Dilecti amici (Wortlaut)

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Version vom 9. Dezember 2014, 09:16 Uhr von Oswald (Diskussion | Beiträge) ([Fortsetzung folgt])
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Apostolisches Schreiben
Dilecti amici

unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an die Jugendlichen der Welt
zum Internationalen Jahr der Jugend
31. März 1985

(Offizieller lateinischer Text AAS LXXVII [1985] 579-628)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Liebe Freunde!
Gute Wünsche zum Jahr der Jugend

Einleitung

1. "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt (1 Petr 3,15).

Das ist mein Wunsch, den ich an euch, liebe Jugendliche, seit Beginn dieses Jahres richte. Das Jahr 1985 ist von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Jugend erklärt worden. Darin liegt eine vielfältige Bedeutung vor allem für euch selbst, dann aber auch für alle Altersstufen, für die einzelnen Personen, für die Gemeinschaften und für die ganze Gesellschaft. Darin liegt eine besondere Bedeutung auch für die Kirche als Hüterin grundlegender Wahrheiten und Werte und zugleich als Dienerin der ewigen Bestimmung, die der Mensch und die große Menschheitsfamilie in Gott selbst haben.

Wenn der Mensch "der erste und grundlegende Weg der Kirche ist (Redemptor Hominis, 14), dann versteht man gut, warum die Kirche die Jugendzeit als einen entscheidenden Abschnitt im Leben eines jeden Menschen für besonders wichtig hält. Ihr jungen Menschen verkörpert diese Jugend: Ihr seid die Jugend der Völker und Gesellschaften, die Jugend der Familien und der ganzen Menschheit; ihr seid auch die Jugend der Kirche. Alle schauen wir auf euch, weil wir alle durch euch in einem gewissen Sinne immer wieder jung werden. Darum ist euer Jungsein nicht allein euer Eigentum, nur euer ganz persönliches Eigentum oder das einer Generation: Es gehört zu jenem Gesamtbereich, den jeder Mensch auf seinem Lebensweg durchschreitet, und ist zugleich ein besonderes Gut aller. Es ist ein Gut der ganzen Menschheit.

In euch liegt Hoffnung, weil ihr zur Zukunft gehört, wie die Zukunft euch gehört. Die Hoffung ist ja immer mit der Zukunft verbunden; sie ist die Erwartung der "künftigen Güte". Als christliche Tugend ist sie verbunden mit der Erwartung jener ewigen Güter, die Gott dem Menschen in Jesus Christus versprochen hat (Vgl. Röm 8,19.21; Eph 4,4; Phil 3,10s; Tim 3,7; Hebr 7,19; 1 Petr 1,13). Gleichzeitig ist die Hoffnung als christliche und menschliche Tugend auch die Erwartung jener Güter, die der Mensch schaffen kann, indem er die Talente nutzt, die ihm die Vorsehung gegeben hat.

In diesem Sinne gehört euch, liebe Jugendliche, die Zukunft, so wie sie einmal der Generation der Erwachsenen gehört hat und nun mit diesen zusammen Gegenwart geworden ist. Für diese Gegenwart in ihrer vielfältigen Form und Ausrichtung sind vor allem die Erwachsenen verantwortlich. Euch kommt die Verantwortung zu für das, was eines Tages mit euch zusammen Gegenwart werden wird und zur Zeit noch Zukunft ist.

Wenn wir sagen, dass euch die Zukunft gehört, denken wir in Kategorien menschlicher Vergänglichkeit, die immer ein Voranschreiten auf Zukunft hin bedeutet. Wenn wir sagen, dass von euch die Zukunft abhängt, denken wir in ethischen Kategorien, nach den Erfordernissen moralischer Verantwortung, die von uns verlangt, den grundlegenden Wert von menschlichen Akten und Vorsätzen, von Initiativen und Absichten dem Menschen als Person - und den Gemeinschaften und Gesellschaften, die sich aus menschlichen Personen zusammensetzen - zuzuordnen.

Diese Dimension gehört auch wesentlich zur christlichen und menschlichen Hoffnung. In dieser Hinsicht ist der erste und wichtigste Wunsch, den die Kirche in diesem Jahr für die Jugend durch meinen Mund an euch junge Menschen richtet, der folgende: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt" (1 Petr 3,15).

Christus spricht mit den Jugendlichen

2. Diese Worte, die seinerzeit der Apostel Petrus an die erste christliche Generation geschrieben hat, stehen im Zusammenhang mit dem ganzen Evangelium Jesu Christi. Wir können diese Beziehung genauer erkennen, wenn wir das Gespräch Christi mit dem jungen Mann betrachten, das von den Evangelisten berichtet wird (Vgl. Mk 10,17-22; Mt 19,16-22; Lk 18,18-23). Unter den zahlreichen biblischen Texten verdient vor allem dieser, hier angeführt zu werden.

Auf die Frage: "Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" antwortet Jesus zunächst mit der Gegenfrage: "Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen". Dann fährt er fort: "Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!" (Mk 10,17-19). Mit diesen Worten erinnert Jesus seinen Gesprächspartner an einige Gebote des Dekalogs. Aber das Gespräch endet damit noch nicht. Denn der junge Mann stellt fest: "Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt". Darauf, so schreibt der Evangelist, "sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!" (Mk 10,20s).

An diesem Punkt ändert sich das Klima der Begegnung. Der Evangelist schreibt, dass der junge Mann "betrübt war, als er das hörte, und traurig wegging; denn er hatte ein großes Vermögen" (Mk 10,22).

Es gibt noch weitere Abschnitte in den Evangelien, in denen Jesus von Nazaret jungen Menschen begegnet; besonders eindrucksvoll sind die beiden Totenerweckungen: der Tochter des Jairusg und des Sohnes der Witwe von Nain (Vgl. Lk 7,11-17). Man kann jedoch ohne weiteres sagen, dass das oben erwähnte Gespräch die ausführlichste und inhaltsreichste Begegnung darstellt. Man kann auch sagen, dass es einen allgemeingültigeren und überzeitlicheren Charakter besitzt, dass es also in gewissem Sinne eine ständige und fortdauernde Geltung hat, über die Jahrhunderte und Generationen hinweg. Christus spricht auf diese Weise mit einem jungen Menschen, mit einem Jungen oder einem Mädchen; er spricht an vielerlei Orten der Erde, inmitten der verschiedenen Völker, Rassen und Kulturen. Jeder von euch ist bei diesem Gespräch ein möglicher Partner für ihn.

Zugleich haben alle beschreibenden Elemente und alle Worte, die bei dieser Unterhaltung von beiden Seiten gesprochen wurden, eine ganz wesentliche Bedeutung und besitzen ihr je eigenes Gewicht. Man kann sagen, dass diese Worte eine besonders tiefe Wahrheit über den Menschen insgesamt und vor allem die Wahrheit über die Jugend des Menschen enthalten. Sie sind wirklich wichtig für die jungen Menschen.

Lasst mich also meine Betrachtung im vorliegenden Schreiben vornehmlich an diese Begegnung und an diesen Text des Evangeliums anknüpfen. Vielleicht wird es so einfacher für euch sein, euer eigenes Gespräch mit Christus zu führen - ein Gespräch, das von grundlegender und wesentlicher Bedeutung für einen jungen Menschen ist.

Die Jugend ist ein einzigartiger Reichtum

3. Wir wollen mit dem beginnen, was am Ende des biblischen Textes steht. Der junge Mann geht traurig weg, "denn er hatte ein großes Vermögen".

Zweifellos bezieht sich dieser Satz auf die materiellen Güter, die jener junge Mann besaß oder erben sollte. Diese Situation trifft wohl nur für einige zu, ist also nicht typisch. Darum legen die Worte des Evangelisten eine andere Problemstellung nahe: Es geht darum, dass die Jugend an sich (unabhängig von jedem materiellen Gut) ein einzigartiger Reichtum des Menschen, eines Jungen oder Mädchens, ist und meistens auch von den Jugendlichen als ein besonderer Reichtum erlebt wird. Meistens, aber nicht immer und nicht in der Regel; denn es gibt durchaus Menschen in der Welt, die aus verschiedenen Motiven ihre Jugend nicht als Reichtum erfahren. Darüber müssen wir noch eigens sprechen.

Es gibt jedoch gute Gründe - auch objektiver Art -, um an die Jugend als einen einzigartigen Reichtum zu denken, wie ihn der Mensch gerade in diesem Lebensabschnitt erfährt. Dieser unterscheidet sich gewiß von der Kindheit (ist er doch gerade das Verlassen der Kinderjahre) wie auch von der Zeit der vollen Reife. Der Lebensabschnitt der Jugend ist ja die Zeit, da das menschliche "Ich" und die damit verbundenen Eigenschaften und Fähigkeiten besonders intensiv entdeckt werden. Stufe für Stufe und Schritt für Schritt enthüllt sich vor dem inneren Blick der sich entfaltenden Persönlichkeit eines Jungen oder eines Mädchens jene besondere, in gewissem Sinne einzigartige und unwiederholbare Möglichkeit eines konkreten Menschseins, dem der gesamte Entwurf des künftigen Lebens gleichsam eingeschrieben ist. Das Leben stellt sich dar als Verwirklichung jenes Entwurfs: als "Selbstverwirklichung".

Das Thema verdiente natürlich unter vielen Gesichtspunkten eine Erläuterung; um es aber kurz zu sagen, es offenbaren sich Umriß und Form jenes Reichtums, wie ihn die Jugend darstellt. Es ist der Reichtum, die ersten eigenen Entscheidungen zu entdecken und zu planen, sie zu wählen, ins Auge zu fassen und auf sich zu nehmen, Entscheidungen, die auf der ganzen personalen Ebene menschlicher Existenz für die Zukunft wichtig sein werden. Zugleich haben solche Entscheidungen ihre große soziale Bedeutung. Der junge Mann im Evangelium befand sich gerade in dieser existentiellen Phase, wie wir den Fragen entnehmen können, die er im Gespräch mit Jesus stellt. Deshalb können jene abschließenden Worte von dem "großen Vermögen", das heißt von seinem Reichtum, auch in einem solchen Sinne verstanden werden: ein Reichtum, wie ihn die Jugend selbst darstellt.

Wir müssen uns jedoch fragen: Muß dieser Reichtum, den die Jugend darstellt, den Menschen etwa von Christus entfernen? Dies sagt der Evangelist ganz gewiß nicht; wenn man den Text genauer ansieht, darf man eher eine andere Folgerung ziehen. Der Entschluß, sich von Christus zurückzuziehen, ist letztlich nur unter dem Druck der äußerlichen Reichtümer zustandegekommen, durch das, was jener junge Mann besaß ("die Güter"). Nicht nur durch das, was er war! Das, was er als junger Mensch war - das heißt der innere Reichtum, der sich in der Jugend des Menschen verbirgt -, hatte ihn ja gerade zu Jesus hingeführt und ihn auch jene Fragen stellen lassen, bei denen es sich ganz deutlich um den gesamten Lebensentwurf handelt. Was muss ich tun? "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Was muss ich tun, damit mein Leben seinen vollen Wert und Sinn habe?

Die Jugend eines jeden von euch, liebe Freunde, ist der Reichtum, der sich gerade in diesen Fragen offenbart. Der Mensch stellt sie sich im Verlauf seines ganzen Lebens; in der Jugendzeit jedoch vernimmt er sie besonders intensiv, geradezu eindringlich. Und gut, dass es so ist. Diese Fragen beweisen nämlich jene Dynamik in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, wie sie eurer Altersstufe zu eigen ist. Diese Fragen stellt ihr euch manchmal mit Ungeduld; aber zugleich versteht ihr auch, dass die Antwort darauf nicht leichtfertig oder oberflächlich sein darf. Sie muss ein besonderes und entscheidendes Gewicht haben. Es handelt sich um eine Antwort, die das ganze Leben betrifft und die gesamte menschliche Existenz umfaßt.

Diese wesentlichen Fragen stellen sich in besonderer Weise diejenigen eurer Altersgenossen, deren Leben von Jugend an durch Leiden belastet ist: durch einen körperlichen Mangel, durch irgendeine sonstige Behinderung, durch eine schwierige familiäre oder soziale Lage. Wenn sich bei all dem ihr Bewußtsein normal entwickelt, wird die Frage nach Sinn und Wert des Lebens für sie umso grundsätzlicher und zugleich besonders dramatisch, weil es von Anfang an durch ein existentielles Leid gezeichnet ist. Und wieviele solcher Jugendlicher gibt es inmitten der großen Schar junger Menschen in aller Welt! In den verschiedenen Völkern und Gesellschaften, in den einzelnen Familien! Wieviele sind von Jugend auf gezwungen, in einem Heim oder einem Hospital zu leben, verurteilt zu einer gewissen Passivität, die in ihnen das Gefühl aufkommen lassen kann, für die Menschheit nutzlos zu sein!

Kann man also sagen, dass auch eine solche Jugend einen inneren Reichtum darstellt? Wen müssen wir dies fragen? Wem sollen sie diese wesentliche Frage stellen? Es scheint, dass Christus hierfür der einzige kompetente Gesprächspartner ist, ein Partner, den niemand anders voll ersetzen kann.

Gott ist Liebe

4. Christus gibt seinem jungen Gesprächspartner im Evangelium eine Antwort. Er sagt: "Niemand ist gut außer Gott, dem Einen". Wir haben bereits gehört, was jener gefragt hatte. Er fragte: "Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Wie muss ich handeln, damit mein Leben einen Sinn habe, einen vollen Sinn und Wert? Wir können seine Frage so in die Sprache unserer Zeit übersetzen. In diesem Zusammenhang will die Antwort Christi besagen: Gott allein ist die letzte Grundlage aller Werte; nur er gibt unserer menschlichen Existenz ihren endgültigen Sinn. Gott allein ist gut, das bedeutet: In ihm und nur in ihm haben alle Werte ihre erste Quelle und ihre endgültige Erfüllung; er ist "das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende" (Ap 21,6). In ihm allein finden diese Werte ihre Echtheit und ihre letzte Bestätigung. Ohne ihn - ohne die Beziehung zu Gott - hängt die gesamte Welt irdischer Werte über einer abgrundtiefen Leere. Sie verliert dabei auch ihre Klarheit und Ausdruckskraft. Dann bietet sich das Böse als gut dar, und das Gute wird geächtet. Zeigt das nicht die Erfahrung unserer Tage, wo immer Gott aus dem Bereich der Wertungen, der Urteile, der Handlungen herausgedrängt worden ist?

Warum ist Gott allein gut? Weil er Liebe ist. Christus gibt diese Antwort mit den Worten des Evangeliums und vor allem durch das Zeugnis seines Lebens und Sterbens: "Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab" (Joh 3,16). Gott ist gerade deshalb gut, weil er die Liebe ist  (1 Joh 4,8.16).

Die Frage nach dem Wert, die Frage nach dem Sinn des Lebens ist - wie gesagt - ein Teil des besonderen Reichtums der Jugend. Sie bricht im innersten Kern jenes Reichtums und jener Unruhe auf, welche mit dem Lebensentwurf verbunden ist, den der Mensch planen und verwirklichen muss. Und das umso mehr, wenn die Jugendzeit durch persönliches Leid gezeichnet ist oder das Leiden anderer sehr bewußt erlebt; wenn sie tief erschüttert wird durch die vielfältigen Übel, die es in der Welt gibt; schließlich wenn sie dem Geheimnis der Sünde, der menschlichen Bosheit (mysterium iniquitatis), von Angesicht zu Angesicht begegnet (Vgl. 2 Thess 2,7). Hierauf gibt Christus diese Antwort: Gott allein ist gut; Gott allein ist Liebe. Diese Antwort mag schwierig erscheinen, aber sie ist zugleich fest und wahr: Sie enthält die endgültige Lösung. Wie sehr bete ich darum, dass ihr, liebe junge Freunde, die Antwort Christi wirklich persönlich vernehmt und den inneren Weg findet, um sie zu verstehen, sie zu bejahen und zu verwirklichen!

So verhält sich Christus beim Gespräch mit dem jungen Mann des Evangeliums. So ist er auch im Gespräch mit jedem und mit jeder von euch. Wenn ihr ihn anredet: "Guter Meister ...", dann fragt er euch: "Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen". Daraus folgt: Wenn auch ich selbst gut bin, dann ist das ein Zeugnis für Gott. "Wer mich gesehen hat, hat auch den Vater gesehen" (Joh 14,9). So spricht Christus, unser Meister und Freund, gekreuzigt und auferstanden: immer "derselbe gestern, heute und in Ewigkeit" (Vgl. Hebr 13,8).

Das ist der Kern, der wesentliche Punkt der Antwort auf jene Fragen, die ihr jungen Menschen aufgrund des Reichtums stellt, den ihr in euch tragt und der in eurer Jugend wurzelt. Diese erschließt euch verschiedene mögliche Wege und stellt euch vor die Aufgabe eines Entwurfs für euer ganzes Leben. Hieraus ergeben sich die Fragen nach den Werten, nach Sinn und Wahrheit, nach Gut und Böse. Wenn Christus euch in seiner Antwort dazu auffordert, dies alles auf Gott zu beziehen, gibt er euch zugleich an, worin bei euch selbst die Quelle und das Fundament dafur liegen. Ein jeder von euch ist ja durch den Schöpfungsakt Bild und Gleichnis Gottes (Vgl. Gen 1,26). Gerade diese Existenz als sein Bild und Gleichnis bewirkt, dass ihr euch diese Fragen stellt und stellen müsst. Sie beweisen, wie sehr der Mensch ohne Gott sich selbst nicht begreifen noch sich selbst ohne Gott verwirklichen kann. Jesus Christus ist vor allem darum in die Welt gekommen, um einem jeden von uns dies bewußt zu machen. Ohne ihn würde diese grundlegende Dimension der Wahrheit vom Menschen allzu leicht im Dunkel versinken. Allerdings: "Das Licht kam in die Welt" (Joh 3,19; Vgl. 1,9), aber "die Finsternis hat es nicht erfaßt" (Joh 1,5).

Die Frage nach dem Ewigen Leben

5. Was muss ich tun, damit mein Leben einen Wert hat, einen Sinn? Diese leidenschaftliche Frage lautet im Munde des jungen Mannes aus dem Evangelium so: "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Spricht ein Mensch, der die Frage in dieser Form stellt, noch in einer Sprache, die die Menschen von heute verstehen? Sind wir nicht die Generation, deren Lebenshorizont völlig von der Welt und dem zeitlichen Fortschritt ausgefüllt wird? Unser Denken verläuft zuallererst in irdischen Kategorien. Wenn wir die Grenzen unseres Planeten überschreiten, tun wir das, um Flüge zu anderen Planeten zu unternehmen, um ihnen Signale zu übermitteln oder Raumsonden in ihre Richtung auszusenden.

All das ist zum Inhalt unserer modernen Zivilisation geworden. Die Wissenschaft hat zusammen mit der Technik in unvergleichbarer Weise die Möglichkeiten des Menschen gegenüber der Materie entdeckt, und es ist ihr ebenso gelungen, die innere Welt seines Denkens und seiner Fähigkeiten, seiner Antriebe und Leidenschaften zu beherrschen. Wenn wir aber vor Christus hintreten, wenn wir ihm die Fragen unserer Jugend anvertrauen, dann können wir offenbar die Fragen nicht anders stellen als der junge Mann im Evangelium: "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Jede andere Frage nach Sinn und Wert unseres Lebens wäre Christus gegenüber unzureichend und nur vordergründig.

Christus ist ja nicht nur der "gute Meister", der uns die Lebenswege auf dieser Erde weist. Er ist auch der Zeuge für jene endgültige Bestimmung, die der Mensch in Gott selbst hat. Er ist der Zeuge für die Unsterblichkeit des Menschen. Die Frohe Botschaft, die er mit seiner Stimme verkündete, wird durch Kreuz und Auferstehung im Ostergeheimnis endgültig besiegelt. "Christus, von den Toten auferweckt, stirbt nicht mehr; der Tod hat keine Macht mehr über ihn" (Röm 6,9). In seiner Auferstehung ist Christus auch das ständige "Zeichen des Widerspruchs" (Lk 2,34) geworden gegenüber allen Programmen, die unfähig sind, den Menschen über die Grenze des Todes hinauszuführen. Ja, mit dieser Grenze schneiden sie sogar jede Frage des Menschen nach Wert und Sinn seines Lebens ab. Angesichts all dieser Programme, Weltanschauungen und Ideologien wiederholt Christus immer wieder: "Ich bin die Auferstehung und das Leben" (Joh 11,25).

Wenn du also, lieber Bruder und liebe Schwester, mit Christus sprechen möchtest, indem du dich zur vollen Wahrheit seines Zeugnisses bekennst, dann musst du auf der einen Seite "die Welt lieben" - "denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab" (Joh 3,16) -; zugleich aber musst du innerlich Abstand gewinnen gegenüber dieser reichen und bezaubernden Wirklichkeit, wie "die Welt" sie darstellt. Du musst dich dazu entscheiden, die Frage nach dem ewigen Leben zu stellen. Denn "die Gestalt dieser Welt vergeht" (1 Kor 7,13), und jeder von uns ist dieser Vergänglichkeit unterworfen. In der Dimension der sichtbaren Welt wird der Mensch geboren mit dem Blick auf den Tag seines Todes; zugleich aber trägt der Mensch, dessen innerer Seinsgrund es ist, sich selbst zu übersteigen, all das in sich, womit er die Welt übersteigt.

All das, womit der Mensch in sich selbst die Welt übersteigt - obgleich er in ihr verwurzelt bleibt -, erklärt sich aus dem Bild und Gleichnis Gottes, das dem menschlichen Wesen von Anfang an eingeprägt ist. Und all das, womit der Mensch die Welt übersteigt, rechtfertigt nicht nur die Frage nach dem ewigen Leben, sondern macht sie geradezu unerläßlich. Diese Frage stellen sich die Menschen seit Anbeginn und nicht nur im Bereich des Christentums, sondern auch darüber hinaus. Auch ihr müsst den Mut finden, sie zu stellen, wie der junge Mann im Evangelium. Das Christentum lehrt uns, die Vergänglichkeit vom Blick auf das Reich Gottes her zu verstehen, vom Blick auf das ewige Leben. Ohne dies bringt das vergängliche Leben, und sei es auch noch so reich und in jeder Hinsicht gelungen, dem Menschen schließlich doch nichts anderes als die unausweichliche Notwendigkeit des Todes.

Nun aber besteht zwischen Jugend und Tod ein innerer Widerspruch. Der Tod scheint von der Jugend weit entfernt zu sein. Und so ist es auch. Weil aber Jugend den Entwurf des ganzen Lebens bedeutet, einen Entwurf nach dem Maßstab von Sinn und Wert, ist die Frage nach dem Ende auch für die Jugendzeit unumgänglich. Wenn die menschliche Erfahrung nur sich selbst überlassen ist, so sagt sie dasselbe wie die Heilige Schrift: "Dem Menschen ist es bestimmt, ein einziges Mal zu sterben" (Hebr 9,27). Der inspirierte Autor fügt hinzu: "...worauf dann das Gericht folgt." Christus aber sagt: "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben" (Joh 11,25s). Fragt also Christus wie der junge Mann im Evangelium: "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?"

Moral und Gewissen

6. Auf diese Frage antwortet Jesus: "Du kennst doch die Gebote", und sogleich zählt er diese Gebote auf, die zum Dekalog gehören. Mose hatte sie einst auf dem Berg Sinai empfangen, beim Bundesschluß Gottes mit Israel. Sie wurden auf Steintafeln geschrieben (Vgl. Es 34,1; Dt 9,10; 2 Kor 3,3) und waren für jeden Israeliten ein täglicher Wegweiser (Vgl. Dt 4,5-9). Der junge Mann, der mit Christus redet, kennt die Zehn Gebote natürlich auswendig; er kann sogar mit Freude erklären: "Alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt" (Mk 10, 20).

Wir müssen davon ausgehen, dass in jedem Dialog, den Christus mit jedem einzelnen von euch jungen Menschen führt, dieselbe Frage gestellt wird: "Du kennst die Gebote?" Notwendigerweise wiederholt sich diese Frage, weil die Zehn Gebote einen Teil des Bundes zwischen Gott und der Menschheit ausmachen. Diese Gebote bilden die wesentliche Grundlage des Verhaltens und entscheiden über den moralischen Wert des menschlichen Handelns; sie stehen in einem organischen Zusammenhang mit der Berufung des Menschen zum ewigen Leben, mit dem Aufbau des Reiches Gottes in den Menschen und unter den Menschen. Im Wort der göttlichen Offenbarung ist ein klares Sittengesetz enthalten, dessen Kern die Tafeln mit den Zehn Geboten vom Berg Sinai bilden und dessen Gipfel sich im Evangelium findet: in der Bergpredigt (Vgl. Mt 5-7) und im Liebesgebot (Vgl. Mt 22,37-40; Mk 12,29-31; Lk 10,27). Dieses Sittengesetz kennt zugleich noch eine zweite Ausformung. Es ist dem moralischen Gewissen der Menschheit eingeschrieben, so dass diejenigen, welche die Zehn Gebote, das heißt das von Gott offenbarte Gesetz, nicht kennen, "sich selbst Gesetz sein" (Vgl. Röm 2,14). So schreibt der hl. Paulus im Römerbrief und fügt sogleich hinzu: "Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab" (Röm 2,15).

Hier berühren wir Probleme von höchster Wichtigkeit für eure Jugend und für den Lebensentwurf, der daraus hervorgeht.

Dieser Entwurf entspricht der Erwartung eines ewigen Lebens vor allem durch die Richtigkeit jener Taten, auf denen er gründet. Die Richtigkeit dieser Taten hat ihr Fundament in jener doppelten Ausformung des Sittengesetzes: wie es sich in den Zehn Geboten des Mose und im Evangelium findet und wie es dem moralischen Gewissen des Menschen eingeschrieben ist. Das Gewissen "legt Zeugnis ab" von diesem Gesetz, wie der hl. Paulus schreibt. Dieses Gewissen sind nach den Worten des Römerbriefes die Gedanken, "die sich gegenseitig anklagen und verteidigen" (Röm 2,15).  Jeder weiß, wie sehr diese Worte unserer inneren Wirklichkeit entsprechen: Ein jeder von uns erfährt von Jugend auf die Stimme des Gewissens. Wenn Jesus also im Gespräch mit dem jungen Mann die Gebote aufzählt: "Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!" (Mk 10,19) dann antwortet das rechte Gewissen mit seiner inneren Stimme auf die entsprechenden Akte des Menschen: Es klagt an oder verteidigt. Das Gewissen darf natürlich nicht fehlgeleitet sein; diese grundlegende Ausformung der moralischen Prinzipien im Gewissen darf sich nicht durch irgendeinen Relativismus oder Utilitarismus verfälschen lassen.

Liebe junge Freunde! Die Antwort, die Jesus seinem Gesprächspartner im Evangelium gibt, ist an jeden und an jede von euch gerichtet. Christus fragt nach dem Stand eures sittlichen Bewußtseins und zugleich nach der Verfassung eures Gewissens. Das ist eine Schlüsselfrage für den Menschen: Es ist die Grundfrage eurer Jugend, die Bedeutung hat für den gesamten Lebensentwurf, der sich ja in der Jugend herausbilden soll. Der Wert dieses Entwurfs ist aufs engste verbunden mit der Beziehung, die jeder einzelne von euch zu Gut und Böse im moralischen Sinne hat. Sein Wert hängt wesentlich von der Echtheit und rechten Formung eures Gewissens sowie von dessen feinem Gespür ab.

Hier befinden wir uns also an einem entscheidenden Punkt, wo sich Schritt für Schritt Vergänglichkeit und Ewigkeit auf einer Ebene begegnen, die dem Menschen eigentümlich ist. Es ist die Ebene des Gewissens, die Ebene der sittlichen Werte, die wichtigste Dimension der Zeitlichkeit und Geschichte. Die Geschichte wird ja nicht nur von den Ereignissen geschrieben, die sich gewissermaßen "draußen" abspielen, sondern vor allem von den "inneren" Vorgängen: Sie ist die Geschichte des menschlichen Gewissens, der moralischen Siege und Niederlagen. Hier hat auch die Größe des Menschen, seine wahrhaft menschliche Würde, im wesentlichen ihr Fundament. Das ist jener innere Reichtum, mit dem der Mensch immer wieder sich selbst auf die Ewigkeit hin übersteigt. Wenn es wahr ist, dass "es dem Menschen bestimmt ist, ein einziges Mal zu sterben", so ist es auch wahr, dass der Mensch den Reichtum des Gewissens, das darin enthaltene Gute und Böse über die Grenze des Todes hinausträgt, auf dass er vor dem Angesicht dessen, der die Heiligkeit selber ist, die letzte und endgültige Wahrheit über sein ganzes Leben befinde: "Darauf folgt dann das Gericht" (Hebr 9,27).

Ebendies geschieht im Gewissen: In der inneren Wahrheit unserer Taten ist gewissermaßen ständig die Dimension des ewigen Lebens gegenwärtig. Zugleich drückt das Gewissen durch die sittlichen Werte dem Leben der Generationen, der Geschichte und Kultur des menschlichen Zusammenlebens, der Gesellschaften, der Völker und der gesamten Menschheit, ein ganz deutliches Siegel auf.

Wieviel hängt in diesem Bereich von jedem und von jeder unter euch ab!

"Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb"

7. Wenn wir nun das Gespräch Christi mit dem jungen Mann weiter untersuchen, treten wir in eine andere Phase ein. Sie ist neu und entscheidend. Der junge Mann hat die wesentliche und grundlegende Antwort auf seine Frage: "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" erhalten; und diese Antwort stimmt mit seinem gesamten bisherigen Lebensweg überein: "Alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt". Wie sehr wünsche ich jedem von euch, dass euer bisheriger Lebensweg in ähnlicher Weise mit der Antwort Christi übereinstimmt! Ja, mein Wunsch für euch geht dahin, dass euch die Jugendzeit eine feste Grundlage gesunder Prinzipien schenkt, dass euer Gewissen schon in den Jahren eurer Jugend jene reife Klarheit erlangt, die es einem jeden von euch im Leben ermöglicht, stets ein "gewissenhafter Mensch", "ein Mensch von Grundsätzen", "eine Person, die Vertrauen erweckt", die also glaubwürdig ist, zu sein. Eine so geformte sittliche Persönlichkeit bildet zugleich den wichtigsten Beitrag, den ihr in das Leben der Gemeinschaft einbringen könnt: in die Familie und in die Gesellschaft, in das Berufsleben und in den kulturellen oder politischen Bereich und schließlich auch in die Gemeinschaft der Kirche, zu der ihr schon gehört oder eines Tages gehören könntet.

Zugleich handelt es sich hierbei um die volle und tiefe Echtheit des Menschseins und eine ebensolche Echtheit in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit von Mann und Frau, mit all den Eigenschaften, welche das einmalige Wesen dieser Persönlichkeit bilden und sich auch im Leben der Gemeinschaften, angefangen bei der Familie, auf vielfältige Weise auswirken. Jeder von euch muss in irgendeiner Weise zur Bereicherung dieser Gemeinschaften beitragen, und dies vor allem durch das, was er ist. Ist das nicht eine sinnvolle "Öffnung" jener Jugend, die an sich den ganz "persönlichen" Reichtum eines jeden von euch darstellt? Der Mensch sieht sich selbst und sein Menschsein gleichzeitig als seine eigene innere Welt und zugleich als das geeignete Feld, wo er "mit den anderen" und ,für die anderen" sein kann. Hierbei bekommen die Gebote des Dekalogs und des Evangeliums eine entscheidende Bedeutung, vor allem aber das Liebesgebot, das den Menschen auf Gott und den Nächsten hin öffnet. Die Liebe ist ja "das Band, das alles ... vollkommen macht" (Kol 3,14); durch sie gelangen der Mensch und die zwischenmenschliche Brüderlichkeit zu einer volleren Reife. Darum ist die Liebe am größten (Vgl. 1 Kor 13,13) und das erste unter allen Geboten, wie Christus uns lehrt (Vgl. Mt 22,38); darin sind alle anderen eingeschlossen und zusammengefaßt.

Ich wünsche also jedem von euch, dass ihr auf den Straßen eurer Jugend Christus begegnet: damit ihr vor ihm durch das Zeugnis eures Gewissens dieses Sittengesetz des Evangeliums bestätigen könnt, dessen Werten soviele tiefgeistige Menschen im Laufe der Generationen mehr oder weniger nahegekommen sind.

Dies ist nicht der Ort, die Beweise dafür aus der ganzen Menschheitsgeschichte anzuführen. Feststeht, dass von den ältesten Zeiten an der Spruch des Gewissens den Menschen auf eine objektive moralische Norm hinlenkt, die ihren konkreten Ausdruck in der Achtung vor der Person des anderen und in jenem Prinzip findet, dem Nächsten nichts zuzufügen, von dem man nicht will, dass es einem selbst angetan wird.

Hierin sehen wir schon deutlich jene objektive Moral aufleuchten, von der der hl. Paulus sagt, dass sie dem Herzen eingeschrieben ist und vom Gewissen bezeugt wird. (Vgl. Röm 2,15). Der Christ erblickt hier leicht das Licht des schöpferischen Wortes Gottes, das jeden Menschen erleuchtet (Vgl. Joh 1,9; Nostra Aetate, 2); und gerade weil er diesem Wort folgt, das Mensch geworden ist, erhebt er sich zum höheren Gesetz des Evangeliums, das im Liebesgebot positiv von ihm verlangt, dem Nächsten all das Gute zu tun, von dem er möchte, dass es auch ihm selbst getan werde. Der Christ besiegelt so die innere Stimme seines Gewissens mit der bedingungslosen Nachfolge Christi und seines Wortes.

Weiterhin wünsche ich euch, dass ihr nach dieser Erkenntnis der wesentlichen und wichtigen Fragen für eure Jugend, für den Entwurf des gesamten Lebens, das vor euch liegt, das erfahren dürft, wovon das Evangelium spricht: "Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb". Ich wünsche euch, diesen Blick Jesu erleben zu dürfen! Ich wünsche euch, die Wahrheit zu erfahren, dass er, Christus, euch in Liebe anblickt!

Jedem Menschen schenkt er diesen Blick der Liebe. Das Evangelium bestätigt dies auf jeder Seite. Man kann sogar sagen, dass in diesem liebenden Blick Christi gleichsam eine Zusammenfassung der ganzen Frohen Botschaft enthalten ist. Wenn wir den Beginn dieses Blickes suchen, müssen wir bis zum Buch Genesis zurückgehen, bis zu jenem Moment, da Gott nach der Erschaffung des Menschen als "Mann und Frau" sah, dass "alles ... sehr gut war" (Gen 1,31). Dieser allererste Blick des Schöpfers findet sich im Blick Christi wieder, mit dem er das Gespräch mit dem jungen Mann im Evangelium begleitet.

Wir wissen, dass Christus diesen liebenden Blick durch sein erlösendes Opfer am Kreuz bekräftigen und besiegeln wird; denn gerade durch dieses Opfer hat jener "Blick" eine besondere Tiefe der Liebe erlangt. Dort ist eine solche Bejahung des Menschen und der Menschheit enthalten, wie sie nur ihm möglich ist, Christus, dem Erlöser und Bräutigam. Er allein weiß, "was im Menschen ist". Er kennt seine Schwäche (Vgl. Joh 2,25); er kennt aber auch und vor allem seine Würde.

Ich wünsche jedem und jeder von euch, diesen Blick Christi zu entdecken und ihn bis in die Tiefe zu erfahren. In welchem Augenblick eures Lebens das sein wird, weiß ich nicht. Ich denke, es wird dann sein, wenn ihr es am meisten nötig habt: vielleicht im Leiden, vielleicht verbunden mit dem Zeugnis eines reinen Gewissens, wie bei jenem jungen Mann des Evangeliums; oder vielleicht gerade in der entgegengesetzten Situation, verbunden mit einem Schuldgefühl, mit Gewissensbissen. Christus blickte ja auch den Petrus an in der Stunde seines Versagens, als er seinen Meister dreimal verleugnet hatte (Vgl. Lk 22,61).

Der Mensch braucht diesen liebevollen Blick: Er muss das Bewußtsein haben, geliebt zu sein, von Ewigkeit her geliebt und erwählt zu sein. Diese ewige Liebe göttlicher Erwählung begleitet den Menschen durch sein Leben wie der liebende Blick Christi. Und vielleicht am stärksten im Augenblick der Prüfung, der Erniedrigung, der Verfolgung, der Niederlage, wenn unser Menschsein vor den Augen der Leute fast ausgelöscht ist, geschändet und zertreten. Dann wird das Bewußtsein, dass der Vater uns immer schon in seinem Sohn geliebt hat, dass Christus selbst einen jeden ohne Unterlaß liebt, zu einem festen Halt für unsere gesamte menschliche Existenz. Wenn alles für den Zweifel an sich selbst und am Sinn des eigenen Lebens spricht, dann läßt uns dieser Blick Christi überleben, das Bewußtsein von jener Liebe, die sich in ihm mächtiger als jedes Übel und jede Zerstörung erwiesen hat.

Ich wünsche euch also, die gleiche Erfahrung wie der junge Mann im Evangelium zu machen: "Jesus blickte ihn an und gewann ihn lieb".

"Folge mir nach"

8. Die Prüfung unseres Textes aus dem Evangelium ergibt, dass dieser Blick gleichsam die Antwort Christi auf das Zeugnis war, das der junge Mann von seinem Leben bis zu jenem Augenblik gegeben hatte, darauf nämlich, dass er nach den Geboten Gottes gehandelt hatte: "Alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt". Gleichzeitig war dieser liebende Blick die Hinführung zum Schlussteil des Gespräches. Wenn man der Darstellung bei Matthäus folgen will, eröffnete der junge Mann selbst diesen Teil; denn er betonte nicht nur die eigene Treue gegenüber den Zehn Geboten, welche sein ganzes bisheriges Verhalten prägte, sondern stellte zugleich eine neue Frage. So fragte er: "Was fehlt mir jetzt noch?" (Mt 19,20).

Diese Frage ist sehr wichtig. Sie zeigt, dass im Gewissen des Menschen und gerade des jungen Menschen ein Streben nach "etwas Höherem" verborgen liegt. Dieses Streben äußert sich auf verschiedene Weise; wir können es auch bei Menschen bemerken, die unserem Glauben fern zu sein scheinen.

Unter den Anhängern nichtchristlicher Religionen, vor allem im Buddhismus, Hinduismus und Islam, finden wir schon seit jeher Scharen von "geistlichen Menschen, die oft bereits von Jugend an alles verlassen, um den Stand der Armut und Reinheit zu wählen und das Absolute zu suchen, das jenseits der Erscheinung der wahrnehmbaren Dinge liegt; Menschen, die sich um den Stand vollkommener Freiheit bemühen, die mit Liebe und Vertrauen ihre Zuflucht zu Gott nehmen und sich mit ganzem Herzen seinen verborgenen Ratschlüssen unterwerfen. Sie sind wie von einer geheimnisvollen inneren Stimme bewegt, die in ihrem Geist wie ein Echo auf das Wort des hl. Paulus klingt: "Die Gestalt dieser Welt vergeht" (1 Kor 7,31) und die sie auf die Suche nach höheren Dingen führt, die von Dauer sind: "Strebt nach dem, was im Himmel ist" (Kol 3,1). Sie mühen sich mit allen Kräften um dieses Ziel, indem sie ernsthaft an der Reinigung ihres Geistes arbeiten und bisweilen sogar ihr Leben in Liebe Gott weihen. Dadurch werden sie zu einem lebendigen Beispiel für ihre Mitmenschen, die sie durch ihre Lebensform auf den Vorrang der ewigen Werte vor den vergänglichen und zuweilen zweifelhaften Werten hinweisen, welche die Gesellschaft anbietet, in der sie leben.

Dieses Streben nach Vollkommenheit, nach "etwas Höherem", hat jedoch seinen ausdrücklichen Bezugspunkt im Evangelium. In der Bergpredigt bestätigt Christus das ganze Sittengesetz, dessen Mittelpunkt die mosaischen Gesetzestafeln der Zehn Gebote bilden; zugleich aber verleiht er diesen Geboten eine neue, evangelische Bedeutung. Alles ist - wie schon gesagt - zusammengefaßt in der Liebe, nicht nur als Gebot, sondern als Geschenk: "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm 5,5).

In diesem neuen Zusammenhang wird auch das Programm der Acht Seligkeiten verständlich, das im Matthäusevangelium die gesamte Bergpredigt einleitet (Vgl. Mt 5,3-12). Im gleichen Zusammenhang wird die Summe der Gebote, welche die Grundlage der christlichen Moral bilden, durch die evangelischen Räte vervollständigt, in denen sich in besonderer und konkreter Weise der Ruf Christi zur Vollkommenheit ausdrückt, der Ruf zur Heiligkeit.

Als der junge Mann nach dem "Höheren" fragt: "Was fehlt mir noch?", schaut ihn Jesus mit Liebe an: Diese Liebe erhält hier eine neue Bedeutung. Der Mensch wird durch den Heiligen Geist innerlich von einem Leben nach den Geboten zu einem bewußten Leben der Hingabe geführt, und der liebevolle Blick Christi drückt diesen inneren Übergang aus. Jesus sagt: "Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach" (Mt 19,21). Ja, meine lieben jungen Freunde! Der Mensch, der Christ ist fähig, sein Leben als Geschenk zu verstehen. Diese Dimension ist nicht nur "höher" als die Dimension der einzelnen sittlichen Verpflichtungen, wie sie aus den Geboten hervorgehen, sondern sie ist auch "tiefer" und grundlegender. Sie ist ein vollerer Ausdruck jenes Lebensentwurfs, an dem wir schon in der Jugend bauen. Die Dimension des Geschenkes bildet auch den Reifegrad jeder menschlichen und christlichen Berufung, wie wir später noch sehen werden.

In diesem Augenblick möchte ich jedoch noch weiter von der besonderen Bedeutung der Worte zu euch sprechen, die Christus an jenen jungen Mann gerichtet hat. Ich tue das in der Überzeugung, dass Christus sie in der Kirche an einige seiner jungen Gesprächspartner aus jeder Generation richtet. Auch aus unserer Generation. Seine Worte bedeuten dann eine besondere Berufung in der Gemeinschaft des Gottesvolkes. Die Kirche erblickt die Aufforderung Christi "Folge mir nach" (Vgl. Mk 10,21; Joh 1,43; 21,23) am Anfang jeder Berufung zum Weihepriestertum, das in der römisch-katholischen Kirche zugleich mit der bewußten und freien Wahl des Zölibats verbunden ist. Die Kirche erblickt das gleiche "Folge mir nach" Christi am Anfang der Ordensberufung, bei der ein Mann oder eine Frau durch das Gelübde der evangelischen Räte (Keuschheit, Armut und Gehorsam) das Lebensprogramm übernimmt, das Christus selbst auf Erden um des Gottesreiches willens verwirklicht hat (Vgl. Mt 19,12). Durch die Ordensgelübde verpflichten sich solche Menschen, ein besonderes Zeugnis für die allesübersteigende Liebe zu Gott und zugleich für jene Berufung zur Einheit mit Gott in der Ewigkeit zu geben, die an alle ergeht. Es ist eben nötig, dass einige dafür ein außerordentliches Zeugnis vor den anderen ablegen.

Ich beschränke mich darauf, diese Themen im vorliegenden Schreiben nur kurz zu erwähnen, weil sie an anderer Stelle bereits mehrmals ausführlich dargelegt worden sind (Redemptionis Donum). Ich rufe sie aber in Erinnerung, weil sie im Gespräch Christi mit dem jungen Mann eine besondere Klarheit erreichen, vor allem die Frage der evangelischen Armut. Ich erinnere daran auch, weil der Ruf Christi "Folge mir nach" gerade in diesem außergewöhnlichen und charismatischen Sinn meistens schon in der Jugendzeit vernommen wird, bisweilen sogar schon in der Kindheit.

Deshalb möchte ich euch jungen Menschen allen in diesem wichtigen Abschnitt der Entfaltung eurer Persönlichkeit als Mann oder Frau sagen: Wenn ein solcher Ruf dein Herz erreicht, bring ihn nicht zum Schweigen! Laß ihn sich entfalten bis zur Reife einer Berufung! Wirke mit durch Gebet und Treue zu den Geboten! "Die Ernte ist gross" (Mt 9,37). Und sehr viele sind nötig, die der Ruf Christi "Folge mir nach" erreichen müsste. Es bedarf sehr vieler Priester nach dem Herzen Gottes; die Kirche und die Welt von heute brauchen unbedingt das Zeugnis eines Lebens, das sich ohne Vorbehalt Gott schenkt, das Zeugnis einer solchen bräutlichen Liebe wie bei Christus selber, die in besonderer Weise das Reich Gottes unter den Menschen gegenwärtig werden läßt und es der Welt näher bringt.

Erlaubt mir also, die Worte Christi über die Ernte, die groß ist, weiterzuführen. Ja, groß ist die Ernte des Evangeliums, diese Ernte des Heils!... "Aber es gibt nur wenig Arbeiter". Vielleicht spürt man das heute mehr als in der Vergangenheit, besonders in einigen Ländern wie auch in einigen Ordensgemeinschaften.

"Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden"  (Mt 9,37), so fährt Christus fort. Diese Worte werden vor allem in unserer Zeit zu einem Programm des Gebetes und des Einsatzes für Priester- und Ordensberufe. Mit diesem Programm wendet sich die Kirche an euch, an die Jugendlichen. Auch ihr: Bittet darum! Und wenn dieses Gebet der Kirche in der Tiefe eures Herzens Frucht ansetzt, dann hört den Meister, wie er auch euch sagt: "Folge mir nach".

[Fortsetzung folgt]