Ecclesia in Europa (Wortlaut)

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Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Ecclesia in Europa

von Papst Johannes Paul II.
an die Bischöfe und Priester, an die Personen gottgeweihten Lebens und an alle Gläubigen zum Thema
zum Thema „Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa"
Die II. Sonderversammlung der Weltbischofssynode für Europa fand am 1. bis 23. Oktober 1999 statt
28. Juni 2003
(Offizieller italienischer Text: AAS [2003/10] 649-719)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


EINLEITUNG

Botschaft der Freude für Europa

1. Die Kirche in Europa hat ihre zum zweiten Mal zu einer Synode versammelten Bischöfe mit innerer Teilnahme begleitet, als diese über das Thema »Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa« nachdachten.

Jenes Leitwort möchte auch ich allen Christen Europas am Beginn des dritten Jahrtausends zurufen, indem ich zusammen mit meinen Brüdern im Bischofsamt die Worte aus dem Ersten Brief des heiligen Petrus aufgreife: »Fürchtet euch nicht, [...] laßt euch nicht erschrecken, sondern haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt« (3, 14-15).<ref> Vgl. Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Schlussbotschaft, Nr. 1: L'Osservatore Romano, 23. Oktober 1999, S. 5.</ref>

Diese Botschaft erklang immer wieder während des Großen Jubiläums des Jahres 2000, mit dem die unmittelbar zuvor stattfindende Synode gleichsam als dessen offene Tür in engem Zusammenhang stand.<ref> Vgl. Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Instrumentum laboris, Nr. 90-91: L'Osservatore Romano, 6. August 1999 - Suppl., S. 17-18.</ref> Das Jubiläum war »ein einziger, ununterbrochener Lobgesang auf die Dreifaltigkeit« , ein authentischer »Weg der Versöhnung« und ein »Zeichen echter Hoffnung für alle, die auf Christus und seine Kirche blicken«.<ref> Johannes Paul II., Bulle Incarnationis mysterium (29. November 1998), 3-4: AAS 91 (1999), 132.133.</ref> Als Erbe hat es uns die Freude über die lebendig machende Begegnung mit Christus hinterlassen – »derselbe gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13, 8) – und uns damit den Herrn Jesus wieder als einziges, unvergängliches Fundament der wahren Hoffnung vor Augen gestellt.

Eine zweite Synode für Europa

2. Die Vertiefung des Themas Hoffnung stellte von Anfang an den Hauptzweck der Zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa dar. Als letzte in der Reihe der in Vorbereitung auf das Große Jubiläum des Jahres 2000 abgehaltenen Synoden mit kontinentalem Charakter<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 38: AAS 87 (1995), 30.</ref> hatte sie zum Ziel, die Situation der Kirche in Europa zu analysieren und Hinweise zur Förderung einer neuen Verkündigung des Evangeliums zu geben, wie ich bei der von mir am 23. Juni 1996 am Ende der Eucharistiefeier im Berliner Olympiastadion bekanntgemachten Einberufung der Synode betonte.<ref> Vgl. Ansprache beim Angelus, 2: Insegnamenti XIX/1 (1996), 1599-1600.</ref>

Die Synodenversammlung konnte nicht umhin, das wiederaufzunehmen, zu überprüfen und weiterzuentwickeln, was bei der vorhergehenden Europasynode behandelt worden war, die 1991, unmittelbar nach dem Fall der Mauern, zum Thema »Seien wir Zeugen Christi, der uns befreit hat« stattgefunden hatte. Auf dieser Ersten Sonderversammlung hatte sich die Dringlichkeit und Notwendigkeit der »Neuevangelisierung« klar abgezeichnet, in dem Bewusstsein, dass »Europa heute nicht schlechthin auf sein vorgegebenes christliches Erbe hinweisen kann: Es muss vielmehr in die Lage versetzt werden, erneut über die Zukunft Europas zu entscheiden, in der Begegnung mit der Person und Botschaft Jesu Christi«.<ref> Erste Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa; Schlusserklärung (13. Dezember 1991), 2: Ench. Vat. 13, Nr. 619.</ref>

Im Abstand von neun Jahren ist die Überzeugung, dass »es die dringende Aufgabe der Kirche ist, den Männern und Frauen Europas die befreiende Botschaft des Evangeliums neu anzubieten«,<ref> Ebd., 3, a.a.O., Nr. 621.</ref> mit ihrer stimulierenden Kraft wieder deutlich zutage getreten. Das für die neuerliche Synodenversammlung gewählte Thema griff aus dem Blickwinkel der Hoffnung dieselbe Herausforderung wieder auf. Es ging also darum, diese Botschaft der Hoffnung einem Europa zu verkünden, das sie verloren zu haben schien.<ref> Vgl. Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Instrumentum laboris, Nr. 3: L'Osservatore Romano, 6. August 1999 - Suppl., S. 3.</ref>

Die Erfahrung der Synode

3. Die Synodenversammlung vom 1. bis 23. Oktober 1999 hat sich als eine außergewöhnliche Gelegenheit der Begegnung, des Zuhörens und des Austausches erwiesen. Das gegenseitige Kennenlernen von Bischöfen aus verschiedenen Teilen Europas und die Verbundenheit dieser mit dem Nachfolger Petri wurden vertieft, und wir konnten uns alle zusammen gegenseitig aufbauen, vor allem dank der Zeugnisse derer, die unter den vergangenen totalitären Regimen wegen ihres Glaubens harte und langdauernde Verfolgungen ertragen haben.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Predigt bei der Eucharistiefeier zum Abschluss der Zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa (23. Oktober 1999), 1: AAS 92 (2000), 177.</ref> Beseelt vom Wunsch, einen brüderlichen »Austausch von Gaben« zu vollziehen, und gegenseitig bereichert durch die Vielfalt der Erfahrungen jedes einzelnen, haben wir wieder einmal Augenblicke der Gemeinschaft im Glauben und in der Liebe erlebt.<ref> Vgl. Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Schlussbotschaft, Nr. 2: L'Osservatore Romano, 23. Oktober 1999, S. 5.</ref>

Daraus ist der Wille erwachsen, den Ruf anzunehmen, den der Heilige Geist an die Kirchen in Europa richtet, um sie angesichts der neuen Herausforderungen in die Pflicht zu nehmen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Predigt bei der Eucharistiefeier zum Abschluss der Zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa (23. Oktober 1999), 4: AAS 92 (2000), 179.</ref> Die Teilnehmer an dem synodalen Treffen haben sich – wenngleich mit liebevollem Blick – nicht gescheut, die aktuelle Situation des Kontinents zu betrachten und deren Licht- und Schattenseiten aufzudecken. Einhellig ergab sich das Bewusstsein, dass die Situation von schwerwiegenden Ungewissheiten auf kultureller, anthropologischer, ethischer und geistlich-religiöser Ebene gekennzeichnet ist. Ebenso klar war ein wachsender Wille festzustellen, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen und sie zu interpretieren, um zu sehen, welche Aufgaben die Kirche erwarten: Daraus sind »brauchbare Orientierungen« hervorgegangen, »um durch eine markantere, durch ein konsequentes Lebenszeugnis gestärkte Verkündigung das Antlitz Christi immer mehr sichtbar zu machen«.<ref> Ebd.</ref>

4. Die mit einem am Evangelium orientierten Unterscheidungsvermögen gelebte synodale Erfahrung ließ das Bewusstsein der Einheit reifen, die die verschiedenen Teile Europas verbindet, ohne die aus den historischen Begebenheiten herrührenden Unterschiede zu leugnen. Es ist eine Einheit, die aufgrund ihrer Verwurzelung in der gemeinsamen christlichen Inspiration die unterschiedlichen kulturellen Traditionen zusammenzuführen vermag und die auf gesellschaftlich-sozialer wie auf kirchlicher Ebene einen fortgesetzten Weg gegenseitigen Kennenlernens verlangt, das sich einem größeren Austausch der Werte der einzelnen öffnet.

Im Laufe der Synode wurde nach und nach ein starkes Streben nach Hoffnung offenkundig. Auch wenn die Synodenväter die Analysen der für den Kontinent charakteristischen Komplexität durchaus ernst nahmen, haben sie erfasst, dass die vielleicht größte Dringlichkeit, die im Osten wie im Westen den Kontinent durchzieht, in einem wachsenden Bedürfnis nach Hoffnung besteht, um dem Leben und der Geschichte einen Sinn geben und gemeinsam weitergehen zu können. Alle Überlegungen der Synode waren darauf ausgerichtet, auf dieses Bedürfnis vom Geheimnis Christi und vom trinitarischen Geheimnis her eine Antwort zu geben. Die Synode wollte die Gestalt des in seiner Kirche lebenden Jesus neu vor Augen führen: Er offenbart den Gott der Liebe, der die Gemeinschaft der drei göttlichen Personen ist.

Das Bild der Geheimen Offenbarung

5. Ich freue mich, durch das vorliegende nachsynodale Schreiben die Früchte dieser Zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa mit der Kirche in Europa teilen zu können. Auf diese Weise möchte ich dem Wunsch nachkommen, der zum Abschluss der synodalen Versammlung zum Ausdruck kam, als die Bischöfe mir die Texte ihrer Überlegungen mit der Bitte überreichten, der pilgernden Kirche in Europa ein Dokument über eben dieses Thema der Synode zu schenken.<ref> Vgl. Propositio 1.</ref>

»Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt« (Offb 2, 7). Bei der Verkündigung des Evangeliums der Hoffnung an Europa werde ich mich von der Apokalypse oder Geheimen Offenbarung leiten lassen, der »prophetischen Offenbarung« , die der gläubigen Gemeinde den verborgenen, tiefen Sinn dessen, was geschehen muss (vgl. Offb 1, 1), erschließt. Die Geheime Offenbarung konfrontiert uns mit einem Wort, das an die christlichen Gemeinden gerichtet ist, damit sie ihre Einbindung in die Geschichte, mit ihren Fragen und ihren Leiden, im Lichte des endgültigen Sieges des geopferten und auferstandenen Lammes zu deuten und zu leben verstehen. Zugleich stehen wir einem Wort gegenüber, das uns verpflichtet, in unserem Leben der immer wiederkehrenden Versuchung zu entsagen, die Stadt der Menschen ohne Gott oder gegen ihn aufzubauen. Wenn nämlich das einträte, würde gerade das menschliche Zusammenleben früher oder später eine nicht wiedergutzumachende Niederlage erleiden.

Die Geheime Offenbarung enthält eine Ermutigung an die Gläubigen: Jenseits allen äußeren Anscheins und auch wenn die Wirkungen noch nicht zu sehen sind, ist der Sieg Christi bereits eingetreten und endgültig. Daraus ergibt sich die Grundeinstellung, den menschlichen Wechselfällen mit einer Haltung tiefer Zuversicht zu begegnen, die aus dem Glauben an den in der Geschichte gegenwärtigen und wirkenden Auferstandenen entspringt.

I. KAPITEL: JESUS CHRISTUS IST UNSERE HOFFNUNG

»Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige« (Offb 1, 17-18)

Der Auferstandene ist immer bei uns

6. In einer Zeit der Verfolgung, der Bedrängnis und der Erschütterung für die Kirche, wie sie der Verfasser der Geheimen Offenbarung erlebte (vgl. 1, 9), ist das Wort, das er in der Vision vernimmt, ein Wort der Hoffnung: »Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt« (Offb 1, 17-18). Wir werden also mit dem Evangelium, mit der »frohen Botschaft« konfrontiert, die Jesus Christus selbst ist. Er ist der Erste und der Letzte: In ihm findet die ganze Geschichte Anfang, Sinn, Richtung und Vollendung; in ihm und mit ihm, in seinem Tod und seiner Auferstehung, ist bereits alles gesagt worden. Er ist der Lebendige: Er war tot, doch nun lebt er in alle Ewigkeit. Er ist das Lamm, das aufrecht vor dem Thron Gottes steht (vgl. Offb 5, 6): Es ist geschlachtet, weil es sein Blut für uns am Holz des Kreuzes vergossen hat; es steht aufrecht, weil es für immer in das Leben zurückgekehrt ist und uns so die grenzenlose Allmacht der Liebe des Vaters hat erkennen lassen. Er hält in seiner Rechten die sieben Sterne (vgl. Offb 1, 16), das heißt, die verfolgte Kirche Gottes im Kampf gegen das Böse und gegen die Sünde, die aber ebenso das Recht hat, froh und siegreich zu sein, weil sie in der Hand dessen ist, der das Böse schon besiegt hat. Er geht mitten unter den sieben goldenen Leuchtern einher (vgl. Offb 2, 1): Er ist in seiner betenden Kirche gegenwärtig und am Wirken. Er ist auch »der, der kommt » (Offb 1, 4) durch die Sendung und das Wirken der Kirche die ganze Menschheitsgeschichte hindurch; er kommt als eschatologischer Schnitter am Ende der Zeiten, um alles zur Vollendung zu führen (vgl. Offb 14, 15-16; 22, 20).

I. Herausforderungen und Zeichen der Hoffnung für die Kirche in Europa

Die Trübung der Hoffnung

7. Dieses Wort richtet sich heute auch an die Kirchen in Europa, die oft durch eine Trübung der Hoffnung auf die Probe gestellt sind. Die Zeit, in der wir leben, vermittelt mit den ihr eigenen Herausforderungen in der Tat den Anschein des Verlorenseins. Viele Männer und Frauen scheinen desorientiert, unsicher und ohne Hoffnung zu sein, und nicht wenige Christen teilen diesen Gemütszustand. Zahlreiche besorgniserregende Zeichen zeigen sich zu Beginn des dritten Jahrtausends bedrohlich am Horizont des europäischen Kontinents, der »zwar sehr reich ist an außerordentlichen Glaubenszeugnissen und sich im Rahmen eines zweifellos freieren und einmütigeren Zusammenlebens befindet, trotzdem aber die ganze Zerrüttung spürt, die die ältere und jüngere Geschichte im tiefsten Inneren seiner Völker verursacht hat, was oft zu Enttäuschungen führt«.<ref> Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Instrumentum laboris, Nr. 2: L'Osservatore Romano, 6. August 1999 - Suppl., S. 2-3.</ref>

Unter den vielen, auch anläßlich der Synode ausführlich erwähnten Aspekten<ref> Vgl. ebd., Nr. 12-13.16-19; a.a.O., S. 4-6; Idem, Relatio ante disceptationem, I: L'Osservatore Romano, 3. Oktober 1999, S. 6-7; Idem, Relatio post disceptationem, II, A: L'Osservatore Romano, 11./12. Oktober 1999, S. 10.</ref> möchte ich den Verlust des christlichen Gedächtnisses und Erbes anführen, der begleitet ist von einer Art praktischem Agnostizismus und religiöser Gleichgültigkeit, weshalb viele Europäer den Eindruck erwecken, als lebten sie ohne geistigen Hintergrund und wie Erben, welche die ihnen von der Geschichte übergebene Erbschaft verschleudert haben. Daher ist es nicht allzu verwunderlich, wenn versucht wird, Europa ein Gesicht zu geben, indem man unter Ausschluss seines religiösen Erbes und besonders seiner tief christlichen Seele das Fundament legt für die Rechte der Völker, die Europa bilden, ohne sie auf den Stamm aufzupfropfen, der vom Lebenssaft des Christentums durchströmt wird.

Auf dem europäischen Kontinent fehlt es gewiss nicht an namhaften Symbolen für die Präsenz des Christentums, doch mit der langsam voranschreitenden Überhandnahme des Säkularismus laufen sie Gefahr, zu einem bloßen Relikt der Vergangenheit zu werden. Vielen gelingt es nicht mehr, die Botschaft des Evangeliums in die Alltagserfahrung einzubeziehen. In einem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld, wo dem christlichen Lebensentwurf ständig Trotz und Bedrohung begegnen, wird es immer schwieriger, seinen Glauben an Jesus zu leben. In vielen öffentlichen Bereichen ist es einfacher, sich als Agnostiker denn als Gläubigen zu bezeichnen; man hat den Eindruck, dass sich Nichtglauben von selbst versteht, während Glauben einer gesellschaftlichen Legitimation bedarf, die weder selbstverständlich ist, noch vorausgesetzt wird.

8. Mit diesem Verlust des christlichen Gedächtnisses geht eine Art Zukunftsangst einher. Das gemeinhin verbreitete Bild von der Zukunft stellt sich oft als blaß und ungewiss heraus. Man hat eher Angst vor der Zukunft, als dass man sie herbeiwünschte. Besorgniserregende Anzeichen dafür sind unter anderem die innere Leere, die viele Menschen peinigt, und der Verlust des Lebenssinnes. Zu den Zeichen und Auswirkungen dieser Existenzangst sind insbesondere der dramatische Geburtenrückgang und die Abnahme der Priester- und Ordensberufe zu zählen sowie die Schwierigkeit, wenn nicht sogar die Weigerung, endgültige Lebensentscheidungen auch bezüglich der Ehe zu treffen.

Wir erleben eine verbreitete Zersplitterung des Daseins; es überwiegt ein Gefühl der Vereinsamung; Spaltungen und Gegensätze nehmen zu. Unter anderen Symptomen dieses Zustandes erfährt das heutige Europa das ernste Phänomen einer Krise der Familie und des Schwindens einer Konzeption von Familie überhaupt, die Fortdauer oder das Wiederaufflammen ethnischer Konflikte, das Wiederaufleben gewisser rassistischer Verhaltensweisen, die interreligiösen Spannungen, die Egozentrik, die Einzelne und Gruppen in sich verschließt, die Zunahme einer allgemeinen sittlichen Gleichgültigkeit und einer krampfhaften Sorge um die eigenen Interessen und Privilegien. In den Augen vieler läuft die zunehmende Globalisierung Gefahr, statt zu einer größeren Einheit der Menschheit zu führen, einer Logik zu folgen, die die Schwächsten ausgrenzt und die Zahl der Armen auf der Erde vermehrt.

Im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Individualismus ist eine zunehmende Schwächung der Solidarität zwischen den Menschen festzustellen: Während die Hilfseinrichtungen lobenswerte Arbeit leisten, beobachtet man ein Abnehmen des Solidaritätsgefühls, so dass sich viele Menschen, auch wenn es ihnen nicht am materiell Notwendigen fehlt, immer einsamer und sich selbst überlassen fühlen, ohne das Netz einer gefühlsmäßigen Unterstützung.

9. Der Verlust der Hoffnung hat seinen Grund in dem Versuch, eine Anthropologie ohne Gott und ohne Christus durchzusetzen. Diese Denkart hat dazu geführt, den Menschen »als absoluten Mittelpunkt allen Seins zu betrachten, indem man ihn fälschlicherweise den Platz Gottes einnehmen ließ und dabei vergaß, dass nicht der Mensch Gott erschafft, sondern Gott den Menschen erschafft.

Das Vergessen Gottes hat zum Niedergang des Menschen geführt. [...] Es wundert daher nicht, dass in diesem Kontext ein großer Freiraum für die Entwicklung des Nihilismus im philosophischen Bereich, des Relativismus im erkenntnistheoretischen und moralischen Bereich, des Pragmatismus und sogar des zynischen Hedonismus in der Gestaltung des Alltagslebens entstanden ist«.<ref> Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Relatio ante disceptationem, I, 1.2: L'Osservatore Romano, 3. Oktober 1999, S. 6.</ref> Die europäische Kultur erweckt den Eindruck einer »schweigenden Apostasie » seitens des satten Menschen, der lebt, als ob es Gott nicht gäbe.

Vor diesem Horizont nehmen die auch in letzter Zeit wieder auftauchenden Versuche Gestalt an, die europäische Kultur losgekoppelt vom Beitrag des Christentums zu präsentieren, das ihre historische Entwicklung und ihre universale Verbreitung geprägt hat. Wir sehen uns dem Erscheinen einer neuen, großenteils von den Massenmedien beeinflußten Kultur gegenüber, deren Merkmale und Inhalte oft im Gegensatz zum Evangelium und zur Würde der menschlichen Person stehen. Zu dieser Kultur gehört auch ein immer weiter verbreiteter religiöser Agnostizismus, verbunden mit einem tieferen moralischen und rechtlichen Relativismus, der seine Wurzeln im Verlust der Wahrheit vom Menschen als Fundament der unveräußerlichen Rechte eines jeden hat. Die Zeichen eines Schwindens der Hoffnung äußern sich mitunter durch erschreckende Formen dessen, was man als eine »Kultur des Todes« bezeichnen kann.<ref> Vgl. Propositio 5a.</ref>

Die ununterdrückbare Sehnsucht nach Hoffnung

10. Aber – so haben die Synodenväter unterstrichen – »der Mensch kann nicht ohne Hoffnung leben: sein Leben wäre der Bedeutungslosigkeit verschrieben und würde unerträglich«.<ref> Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Schlussbotschaft, Nr. 1: L'Osservatore Romano, 23. Oktober 1999, S. 5.</ref> Im Bedürfnis nach Hoffnung meinen viele, in kurzlebigen und brüchigen Realitäten Frieden finden zu können. Und so wird die auf einen der Transzendenz verschlossenen innerweltlichen Raum eingeengte Hoffnung zum Beispiel mit dem von Wissenschaft und Technik versprochenen Paradies identifiziert oder mit verschiedenen Formen des Messianismus, mit dem vom Konsumismus vermittelten Glück hedonistischer Natur oder mit jenem imaginären, von Drogen künstlich ausgelösten Glücksgefühl, mit manchen Formen des Chiliasmus, mit der Faszination orientalischer Philosophien, mit der Suche nach Formen esoterischer Spiritualität und mit den verschiedenen Strömungen von New Age.<ref> Vgl. Propositio 5a; Pontificial Council for Culture and Pontificial Council for Interreligious Dialogue, Jesus Christ – the bearer of the water of life. A Christian reflection on the New Age. Vatican City 2003.</ref>

Das alles erweist sich freilich als zutiefst illusorisch und ungeeignet, jenen Durst nach Glückseligkeit zu stillen, den das Herz des Menschen in seinem Inneren weiterhin verspürt. Und so bleiben und verschärfen sich die besorgniserregenden Zeichen des Schwindens der Hoffnung, die sich manchmal auch in Formen von Aggressivität und Gewalt äußern.<ref> Vgl. Propositio 5a.</ref>

Zeichen der Hoffnung

11. Kein Mensch kann ohne Zukunftsperspektiven leben. Schon gar nicht die Kirche, die von der Erwartung des Reiches lebt, das kommt und das bereits in dieser Welt gegenwärtig ist. Es wäre ungerecht, die Zeichen für den Einfluß des Evangeliums Christi auf das Leben der Gesellschaft nicht wahrzunehmen. Die Synodenväter haben sie aufgespürt und hervorgehoben.

Unter diesen Zeichen müssen genannt werden: die Wiedererlangung der Freiheit der Kirche im Osten Europas mit den neuen Möglichkeiten für das pastorale Wirken, die sich ihr erschlossen haben; der Umstand, dass sich die Kirche auf ihre geistliche Sendung konzentriert und sich bemüht, den Vorrang der Evangelisierung auch in den Beziehungen zur realen sozialen und politischen Welt zu leben; die gewachsene Bewußtwerdung der besonderen Sendung aller Getauften in der Vielfältigkeit und Komplementarität der Gaben und Aufgaben; die erhöhte Präsenz der Frau in den Strukturen und Aufgabenbereichen der christlichen Gemeinschaft.

Eine Völkergemeinschaft

12. Blicken wir auf Europa als bürgerliches Gemeinwesen, so fehlt es nicht an Zeichen, die Anlaß geben zur Hoffnung: In ihnen können wir, wenngleich in den Widersprüchlichkeiten der Geschichte, mit dem Blick des Glaubens die Gegenwart des Geistes Gottes erfassen, der das Gesicht der Erde erneuert. Die Synodenväter haben zum Abschluss ihrer Arbeiten diese Zeichen so beschrieben: »Mit Freude stellen wir die zunehmende Öffnung der Völker aufeinander hin fest, die Versöhnung zwischen Nationen, die lange Zeit verfeindet waren, die fortschreitende Ausdehnung des Einigungsprozesses auf die Länder Osteuropas. Es wachsen Anerkennung, Zusammenarbeit und Austausch aller Art, so dass nach und nach eine europäische Kultur, ja ein europäisches Bewusstsein entsteht, das hoffentlich, besonders bei den Jugendlichen, das Gefühl der Brüderlichkeit und den Willen zum Teilen wachsen lässt. Als positiv vermerken wir, dass dieser ganze Prozess sich nach demokratischen Spielregeln auf friedliche Weise und in einem Geist der Freiheit vollzieht, der die berechtigte Vielfalt achtet und zur Geltung bringt und so den Prozess der Einigung Europas vorantreibt und unterstützt. Wir begrüßen mit Genugtuung alles, was getan wurde, um die Bedingungen und Modalitäten zur Achtung der Menschenrechte präzise darzulegen. Im Zusammenhang mit der legitimen wirtschaftlichen und politischen Einheit Europas erkennen wir schließlich einerseits die Zeichen der Hoffnung, die aus der Bedeutung erwachsen, die dem Recht und der Lebensqualität zuerkannt wird; auf der anderen Seite aber wünschen wir uns lebhaft, dass in einer schöpferischen Treue zur humanistischen und christlichen Tradition unseres Kontinents der Vorrang der ethischen und geistlichen Werte garantiert werde«.<ref> Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Schlussbotschaft, Nr. 6: L'Osservatore Romano, 23. Oktober 1999, S. 5.</ref>

Märtyrer und Glaubenszeugen

13. Aber ich möchte die Aufmerksamkeit besonders auf einige Zeichen lenken, die im eigentlich kirchlichen Leben sichtbar geworden sind. Vor allem will ich mit den Synodenvätern jenes großartige Hoffnungszeichen, das von so vielen Zeugen des christlichen Glaubens im letzten Jahrhundert in Ost und West gesetzt worden ist, allen wieder vor Augen stellen, auf dass es niemals in Vergessenheit gerate. Sie haben es in Situationen der Feindseligkeit und Verfolgung vermocht, sich das Evangelium zu eigen zu machen, oft bis zum Blutvergießen als äußerster Bewährung.

Diese Zeugen, besonders jene unter ihnen, die das Martyrium auf sich genommen haben, sind ein beredtes, großartiges Zeugnis, das verlangt, von uns betrachtet und nachgeahmt zu werden. Sie beweisen uns die Lebenskraft der Kirche; sie erscheinen wie ein Licht für die Kirche und für die Menschheit, weil sie in der Finsternis das Licht Christi zum Leuchten gebracht haben; als Angehörige verschiedener christlicher Konfessionen sind sie auch ein leuchtendes Hoffnungszeichen für den ökumenischen Weg, da wir gewiss sein dürfen, dass ihr Blut »auch Lebenssaft der Einheit für die Kirche ist«.<ref> Johannes Paul II., Ansprache beim Angelus (25. August 1996), 2: Insegnamenti XX/2 (1997), 237; vgl. Propositio 9. </ref>

Noch radikaler sagen sie uns, dass das Martyrium die höchste Inkarnation des Evangeliums der Hoffnung ist: »Die Märtyrer verkünden nämlich dieses Evangelium und legen dafür Zeugnis ab durch die Hingabe ihres Lebens bis zum Blutvergießen, denn sie sind sicher, dass sie ohne Christus nicht leben können, und bereit, für ihn zu sterben in der Überzeugung, dass Jesus der Herr und der Erlöser des Menschen ist und dass folglich der Mensch nur in ihm die wahre Fülle des Lebens findet. Auf diese Weise sind sie bereit, der Mahnung des Apostels Petrus entsprechend, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3, 15). Darüber hinaus ,,zelebrieren die Märtyrer das ,,Evangelium der Hoffnung, denn die Hingabe ihres Lebens ist die radikalste und erhabenste Manifestation jenes lebendigen und heiligen Opfers, das Gott gefällt und das der wahre Gottesdienst ist (vgl. Röm 12, 1) – Ursprung, Seele und Höhepunkt jeder christlichen Gottesdienstfeier. Und schließlich dienen sie dem ,,Evangelium der Hoffnung, weil sie durch ihr Martyrium in höchstem Grad die Liebe und den Dienst am Menschen ausdrücken, insofern sie zeigen, dass der Gehorsam gegenüber dem Gesetz des Evangeliums ein moralisches Leben und ein soziales Zusammenleben bewirkt, das die Würde und die Freiheit jeder Person hochschätzt und fördert«.<ref> Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Instrumentum laboris, Nr. 88: L'Osservatore Romano, 6. August 1999 - Suppl., S. 17.</ref>

Die Heiligkeit vieler

14. Frucht der vom Evangelium bewirkten Umkehr ist die Heiligkeit vieler Männer und Frauen unserer Zeit. Das gilt nicht nur für diejenigen, die von der Kirche offiziell zu Heiligen erklärt worden sind, sondern auch für jene, die mit Bescheidenheit im Alltag ihres Daseins von ihrer Treue zu Christus Zeugnis gegeben haben. Wie sollte man nicht an die unzähligen Söhne und Töchter der Kirche denken, die im Laufe der Geschichte des europäischen Kontinents in der Verborgenheit des Familien- und Berufslebens eine hochherzige und glaubwürdige Heiligkeit gelebt haben? »Sie alle haben, als ,,lebendige Steine mit Christus, dem ,,Eckstein, verbunden, Europa als geistiges und moralisches Bauwerk errichtet und den Nachkommen das kostbarste Erbe hinterlassen. Jesus, der Herr, hatte es versprochen: ,,Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater (Joh 14, 12). Die Heiligen sind der lebendige Beweis dafür, dass dieses Versprechen in Erfüllung geht, und sie machen Mut zu glauben, dass das auch in den schwierigsten Stunden der Geschichte möglich ist«.<ref> Johannes Paul II., Predigt bei der Eucharistiefeier zum Abschluss der Zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa (23. Oktober 1999), 4: AAS 92 (2000), 179.</ref>

Die Pfarrei und die kirchlichen Bewegungen

15. Das Evangelium bringt weiter seine Früchte in den Pfarrgemeinden, unter den Personen des geweihten Lebens, in den Laienverbänden, in den Gebets- und Apostolatsgruppen, in verschiedenen Jugendgemeinschaften sowie auch durch das Auftreten und die Verbreitung neuer Bewegungen und kirchlicher Körperschaften. In jedem von ihnen vermag nämlich der Heilige Geist eine neue Hingabe an das Evangelium, großzügige Dienstbereitschaft und ein christliches Leben hervorzurufen, das von evangelischer Radikalität und von missionarischem Schwung gekennzeichnet ist.

In Europa, und zwar in den postkommunistischen Ländern ebenso wie im Westen, kommt der Pfarrei, obschon sie ständiger Erneuerung bedarf,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 26: AAS 81 (1989), 439.</ref> weiterhin eine eigene unverzichtbare Aufgabe zu, die sie immer noch wahrnimmt und die im pastoralen und kirchlichen Bereich von grosser Aktualität ist. Sie ist nach wie vor in der Lage, den Gläubigen den Raum für eine wirklich christliche Lebensführung zu bieten, und – sowohl in der für die modernen Großstädte spezifischen Atmosphäre der Zersplitterung und Anonymität als auch in den dünnbesiedelten ländlichen Gebieten – ein Ort echter Humanisierung und Sozialisation zu sein.<ref> Vgl. Propositio 21.</ref>

16. Während ich meine große Wertschätzung für die Präsenz und das Wirken der verschiedenen apostolischen Vereinigungen und Organisationen und im besonderen der Katholischen Aktion zum Ausdruck bringe, möchte ich gemeinsam mit den Synodenvätern gleichzeitig den besonderen Beitrag hervorheben, den – zusammen mit den anderen kirchlichen Vereinigungen und niemals abgesondert von ihnen – die neuen kirchlichen Bewegungen und Gemeinschaften leisten können. Letztere helfen nämlich »den Christen, radikaler nach dem Evangelium zu leben; sie sind eine Wiege verschiedener Berufungen und bringen neue Formen gottgeweihten Lebens hervor. Sie fördern vor allem die Berufung der Laien und führen dazu, dass sie in den verschiedenen Lebensbereichen zum Ausdruck kommt. Sie begünstigen die Heiligkeit des Volkes; sie können Botschaft und Aufforderung für diejenigen sein, die sonst der Kirche nicht begegnen. Häufig unterstützen sie den ökumenischen Weg und eröffnen Möglichkeiten für den interreligiösen Dialog; sie sind ein Gegenmittel gegen die Ausbreitung der Sekten; sie sind sehr behilflich dabei, in der Kirche Lebendigkeit und Freude zu verbreiten«.<ref> Ebd.</ref>

Der ökumenische Weg

17. Wir danken dem Herrn für das große und tröstliche Zeichen der Hoffnung, das in den Fortschritten zutage tritt, die auf dem ökumenischen Weg im Hinblick auf die Wahrheit, die Liebe und die Versöhnung erreicht werden konnten. Es handelt sich um eine der großen Gaben des Heiligen Geistes für einen Kontinent wie den europäischen, von dem die schweren Spaltungen zwischen den Christen im zweiten Jahrtausend ausgegangen sind und der noch immer sehr unter deren Folgen leidet.

Tief bewegt erinnere ich mich an einige Momente großer Eindringlichkeit während der Arbeiten der Synode und an die auch von den als Delegierte anwesenden Brüdern aus anderen Konfessionen zum Ausdruck gebrachte, einmütige Überzeugung, dass dieser Weg – trotz der noch andauernden und der neu entstehenden Probleme – nicht unterbrochen werden dürfe, sondern mit erneuertem Eifer, mit äußerster Entschlossenheit und mit der demütigen Bereitschaft aller zur gegenseitigen Vergebung weitergehen müsse. Gerne mache ich mir die Worte der Synodenväter zu eigen, da »der Fortschritt im ökumenischen Dialog, der sein tiefstes Fundament im Wort Gottes selbst hat, ein Zeichen großer Hoffnung für die heutige Kirche darstellt: Die wachsende Einheit zwischen den Christen stellt in der Tat eine gegenseitige Bereicherung für alle dar«.<ref> Propositio 9.</ref> Es gilt, »mit Freude auf die Fortschritte zu blicken, die im Dialog sowohl mit den Brüdern der orthodoxen Kirchen als auch mit den Mitgliedern der aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften bis jetzt erreicht worden sind, und in ihnen ein Zeichen für das Wirken des Geistes zu erkennen, für das wir den Herrn loben und ihm danken wollen«.<ref> Ebd.</ref>

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />