Die Hilfe neu überdenken

44. Es geht für die Industrieländer nicht nur darum, ihre Entwicklungshilfe aufzustocken, sondern auch darum, über ihre Verwendung nachzudenken. Die »gebundene Hilfe« wird kritisiert, wenn die Hilfe an Bedingungen geknüpft ist, die das Geberland betreffen: Kauf von Fertigprodukten des Geberlandes, Anstellung von Fachkräften des Geberlandes statt der örtlichen Kräfte, Einklang mit den Strukturanpassungmaßnahmen usw. Demgegenüber kann eine Hilfe, die nicht an solche Bedingungen geknüpft ist, bessere Ergebnisse erzielen, was vielfach bewiesen werden konnte. Dennoch sollte die Idee der »gebundenen Hilfe« nicht a priori ausgeschlossen werden, vor allem, wenn sie auf einen gerechten Interessenausgleich abzielt und einen vernünftigen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel ermöglicht.

Dringlichkeitshilfe: eine Übergangslösung

45. Die Dringlichkeitshilfe (in Form von Nahrungsmitteln) sollte einmal näher betrachtet werden: Sie wird sehr uneinheitlich bewertet, vor allem, weil sie nicht die Wurzel des Hungers beseitigt. Manchen ist sie ein Hebel für eine gute Entwicklung, andere wiederum eine Handelswaffe. Kritisiert wird unter anderem, dass sie den Landwirten vor Ort keine Chance lässt; dass sie die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung ändert; dass sie als Mittel politischen Drucks benutzt wird, da sie in die Abhängigkeit führt; dass sie zu spät greift; dass sie geradezu eine Mentalität der Abhängigkeit schafft und nur den Vermittlern zugute kommt; dass sie die Korruption fördert und teilweise noch nicht einmal bis zu den Ärmsten vordringt. In einigen Ländern wird die Dringlichkeitshilfe - oft zu recht - permanent und sie wird zu einer strukturellen Hilfe: Sie senkt in der Handelsbilanz das staatliche Defizit. Sie kann also eine Art begleitende Maßnahme sein, wenn Strukturanpassungsmaßnahmen stocken und die Subventionen für Grundnahrungsmittel abgeschafft werden.

Die Dringlichkeitshilfe muss eine Übergangshilfe bleiben; ihr Ziel ist es, eine Bevölkerung in einer Krisensituation vor dem Verhungern zu bewahren. Als humanitäre Hilfe kann man sie nur bejahen. Nur die Mißbräuche rufen Kritik hervor. Oft erreicht etwa die Hilfe die Bevölkerung zu spät, oder sie entspricht nicht deren echten Bedürfnissen; die Verteilung wird schlecht organisiert; politische oder ethnische Faktoren oder Klientelwirtschaft leiten sie fehl. Diebstähle und Korruption führen dazu, dass die Nahrungsmittel nicht bis zu den Ärmsten kommen. Dringlichkeitshilfe ist eher eine dauerhafte strukturelle Hilfe, die von den einen als Hebel für Entwicklung und von den anderen als Handelswaffe, als Destabilisierungsfaktor für die Produktion und die Nahrungsgewohnheiten, als Ursache für Abhängigkeit gesehen wird. Tatsächlich kann sie gute wie schlechte Folgen haben. Zunächst einmal rettet sie ganze Bevölkerungsgruppen vor dem Hungertod. Darüber hinaus dürfen aber auch andere positive Aspekte nicht vergessen werden, z.B. Infrastrukturprojekte, die sie ermöglicht; Dreiecksgeschäfte; die Schaffung von Reserven im Entwicklungsland. Auch wenn es sich um ein zweischneidiges Schwert handelt, kann nicht darauf verzichtet werden.

Einvernehmen in der Hilfsleistung

46. Trotz der Kritik, die die Dringlichkeitshilfe hervorruft, erscheint ihre Verbesserung im Einvernehmen mit den Partnern auf den verschiedenen Ebenen möglich: Staaten, örtliche Behörden, NRO, kirchliche Vereinigungen. Die Hilfe könnte zeitlich begrenzt und sehr viel besser auf die Bevölkerung abgestimmt werden, die tatsächlich unter Nahrungsmangel leidet. Wenn es möglich ist, sollte die Nahrungsmittelhilfe Produkte enthalten, die aus dem Land selbst stammen. Auf jeden Fall sollte die Dringlichkeitshilfe dazu beitragen, die Bevölkerung aus ihrer Abhängigkeit zu reiben. Daher sind eine ausreichende Infrastruktur und Verteilungsmechanismen vor Ort vonnöten. Daneben muss die Hilfe immer von einem Projekt begleitet werden, dessen Ziel es ist, die Bevölkerung vor zukünftigen Hungersnöten zu bewahren. Demnach kann diese Form von Hilfe unter bestimmten Umständen als deutliches Zeichen einer internationalen Solidarität gewertet werden. »Diese Art von Versorgung bringt keine befriedigende Lösung, solange Situationen extremer Armut weiter bestehen und sich sogar noch vertiefen können, Situationen, die durch Unterernährung und Hunger zu höheren Sterberaten führen«.<ref>Johannes Paul II. Ansprache zum fünfzigsten Jahrestag der Gründung der FAO, Nr. 3. L'Osservatore Romano vom 23.24.10.1995.</ref>

: eine dauerhafte Lösung

47. »Das Problem des Hungers kann ohne einer Verbesserung der Ernährungssicherheit vor Ort nicht gelöst werden«.<ref>Vgl. UNDP, op. cit., S. 164-165 (vgl. Fußnote 63).</ref> Ernährungssicherheit besteht, wenn »alle Bewohner jederzeit Zugang zu den Lebensmitteln haben, die notwendig sind, um ein gesundes und aktives Leben zu führen«.<ref>FAO, Dimensions of Need (vgl. Fußnote 12), S. 35. Ernährungssicherheit hängt im allgemeinen von vier Elementen ab: der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln; dem Zugang zu ausreichender Nahrung; der Stabilität der Versorgung; der kulturellen Akzeptanz von Nahrungsmitteln oder verschiedener Nahrungsmittelzusammenstellungen.</ref> Hierfür ist es wichtig, Programme zu entwickeln, die der Produktion vor Ort Vorrang einräumen, eine wirksame Gesetzgebung, die die Anbauflächen schützt und der Bevölkerung Zugang zu diesen Anbauflächen zusichert. Eine Anzahl von Hindernissen hat bislang der Verwirklichung dieser Punkte in den Entwicklungsländern entgegengestanden. Es wird für die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in den Entwicklungsländern immer schwieriger und komplexer, Landwirtschaftspolitik zu definieren. Zu den zahlreichen Gründen für diese Situation gehört die Schwankung der Preise und der Währungen, die auch durch die Überproduktion landwirtschaftlicher Produkte hervorgerufen werden. Um Ernährungsicherheit zu gewähren, müssen Stabilität und Gerechtigkeit im Welthandel gefördert werden.<ref>Vgl. auch den Weltpakt für Ernährungssicherheit (1985), der schon unter Punkt 40 erwähnt wurde.</ref>

Vorrang für die Produktion vor Ort

48. Dass die Landwirtschaft im Entwicklungsprozess eine besonders wichtige Rolle spielt, wird allgemein anerkannt. Ungeachtet der internationalen Handelskonjunktur könnten die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit, aber auch die Ernährungssituation im Entwicklungsland großen Nutzen ziehen aus der Einrichtung von landwirtschaftlichen Systemen, die zwar nach außen offen sind, aber dennoch ihre interne Entwicklung vorrangig fördern. Hierzu ist ein wirtschaftliches und soziales Umfeld nötig, das auf einer besseren Kenntnis und einer besseren Verwaltung der landwirtschaftlichen Märkte vor Ort basiert; weiterhin die Förderung von Krediten für ländliche Entwicklung und technische Ausbildung; Rentabilität durch garantierte Preise vor Ort; eine echte Abstimmung zwischen den Entwicklungsländern; eine Zusammenarbeit der Bauern selbst und eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen. Diese Aufgaben erfordern Kompetenz und Willenskraft.

Die Bedeutung der Agrarreform

49. Die Lebensmittelproduktion vor Ort wird oft durch eine falsche Verteilung der Böden und durch ihre unvernünftige Nutzung behindert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Entwicklungsländern besitzt keine Böden, und dieser Anteil steigt ständig.<ref>Vgl. FAO, Landlessness. A Growing Problem, »Economic and Social Development Series« Punkt 28, Rom 1984.</ref> Auch wenn in allen Entwicklungsländern Agrarreformen laufen, so werden doch die wenigsten konsequent umgesetzt. Darüber hinaus sind die Böden, die von internationalen Nahrungsmittelkonzernen verwaltet werden, fast ausschließlich für die Ernährung der Bevölkerung auf der nördlichen Halbkugel genutzt, und die Art und Weise der Nutzung dieser landwirtschaftlichen Anbauflächen ermüdet die Böden. Eine »mutige Strukturreform und neue Muster für die Beziehung zwischen den Staaten und den Völkern«<ref>Johannes Paul II. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1990, »Friede mit Gott dem Schöpfer - Friede mit der ganzen Schöpfung«, Nr. 11, AAS 82 (1990) 2, 153.</ref> sind dringend erforderlich.

Die Rolle von Forschung und Erziehung

50. Die Aufgaben der Verantwortlichen im politischen und finanziellen Bereich sind gewiß von hohem Rang. Und doch ist bei einer so gewichtigen Herausforderung wie der des Hungers, der Mangelernährung und der Armut jeder Mensch dazu aufgerufen, sich zu fragen, was er tut oder tun könnte. Wir brauchen die Unterstützung der Wissenschaft: die intellektuelle Elite muss ihr Wissen und ihren Einfluss zur Lösung des Problems mobilisieren. Forschungsarbeiten in der Biotechnologie beispielsweise können dazu beitragen, die Ernährungssicherheit, die Gesundheitsfürsorge und die Energieversorgung weltweit - im Norden wie im Süden - zu verbessern. Die Geisteswissenschaften sollten durch ein besseres Verständnis und eine gerechtere Interpretation der Organisation im sozialen Bereich die Unausgewogenheiten des herrschenden Systems und seine negativen Folgen verdeutlichen und so dazu beizutragen, sie zu beheben. Sie können auch neue Wege für eine Solidarität zwischen den Völkern suchen und beschreiben;

– die Sensibilisierung von Menschen und Völkern: Gewinnen für die Nächstenliebe ist Aufgabe von Eltern, Erziehern, politisch Verantwortlichen - egal welcher Ebene - und Medienexperten; letztere haben eine besonders wichtige Aufgabe bei der Bewusstseinsbildung;

– eine Entwicklung, die diesen Namen verdient, in allen Ländern: Es sollte eine Erziehung gefördert werden, die nicht nur die nötigen Elemente für die Kommunikation, für die persönliche oder gemeinnützige Arbeit liefert, sondern die auch den Grundstein für ein sittliches Bewusstsein legt. Die Trennung von Erziehung und Entwicklung muss entfallen. Beide Ziele sind voneinander abhängig und derart miteinander verknüpft, dass es wichtig ist, sie gleichzeitig zu verfolgen, will man nachhaltige Ergebnisse erzielen. Aus solidarischer Pflicht ist daran mitzuarbeiten, »dass möglichst bald alle Menschen auf der ganzen Welt in den Genuß einer angemessenen Erziehung und Bildung gelangen können«.<ref>Conc. Oecum. Vat. II, Gravissimum educationis, Nr. 1; das Dokument, das sich auf Pius XI. bezieht, Enzyklika Divini illius magistri (1929), AAS 22 (1930), Seite 50ff.</ref>

Die internationalen Organisationen

Internationale Katholische Verbände, Internationale Katholische Organisationen,
Nicht-Regierungs-Organisationen und ihre Lebensnähe

51. Seit einigen Jahrzehnten sind Verbände und Organisationen - zum Teil aus freier Initiative gegründet - zu den bestehenden Hilfswerken hinzugekommen und dienen Menschen und Bevölkerungsgruppen in Schwierigkeiten. Diese internationalen Organisationen und Verbände sind oft unter folgenden Bezeichnungen bekannt: Internationale Katholische Verbände, Internationale Katholische Organisationen (IKO) und Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO). Diese Organisationen und Verbände sind für ihr vielfältigen Aktivitäten bekannt: Sie haben sich in der Förderung der ganzheitlichen Entwicklung der Armen und bei der Behebung von Notsituationen (z.B. Hungersnöte) bewährt. Sie machen auf verzweifeltes Elend aufmerksam, mobilisieren private und öffentliche Mittel und organisieren die konkrete Linderung vor Ort. Die meisten von ihnen haben im Laufe der Jahre den Kampf gegen den Hunger durch eine langfristige Arbeit für lokale Entwicklung ergänzt. Sie konnten sichtbare Erfolge verzeichnen, vor allem in Aktionen, die neue selbständige Initiativen ermöglichen oder in Projekten, die die Rolle der Institutionen und Gebietskörperschaften stärken.

Die Katholische Kirche hat seit jeher (lange bevor die NRO gegründet worden sind) diese Kräfte durch pfarrliche, diözesane, nationale, internationale Verbände und andere nahestehenden Organisationen,<ref>Vgl. auch Päpstlicher Rat »Cor Unum«, Catholic Aid Directory, 4. Ausgabe 1988 (Die 5. Ausgabe wird demnächst veröffentlicht). Als exemplarisch für viele sollen die Verbände aufgezählt werden, die Mitglied von »Cor Unum« sind: Association Internationale des Charités de St. Vincent de Paul (AIC), Caritas Internationalis, Unione Internazionale Superiore Generali (U.I.S.G.), Unione Superiori Generali (U.S.G.), Australian Catholic Relief, Caritas Italiana, Caritas Liban, Catholic Relief Services, Deutscher Caritasverband, Manos Unidas, Organisation Catholique Canadienne pour le Développement et la Paix, Secours Catholique, Kirche in Not, Gemeinschaft der Vinzenz-Konferenzen, Secrétariat des Caritas de l'Afrique francophone, Caritas Aotearoa (New Zealand), Caritas Bolivia, Caritas Espanola, Caritas Mocambicana, Misereor, Österreichische Caritaszentrale, Souveräner Malteser-Ritterorden.</ref> unterstützt und gefördert.

Wir möchten bei dieser Gelegenheit der Arbeit der internationalen Einrichtungen in ihrer Gesamtheit unsere Anerkennung aussprechen - gleich ob sie christlicher Natur<ref>Von großer Bedeutung ist die Einheit IV. beim »Weltrat der Kirchen«, Genf; auch die Tätigkeit des Roten Kreuzes muss hier genannt werden.</ref> sind oder nicht.

Der doppelte Auftrag Internationaler Organisationen

52. Der Auftrag internationaler Organisationen ist zweifacher Art: Sensibilisierung und konkretes Handeln. Diese beiden Aspekte sind unzertrennlich miteinander verbunden. Die Sensibilisierung aller für die Wirklichkeit und die Ursachen der unzureichenden Entwicklung ist von entscheidender Bedeutung. Von ihr hängt einerseits direkt die unerlässliche Sammlung privater Mittel und andererseits ein wachsendes Problembewusstsein in der Bevölkerung ab.

Die Bildung einer tragfähigen Zustimmung in der Bevölkerung ist für eine Aufstockung der staatlichen Entwicklungshilfe und für die Überwindung der »Strukturen der Sünde« unabdingbar.

Solidarische Partnerschaft

53. Internationale Organisationen müssen echte Partnerschaft mit den Gruppen leben, denen sie Hilfe bringen. So entsteht eine Solidarität mit geschwisterlichem Gesicht, im Dialog, in gegenseitigem Vertrauen, in respektvollen Zuhören.

Im sensiblen Bereich der Partnerschaft hat Papst Johannes Paul II. ein Zeichen gesetzt, das sein besonderes Anliegen zum Ausdruck bringt: Die Stiftung »Johannes Paul II. für die Sahelzone«, deren erklärtes Ziel der Kampf gegen die Versteppung in den Ländern südlich der Sahara ist sowie die Stiftung »Populorum Progressio«, die sich für die Ärmsten in Lateinamerika einsetzt und deren Arbeit von den Kirchen vor Ort in den betroffenen Regionen durchgeführt wird.<ref>Vgl. Fußnote 49.</ref>

IV. DAS JUBELJAHR 2000. EINE ETAPPE IM KAMPF GEGEN DEN HUNGER

Die Jubeljahre: Gott geben, was Gottes ist

54. In seinem Apostolischen Brief Tertio millennio adveniente, der aus Anlaß des zweitausendsten Jahrestages der Geburt Christi verfasst wurde, erinnert Papst Johannes Paul II. an die alte Tradition der Jubelfeste im Alten Testament, deren Wurzeln in der Tradition des Sabbatjahres liegen. Das Sabbatjahr war eine Zeit, die man in besonderem Mabe Gott widmete. Gemäb dem Gesetz des Mose wurde das Sabbatjahr alle sieben Jahre gefeiert. In diesem Jahr lieb man die Erde ruhen, befreite Sklaven und erlieb Schulden. Das Jubeljahr kehrte alle fünfzig Jahre wieder, und es weiterte die Vorschriften des Sabbatjahres noch aus: Der israelitische Sklave wurde nicht nur befreit, sondern er gelangte auch wieder in den Besitz des Landes seiner Väter. »Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren« (Lev 25, 10). Folgender theologischer Hintergrund stand hinter dieser Umverteilung: »Er konnte nicht endgültig des Landes beraubt werden, da es Gott gehörte, noch konnten die Israeliten für immer in einem Zustand der Knechtschaft verbleiben, da Gott sie mit ihrer Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten für sich als Alleineigentum »losgekauft« hatte«.<ref>Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (1994), Nr. 12.</ref>

Hier wird die Forderung nach der universalen Bestimmung der Güter hörbar. Die soziale Hypothek, die mit dem Recht auf Privateigentum in Zusammenhang steht, kam regelmäßig als öffentlich gültiges Gesetz zum Ausdruck, um das individuelle Fehlverhalten anzuprangern, das sich einer Beseitigung dieser Hypothek verwehrte: Grenzenlose Verlockung des Geldes, zweifelhafte Profite und andere Praktiken derer, die Eigentum und Vermögen besaben und die bestritten, dass die geschaffenen Güter auf alle gerecht zu verteilen sind.

Dieser öffentlich-rechtliche Rahmen der Jubelfeste und Jubeljahre, der später auf der Grundlage des Neuen Testaments erweitert wurde, war so etwas wie der Grundstein der Kirchlichen Soziallehre. Sicherlich ist wenig vom sozialen Ideal der Jubeljahre konkrete Wirklichkeit geworden. Dazu bedürfte es einer Regierung, die in der Lage ist, die Gebote der Vergangenheit durchzusetzen und deren Ziel es ist, eine gewisse soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die soziale Autorität der Kirche, die sich vor allem ab dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, formulierte diese Gebote als Ausnahmeprinzip, dessen Verwirklichung hauptsächlich Aufgabe des Staates ist und das darauf zielt, jeden an den Gütern der Schöpfung teilhaben zu lassen. Dieses Prinzip wird regelmäbig dem in Erinnerung gerufen und vorgeschlagen, der ein offenes Ohr dafür hat.

»Vorsehung« seiner Brüder werden

55. Die Feier der Jubelfeste aktuiert die Göttliche Vorsehung und die Heilsgeschichte.<ref>Vgl. ibid. Nr. 13-14.</ref> In solcher Sichtweise sind die Hungersnöte und die Mangelernährung eine Folge der menschlichen Sünde, die schon in den ersten Versen des Buches Genesis anklingt: »Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruder aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein« (Gen 4, 9-12).

Das hier gezeichnete Bild verdeutlicht mit großer Klarheit die Beziehung zwischen der Achtung der menschlichen Würde und der Fruchtbarkeit des ökologischen Behältnisses, das verschmutzt und zerbrochen ist. Diese Beziehung zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch und erhellt den theologischen Hintergrund für die Analyse der obigen Kausalitätsbeziehungen zwischen Hunger und Mangelernährung. Offensichtlich werden die Unwägbarkeiten der Natur, die sich oft so negativ auswirken, durch den unersättlichen Hunger nach Macht und Profit und die daraus entstehenden »Strukturen der Sünde« verstärkt. Der Mensch, der sich von seiner geschöpflichen Bestimmung abwendet, sieht sich selbst, seine Mitmenschen und seine Zukunft in verkürzter Optik. Gott rüttelt ihn aus seiner Selbstsucht auf: »Wo ist dein Bruder? Was hast du getan«?

Würde des Menschen und Fruchtbarkeit seiner Arbeit

56. Gott will dennoch den Menschen die Schöpfung wieder anvertrauen und ihnen - um Christi, des Erlösers willen - bei der Fruchtbarmachung und Bewahrung des Gartens helfen; er widersetzt sich dem Raubbau und dem Ausschluß von irgendjemandem (vgl. Gen 2, 15-17). Für die Kirche steht in dieser Situation jede Bemühung um die Wiederherstellung der menschlichen Würde und der Harmonie zwischen dem Menschen und der ganzen Schöpfung in engem Zusammenhang mit dem Geheimnis der Erlösung durch Christus, symbolisch dargestellt durch den Baum des Lebens im Garten Eden (vgl. Gen 2, 9). Sobald der Mensch sich auf dieses Geheimnis einlässt, wird die Rastlosigkeit, der er unterworfen war, zu einer Pilgerfahrt; Orte und Menschen, denen er im Glauben begegnet, lehren ihn eine wahrhaftige Beziehung zu Gott, zu seinesgleichen und zur gesamten Schöpfung. Er weiß, dass eine solche Annahme durch Gott aus Glauben und Gottvertrauen entsteht und bleibt; er weiß auch, dass sie sich oft im Menschen mit einem armen Herzen zeigt. Er nimmt erneut an der Vollendung der Schöpfung teil, die durch die Erbsünde gefallen war: »Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes... Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes« (Röm 8, 19 und 21).

Hier zeigt sich der Sinn der menschlichen Wirtschaft in seiner ganzen Fülle: Sie ist die Möglichkeit für den Menschen, für alle Menschen, die Erde zu bebauen und zu bewohnen, »auf der der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrißhafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann...«.<ref>Conc. Oecum. Vat. II., Pastorale Konstitution Gaudium et spes (1965), Nr. 39.</ref> Die Dynamik dieser fortlaufenden Wirtschaft schließt ein, dass auf diesem Weg, Gottes Heil in uns »Fleisch wird«. Wenn wir uns ihr schrittweise und bedingungslos ausliefern, bringt sie uns zur Kirche, dem Volk der Pilger auf dem Weg, und führt uns mit all ihren Gliedern zum Reiche Gottes. Es obliegt jedem einzelnen Getauften, eben die Fruchtbarkeit zu offenbaren, die der Kirche anvertraut ist und die die Fruchtbarkeit der ganzen Schöpfung wiederherstellen soll. Wir sind dazu aufgerufen, uns von Gott persönlich ansprechen zu lassen, eine kritische Haltung gegenüber den herrschenden Modellen einzunehmen und der Logik der »Strukturen der Sünde« zu widerstehen, die das menschliche Wirtschaften schwächen.

Hier ruft die Kirche alle Menschen auf, ihr Wissen, ihr Können und ihre Erfahrung einzusetzen, jeder nach den Gaben, die er erhalten hat und gemäß seiner Berufung. Gaben und Berufung, die jedem eigen sind, werden übrigens wunderbar durch die drei Gleichnisse zum Ausdruck gebracht, die dem Gleichnis vom Jüngsten Gericht (vgl. Mt 24, 45-51 und 25, 1-46) vorausgehen: die Gleichnisse vom ungetreuen Verwalter, von den zehn Jungfrauen und von den Talenten. Die Berufungen der Menschen sind vielfältig, ergänzen sich, und die Geistesgaben leiten die Antwort der Liebe des Menschen, der aufgerufen ist, »Vorsehung« seiner Brüder zu sein: »eine weise und intelligente Vorsehung, die die Entwicklung des Menschen und der Welt auf den Weg der Übereinstimmung mit dem Willen des Schöpfers führt zum Wohlergehen der Menschheitsfamilie und zur Erfüllung der einem jeden geschenkten transzendenten Berufung«.<ref>Johannes Paul II. Ansprache an die zum Weltjugendtag versammelten Jugendlichen in Denver am 14. August 1994, AAS 86 (1994) 5, 416.</ref>

Fehlende Gerechtigkeit schädigt die Wirtschaft

57. Das Apostolische Schreiben Tertio millennio adveniente schlägt ganz konkrete Initiativen zur aktiven Förderung der sozialen Gerechtigkeit vor.<ref>Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (1994), Nr. 51: »...indem sie das Jubeljahr als eine passende Zeit hinstellen, um unter anderem an eine Überprüfung, wenn nicht überhaupt an einen erheblichen Erlaß der internationalen Schulden zu denken, die auf dem Geschick vieler Nationen lasten«.</ref> Es ermuntert zur Suche weiterer Antworten auf das Problem des Hungers und der Mangelernährung, die im Jubeljahr zum Tragen kommen könnten.

Die Feier des Jubeljahres ist besonders im wirtschaftlichen Bereich von großer Wichtigkeit: Läßt man die Wirtschaft gewähren, so wird sie kraftlos, denn sie sucht nicht mehr nach Gerechtigkeit. Jede Wirtschaftskrise mit ihrem Höhepunkt, der Nahrungsmittelknappheit, ist nichts anderes als eine Gerechtigkeitskrise, ein Mangel an Gerechtigkeit.<ref>Vgl. zu diesem Thema: H. Hude, Ethique et Politique, Ed. Universitaires, Paris 1992, Kap. XIII »La justice sur le marché«.</ref> Das auserwählte Volk im Alten Testament hat schon darum gewusst, und heute müssen wir seine Erfahrung aktualisieren. Solche Krisen müssen im Zusammenhang mit dem freien Markt analysiert werden: »Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Centesimus annus (1991), Nr. 34.</ref> Die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit festigt den Handelsaustausch: Jeder Mensch hat auf diesen ein Recht, selbst wenn die Gefahr besteht, in einen ökonomischen Neo-Malthusianismus zu verfallen mit seiner starren Vorstellung von sinnvollen und praktikablen Lösungen.

Hier muss festgehalten werden, dass Gerechtigkeit und Markt oft als zwei Gegensätze gesehen werden. So wird der Mensch von seiner Verantwortung für die soziale Gerechtigkeit entbunden. Die Forderung nach Gerechtigkeit richtet sich nicht mehr an den einzelnen Menschen. Er scheint den Marktgesetzen gegenüber ohnmächtig. Die Verantwortung hat angeblich der Staat, genauer der Wohlfahrtsstaat.

Allgemein kann man sagen, dass die verbreiteten Hinweise der Ethik dem Denken statt des individuell gerechten Verhaltens nahelegen, Gerechtigkeit in Strukturen und Vorgehensweisen zu suchen - ein theoretisches Gebilde ohne praktische Auswirkung. Darüber hinaus erscheint das staatliche Fürsorgesystem von außen wie von innen ausgelaugt. Es kann immer weniger eine wirklich gerechte Verteilung garantieren, was sich negativ auf die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft eines Landes auswirkt. Sollte man nicht einmal über die Beziehung zwischen dem mangelnden Einsatz des einzelnen für die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit sowie seines maßvollen wirtschaftlichen Verhaltens einerseits und andererseits der wachsenden Ineffizienz der Verteilungsmechanismen, die sich auf die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft auswirkt, nachdenken?

Richtigkeit und Gerechtigkeit der Wirtschaft

58. Um eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Markt zu geben, hat die Kirche in ihrer Soziallehre versucht, den Begriff des gerechten Preises, den sie der Scholastik entnimmt, nicht nur auf das Kriterium der ausgleichenden Gerechtigkeit anzuwenden, sondern auch auf das sehr viel weitere Gebiet der sozialen Gerechtigkeit, d.h. auf den gesamten Bereich der Rechte und Pflichten des Menschen. Die Verwirklichung dieser sozialen Gerechtigkeit durch gerechte Preise beruht auf einer zweifachen Übereinstimmung: Übereinstimmung des juristischen Kontextes, der den Markt bestimmt, mit den ethischen Prinzipien; Übereinstimmung der vielfältigen Wirtschaftsaktionen, die den Marktpreis festlegen, mit eben diesen ethischen Prinzipien.

Es reicht nicht aus, wenn die Verantwortung jedes einzelnen sich auf das Bürgerliche Gesetz beschränkt, denn es beinhaltet vielfach den »Verzicht auf das eigene sittliche Gewissen«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Evangelium vitae (1995), Nr. 69.</ref> Genauso wie der Marktpreis vom Gebrauchswert abhängt, dem ihn jeder einzelne Konsument beimißt, so wird unser sittliches Verhalten, das über die Gebrauchswerte urteilt, den Marktpreis hin zum gerechten Preis tendieren lassen oder nicht. Wenn die Marktteilnehmer sich in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen nicht von der Pflicht, die sozialen Gerechtigkeit zu verwirklichen, leiten lassen, dann wird der Marktmechanismus selbst den Wettbewerbspreis vom gerechten Preis abspalten.

Bei der Vorbereitung der Feier des Jubeljahres 2000 sind wir aufgefordert, das sittliche Gesetz in den Alltag unserer wirtschaftlichen Entscheidungen zu transponieren.<ref>Johannes Paul II. gibt uns in seiner Enzyklika Centesimus annus (1991) einige Hinweise unter Nr. 36: »Bei der Entdeckung neuer Bedürfnisse und neuer Möglichkeiten, sie zu befriedigen, muss man sich von einem Menschenbild leiten lassen, das alle Dimensionen seines Seins berücksichtigt und die materiellen und triebhaften den inneren und geistigen unterordnet. Überlässt man sich hingegen direkt seinen Trieben, unter Verkennung der Werte des persönlichen Gewissens und der Freiheit, können Konsumgewohnheiten und Lebensweisen entstehen, die objektiv unzulässig sind und nicht selten der körperlichen und geistigen Gesundheit schaden. Das Wirtschaftssystem besitzt in sich selber keine Kriterien, die gestatten, die neuen und höheren Formen der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse einwandfrei von den neuen, künstlich erzeugten Bedürfnissen zu unterscheiden, die die Heranbildung einer reifen Persönlichkeit verhindern. Es braucht daher dringend ein groß angelegtes erzieherisches und kulturelles Bemühen, das die Erziehung der Konsumenten zu einem verantwortlichen Verbraucherverhalten, die Weckung eines hohen Verantwortungsbewusstseins bei den Produzenten und vor allem bei den Trägern der Kommunikationsmittel sowie das notwendige Eingreifen der staatliche Behörden umfasst... Ich weise auch darauf hin, dass eine Entscheidung, lieber an diesem als an jenem Ort, lieber in diesem als in einem anderen Sektor zu investieren, immer auch eine moralische und kulturelle Entscheidung ist.«</ref> Daraus folgt, dass wir es gewissermaßen »in der Hand« haben, ob ein Preis gerecht oder ungerecht ist; der Produzent hat es in der Hand, der Investor, der Verbraucher sowie der staatliche Entscheidungsträger. Das enthebt den Staat und die Staatengemeinschaft nicht ihrer Aufsichtspflicht, die unter anderem in der Lage ist, den individuellen Mangel gegenüber der sozialen Gerechtigkeit mehr schlecht als recht zu verschleiern, jenen Mangel an Übereinstimmung mit dem Sittengesetz, dem jeder verpflichtet ist. Das politische Ziel des Gemeinwohls muss Vorrang haben vor einer simplen »ausgleichenden Gerechtigkeit«.

Der Aufruf, Vorschläge für das Jubeljahr zu machen

59. Gottes Aufruf, den die Kirche vertritt, ist natürlich ein Aufruf zum Teilen, zur gelebten Nächstenliebe. Dieser Appell gilt nicht nur Christen, sondern allen Menschen guten Willens und solchen Menschen, die fähig sind, guten Willen zu zeigen; das heißt, er gilt allen Menschen ohne Ausnahme. Die Kirche steht aus Sorge um den Menschen im allgemeinen und um jeden einzelnen an der Spitze der Bewegungen, die die solidarische Liebe fördern. Sie ist an der Seite derer, die humanitäre Hilfe leisten, um die Not anderer zu wenden und ihre elementaren Rechte durchzusetzen. Sie erinnert unablässig daran, dass die »Lösung« der sozialen Frage Anstrengungen aller erfordert.<ref> Vgl. Johannes Paul II. Enzyklika Centesimus annus (1991), Nr. 60.</ref>

Jeder Mensch guten Willens kann erkennen, welche ethischen Herausforderungen die Zukunft der Weltwirtschaft mit sich bringt: Die Bekämpfung von Hunger und Mangelernährung, die Sicherung der Ernährung, die Förderung einer eigenen landwirtschaftlichen Entwicklung in und von jedem Entwicklungsland, die Verbesserung der Exportmöglichkeiten dieser Länder, der Schutz der natürlichen Ressourcen im Interesse aller. Die Soziallehre der Kirche sieht hier Bausteine des universellen Gemeinwohls, die erkannt und von den Industrieländern gefestigt werden müssen. Sie sollten auch wichtiges Anliegen der internationalen Wirtschaftsorganisationen sein und Leitlinie für die Globalisierung des Welthandels. Wenn das universelle Gemeinwohl von allen gesucht wird, führt das zur Stärkung des juristischen, institutionellen und politischen Rahmens, der den internationalen Handelsaustausch bestimmt sowie zu neuen Vorschlägen für das Jubeljahr. Das erfordert Mut seitens der Verantwortlichen der verschiedenen sozialen Einrichtungen, auf Regierungs- und Gewerkschaftsebene; denn es ist heutzutage schwierig geworden, die Interessen jedes einzelnen in den Kontext einer einheitlichen Vorstellung von Gemeinwohl zu integrieren. Die Kirche ist nicht berufen, technische Lösungen anzubieten, aber sie nutzt die Vorbereitung der Jubelfeier zu Vorschlägen und Ideen, die die Beseitigung von Hunger und Mangelernährung beschleunigen können.

Unter den Vorschlägen sind zwei Bereiche besonders wichtig:

– Nahrungsmittelreserven müssen angelegt werden - dem Beispiel Josephs aus Ägypten folgend (vgl. Gen 41, 35). Sie helfen der Bevölkerung, die in plötzliche Hungersnot gerät, konkret in einer Krisensituation. Einrichtung und Verwaltung der Reserven müssen so organisiert sein, dass alle Versuchung zu politischem oder wirtschaftlichem Kampf um Einfluss oder zu Korruption ausgeschlossen ist und dass jeglicher direkten oder indirekten Manipulation der Märkte vorgebeugt wird.

– Der Gemüseanbau auf eigenem Grundstück muss vor allem bei Familien der Regionen gefördert werden, in denen die Armut den Menschen, vor allem dem Familienvorstand und seiner Familie, jeglichen Zugang zur Nutzung von Böden und auch zu Grundnahrungsmitteln versperrt. Dieser Forderung weist zurück auf Papst Leo XIII., der aus den gleichen Gründen zur Situation der Werktätigen des 19. Jahrhundert meinte: »Ja, sie werden sogar den Boden, den sie mit eigener Hand bearbeiteten, lieb gewinnen, da sie aus ihm nicht nur die notdürftige Nahrung, sondern auch einen gewissen Wohlstand für sich und die Ihrigen erwarten«.<ref>Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum (1891), Nr. 35.</ref> In weiten Teilen der Welt gilt es, Initiativen zu entwickeln, um den Ärmsten Zugang zu einem Fleckchen Erde zu verschaffen, ihnen die nötigen Kenntnisse zu vermitteln, ihnen ein Minimum an Werkzeugen zur Verfügung zu stellen und ihnen somit die Mittel an die Hand zu geben, ausgehend von ihrer Notsituation Fortschritte zu erzielen.

Studien und Berichte über Erfahrungen und Beobachtungen in konkreten Situationen müssen in großem Umfang gesammelt werden, damit eine Datenbank erstellt wird, die die Wirklichkeit, die »Strukturen der Sünde« und die »Strukturen des Gemeinwohls« von allen Seiten beleuchtet.<ref>»Cor Unum« wird diesbezüglich konkrete Anfragen an verschiedene Stellen richten.</ref>

V. DER HUNGER: EIN APPELL AN DIE LIEBE

Der Arme appelliert an unsere Liebe

60. In allen Ländern der Erde begegnen wir im Alltag den Blicken von Menschen, die Hunger leiden - wenn wir die Augen nicht verschließen. In ihrem Blick schreit das Blut unserer Mitmenschen zu uns (vgl. Gen 4, 10). Wir wissen, dass Gott selbst uns durch den ruft, der hungert. Das Urteil des Jüngsten Gerichts kennt kein Erbarmen: » Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben...« (Mt 25, 41ff.).

Diese Worte, die aus dem Herzen des menschgewordenen Gottes sprechen, lassen uns die tiefe Bedeutung erkennen, die die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse jedes Menschen in den Augen seines Schöpfer hat: Laßt den nicht fallen, der nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde, sonst laßt ihr Christus selbst fallen. Gott selbst hat Hunger, und er ruft uns durch das Wimmern dessen, der Hunger leidet. Als Jünger des sich offenbarenden Gottes wird der Christ sozusagen inständig gebeten, den Ruf des Armen zu hören. Es ist ein Appell an die Liebe.

Die Armut Gottes

61. Die Verfasser der Psalmen, der Lieder des Alten Testaments, sprechen davon, dass »die Armen« mit den »Gerechten«, mit denen, »die Gott suchen«, »die ihn fürchten«, die »ihm Vertrauen schenken«, die »gesegnet sind«, die »seine Diener sind« und die »seinen Namen kennen«, gleichzusetzen sind.

Wie in einem Hohlspiegel eingefangen, sammelt sich das Licht der »ANAWIM«, der Armen des ersten Bundes, in der Frau, die die beiden Testamente miteinander verbindet: In Maria erstrahlt die vorbehaltlose Hingabe an Yahve und die gesamte Erfahrung, die das Volk Israel leitet und die in der Person Jesu Christi Fleisch wird. Das »Magnificat« ist der Lobgesang, der davon Zeugnis ablegt: Der Lobgesang der Armen, deren ganzer Reichtum Gott ist (vgl. Lk 1, 46ff.).

Der Gesang beginnt mit einem Freudenruf, der die überschwengliche Dankbarkeit zum Ausdruck bringt: »Meine Seele preist die Größe des Herrn, und meine Geist jubelt über Gott, meinen Retter«. Aber es sind nicht Reichtümer und Macht, die Maria frohlocken lassen: Sie sieht sich vielmehr als »klein«, »unbedeutend« und »demütig«. Diese Grundidee zieht sich durch ihren gesamten Lobgesang und ist das genaue Gegenteil der Gier nach Hochmut, Macht und Reichtum. Wer sich diesem Verlangen verschreibt, wird »zerstreut«, »vom Thron gestürzt« und »geht leer aus«.

Jesus selbst bringt diese Haltung seiner Mutter in den Seligpreisungen zu Wort: Sie beginnen - und das ist kein Zufall - mit der Seligpreisung der Armen. Seine Verkündigung zeigt uns den neuen Menschen, eine Gegenbild zu denen, die auf Reichtum setzen. Sein Evangelium richtet sich an die Armen (vgl. Lk 4, 18). Die »Versuchung durch den Reichtum« entfernt von der Nachfolge Christi (vgl. Mk 4, 19). Man kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon (vgl. Mt 6, 24). Die Sorge um den kommenden Tag ist Zeichen einer heidnischen Mentalität (vgl. Mt 6, 32). Für Christus sind dies nicht nur schöne Worte: Sein Leben selbst legt Zeugnis von ihnen ab: »Der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann« (Mt 8, 20).

Die Kirche ist mit den Armen

62. Die Lehre der Bibel darf weder verschleiert noch verfälscht werden: Sie ist dem Geist der Welt und unserem natürlichen Empfinden entgegengesetzt. Unsere Natur und unsere Kultur widerstrebt der Armut.

Die Armutsforderung des Evangeliums wird gelegentlich mit zynischen Kommentaren von seiten Bedürftiger wie auch Reicher bedacht. Man klagt die Christen an, sie schrieben die Armen ab und vertrösteten sie auf den Himmel. Eine solche Mißachtung der Armut wäre ganz und gar teuflisch. Satan erkennt man daran, dass er sich dem Willen Gottes widersetzt, indem er sich auf Gottes Wort beruft (vgl. Mt 4).

Eine Ansprache Johannes Paul II. belehrt die eines besseren, die irrig ihren Egoismus rechtfertigen. Bei seinem Besuch der Favela in Lixao de Sao Pedro, in Brasilien, am 19. Oktober 1991 sprach der Heilige Vater über die erste Seligpreisung des Matthäusevangeliums. Er machte den Bezug zwischen Armut und Gottvertrauen, zwischen Seligpreisung und völliger Hingabe an den Schöpfer deutlich. Er führte weiter aus: »Doch von dieser Armut, die Christus selig genannt hat, unterscheidet sich eine andere Art der Armut wesentlich, welche eine Vielzahl unserer Brüder betrifft und ihre vollständige menschliche Entwicklung behindert. Angesichts jener Armut, welche in der Entbehrung und Beraubung notwendiger materieller Güter liegt, lässt die Kirche ihre Stimme vernehmen...Deshalb weiß die Kirche und predigt, dass jedwede soziale Umwandlung unweigerlich über die Umkehr des Menschen erfolgen muss. Dies ist die erste und hauptrangige Mission der Kirche«.<ref>Johannes Paul II. 2. Reise nach Brasilien (12.-21. Oktober 1991), Ansprache beim Besuch der Favela von Lixao de Sao Pedro, Insegnamenti 1991/2, 941.</ref> Gottes Appell, den die Kirche vertritt, ist - wie gesagt - ein Aufruf zum Teilen, zur gelebten Nächstenliebe, der sich nicht nur an die Christen, sondern an alle Menschen richtet. Wie seit jeher und heute mehr als früher ist und handelt die Kirche mit denen, die humanitäre Hilfe leisten, um die Bedürfnisse ihrer Brüder und Schwestern zu befriedigen und ihre elementaren Rechte durchzusetzen.

Der Beitrag der Kirche zur Entwicklung der Menschen und der Völker beschränkt sich nicht auf den Kampf gegen Elend und Unterentwicklung. Armut entsteht, weil es angeblich reicht, auf dem Weg des technischen und wirtschaftlichen Erfolgs weiterzugehen, um die Menschenwürde aller anzuzielen. Aber eine materialistische Entwicklung kann dem Menschen nicht genügen, und ein Schwelgen im Überfluss schadet ihm genauso wie zu große Armut. Das ist das »Entwicklungsmodell« des Nordens, das sich auch im Süden verbreitet; es enthält die Gefahr, dass Glaubenssinn und menschliche Werte hinweggefegt werden, weil man den Konsum vergöttert.

Arm und Reich sind zur Freiheit aufgerufen

63. Gott hat die Bedürftigkeit seines Volkes, das heißt aller Menschen, nicht gewollt, denn durch jeden von ihnen ruft er uns laut und heftig an. Er sagt uns, dass der Bedürftige wie auch der durch seinen Reichtum Verblendete leidet: Ersterer wegen der Umstände, die ihn überfordern, letzterer wegen seiner übervollen Hände und seiner Komplizenschaft. Beiden ist es so verwehrt, zur inneren Freiheit zu gelangen, für die Gott die Menschen unablässig gewinnen will.

Der Hungernde, »mit Gottes Gaben beschenkt«, nimmt sich dann nicht rasch seinen Teil, sondern findet Umstände, die seine elementaren Fähigkeiten aufgreifen. Der Reiche, der »leer ausgeht«, wird nicht dafür bestraft, dass er reich ist, sondern er wird von der schweren Last befreit, die sein alleiniges Trachten nach Gut und Geld mit sich bringt.. In diesem Prozess der doppelten Heilung soll der Arme von seiner Erkrankung des Herzens, das unter der Ungerechtigkeit leidet, genesen, denn sonst läuft er Gefahr, sich und andere zu hassen. Der Reiche soll seinen unnützen Ballast abwerfen: Er verstopft ihm Augen und Ohren, er verschüttet sein Herz und erdrückt es unter der Last seines armen Reichtums an Geld, Macht, Einfluss und Vergnügungen aller Art; sie verstellen seinen Blick auf sich selbst und auf die andern und lassen seinen Appetit mit der steigenden Menge seiner Güter nur größer werden.

Die notwendige Erneuerung des Herzens

64. Der Hunger in der Welt deckt die Schwächen des Menschen auf allen Ebenen auf: Die Logik der Sünde zeigt uns, dass die Sünde, dieses Herzensübel des Menschen, für das Elend in der Gesellschaft verantwortlich ist, und zwar durch die »Strukturen der Sünde«. In der Sicht der Kirche treibt der Egoismus zu Sucht nach Geld, Reichtum und Ehre; er stellt den Wert allen Fortschritts in Frage. »Dadurch, dass die Wertordnung verzerrt und Böses mit Gutem vermengt wird, beachten die einzelnen Menschen und Gruppen nur das, was ihnen, nicht aber was den anderen zukommt. Daher ist die Welt nicht mehr der Raum der wahren Brüderlichkeit, sondern die gesteigerte Macht der Menschheit bedroht bereits diese selbst mit Vernichtung«.<ref>Conc. Oecum. Vat. II, Pastorale Konstitution Gaudium et spes (1965), Nr. 37. Vgl. auch Johannes Paul II. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, (1987), Nr. 27-28: »Eine solche Auffassung, die eher mit einem Begriff von "Fortschritt" verbunden ist, der von philosophischen Überlegungen aufklärerischer Natur geprägt ist... An die Stelle eines einfältigen Optimismus mechanistischer Art ist eine begründete Sorge um das Schicksal der Menschheit getreten.... Tatsächlich erkennt man heute besser, dass die reine Anhäufung von Gütern und Dienstleistungen, auch wenn sie zum Nutzen der Mehrheit erfolgt, nicht genügt, um das menschliche Glück zu verwirklichen«.</ref> Im Gegensatz dazu erlaubt die Liebe, wenn sie in sein Herz einzieht, dem Menschen, seine Grenzen zu überwinden und in der Welt zu handeln, um »Strukturen des Gemeinwohls«zu schaffen: Sie unterstützen das Vorgehen derer, die unterwegs zu einer »Zivilisation der Liebe«<ref>Vgl. Fußnote 39.</ref> sind und andere auf ihrem Weg dorthin mitnehmen.

Der Mensch ist also aufgefordert, sein Handeln zu ändern; das ist eine für die Welt lebenswichtige Aufgabe. Er ist aufgerufen, sein Herz zu erneuern, indem er in Liebe seine Person mit der Gemeinschaft aller Menschen eins werden lässt. Es geht um eine kompromißlose, umfassende und weitreichende Erneuerung, denn die Liebe ist in ihrem Wesen kompromißlos: Sie erträgt keine Spaltung, sie umfaßt alle Seiten des Menschen, sein Handeln und sein Gebet, seine materiellen wie auch seine geistigen Reichtümer.

Die Erneuerung des Herzens jedes einzelnen und aller Menschen ist eine Einladung Gottes, der das Gesicht der Erde verändern kann, indem er die grässlichen Züge des Hungers ausradiert, die ihr Gesicht entstellen. »...Kehrt um und glaubt an das Evangelium« (Mk 1, 15) ist die Aufforderung, die die Verkündigung des Gottesreiches begleitet und die sein Kommen verwirklicht. Diese persönliche und tiefgreifende Wandlung fordert den Menschen dazu auf, in seinem alltäglichen Leben den Blick nicht mehr nur auf seine eigenen Interessen zu richten, sondern Schritt für Schritt - im Rahmen seiner Möglichkeiten und unter Hinnahme der faktischen Welt - seine Denk-, Arbeits- und Lebensweise zu ändern und zu lernen, im Alltag zu lieben.

Wenn wir uns nur darauf einlassen, wird Gott selbst für das Übrige Sorge tragen.

»Hütet euch vor Abgöttern!«

65. Der Herr hat uns folgendes Versprechen gegeben: »Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt« (Ez 36, 25-27).

Lassen wir uns von der Schönheit der biblischen Sprache nicht täuschen: Es geht nicht um einen Appell an das Gute im Menschen, der zum bloßen Teilen der materiellen Güter ruft - auch wenn das eine Notwendigkeit ist. Es geht um einen völligen Wandel in unserem Verhalten, den Gott selbst uns anbietet; um seinen eigenen Weg, denn er will uns von unseren Götzen befreien; er will uns helfen zu lieben. Dies erfordert den Einsatz unserer ganzen Person, die sich so wieder findet. So können wir unsere Ängste und Egoismen besiegen, um aufmerksam für die Nöte unserer Mitmenschen zu werden und ihnen zu helfen. Unsere Götzen ähneln sich alle: individuelle oder gemeinschaftliche Suche - der Reichen und der Armen - nach materiellen Gütern, nach Macht, gutem Ruf, Vergnügen, die alle als Selbstzweck auftreten. Idole knechten den Menschen und machen die Welt ärmer. Die große Ungerechtigkeit, die dem Notleidenden angetan wird, besteht eben in dem Zwang, vor allem anderen materielle Güter zu erlangen.

Das Herz des armen Lazarus ist freier als das des schlechten Reichen, und Gott verlangt - durch die Stimme Abrahams - vom schlechten Reichen nicht nur, sein Festmahl mit Lazarus zu teilen, sondern auch, sein Herz zu erneuern, das Gebot der Liebe anzunehmen und sein Bruder zu werden (vgl. Lk 16, 19ff.).

Indem uns Gott von unseren Abgöttern befreit, ermöglicht er, dass unsere Arbeit die Welt verändert: Wir machen sie in jedweder Hinsicht reicher und richten unser Augenmerk auf den Dienst an allen Menschen. So kann die Welt ihre ursprüngliche Schönheit wiedererhalten, nicht nur die Schönheit der Natur am Tag der Schöpfung, sondern auch die Schönheit eines wunderbar gepflegten Gartens, der vom Menschen zum Dienst am Nächsten und aus Liebe zu Gott fruchtbar gemacht wurde in Gegenwart des liebenden Gottes.

»'Gegen den Hunger: das Leben ändern'. Dieses in kirchlichen Kreisen entstandene Motto zeigt den reichen Völkern den Weg, um Brüder der Armen zu werden...«.<ref>Johannes Paul II. Enzyklika Redemptoris missio (1990), Nr. 59.</ref>

Dem Armen zuhören

66. Der Christ in der Welt - da, wo ihn Gott hingestellt hat - kann nicht umhin, auf den Ruf des Hungernden mit einer Fragestellung an sein eigenes Leben zu reagieren. Das Elend anderer fordert den Menschen auf, sich nach dem Sinn des Lebens und der Bedeutung seines alltäglichen Handelns zu fragen. Er versucht, nahe und auch ferne Konsequenzen zu beachten, die seine bezahlte und unbezahlte Arbeit hat im Beruf und zu Hause. Er wird erkennen, dass all sein Tun viel konkretere und weiterreichende Folgen haben kann, als er bislang dachte, und er wird seine Verantwortung entdecken. Er wird seinen Zeitplan durchgehen, unter dem in der heutigen Welt so viele Menschen leiden - entweder weil sie von ihm erdrückt werden oder weil er ihnen ihre Arbeitslosigkeit anzeigt. Er wird die Augen seines Geistes und seines Herzens öffnen, wenn er Gottes Einladung anzunehmen weiß, regelmäßig, unauffällig und in Demut einem Menschen in Not Gehör zu schenken und ihm zu helfen. Dieser Aufruf ergeht vor allem an die, die in unserer Sprache gemeinhin als »Verantwortliche« bezeichnet werden.

Nicht zufällig lehrt uns Paulus: »...Jesus, der reich war, wurde euretwegen arm« (2 Kor 8, 9). Der Herr wollte uns reich machen durch seine Armut und durch seine Liebe, die wir an unseren Nächsten weitergeben sollen.

Gott zuhören

67. Wenn ein Mensch in der Gegenwart eines Armen auf Gott hört, dann wird er sein Herz öffnen und jeden Tag neu auf eine persönliche Begegnung mit Gott aus sein. Diese Begegnung, die von Gott gewollt ist, der den gesamten Menschen und jeden einzelnen Menschen unablässig sucht, geschieht im Alltag und wandelt Schritt für Schritt das Leben dessen, der gewillt ist, dem demütig Klopfenden »die Tür zu öffnen« (vgl. Apg. 3, 20). Gott zuhören, das erfordert Zeit mit und für Gott. Nur das persönliche Gebet erlaubt dem Menschen den Wandel seines Herzens und somit auch seiner Taten. Die Zeit für Gott geht niemals den Armen verloren. Ein gefestigtes und ausgeglichenes geistliches Leben hat niemals einen Menschen vom Dienst an seinen Mitmenschen abgehalten. Wenn Sankt Vinzenz von Paul (1660) - er hat sich in unvergleichlichem Maße der Elenden angenommen - sagt: »Lasse das Beten, wenn Dein Bruder Dich um einen Tasse Kräutertee bittet«, dann dürfen wir darüber nicht vergessen, dass der Heilige täglich gegen sieben Stunden im Gebet verbrachte. Das Gebet war Grundlage seines Handelns.

Sein Leben ändern…

68. Der Mensch, der Bruder oder Schwester zuhört und der sich der göttlichen Gegenwart und dem göttlichen Handeln öffnet, wird nach und nach seine Lebensgewohnheiten in Frage stellen. Der »Wohlstandswettlauf », dem sich immer mehr Menschen - oft inmitten wachsenden Elends - verschreiben, wird schrittweise einer einfacheren Lebensweise Platz machen, die in vielen Ländern schon in Vergessenheit geraten ist, aber die wieder möglich und sogar wünschenswert wird, sobald der Verbraucher sich nicht mehr um den äußeren Schein sorgt.

Wer seine Perspektive zu ändern bereit ist, um gleichsam die Sichtweise anzunehmen, die Gott selbst uns durch die Worte Jesu Christi lehrt; wer über die Folgen seines Handelns nachdenkt - mögen sie unbedeutend oder weitreichend erscheinen - der wird zum Dienst am Gemeinwohl geführt, das für jeden einzelnen Menschen und für die ganze Menschheit zu fördern ist.

…um anders zu leben

69. Ein Mensch, der alle seine Lebensbereiche der Gegenwart Gottes öffnet, wird Schritt für Schritt von seinen Ängsten und seiner Gier befreit; er sieht die möglichen Folgen seines Handelns, und er wird ein Mitarbeiter der »Zivilisation der Liebe«. Seine Arbeit geht unauffällig vonstatten und hat gleichzeitig Tiefe. Sie bekommt den Charakter einer Mission: Sie entfaltet seine Talente, stößt Strukturreformen oder institutionelle Neuerungen an; sein Verhalten ermuntert zum Nachahmen und dazu, sich dem Dienst an der Würde des Menschen und am Gemeinwohl zu verschreiben.

Lebensumstände mögen dazu verleiten, ein solches Verhalten als irrelevant und als praktisch undurchführbar anzusehen. Aber die Erfahrung zeigt, dass selbst in scheinbar festgefügter Lage jeder Mensch über einen winzigen Handlungsspielraum verfügt und dass seine Entscheidungen konkrete Folgen für seine Mitarbeiter und für das Gemeinwohl haben. Man kann sagen, dass in gewisser Weise jeder für die anderen verantwortlich ist.<ref> Diese Überzeugung wird nicht nur von den Christen geteilt. Sie stellt die Grundlage einer Bewegung dar, die kürzlich in den Vereinigten Staaten gegründet worden ist, dem »Kommunitarismus«. Der Soziologe A. Etzioni stellt die Bewegung, die sich die Förderung des Gemeinwohls jedes Menschen zum Ziel gemacht hat, in seiner Studie The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, Crown Publishers, Inc. New York, 1993, vor.</ref> Das ist ein Aspekt des Aufrufs zur Liebe, den Gott ständig an uns ergehen lässt. Es obliegt jedem einzelnen in seiner bisweilen schwierigen Situation, die ihn sogar in die Nähe des leidenden Zeugen, also des Märtyrers, führen kann, sich auf die Kraft Gottes zu verlassen; er hat uns seine Hilfe versprochen, wenn wir ihm die Mitte unseres Lebens - und dazu gehört auch unser Berufsleben - freigeben.

»..., faßt alle Mut, ihr Bürger des Landes..., und macht euch an die Arbeit! Denn ich bin bei euch... und mein Geist bleibt in eurer Mitte« (Hag 2, 4-5). Der Christ wird zum Kämpfer gegen die »Strukturen der Sünde«; ja, er wird verantwortlich für ihre Überwindung. Praktiken, die schädlich für wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind, werden seltener zum Tragen kommen. In Regionen, wo Christen mit Mut und Entschlossenheit andere Menschen guten Willens auf ihrem Weg mitnehmen, kann das Elend gestoppt werden; lassen sich Konsumgewohnheiten ändern und Reformen durchführen; kann die Solidarität wachsen und der Hunger beseitigt werden.

Initiativen unterstützen

70. Unter den Christen sind in erster Linie Ordensschwestern und -brüder, geweihte Priester und ordinierte Pastoren aufgefordert, ihr Leben Gott und ihren Brüdern zu widmen. Durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch, angefangen von den Diakonen der Apostelgeschichte (vgl. 6, 1ff.) bis auf den heutigen Tag hat es außergewöhnliche Männer und Frauen gegeben,<ref>Vgl. Johannes Paul II. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, (1987), Nr. 40, 569.</ref> kontemplative und missionarische Orden, kirchliche Einrichtungen und Initiativen, die versucht haben, den Armen und Hungrigen zu helfen. Sie haben im Gehorsam Christi das Leiden und die Not in all ihren Formen bekämpft.

Die Kirche dankt all denen, die gegenwärtig konkret Dienst am Nächsten leisten, in den Diözesen, den Gemeinden, den Missionsorganisationen und Laiengemeinschaften, den karitativen Einrichtungen und anderen Nicht-Regierungs-Organisationen. Sie geben die Liebe Gottes weiter und zeugen von der Wahrheit des Evangeliums.

Die Katholische Kirche ist auf allen fünf Kontinenten vertreten. Sie besteht aus fast 2700 Diözesen oder Gliederungen vielfältiger Natur.<ref> Vgl. Secretaria Status rationarium generale Ecclesiae, Annuarium statisticum Ecclesiae, Typis Vaticanis (1994), S. 41.</ref> Viele von ihnen sind seit langem im Kampf gegen Hunger und Armut tätig. Die Diözesen und Gemeinden sind die privilegierten Orte für ein Nachdenken der Christen über Handlungsmöglichkeiten. Sie sind der Rahmen, der die Bildung von Gruppen in der Bevölkerung, von regionalen Gruppen und von Gemeinschaften fördert. Gemeinschaften, die Menschen freundlich aufnehmen, können Vertrauen schaffen; sie können dazu ermuntern, sich zusammenzufinden und besser zu leben; können Resignation und Bedrückung wenden. Das Evangelium wird dort wieder zur Hoffnung für die Armen, wo die Kraft Christi und die der Benachteiligen sich verbindet.

Jeder ist zur Teilnahme aufgerufen. Der Appell zur Liebe, den Gott durch die Hungernden an uns richtet, muss im Leben jedes einzelnen je nach Lebenssituation, Stellung in der Welt und im sozialen Kontext konkret werden. Aus der erstaunlichen kulturellen Vielfalt folgt eine Vielfalt im Handeln und in der Sendung.

Es ist also notwendig, dass jeder Christ die verschiedenen Initiativen vor Ort fördert. Die Katholische Kirche engagiert sich gemeinsam mit anderen christlichen Kirchen, religiösen Gemeinschaften und mit allen Menschen guten Willens. Humanitäre Aktionen sind ein wichtiges Betätigungsfeld für den Christen; er sollte sich aber in besonderem Maße dafür einsetzen, dass die Verbände und sein Handeln immer den Dienst am gesamten Menschen als Ziel vor Augen haben, also Geist und Seele einbeziehen. So wird er ein Bollwerk gegen die sein, die versuchen könnten, die Aktivitäten der Organisation durch materialistisches Denken oder durch Ideologien für politische Ziele zu mißbrauchen, die letztendlich den Menschen zerstören.

Jeder Christ ist in all seinem Handeln Missionar

71. Der Christ steht in allen Situationen seines Lebens und bei all seinem Handeln im Dienst seiner Mitmenschen. Seine persönlichen Initiativen wie auch sein täglicher Einsatz entspringen seiner Taufe.

Frau und Mann sind zu dem selben Apostolat und zu der selben Sendung aufgerufen, nämlich die Frohbotschaft zu leben und ihr zu dienen, in Freud und Leid des Alltags und in jeder Situation; bei ihrer bezahlten oder ehrenamtlichen Tätigkeit oder bei ihrer Arbeit zu Hause, die sie sehr in Anspruch nehmen können.

Die Qualität der Arbeit; die Teilnahme an gerechten Reformen; das bescheidene Auftreten; die stets gegenwärtige Verantwortung für die anderen, die über persönliche und institutionelle legitime Anliegen hinausgeht - all dies macht den Alltag des Mannes und der Frau aus, die in jeder Lebenssituationen eine Gelegenheit suchen, Gott näherzukommen und die Welt durch seine Liebe reicher werden zu lassen. Das wird sie immer besser befähigen, gegen Verschwendung und Ungerechtigkeit zu kämpfen und Leiden und Freuden vor Christus dem Retter zu bringen, der ihnen Tag für Tag seinen Geist verleiht.

Es wird ein Anliegen des Christen sein, all sein Handeln vor den zu bringen, der unser Herz durch den Mund jedes Armen anspricht. Der Christ nimmt Menschen guten Willens auf seinem Weg mit und teilt mit ihnen die menschlichen Grundwerte. Er muss dafür Sorge tragen, dass sein persönliches Handeln sowie das seiner christlichen Brüder immer von Gottes Wort geleitet ist, im göttlichen Leben wurzelt und im Einklang mit der Kirche und ihren Hirten. Gemeinschaftliches Handeln muss eine Gemeinschaft im Herrn sein, die darüber wacht, dass ihr Denken und Handeln vom Heiligen Geist bestimmt wird, damit es nicht seines Charakters einer göttlichen Sendung beraubt wird - eine Sendung, die den Diener des Menschen als Quelle, Kraft und Ziel des Handelns sucht.

Der Christ kann sich bei jeder Hinwendung zu Gott der Fürbitte der allerseligsten Jungfrau Maria gewiß sein, die durch Gebet und Tat den gleichen bedingungslosen Dienst an Gott und an den Menschen vollbrachte. Dann wird der Heilige Geist Verstand und Herz der Christen leiten, so dass dieser ihr freier, verantwortlicher und vertrauensvoller Begleiter wird, und ihr Handeln selbst wird von der Liebe Gottes zeugen, und es wird für die Ewigkeit zählen. Vatikanstadt, am Sitz des Päpstlichen Rates »Cor Unum«, den 4. Oktober 1996, Fest des Heiligen Franz von Assisi.

Paul Josef Cordes

Titularerzbischof von Naisso

Präsident
Ivan Marin

Sekretär

Anmerkungen

<references />

Weblinks