Ecclesia in medio oriente (Wortlaut)

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Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Ecclesia in medio oriente

Seiner Heiligkeit
Benedikt XVI.
an die Patriarchen, die Bischöfe, den Klerus, den Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien
über die Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis
14. September 2012
(Offizieller französischer Text: AAS 104 [2012/10] 751-796)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; auch in: Osservatore Romano am 21. September 2012 oder in: VAS 192)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Einleitung

  1. Die Kirche im Nahen Osten, die seit den Anfängen des christlichen Glaubens in diesem gesegneten Land pilgernd unterwegs ist, gibt auch heute weiterhin mutig ihr Zeugnis, das Frucht eines Lebens der Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten ist. Gemeinschaft und Zeugnis! Das war in der Tat die Grundhaltung, welche die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten einnahm, die sich vom 10. bis zum 24. Oktober 2010 zum Thema „Die katholische Kirche im Nahen Osten, Gemeinschaft und Zeugnis“ um den Nachfolger Petri zusammengefunden hatte. „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32).

2. Zu Beginn dieses dritten Jahrtausends möchte ich diese Grundhaltung, die ihre Kraft aus Jesus Christus bezieht, allen Hirten der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche für ihren pastoralen Dienst empfehlen, in besonderer Weise den verehrten Mitbrüdern, die als Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe in Einheit mit dem Bischof von Rom gemeinsam über die katholische Kirche im Nahen Osten wachen. In dieser Region leben einheimische Gläubige, die den ehrwürdigen katholischen Ostkirchen sui iuris angehören: Das sind die Koptische Patriarchalkirche von Alexandrien; die drei Patriarchalkirchen von Antiochien: die der griechischen Melkiten, die der Syrer und die der Maroniten; die Chaldäische Patriarchalkirche von Babylon und das Armenische Patriarchat von Kilikien. Es leben dort ebenfalls Bischöfe, Priester und Gläubige, die zur lateinischen Kirche gehören. Außerdem gibt es Priester und Gläubige, die aus Indien gekommen sind, aus den Großerzbischöflichen Kirchen der Syro-Malabaren von Ernakulam-Angamaly und der Syro-Malankaren von Trivandrum, sowie aus den anderen orientalischen und lateinischen Kirchen Asiens und Osteuropas wie auch zahlreiche Gläubige aus Äthiopien und aus Eritrea. Gemeinsam geben sie Zeugnis für die Einheit des Glaubens in der Verschiedenheit ihrer Traditionen. Ich möchte diese Grundhaltung auch allen Priestern, Ordensleuten und gläubigen Laien des Nahen Ostens empfehlen, weil ich überzeugt bin, dass sie den Dienst oder das Apostolat jedes einzelnen in seiner jeweiligen Kirche beleben wird, gemäß dem Charisma, das sie vom Heiligen Geist für den Aufbau des Ganzen erhalten hat.

3. In bezug auf den christlichen Glauben ist die „Gemeinschaft … das Leben Gottes, das sich im Heiligen Geist mitteilt, durch Jesus Christus“.<ref> Benedikt XVI., Homilie in der Messe zur Eröffnung der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten (10. Oktober 2010): AAS 102 (2010), S. 805.</ref> Sie ist eine Gabe Gottes, die unsere Freiheit herausfordert und unsere Antwort erwartet. Sicher liegt es in ihrem göttlichen Ursprung, dass die Gemeinschaft eine universale Bedeutung besitzt. Wenn sie die Christen aufgrund ihres gemeinsamen apostolischen Glaubens zwingend herausfordert, so bleibt sie doch nicht weniger offen für unsere jüdischen und muslimischen Brüder wie auch für alle Menschen, die ebenfalls – unter verschiedenen Formen – dem Volk Gottes zugeordnet sind. Die katholische Kirche im Nahen Osten weiß, dass sie diese Gemeinschaft auf ökumenischer und interreligiöser Ebene nicht vollständig zum Ausdruck bringen kann, wenn sie sie nicht zuallererst in sich selber und im Innern einer je-den ihrer Kirchen unter allen ihren Gliedern – Patriarchen, Bischöfen, Priestern, Ordensleuten, geweihten Personen und Laien – neu belebt. Die Vertiefung des persönlichen Glaubenslebens und die geistliche Erneuerung innerhalb der katholischen Kirche werden die Fülle des Gnadenlebens und die Theosis (Vergöttlichung) ermöglichen.<ref> Vgl. Propositio 4.</ref> So wird dem Zeugnis Glaubwürdigkeit verliehen.

4. Das Beispiel der ersten Gemeinde von Jerusalem kann als Vorbild dienen, um die jetzige christliche Gemeinde zu erneuern, so dass sie zu einem Ort der Gemeinschaft für das Zeugnis wird. Die Apostelgeschichte bietet ja eine erste einfache und eindrückliche Beschreibung dieser Gemeinde, die am Pfingsttag geboren wurde: eine Gemeinde von Gläubigen, die ein Herz und eine Seele sind (vgl. 4,32). Von Anfang an existiert zwischen dem Glauben an Jesus und der kirchlichen Gemeinschaft eine grundlegende Verbindung, die durch die beiden austauschbaren Begriffe bezeichnet wird: ein Herz und eine Seele. Die Gemeinschaft ist also gar nicht das Ergebnis einer menschlichen Planung. Sie wird vor allem durch die Kraft des Heiligen Geistes gebildet, der in uns den Glauben zeugt, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6).

5. Nach der Apostelgeschichte erkennt man die Einheit der Gläubigen daran, dass sie „an der Lehre der Apostel fest(hielten) und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“ (2,42). Die Einheit der Gläubigen erhält also ihre Nahrung aus der Lehre der Apostel (der Verkündigung des Wortes Gottes), auf die die Gläubigen mit einem einhelligen Glauben antworten, aus der geschwisterlichen Gemeinschaft (dem Dienst der Nächstenliebe), aus dem Brechen des Brotes (der Eucharistie und der Gesamtheit der Sakramente) und aus dem persönlichen wie gemeinschaftlichen Gebet. Diese vier Pfeiler sind es, auf denen die Gemeinschaft und das Zeugnis innerhalb der ersten Gemeinde der Gläubigen beruhen. Möge die Kirche, die seit der apostolischen Zeit bis heute ununterbrochen im Nahen Osten präsent ist, im Beispiel dieser Gemeinde die Quellen finden, die nötig sind, um in sich die Erinnerung an die Ursprünge und deren apostolische Dynamik lebendig zu erhalten!

6. Die Teilnehmer der Synodenversammlung haben bei aller Verschiedenheit der geographischen, religiösen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergründe die Einheit innerhalb der katholischen Kirche erfahren. Der gemeinsame Glaube wird in seinen unterschiedlichen theologischen, spirituellen, liturgischen und kanonischen Ausdrucksformen erstaunlich gut gelebt und entfaltet. Wie meine Vorgänger auf dem Stuhl Petri bekräftige ich hier meinen Willen, dass „die Riten der orientalischen Kirchen als Erbe der ganzen Kirche Christi, in dem sowohl das aufstrahlt, was von den Aposteln über die Kirchenväter überliefert ist, als auch das, was die göttliche Einheit des katholischen Glaubens in seiner Verschiedenheit bestätigt, … gewissenhaft bewahrt und gefördert werden“<ref>Kodex der Kanones der Orientalischen Kirchen, Can. 39; vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium ecclesiarum, 1; Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban (10. Mai 1997), 40: AAS 89 (1997), S. 346-347, wo das Thema der Einheit zwischen der gemeinsamen apostolischen Überlieferung und den kirchlichen Traditionen, die im Osten daraus hervorgegangen sind, behandelt wird.</ref> sollen. Und ich versichere meine lateinischen Mitchristen meiner Zuneigung, mit der ich – gemäß dem Gebot der Nächstenliebe, die in allem den Vorrang hat, und in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften – ihre Bedürfnisse und Nöte aufmerksam im Blick habe.

Erster Teil: „Wir danken Gott für euch alle, sooft wir in unseren Gebeten an euch denken“ (1 Thess 1,2)

  7. Mit dieser Danksagung des heiligen Paulus möchte ich die Christen, die im Nahen Osten leben, grüßen und sie meines inständigen und fortwährenden Gebetes versichern. Die katholische Kirche und mit ihr die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft vergißt sie nicht und erkennt ihren altehrwürdigen Beitrag zum Aufbau des Leibes Christi dankbar an. Sie dankt ihnen für ihre Treue und versichert sie ihrer Liebe.

Der Kontext

8. Innerlich bewegt erinnere ich mich an meine Reisen in den Nahen Osten. In diesem von Gott in besonderer Weise erwählten Land zogen die Patriarchen und Propheten umher. Es diente als Stätte der Inkarnation des Messias; es sah das Kreuz des Heilands aufragen, und es war Zeuge der Auferstehung des Erlösers sowie der Ausgießung des Heiligen Geistes. Durchwandert von den Aposteln, von Heiligen und vielen Kirchenvätern, war es der Schmelztiegel der ersten dogmatischen Formulierungen. Doch dieses gesegnete Land und die Völker, die dort wohnen, durchleben in dramatischer Weise menschliche Qualen. Wie viele Tote, wie viele durch menschliche Verblendung verwüstete Leben, wie viele Ängste und Demütigungen! Es könnte so scheinen, als gäbe es unter den Kindern Adams und Evas, die doch als Gottes Abbild erschaffen sind (vgl. Gen 1,27), nichts, das dem Verbrechen des Kain (vgl. Gen 4,6-10; 1 Joh 3,8-15) Einhalt zu gebieten vermag. Die durch die Schuld Kains gefestigte Sünde Adams bringt noch heute unaufhörlich Dornen und Disteln hervor (vgl. Gen 3,18). Wie traurig ist es, dieses gesegnete Land in seinen Kindern leiden zu sehen, die sich voller Grimm gegenseitig zerreißen und sterben! Die Christen wissen, dass nur Jesus, der durch Leiden und Tod zur Auferstehung gelangt ist, allen Bewohnern dieser Weltregion Heil und Frieden bringen kann (vgl. Apg 2,23-24.32-33). Er allein, Christus, der Sohn Gottes ist es, den wir bekennen! Bereuen wir also und kehren wir um, „damit die Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt“ (vgl. Apg 3,19-20).

9. Der Heiligen Schrift zufolge ist der Friede nicht nur ein Pakt oder ein Vertrag, der ein ruhiges Leben begünstigt, und seine Definition kann nicht auf ein bloßes Nichtvorhandensein von Krieg reduziert werden. Gemäß seiner hebräischen Etymologie bedeutet Friede: vollständig sein, heil sein, etwas vollenden, um seine Ganzheit wiederherzustellen. Er ist der Zustand des Menschen, der in Harmonie mit Gott, mit sich selbst, mit seinem Nächsten und mit der Natur lebt. Der Friede ist eher ein innerer als ein äußerer Zustand. Er ist ein Segen. Er ist der Wunsch nach einer Wirklichkeit. Der Friede ist so erstrebenswert, dass er im Nahen Osten zu einem Grußwort geworden ist (vgl. Joh 20,19; 1 Petr 5,14). Der Friede ist Gerechtigkeit (vgl. Jes 32,17), und der heilige Jakobus fügt in seinem Brief hinzu: „Wo Frieden herrscht, wird für die Menschen, die Frieden stiften, die Saat der Gerechtigkeit ausgestreut“ (3,18). Der Kampf der Propheten und die Überlegungen der Weisheitsliteratur waren ein Ringen und ein Anspruch im Hinblick auf den eschatologischen Frieden. Zu diesem authentischen Frieden in Gott führt uns Christus. Er ist die einzige Tür dorthin (vgl. Joh 10,9). Und diese einzige Tür möchten die Christen durchschreiten.

10. Um der Einladung Christi, „Sohn Gottes“ zu werden (vgl. Mt 5,9), Folge leisten zu können, muss der Mensch guten Willens damit beginnen, sich selbst zu Gott zu bekehren und in seiner unmittelbaren Umgebung wie im Umfeld seiner Gemeinschaft die Vergebung zu üben. Allein der Demütige wird die Freuden eines unermeßlichen Friedens genießen (vgl. Ps 37,11). Dadurch, dass Jesus uns das Mitsein mit Gott eröffnet, schafft er die wahre Brüderlichkeit – nicht die von der Sünde entstellte Brüderlichkeit.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Homilie in der Mitternachtsmesse (24. Dezember 2010): AAS 103 (2011), S. 17-21.</ref> „Er (Christus) ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile und riss … die trennende Wand der Feindschaft nieder“ (Eph 2,14). Der Christ weiß, dass die irdische Friedenspolitik nur wirksam sein wird, wenn die Gerechtigkeit in Gott und unter den Menschen ihre authentische Grundlage bildet und wenn ebendiese Gerechtigkeit die Sünde bekämpft, welche die Ursache der Uneinigkeit ist. Darum möchte die Kirche alle Klassifizierung nach Rasse, Geschlecht und gesellschaftlichem Stand überwinden (vgl. Gal 3,28; Kol 3,11), denn sie weiß, dass alle nur „einer“ sind in Christus, der alles in allen ist. Das ist der Grund, warum auch die Kirche jede Anstrengung im Hinblick auf den Frieden in der Welt und besonders im Nahen Osten unterstützt und fördert. Auf vielerlei Weise scheut sie keine Mühen, um den Menschen zu helfen, in Frieden zu leben, und sie unterstützt auch das internationale Rechtsinstrumentarium, das ihn festigt. Die Positionen des Heiligen Stuhls zu den verschiedenen Konflikten, welche die Region in dramatischer Weise plagen, und jene zum Status von Jerusalem und den heiligen Stätten sind weithin bekannt.<ref>Vgl. Propositio 9.</ref> Allerdings vergißt die Kirche nicht, dass der Friede vor allem eine Frucht des Geistes ist (vgl. Gal 5,22), die man unablässig von Gott erbitten muss (vgl. Mt 7,7-8).

Das christliche und ökumenische Leben

11. In diesem einengenden, instabilen und augenblicklich zur Gewalt neigenden Kontext hat Gott erlaubt, dass sich seine Kirche entfalte. Sie lebt dort in einer beachtlichen Vielfalt. Neben der katholischen Kirche gibt es im Nahen Osten sehr viele altehrwürdige Kirchen, zu denen kirchliche Gemeinschaften jüngeren Ursprungs hinzugekommen sind. Dieses Mosaik verlangt einen beträchtlichen und beharrlichen Einsatz zugunsten der Einheit, im Respekt vor dem je eigenen Reichtum, um die Glaubwürdigkeit der Verkündigung des Evangeliums und das christliche Zeugnis zu stärken.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 1.</ref> Die Einheit ist eine Gabe Gottes, die aus dem Heiligen Geist geboren wird und die man in geduldiger Ausdauer wachsen lassen muss (vgl. 1 Petr 3,8-9). Wir wissen um die Versuchung, wenn wir mit Uneinigkeit konfrontiert werden, sich nur auf die bloß menschliche Sichtweise zu berufen und die weisen Ratschläge des heiligen Paulus zu vergessen (vgl. 1 Kor 6,7-8). Er mahnt: „Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält“ (Eph 4,3). Der Glaube ist das Zentrum und die Frucht der wahren Ökumene.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Kongregation für die Glaubenslehre (27. Januar 2012): AAS 104 (2012), S. 109.</ref> Man muss damit beginnen, ihn zu vertiefen. Die Einheit erwächst aus dem beharrlichen Gebet und aus der Umkehr, die jeden gemäß der Wahrheit und in der Liebe leben lässt (vgl. Eph 4,15-16). Das Zweite Vatikanische Konzil hat zu dieser „geistlichen Ökumene“ ermutigt, die die Seele der wahren Ökumene ist.<ref>Vgl. Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 8.</ref> Die Situation des Nahen Ostens an sich ist ein dringender Aufruf zur Heiligkeit des Lebens. Die Martyrologien bestätigen, dass Heilige und Märtyrer jeder kirchlichen Zugehörigkeit lebendige Zeugen dieser grenzenlosen Einheit im verherrlichten Christus waren und einige es heute sind – ein Vorgeschmack unseres „Vereintseins“ als ein endlich in ihm versöhntes Volk.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 83-84: AAS 87 (1995), S. 971-972.</ref> Das ist der Grund, warum selbst innerhalb der katholischen Kirche die Gemeinschaft gefestigt werden muss, die Zeugnis für die Liebe Christi ablegt.

12. Auf der Basis der Angaben des Ökumenischen Direktoriums<ref>Vgl. Päpstlicher Rat für die Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus (25. März 1993): AAS 85 (1993), S. 1039-1119.</ref> können die katholischen Gläubigen die geistliche Ökumene in den Pfarreien, Klöstern und Konventen, in den Schulen und Universitäten und in den Seminaren fördern. Die Hirten werden dafür Sorge tragen, die Gläubigen dazu zu erziehen, in allen ihren Lebensbereichen Zeugen der Gemeinschaft zu sein. Diese Gemeinschaft ist natürlich kein unklares Mit- und Ineinander. Das authentische Zeugnis verlangt die Anerkennung und die Achtung des anderen, eine Bereitschaft zum Dialog in der Wahrheit, die Geduld als Dimension der Liebe, die Einfachheit und die Demut dessen, der sich vor Gott und dem Nächsten als Sünder bekennt, die Fähigkeit zu Vergebung, Versöhnung und Reinigung des Gedächtnisses auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene.

13. Ich ermutige die Arbeit der Theologen, die unermüdlich für die Einheit tätig sind; ebenso begrüße ich die Aktivitäten der örtlichen ökumenischen Kommissionen, die auf verschiedenen Ebenen bestehen, sowie das Wirken der verschiedenen Gemeinschaften, die für die so ersehnte Einheit beten und handeln, indem sie Freundschaft und Brüderlichkeit fördern. In der Treue zu den Ursprüngen der Kirche und zu ihren lebendigen Überlieferungen ist es auch wichtig, sich mit einer Stimme zu den großen moralischen Fragen in bezug auf die Wahrheit über den Menschen, die Familie, die Sexualität, die Bioethik, die Freiheit, die Gerechtigkeit und den Frieden zu äußern.

14. Im übrigen gibt es auf karitativem Gebiet und im Bildungswesen bereits eine „diakonische Ökumene“ unter den Christen der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Und der Rat der Kirchen des Nahen Ostens, der die Kirchen verschiedener christlicher Traditionen in der Region zusammenfaßt, bietet einem Dialog, der sich in Liebe und gegenseitiger Achtung vollziehen kann, weiten Raum.

15. Das Zweite Vatikanische Konzil weist darauf hin, dass das Fortschreiten auf dem Weg der Ökumene, um wirkungsvoll zu sein, zuerst einmal das Gebet der Christen braucht, „das Beispiel ihres Lebens, die ehrfürchtige Treue gegenüber den alten ostkirchlichen Überlieferungen, eine bessere gegenseitige Kenntnis und Zusammenarbeit sowie brüderliche Wertschätzung des äußeren und inneren Lebens der anderen“.<ref>Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium ecclesiarum, 24.</ref> Vor allem sollten sich alle wieder mehr auf Christus selbst ausrichten. Jesus vereint diejenigen, die an ihn glauben und ihn lieben, indem er ihnen den Geist seines Vaters wie auch Maria, seine Mutter, schenkt (vgl. Joh 14,26; 16,7; 19,27). Diese zweifache Gabe auf unterschiedlicher Ebene kann eine mächtige Hilfe sein und verdient eine größere Beachtung aller.

16. Die gemeinsame Liebe zu Christus, der „keine Sünde begangen“ hat und in dessen Mund „kein trügerisches Wort“ war (1 Petr 2,22), sowie die „enge Verwandtschaft“<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15.</ref> unter den Kirchen des Ostens, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche sind, drängen zum Dialog und zur Einheit. In verschiedenen Fällen sind die Katholiken durch gemeinsame religiöse Ursprünge mit den nicht in voller Gemeinschaft stehenden Ostkirchen verbunden. Für eine erneuerte ökumenische Seelsorge ist es im Hinblick auf ein gemeinsames Zeugnis hilfreich, die Offenheit des Konzils gegenüber einer gewissen „communicatio in sacris“ für die Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Krankensalbung recht zu verstehen,<ref>Vgl. ebd., Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium ecclesiarum, 26-27.</ref> die nicht nur möglich ist, sondern – gemäß den genauen Vorschriften und mit Billigung der kirchlichen Autoritäten – unter gegebenen geeigneten Umständen ratsam sein kann.<ref>Vgl. ebd., Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15; Päpstlicher Rat für die Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus (25. März 1993), 122-128: AAS 85 (1993), S. 1086-1088.</ref> Die Ehen zwischen katholischen und orthodoxen Gläubigen sind zahlreich, und sie verlangen eine besondere ökumenische Aufmerksamkeit.<ref>Vgl. Päpstlicher Rat für die Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus (25. März 1993), 145: AAS 85 (1993), S. 1092.</ref> Ich ermutige die Bischöfe und die Eparchen, dort, wo pastorale Übereinkünfte bestehen, diese im Maß des Möglichen anzuwenden, um nach und nach eine gemeinsame ökumenische Seelsorge zu fördern.

17. Die ökumenische Einheit bedeutet nicht etwa eine Uniformierung der Traditionen und der liturgischen Feiern. Ich bin überzeugt, dass – um einen Anfang zu setzen – dort, wo es nötig ist, mit Gottes Hilfe ein Einvernehmen erzielt werden kann für eine gemeinsame Übersetzung des Gebetes des Herrn, des Vaterunsers, in die einheimischen Sprachen der Region.<ref>Vgl. Propositio 28, wo einige vorgeschlagene Initiativen in den Zuständigkeitsbereich der örtlichen Seelsorge fallen und andere, die die katholische Kirche im ganzen betreffen, in Abstimmung mit dem Heiliger StuhlHeiligen Stuhl]] untersucht werden müssen.</ref> Beim gemeinsamen Beten mit denselben Worten werden die Christen ihre gemeinsame Verwurzelung in dem einen apostolischen Glauben erkennen, auf den sich die Suche nach der vollen Gemeinschaft gründet. Dieser Suche kann außerdem die gemeinsame Vertiefung des Studiums der östlichen und der lateinischen Väterliteratur sowie der jeweiligen geistlichen Traditionen sehr dienlich sein, unter korrekter Anwendung der kanonischen Vorschriften, die diese Materie regeln.

18. Ich lade die Katholiken des Nahen Ostens ein, die Beziehungen zu den Gläubigen der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften in der Region zu pflegen. Verschiedene gemeinsame Initiativen sind möglich. Ein gemeinsames Lesen der Bibel sowie ihre Verbreitung könnten zum Beispiel diesen Weg eröffnen. Besonders fruchtbare Formen der Zusammenarbeit könnten sich außerdem auf dem Gebiet der karitativen Aktivitäten sowie der Unterstützung der Werte des menschlichen Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens entwickeln bzw. vertiefen. All das wird zu einem besseren gegenseitigen Sich-Kennen und zur Schaffung eines Klimas der Wertschätzung beitragen, was die unverzichtbaren Bedingungen sind, um die Brüderlichkeit zu fördern.

Der interreligiöse Dialog

19. Das Wesen und die universale Berufung der Kirche erfordern, dass sie im Dialog mit den Anhängern der anderen Religionen steht. Dieser Dialog basiert im Nahen Osten auf den geistlichen und historischen Beziehungen, welche die Christen mit den Juden und mit den Muslimen verbinden. Dieser Dialog, der in erster Linie nicht von pragmatischen Erwägungen politischer oder gesellschaftlicher Art bestimmt ist, beruht vor allem auf theologischen Fundamenten, die den Glauben anfragen. Sie stammen aus der Heiligen Schrift und sind in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, Lumen gentium, und in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nostra aetate,<ref>Vgl. Propositio 40.</ref> klar definiert. Juden, Christen und Muslime glauben an den einen Gott, den Schöpfer aller Menschen. Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime einen der göttlichen Wünsche, den der Einheit und der Harmonie der Menschheitsfamilie, wiederentdecken! Könnten doch die Juden, die Christen und die Muslime im Andersgläubigen einen Bruder entdecken, der zu achten und zu lieben ist, um in erster Linie in ihren Ländern das schöne Zeugnis der Gelassenheit und des freundschaftlichen Umgangs unter den Söhnen Abrahams zu geben! Anstatt sich in den wiederholten und für einen wirklich Glaubenden nicht zu rechtfertigenden Konflikten instrumentalisieren zu lassen, kann die Erkenntnis eines alleinigen Gottes – wenn sie mit reinem Herzen gelebt wird – wirksam zum Frieden der Region und zum respektvollen Zusammenleben ihrer Bewohner beitragen.

20. Zahlreich und tief sind die Bande zwischen den Christen und den Juden. Sie sind in einem kostbaren gemeinsamen spirituellen Erbe verankert. Da ist natürlich der Glaube an einen einzigen Schöpfergott, der sich offenbart und sich für immer an den Menschen bindet und der aus Liebe die Erlösung will. Da ist weiter die Bibel, die den Juden und den Christen großenteils gemeinsam ist. Sie ist für die einen wie für die anderen „Wort Gottes“. Der gemeinsame Umgang mit der Heiligen Schrift führt uns näher zusammen. Zudem ist Jesus, ein Sohn des auserwählten Volkes, als Jude geboren, hat als Jude gelebt und ist als Jude gestorben (vgl. Röm 9,4-5). Auch Maria, seine Mutter, lädt uns ein, die jüdischen Wurzeln des Christentums wiederzuentdecken. Diese engen Bande sind ein einzigartiges Gut, auf das alle Christen stolz sind und das sie dem auserwählten Volk verdanken. Wenn auch das Judesein des „Nazoräers“ den Christen erlaubt, mit Freude die Welt der Verheißung auszukosten, und sie definitiv in den Glauben des auserwählten Volkes einführt, indem es sie mit ihm vereint, so geben doch die Person und die eigentliche Identität ebendieses Jesus Anlaß zu Trennung, denn die Christen erkennen in ihm den Messias, den Sohn Gottes.

21. Es ist gut, wenn die Christen sich der Tiefe des Mysteriums der Inkarnation bewusster werden, um Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben (vgl. Dtn 6,5). Christus, der Sohn Gottes, ist Mensch geworden in einem Volk, in einer Glaubenstradition und in einer Kultur, deren Kenntnis das Verständnis des christlichen Glaubens nur bereichern kann. Die Christen haben ihrerseits diese Kenntnis bereichert durch den besonderen Beitrag, den Christus selbst durch seinen Tod und seine Auferstehung geliefert hat (vgl. Lk 24,26). Doch sie müssen sich stets ihrer Wurzeln bewusst und für sie dankbar sein. Denn, damit der eingepfropfte Zweig auf dem alten Baum anwachsen kann (vgl. Röm 11,17-18), braucht er den Pflanzensaft, der aus den Wurzeln kommt.

22. Die Beziehungen zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften sind geprägt durch die Geschichte und durch die menschlichen Leidenschaften. Immer wieder kam es zu unzähligen Formen von Unverständnis und gegenseitigem Mißtrauen. Unentschuldbar und aufs schärfste zu verurteilen sind die unterschwelligen oder gewaltsamen Verfolgungen der Vergangenheit! Und dennoch sind trotz dieser traurigen Situationen die Beiträge beider Seiten im Laufe der Jahrhunderte so fruchtbar gewesen, dass sie zur Entstehung und zur Entfaltung einer Zivilisation und einer Kultur beigetragen haben, die allgemein jüdisch-christlich genannt wird – als hätten diese beiden Welten, die aus verschiedenen Gründen unterschiedlich oder gegensätzlich bezeichnet werden, beschlossen, sich zu vereinen, um der Menschheit eine edle Verschmelzung anzubieten. Dieses Band, das Juden und Christen vereint und doch zugleich voneinander trennt, muss sie einer neuen Verantwortung füreinander und miteinander öffnen.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache im Hechal Shlomo-Zentrum, Jerusalem (12. Mai 2009): AAS 101 (2009), S. 522-523; vgl. Propositio 41.</ref> Denn die beiden Völker haben den gleichen Segen erhalten und Verheißungen der Ewigkeit, die es erlauben, in Richtung auf das brüderliche Miteinander zuversichtlich voranzugehen.

23. In der Treue zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils betrachtet die katholische Kirche die Muslime mit Hochachtung – sie, die Gott vor allem durch Gebet, Almosen und Fasten dienen, die Jesus als Propheten verehren, ohne allerdings seine Gottheit anzuerkennen, und die Maria, seine jungfräuliche Mutter, ehren. Wir wissen, dass die Begegnung zwischen Islam und Christentum häufig die Form der doktrinellen Kontroverse angenommen hat. Leider haben diese Unterschiede in der Lehre der einen wie der anderen Seite als Vorwand gedient, um im Namen der Religion Praktiken der Intoleranz, der Diskriminierung, der Ausgrenzung und sogar der Verfolgung zu rechtfertigen.<ref>Vgl. Propositio 5.</ref>

24. Trotz dieser Tatsache teilen die Christen mit den Muslimen den gleichen Alltag im Nahen Osten, wo ihre Anwesenheit weder neu noch zufällig, sondern geschichtlich ist. Als ein feststehender Teil des Nahen Ostens haben sie im Laufe der Jahrhunderte eine Art der Beziehung zu ihrer Umgebung entwickelt, die lehrreich sein kann. Sie haben sich durch die Religiosität der Muslime herausfordern lassen, und sie haben entsprechend ihren Mitteln und im Rahmen des Möglichen in der herrschenden Kultur weiter die Werte des Evangeliums gelebt und gefördert. Das Ergebnis ist eine besondere Symbiose. Aus diesem Grund ist es recht, den jüdischen, christlichen und muslimischen Beitrag zur Bildung einer dem Nahen Osten eigenen reichen Kultur anzuerkennen.<ref>Vgl. Propositio 42.</ref>

25. Die Katholiken des Nahen Ostens, deren Mehrheit einheimische Bürger ihres Landes sind, haben die Pflicht und das Recht, am nationalen Leben voll teilzunehmen, indem sie für den Aufbau ihrer Heimat arbeiten. Sie müssen eine volle Staatsbürgerschaft besitzen und dürfen nicht als Bürger oder Gläubige zweiter Klasse behandelt werden. Wie in der Vergangenheit, wo sie als Pioniere der arabischen Renaissance ein wesentlicher Bestandteil des kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens der verschiedenen Zivilisationen der Region waren, möchten sie heute immer noch ihre Erfahrungen mit den Muslimen teilen und so ihren spezifischen Beitrag leisten. Jesus ist der Grund, warum der Christ ein feines Empfinden hat für die Würde der Person und für die Religionsfreiheit, die daraus folgt. Die Liebe zu Gott und zur Menschheit, mit der zugleich die zweifache Natur Christi geehrt wird, und die Ausrichtung auf das ewige Leben sind der Grund, warum die Christen Schulen, Krankenhäuser und Einrichtungen aller Art ins Leben gerufen haben, in denen unterschiedslos alle aufgenommen werden (vgl. Mt 25,31ff). Aus diesen Gründen schenken die Christen den fundamentalen Menschenrechten besondere Beachtung. Jedoch zu behaupten, diese Rechte seien nur christliche Rechte des Menschen, ist nicht richtig. Es sind einfach Rechte, welche die Würde jedes Menschen und jedes Bürgers einfordert, unabhängig von seiner Herkunft, seinen religiösen Überzeugungen und seinen politischen Entscheidungen.

26. Die Religionsfreiheit ist der Gipfel aller Freiheiten. Sie ist ein heiliges und unveräußerliches Recht. Sie umfaßt auf persönlicher wie auf gemeinschaftlicher Ebene sowohl die Freiheit, in religiösen Dingen dem eigenen Gewissen zu folgen, als auch die Freiheit der Religionsausübung. Sie schließt die Freiheit ein, die Religion zu wählen, die man für die wahre hält, und den eigenen Glauben öffentlich zu bekunden.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 2-8; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2011: AAS 103 (2011), S. 46-58; ders., Ansprache an die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Korps (10. Januar 2011): AAS 103 (2011), S. 100-107.</ref> Es muss möglich sein, den eigenen Glauben und dessen Symbole frei zu bekennen und zum Ausdruck zu bringen, ohne das eigene Leben und die persönliche Freiheit in Gefahr zu bringen. Die Religionsfreiheit ist in der Menschenwürde verwurzelt; sie garantiert die moralische Freiheit und begünstigt die gegenseitige Achtung. Die Juden, die lange Zeit oft tödliche Feindseligkeiten erlitten haben, können die Vorteile der Religionsfreiheit nicht vergessen. Die Muslime ihrerseits teilen mit den Christen die Überzeugung, dass in religiösen Dingen kein Zwang und erst recht keine Gewaltanwendung erlaubt sind. Ein solcher Zwang, der vielerlei und unterschwellige Formen auf persönlicher wie gesellschaftlicher, kultureller, behördlicher und politischer Ebene annehmen kann, ist gegen den Willen Gottes. Er ist eine Quelle von politisch-religiöser Instrumentalisierung, von Diskriminierung und Gewalt, die zum Tod führen kann. Gott will das Leben, nicht den Tod. Er verbietet den Mord, sogar den des Mörders (vgl. Gen 4,15-16; 9,5-6; Ex 20,13).

27. Die religiöse Toleranz existiert in vielen Ländern, doch sie ist wenig verpflichtend, denn sie bleibt auf ihren Aktionsradius beschränkt. Es ist notwendig, von der religiösen Toleranz zur Religionsfreiheit zu gelangen. Dieser Schritt öffnet keineswegs dem Relativismus die Tür, wie einige behaupten. Dieser Schritt, der getan werden muss, ist nicht ein offener Riß im Glauben, sondern eine erneute Berücksichtigung der anthropologischen Beziehung zur Religion und zu Gott. Er ist keine Verletzung der „Grundwahrheiten“ des Glaubens, denn ungeachtet der menschlichen und religiösen Divergenzen erleuchtet ein Strahl der Wahrheit alle Menschen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 2.</ref> Wir wissen sehr wohl, dass außerhalb Gottes die Wahrheit „in sich selbst“ nicht existiert. Dann wäre sie ein Götze. Die Wahrheit kann sich nur in der Beziehung zum anderen entwickeln, die auf Gott hin öffnet, der seine eigene Andersheit durch meine Mitmenschen und in ihnen zu erkennen geben will. So ist es unangebracht, in ausschließender Weise zu behaupten: „Ich besitze die Wahrheit“. Die Wahrheit ist niemals Besitz eines Menschen. Sie ist immer Geschenk, das uns auf einen Weg ruft, sie immer tiefer uns anzueignen. Die Wahrheit kann nur in der Freiheit erkannt und gelebt werden; denn wir können dem anderen die Wahrheit nicht aufzwingen. Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit.

28. Die ganze Welt richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten, der seinen Weg sucht. Möge diese Region zeigen, dass das Zusammenleben keine Utopie ist und dass Mißtrauen und Vorurteil kein unabwendbares Schicksal sind. Die Religionen können sich gemeinsam in den Dienst des Gemeinwohls stellen und zur Entfaltung jedes Menschen sowie zum Aufbau der Gesellschaft beitragen. Die Christen des Nahen Ostens leben seit Jahrhunderten im islamisch-christlichen Dialog. Für sie handelt es sich um den Dialog des Alltags und im Alltag. Sie kennen seine bereichernden Elemente und seine Grenzen. Neuerdings leben sie auch den jüdisch-christlichen Dialog. Seit langer Zeit gibt es zudem einen bilateralen oder trilateralen Dialog jüdischer, christlicher und muslimischer Intellektueller oder Theologen. Das ist ein Laboratorium unterschiedlicher Begegnungen und Forschungen, das man fördern muss. Einen wirksamen Beitrag dazu leisten all die verschiedenen katholischen Institute und Zentren philosophischer, theologischer und anderer Ausrichtung, die vor langer Zeit im Nahen Osten entstanden sind und dort unter manchmal schwierigen Bedingungen arbeiten. Ich grüße sie herzlich und ermutige sie, ihr Friedenswerk fortzusetzen, wohl wissend, dass alles unterstützt werden muss, was die Unwissenheit bekämpft und die Erkenntnis fördert. Die glückliche Verbindung des Dialogs des Alltags mit dem der Intellektuellen oder der Theologen wird mit Gottes Hilfe sicher allmählich dazu beitragen, das jüdisch-christliche, das jüdisch-islamische und das islamisch-christliche Zusammenleben zu verbessern. Das ist mein Wunsch, den ich hier zum Ausdruck bringe, und das Anliegen, für das ich bete.

Zwei neue Realitäten

29. Wie die übrige Welt kennt der Nahe Osten zwei entgegengesetzte Realitäten: die Laizität mit ihren manchmal extremen Formen und den gewaltsamen Fundamentalismus, der einen religiösen Ursprung beansprucht. Mit großem Argwohn betrachten einige politischen und religiösen Verantwortungsträger aus allen Gemeinschaften des Nahen Ostens die Laizität als atheistisch oder unmoralisch. Es trifft zu, dass die Laizität manchmal in verengter Weise behaupten kann, die Religion gehöre ausschließlich in die Privatsphäre, als sei sie nur ein individueller und häuslicher Kult, der außerhalb des Lebens, der Ethik und der Beziehung zum anderen angesiedelt ist. In ihrer extremen und ideologischen Form verweigert diese zu Säkularismus gewordene Laizität dem Bürger die öffentliche Ausübung seiner Religion und erhebt den Anspruch, dass der Staat allein Gesetze über ihre öffentliche Form erlassen kann. Diese Theorien sind alt. Sie sind nicht mehr nur westlich, und sie sind mit dem Christentum unvereinbar. Die gesunde Laizität bedeutet dagegen, den Glauben von der Last der Politik zu befreien und die Politik durch die Beiträge des Glaubens zu bereichern. Dabei sind der nötige Abstand, die klare Unterscheidung und die unentbehrliche Zusammenarbeit zwischen beiden zu wahren. Keine Gesellschaft kann sich gesund entfalten, ohne die gegenseitige Achtung zwischen Politik und Religion zu bekräftigen und dabei die ständige Versuchung der Vermischung oder der Opposition zu vermeiden. Die rechte Beziehung gründet sich vor allen Dingen auf die Natur des Menschen – auf eine gesunde Anthropologie also – und auf die völlige Achtung seiner unveräußerlichen Rechte. Die Einsicht in diese ideale Beziehung macht verständlich, dass es eine Art von Einheit in der Unterscheidung gibt, welche die Beziehung zwischen Geistlichem (Religion) und Weltlichem (Politik) kennzeichnen muss, denn beide sind – wenn auch in der nötigen Unterscheidung – berufen, einträchtig für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten. Eine solche gesunde Laizität garantiert der Politik zu handeln, ohne die Religion für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, und der Religion, frei zu leben, ohne sich mit der politischen Wirklichkeit zu belasten, die von Interessen geleitet ist und sich manchmal mit dem Glauben nur schwer oder sogar überhaupt nicht vereinbaren lässt. Das ist der Grund, warum die gesunde Laizität (Einheit in der Unterscheidung) für beide Teile nötig und sogar unverzichtbar ist. Der Herausforderung, die in der Beziehung zwischen dem Politischen und dem Religiösen liegt, kann mit Geduld und Mut durch eine angemessene menschliche und religiöse Bildung begegnet werden. Immer wieder muss man an den Platz Gottes im persönlichen, familiären und zivilen Leben erinnern wie auch an den rechten Platz des Menschen im Plan Gottes. Und vor allem muss man dafür noch mehr beten.

30. Die wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten, die Begabung einiger zur Manipulation und ein mangelhaftes Verständnis der Religion bilden unter anderem die Basis für den religiösen Fundamentalismus. Dieser sucht alle religiösen Gemeinschaften heim und lehnt das jahrhundertealte Zusammenleben ab. Aus politischen Gründen sucht er – manchmal mit Gewalt – die Macht über das Gewissen der einzelnen und über die Religion zu gewinnen. Ich appelliere an alle jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsführer der Region, danach zu streben, durch ihr Beispiel und ihre Lehre alles zu tun, um diese Bedrohung auszumerzen, die unterschiedslos und tödlich die Gläubigen aller Religionen ergreift. „Geoffenbarte Worte, heilige Schriften oder den Namen Gottes zu gebrauchen, um unsere Interessen, unsere – so leicht willfährige – Politik oder unsere Gewalttätigkeit zu rechtfertigen, ist ein sehr schwerer Fehler.“<ref>Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Begegnung mit den Mitgliedern der Regierung, Vertretern der staatlichen Institutionen, mit dem Diplomatischen Korps und mit Vertretern der wichtigsten Religionen, Cotonou (19. November 2011): AAS 103 (2011), S. 820.</ref>

Die Migranten

31. Die Wirklichkeit des Nahen Ostens ist in ihrer Vielfalt reich, doch allzu häufig ist sie von Zwang und sogar Gewalt geprägt. Das betrifft die Gesamtheit der Bevölkerung der Region und alle Aspekte ihres Lebens. Die Christen, die sich in einer oft heiklen Lage befinden, spüren in besonderer Weise und manchmal mit Überdruß und wenig Hoffnung die negativen Konsequenzen dieser Konflikte und dieser Unsicherheiten. Häufig fühlen sie sich gedemütigt. Aus Erfahrung wissen sie auch, dass sie die ausgesuchten Opfer sind, wenn es Unruhen gibt. Nachdem sie über Jahrhunderte aktiv am Aufbau der jeweiligen Nationen teilgenommen und zur Bildung ihrer Identität und ihres Wohlstands beigetragen haben, halten viele Christen nach günstigeren Horizonten Ausschau und entscheiden sich für Orte des Friedens, wo sie und ihre Familien würdig und in Sicherheit leben können, und für Freiheitsräume, wo sie ihren Glauben ausüben können, ohne dass sie verschiedenen Zwängen unterworfen sind.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge 2006 (18. Oktober 2005): AAS 97 (2005), S. 981-983; Botschaft zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge 2008 (18. Oktober 2007): AAS 99 (2007), S. 1065-1068; Botschaft zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge 2012 (21. September 2011): AAS 103 (2011), S. 763-766.</ref> Diese Entscheidung hinterlässt tiefe Risse. Sie hat schwere Auswirkungen für die einzelnen, die Familien und die Kirchen. Sie verstümmelt die Nationen und trägt zur menschlichen, kulturellen und religiösen Verarmung des Nahen Ostens bei. Ein Naher Osten ohne oder mit wenig Christen ist nicht mehr der Nahe Osten, denn die Christen haben mit den anderen Gläubigen Anteil an der so besonderen Identität der Region. Vor Gott sind die einen für die anderen verantwortlich. Es ist also wichtig, dass die politischen Führer und die Verantwortungsträger der Religionsgemeinschaften diese Sachlage begreifen und eine gruppenbezogene Politik oder Strategie vermeiden, die einen uniformen Nahen Osten anstreben würden, der in keiner Weise seine reiche menschliche und geschichtliche Wirklichkeit widerspiegelt.

32. Die Hirten der katholischen Ostkirchen sui iuris stellen mit Sorge und Schmerz fest, dass die Zahl ihrer Gläubigen in den traditionellen Patriarchatsgebieten abnimmt und dass sie sich seit einiger Zeit gezwungen sehen, eine Emigrationspastoral zu entwickeln.<ref>Vgl. Propositio 11.</ref> Ich bin sicher, dass sie alles tun, was ihnen möglich ist, um ihre Gläubigen zur Hoffnung zu ermuntern und sie aufzufordern, in ihrem Land zu bleiben und ihren Besitz nicht zu verkaufen.<ref>Vgl. Propositiones 6 und 10.</ref> Ich ermutige sie, ihre Priester und ihre Gläubigen der Diaspora weiter mit Liebe zu umgeben und sie einzuladen, in engem Kontakt mit ihren Familien und ihren Kirchen zu bleiben und vor allem treu ihren Glauben an Gott zu bewahren dank ihrer auf ehrwürdigen geistlichen Traditionen beruhenden religiösen Identität.<ref>Vgl. Propositio 12.</ref> Indem sie diese Zugehörigkeit zu Gott und zu ihren jeweiligen Kirchen beibehalten und indem sie eine tiefe Liebe zu ihren lateinischen Brüdern und Schwestern pflegen, tragen sie sehr zum Wohl der katholischen Kirche im ganzen bei. Außerdem ermahne ich die Hirten der kirchlichen Gebiete, welche die Gläubigen katholischer Ostkirchen aufnehmen, sie mit Liebe und Wertschätzung wie Brüder zu empfangen, die gemeinschaftlichen Bindungen zwischen den Emigranten und den Kirchen ihrer Herkunft zu fördern, ihnen die Möglichkeit zu geben, Gottesdienste nach den eigenen Traditionen zu feiern, und dort, wo dies machbar ist, Aktivitäten auf pastoralem Gebiet und auf Pfarreiebene zu entfalten.<ref>Vgl. Propositio 15.</ref>

33. Die lateinische Kirche im Nahen Osten erlebt, obwohl auch sie unter der Abwanderung vieler ihrer Gläubigen leidet, eine andere Situation und sieht sich vor zahlreiche auch neue pastorale Herausforderungen gestellt. Ihre Hirten müssen in den wirtschaftlich starken Ländern der Region eine massive Zuwanderung und den Aufenthalt von Arbeitern aller Art aus Afrika, dem Fernen Osten und dem indischen Subkontinent bewältigen. Diese Bevölkerungsgruppen, die sich aus oft einzelnen Männern und Frauen oder aus ganzen Familien zusammensetzen, stehen vor einer zweifachen Unsicherheit. Sie sind Fremde in dem Land, in dem sie arbeiten, und sie erfahren allzu häufig Situationen der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit. Dem Fremden wendet Gott seine Aufmerksamkeit zu; daher verdient der Fremde auch unsere Achtung. Wie er aufgenommen wurde, wird beim Jüngsten Gericht zur Geltung kommen (vgl. Mt 25,35.43).<ref>Vgl. Propositio 14.</ref>

34. Ausgebeutet, ohne sich wehren zu können, und mit mehr oder weniger legalen Arbeitsverträgen gedungen, sind diese Menschen manchmal Opfer von Übertretungen der örtlichen Gesetze und der internationalen Konventionen. Außerdem leiden sie unter starkem Druck und unter gravierenden religiösen Einschränkungen. Die Aufgabe ihrer Hirten ist notwendig und heikel. Ich ermutige alle katholischen Gläubigen und alle Priester, gleich welcher Kirche sie angehören, zu einem echten Miteinander und zur pastoralen Zusammenarbeit mit dem Ortsbischof und diesen wiederum zu väterlichem Verständnis gegenüber den Gläubigen der katholischen Ostkirchen. Die Zusammenarbeit aller und vor allem die Einstimmigkeit im Reden sorgt dafür, dass in dieser besonderen Situation alle ihren Glauben leben und feiern können und sich dabei durch die Verschiedenheit der spirituellen Traditionen bereichern, auch wenn sie mit ihren ursprünglichen christlichen Gemeinschaften im Kontakt bleiben. Auch die Regierenden der Länder, die diese neuen Bevölkerungsgruppen aufnehmen, fordere ich auf, deren Rechte zu achten und zu schützen, ihnen die freie Ausübung ihres Glaubens zu gestatten, indem sie die Religionsfreiheit fördern und die Errichtung von Gotteshäusern begünstigen. Die Religionsfreiheit „könnte Gegenstand des Dialogs zwischen Christen und Muslimen werden, eines Dialogs, dessen Dringlichkeit und Notwendigkeit von den Synodenvätern bekräftigt wurde“.<ref>Benedikt XVI., Homilie in der Messe zum Abschluss der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten (24. Oktober 2010): AAS 102 (2010), S. 815.</ref>

35. Während einheimische Katholiken des Nahen Ostens aus Notwendigkeit, Überdruß oder Verzweiflung die dramatische Entscheidung treffen, das Land ihrer Vorfahren, ihre Familie und ihre Glaubensgemeinschaft zu verlassen, entscheiden sich dagegen andere voller Hoffnung, in ihrem Land und in ihrer Gemeinde zu bleiben. Ich ermutige sie, diese edle Treue zu bewahren und fest im Glauben zu verharren. Wieder andere Katholiken schließlich treffen eine ebenso einschneidende Entscheidung wie die Katholiken im Nahen Osten, die emigrieren: In der Hoffnung, eine bessere Zukunft aufzubauen, fliehen sie aus unsicheren Situationen und wählen die Länder der Region, um dort zu arbeiten und zu leben.

36. Als Hirte der universalen Kirche wende ich mich hier an die Gesamtheit der katholischen Gläubigen der Region, die einheimischen und die neu hinzugekommenen, deren Anteile sich in diesen letzten Jahren einander angenähert haben, denn für Gott gibt es nur ein einziges Volk und für die Gläubigen nur einen einzigen Glauben! Versucht, in gegenseitiger Achtung geeint und in geschwisterlicher Gemeinschaft miteinander zu leben, in gegenseitiger Liebe und Wertschätzung, um euren Glauben an Christi Tod und Auferstehung glaubwürdig zu bezeugen! Gott wird euer Gebet erhören, euer Verhalten segnen und euch seinen Geist schenken, um die Last des Tages zu tragen. Denn „wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17). Der heilige Petrus schrieb an Gläubige, die ähnliche Situationen erlebten, Worte, die ich gerne aufgreife, um sie als Aufruf an euch zu richten: „Und wer wird euch Böses zufügen, wenn ihr euch voll Eifer um das Gute bemüht? … Fürchtet euch nicht vor ihnen und laßt euch nicht erschrecken, sondern haltet in eurem Herzen Christus, den Herrn, heilig! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,13-15).

Zweiter Teil: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32)

37. Die Sichtbarkeit der christlichen Urgemeinde wird mit immateriellen Eigenschaften beschrieben, welche die kirchliche koinonia zum Ausdruck bringen – ein Herz und eine Seele – und so den tiefen Sinn des Zeugnisses übersetzen. Es ist der Widerschein einer persönlichen und gemeinschaftlichen Innerlichkeit. Wenn sie sich von innen her von der göttlichen Gnade formen lässt, kann jede Teilkirche die Schönheit der ersten Gemeinde der Glaubenden wiederfinden, die von einem Glauben gefestigt wird, der von jener Liebe beseelt ist, die die Jünger Christi vor den Augen der Menschen kennzeichnet (vgl. Joh 13,35). Die koinonia verleiht dem Zeugnis Bestand und Kohärenz und erfordert eine ständige Umkehr. Diese macht die Gemeinschaft vollkommen und festigt ihrerseits das Zeugnis. „Ohne Gemeinschaft gibt es kein Zeugnis: das große Zeugnis ist gerade das Gemeinschaftsleben.“<ref>Vgl. Benedikt XVI., Homilie in der Messe zur Eröffnung der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten (10. Oktober 2010): AAS 102 (2010), S. 805.</ref> Die Gemeinschaft ist eine Gabe, die von allen ganz anzunehmen ist, und eine Wirklichkeit, die unermüdlich aufgebaut werden muss. In diesem Sinne lade ich alle Glieder der Kirchen im Nahen Osten ein, entsprechend der je eigenen Berufung die Gemeinschaft in Demut und durch das Gebet neu zu beleben, damit sich die Einheit verwirklicht, um die Jesus gebetet hat (vgl. Joh 17,21).

38. Der Begriff der „katholischen“ Kirche sieht die Gemeinschaft zwischen dem Universalen und dem Partikularen vor. Es besteht hier die Beziehung eines „wechselseitigen Ineinanders“ der Gesamtkirche mit den Teilkirchen, welche die Katholizität der Kirche kennzeichnet und konkretisiert. Die Gegenwart „des Ganzen im Teil“ setzt den Teil in eine Spannung zur Universalität. Diese Spannung zeigt sich – einerseits – im missionarischen Geist jeder der Kirchen und – andererseits – in der aufrichtigen Wertschätzung des Guten der „anderen Teile“, die das Handeln in Einklang und Synergie mit ihnen einschließt. Die Gesamtkirche ist eine Wirklichkeit, die den Teilkirchen vorausgeht, und diese gehen in und aus der Gesamtkirche hervor.<ref>Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als communio – Communionis notio (28. Mai 1992), 9, §§ 1-3: AAS 85 (1993), S. 843-844; vor allem Paragraph 1: „Daher ‚kann die Gesamtkirche nicht als die Summe der Teilkirchen aufgefasst werden und ebenso wenig als Zusammenschluss von Teilkirchen‘. Sie ist nicht das ‚Ergebnis‘ von deren Gemeinschaft; sie ist vielmehr im Eigentlichen ihres Geheimnisses eine jeder einzelnen Teilkirche ontologisch und zeitlich vorausliegende Wirklichkeit.“</ref> Diese Wahrheit gibt treu die katholische Lehre wieder, insbesondere jene des Zweiten Vatikanischen Konzils.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 23.</ref> Sie führt in das Verständnis der hierarchischen Dimension der Gemeinschaft der Kirche ein und ermöglicht der reichen und legitimen Vielfalt der Teilkirchen, sich stets in der Einheit auszudrücken, in der die besonderen Gaben zu einem echten Reichtum für die Universalität der Kirche werden. Sich dieser grundlegenden Aspekte der Ekklesiologie neu bewusst zu werden und sie zu leben macht es möglich, die Besonderheit und den Reichtum der katholischen Identität im Orient wiederzuentdecken.

Die Patriarchen

39. Als „Väter und Häupter“ der Kirchen sui iuris sind die Patriarchen die sichtbaren Bezugspunkte und die wachsamen Hüter der Gemeinschaft. Aufgrund ihrer besonderen Identität und Sendung sind sie Männer der Gemeinschaft, die über die Herde wachen, wie Gott es will (vgl. 1 Petr 5,1-4), und Diener der Einheit der Kirche. Sie üben ein Dienstamt aus, das durch die Liebe wirksam ist, die auf allen Ebenen wirklich gelebt wird: unter den Patriarchen selbst, zwischen dem Patriarchen und den Bischöfen, den Priestern, den gottgeweihten Personen und den gläubigen Laien unter ihrer Jurisdiktion.

40. Die Patriarchen, deren unverbrüchliche Einheit mit dem Bischof von Rom in der ecclesiastica communio gründet, um die sie den Obersten Hirten gebeten und die sie nach ihrer kanonischen Wahl erhalten haben, machen durch dieses besondere Band die Universalität und Einheit der Kirche greifbar.<ref>Vgl. Kodex der Kanones der Orientalischen Kirchen, Cann. 76 §§ 1-2 und 92 §§ 1-2.</ref> Ihre Fürsorge gilt jedem Jünger Jesu Christi, der im Gebiet ihres Patriarchats lebt. Im Zeichen der Gemeinschaft werden sie um des Zeugnisses willen die Einheit und Solidarität innerhalb des Rates der katholischen Patriarchen des Ostens und der verschiedenen Patriarchalsynoden stärken. Dabei werden sie im Hinblick auf ein kollegiales und einheitliches Handeln in Fragen von großer Wichtigkeit für die Kirche stets vorrangig das Einvernehmen suchen. Für die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses wird der Patriarch nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut streben (vgl. 1 Tim 6,11), einen schlichten Lebensstil nach dem Vorbild Christi beherzigen, der arm wurde, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9). Ebenso wird er darauf achten, innerhalb der kirchlichen Gebiete durch eine vernünftige Personalführung und eine gute Verwaltung der Kirchengüter eine echte Solidarität zu fördern. Dies gehört zu seinen Pflichten.<ref>Vgl. ebd., Can. 97.</ref> In der Nachfolge Jesu, der alle Städte und Dörfer besuchte, um seine Sendung zu erfüllen (vgl. Mt 9,35), wird der Patriarch mit Eifer die Pastoralvisitation in seinen kirchlichen Gebieten durchführen.<ref>Vgl. ebd., Can. 83 § 1.</ref> Er wird dies nicht nur tun, um sein Aufsichtsrecht und seine Aufsichtspflicht auszuüben, sondern auch, um seine brüderliche und väterliche Liebe zu den Bischöfen, den Priestern und den gläubigen Laien, vor allem zu den Armen, Kranken und Ausgegrenzten wie auch zu denen, die seelisch leiden, konkret zu bezeugen.

Die Bischöfe

41. Kraft seiner Weihe ist der Bischof zugleich Mitglied des Bischofskollegiums und – durch seinen Dienst des Lehrens, des Heiligens und des Leitens – Hirte einer Ortskirche. Mit den Patriarchen sind die Bischöfe die sichtbaren Zeichen der Einheit in der Vielfalt der Kirche, die als ein Leib verstanden wird, dessen Haupt Christus ist (vgl. Eph 4,12-15). Sie sind die ersten, die aus Gnade erwählt und zu allen Völkern gesandt werden, um sie zu Jüngern zu machen und sie zu lehren, alles zu befolgen, was der Auferstandene ihnen geboten hat (vgl. Mt 28,19-20).<ref>Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores gregis (16. Oktober 2003), 26: AAS 96 (2004), S. 859-860.</ref> Es ist daher von entscheidender Wichtigkeit, dass sie das Wort Gottes hören und in ihrem Herzen bewahren. Sie müssen es mutig verkünden und in den schwierigen Situationen, an denen es im Nahen Osten leider nicht fehlt, den Glauben in seiner Gesamtheit und Einheit mit Entschiedenheit verteidigen.

42. Um das Leben in einem Geist der Gemeinschaft und der diakonia zu fördern, ist es wichtig, dass die Bischöfe immer an ihrer persönlichen Erneuerung arbeiten. Diese Wachsamkeit des Herzens verwirklicht sich „vor allem durch ein Leben des Gebets, der Entsagung, des Opfers und des Zuhörens; dann durch ein vorbildliches Leben als Apostel und Hirten in Einfachheit, Armut und Demut und schließlich durch die beständige Sorge, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die guten Sitten und die Anliegen der Armen zu verteidigen.“<ref>Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban (10. Mai 1997), 60: AAS 89 (1997), S. 364.</ref> Außerdem erfolgt die so sehr gewünschte Erneuerung der Gemeinden durch die väterliche Sorge, die sie für alle Getauften und insbesondere für ihre unmittelbaren Mitarbeiter, die Priester, hegen sollen.<ref>Vgl. Propositio 22.</ref>

43. Die Gemeinschaft innerhalb einer jeden Ortskirche ist das erste Fundament der Gemeinschaft zwischen den Kirchen, die sich stets vom Wort Gottes und von den Sakramenten wie auch von anderen Formen des Gebets nährt. Daher lade ich die Bischöfe ein, ihre Fürsorge allen Christgläubigen in ihrem Jurisdiktionsbereich, gleich welchen Standes, welcher Nationalität und kirchlicher Herkunft, zu erweisen. Sie sollen für die ihnen anvertraute Herde Gottes sorgen und über sie wachen und dabei „nicht Beherrscher (ihrer) Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde“ (1 Petr 5,3) sein. Sie mögen denen besondere Aufmerksamkeit widmen, die in ihrer religiösen Praxis unbeständig sind oder die diese aus verschiedenen Gründen aufgegeben haben.<ref>Vgl. Kodex der Kanones der Orientalischen Kirchen, Can. 192 § 1.</ref> Es soll ihnen auch am Herzen liegen, die liebende Gegenwart Christi unter jenen Menschen zu sein, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen. So werden sie die Einheit unter den Christen selbst und die Solidarität zwischen allen Menschen fördern können, die nach dem Abbild Gottes geschaffen sind (vgl. Gen 1,27), denn alles stammt vom Vater und wir leben auf ihn hin (vgl. 1 Kor 8,6).

44. Den Bischöfen obliegt es, eine gute, ehrliche und transparente Verwaltung der kirchlichen Güter zu gewährleisten, in Übereinstimmung mit dem Kodex der Kanones der Orientalischen Kirchen oder dem Codex des kanonischen Rechts der lateinischen Kirche. Die Synodenväter hielten es für notwendig, dass eine zuverlässige Auflistung der Finanzen und der Güter gemacht wird in dem Bestreben, eine Verwechslung von persönlichen Gütern und Gütern der Kirche zu vermeiden.<ref>Vgl. Propositio 7.</ref> Der Apostel Paulus sagt, dass der Diener Gottes ein Verwalter von Geheimnissen Gottes ist. „Von Verwaltern aber verlangt man, dass sie sich treu erweisen“ (1 Kor 4,2). Ein Verwalter trägt Sorge für Güter, die nicht ihm gehören und die, gemäß dem Apostel, zu einer höheren Verwendung bestimmt sind, nämlich für die Geheimnisse Gottes (vgl. Mt 19,28-30; 1 Petr 4,10). Diese treue und uneigennützige Verwaltung, wie sie die Gründermönche – wahre Säulen vieler orientalischer Kirchen – gewollt haben, muss vorrangig der Evangelisierung und der Nächstenliebe dienen. Die Bischöfe werden dafür sorgen, den Priestern, ihren ersten Mitarbeitern, einen gerechten Unterhalt zu gewährleisten, damit sie nicht in der Suche nach weltlichen Dingen aufgehen, sondern sich der Sache Gottes und ihrer seelsorglichen Sendung mit Würde widmen können. Und außerdem: Wer einem Armen hilft, verdient sich den Himmel! Der heilige Jakobus betont die dem Armen geschuldete Achtung, seine Größe und seinen wahren Platz in der Gemeinschaft (vgl. 1,9-11; 2,1-9). Daher ist es notwendig, dass die Verwaltung der Güter zu einer Grundlage wirksamer Verkündigung der befreienden Botschaft Jesu wird: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18-19). Der treue Verwalter ist derjenige, der verstanden hat, dass nur der Herr die kostbare Perle (vgl. Mt 13,45-46) und nur er der wahre Schatz ist (vgl. Mt 6,19-21; 13,44). Mögen die Bischöfe das den Priestern, den Seminaristen und den Gläubigen auf vorbildliche Weise vor Augen führen! Im übrigen muss die Veräußerung von Kirchengütern unbedingt den kanonischen Normen und den geltenden päpstlichen Anordnungen entsprechen.

Die Priester, die Diakone und die Seminaristen

45. Durch die Priesterweihe wird der Priester Christus gleichförmig und zu einem engen Mitarbeiter des Patriarchen und des Bischofs gemacht, an deren dreifachem munus er Anteil erhält.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum ordinis, 4-6.</ref> Aufgrund dieser Tatsache ist er Diener der Gemeinschaft; und die Erfüllung dieser Aufgabe erfordert seine beständige Verbundenheit mit Christus sowie seinen Eifer in der Nächstenliebe und den Werken der Barmherzigkeit gegenüber allen. So wird er die Heiligkeit ausstrahlen können, zu der alle Getauften berufen sind. Er soll das Volk Gottes dazu erziehen, eine Kultur der Liebe, wie sie das Evangelium lehrt, und eine Kultur der Einheit aufzubauen. Daher wird er das Leben der Gläubigen durch die kluge Weitergabe des Wortes Gottes, der Überlieferung und der Lehre der Kirche sowie durch die Sakramente erneuern und stärken.<ref>Vgl. Schlussbotschaft (22 Oktober 2010), 4.3: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 40 (2010), Nr. 44 (5. November 2010), S. 14.</ref> Die östlichen Traditionen hatten ein Gespür für die geistliche Begleitung. Mögen die Priester, die Diakone und die Gottgeweihten selber diese Führung geben und durch sie den Gläubigen die Wege zur Ewigkeit eröffnen.

46. Ferner verlangt das Zeugnis der Gemeinschaft eine theologische Bildung und eine gediegene Spiritualität, die eine ständige intellektuelle und geistliche Erneuerung erfordern. Es ist Aufgabe der Bischöfe, die Priester und Diakone mit den nötigen Mitteln auszustatten, um es ihnen zu ermöglichen, ihr Glaubensleben zum Wohl der Gläubigen zu vertiefen, damit sie ihnen „Speise zur rechten Zeit“ geben können (Ps 145,15). Überdies erwarten die Gläubigen von ihnen das Beispiel eines tadellosen Lebenswandels (vgl. Phil 2,14-16).

47. Ich lade euch ein, liebe Priester, jeden Tag die ontologische Bedeutung der heiligen Weihe neu zu entdecken, die dazu drängt, das Priestertum als eine Quelle der Heiligung für die Getauften und zur Förderung des ganzen Menschen zu leben. „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes ... nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung“ (1 Petr 5,2). Hegt auch für das Leben in Gemeinschaft Wertschätzung – dort, wo es möglich ist – trotz der Schwierigkeiten, die damit verbunden sind (vgl. 1 Petr 4,8-10), weil es euch hilft, das priesterliche und seelsorgliche Miteinander auf lokaler und universaler Ebene zu erlernen und besser zu leben. Liebe Diakone, dient in Gemeinschaft mit eurem Bischof und den Priestern dem Volk Gottes gemäß dem eigenen Amt und den spezifischen Aufgaben, die euch anvertraut werden.

48. Der priesterliche Zölibat ist eine unschätzbare Gabe Gottes an seine Kirche, die sowohl im Osten wie im Westen mit Dankbarkeit aufgenommen werden soll, weil sie ein prophetisches Zeichen darstellt, das immer aktuell ist. Bedenken wir zudem den Dienst der verheirateten Priester, die ein alter Bestandteil der östlichen Traditionen sind. Ich möchte auch diesen Priestern Mut machen, die mit ihren Familien in der treuen Ausübung ihres Dienstes und in ihren mitunter schwierigen Lebensbedingungen zur Heiligkeit gerufen sind. Euch allen sage ich noch einmal, dass die Schönheit eures priesterlichen Lebens<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum ordinis, 11.</ref> zweifellos neue Berufungen erwecken wird, deren Pflege euch obliegt.

49. Die Berufung des jungen Samuel (vgl. 1 Sam 3,1-19) lehrt, dass die Menschen kluge Führungspersönlichkeiten brauchen, die ihnen helfen, den Willen des Herrn zu erkennen und seinem Ruf großherzig zu folgen. In diesem Sinn muss das Gedeihen von Berufungen durch eine eigene Pastoral gefördert werden. Diese muss durch das Gebet in der Familie, in der Pfarrei, in den kirchlichen Bewegungen und in den Bildungseinrichtungen unterstützt werden. Jene Menschen, die auf den Ruf des Herrn antworten, müssen in besonderen Ausbildungsstätten reifen und durch geeignete und vorbildliche Ausbilder begleitet werden. Diese sollen sie zum Gebet, zur Gemeinschaft, zum Zeugnis und zum missionarischen Bewußtsein erziehen. Geeignete Programme sollen auf die verschiedenen Aspekte des menschlichen, geistlichen, intellektuellen und pastoralen Lebens eingehen und mit den unterschiedlichen Umfeldern, Herkünften, kulturellen und kirchlichen Zugehörigkeiten klug umgehen.<ref>Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis (19. März 1985), 5-10.</ref>

50. Liebe Seminaristen, wie das Schilfrohr ohne Wasser nicht wachsen kann (vgl. Ijob 8,11), so könnt auch ihr keine wahren Gemeinschaftsstifter und echte Glaubenszeugen werden, ohne tief in Jesus Christus verwurzelt zu sein, ohne beständige Hinwendung zu seinem Wort, ohne Liebe zu seiner Kirche und ohne selbstlose Liebe zum Nächsten. In der heutigen Zeit seid ihr gerufen, die Gemeinschaft im Blick auf ein mutiges ungetrübtes Zeugnis zu leben und zu vervollkommnen. Die Stärkung des Glaubens des Gottesvolkes wird auch von der Qualität eures Zeugnisses abhängen. Ich lade euch ein, euch im Hinblick auf eure zukünftige Sendung noch mehr für die kulturelle Vielfalt eurer Kirchen zu öffnen, zum Beispiel durch das Erlernen anderer Sprachen und das Kennenlernen anderer Kulturen. Seid auch offen für die kirchliche und ökumenische Vielfalt sowie für den interreligiösen Dialog. Ein aufmerksames Studium meines Briefes an die Seminaristen wird euch von großem Nutzen sein.<ref>Vgl. Brief an die Seminaristen (18. Oktober 2010): AAS 102 (2010), S. 793-798.</ref>

Das gottgeweihte Leben

51. Das Mönchtum in seinen verschiedenen Formen entstand im Nahen Osten und steht am Anfang einiger Kirchen, die sich dort befinden.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Orientale lumen (2. Mai 1995): AAS 87 (1995), S. 745-774.</ref> Die Mönche und die Nonnen, die ihr Leben dem Gebet weihen, indem sie die Stunden des Tages und der Nacht heiligen und die Sorgen und Nöte der Kirche und der Menschheit in ihr Gebet hineinnehmen, mögen für alle eine beständige Erinnerung an die Bedeutung des Gebets im Leben der Kirche und eines jeden Gläubigen sein. Mögen die Klöster auch Orte sein, an denen die Gläubigen eine Einführung in das Gebet erhalten können.

52. Das gottgeweihte Leben – sei es kontemplativ oder apostolisch – ist eine Vertiefung der Taufweihe. Die Ordensleute streben nämlich danach, durch die Profeß der evangelischen Räte des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut Christus radikaler nachzufolgen. <ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 44; Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis, 5; Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Kongregation für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens (25. März 1996), 14.30: AAS 88 (1996), S. 387-388.403-404.</ref> Die vorbehaltlose Gabe ihrer selbst an den Herrn und ihre selbstlose Liebe zu allen Menschen geben Zeugnis von Gott und sind wirkliche Zeichen seiner Liebe zur Welt. Gelebt als eine kostbare Gabe des Heiligen Geistes, ist das gottgeweihte Leben eine unersetzliche Stütze für das Leben und die Seelsorge der Kirche.<ref>Vgl. Propositio 26.</ref> In diesem Sinne werden die Ordensgemeinschaften prophetische Zeichen von Gemeinschaft in ihren Kirchen und in der ganzen Welt sein, wenn sie wirklich auf das Wort Gottes, die brüderliche Gemeinschaft und das Zeugnis des Dienstes gründen (vgl. Apg 2,42). Im zönobitischen Leben ist die Gemeinschaft oder das Kloster berufen, der bevorzugte Ort der Vereinigung mit Gott und der Gemeinschaft mit dem Nächsten zu sein. Es ist der Ort, an dem die gottgeweihte Person lernt, immer neu von Christus her zu beginnen,<ref>Vgl. Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens, Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im dritten Jahrtausend (19. Mai 2002): Enchiridion Vaticanum 21, Nrn. 372-510.</ref> um ihrer Sendung im Gebet und in der Sammlung treu zu sein und um für alle Gläubigen ein Zeichen des ewigen Lebens zu sein, das schon hier auf Erden begonnen hat (vgl. 1 Petr 4,7).

53. Euch alle, die ihr im Nahen Osten zur Nachfolge Christi im Ordensleben gerufen seid, lade ich ein, euch stets wie der Prophet Jeremia vom Wort Gottes betören zu lassen und es in eurem Herzen wie ein verzehrendes Feuer zu hüten (vgl. Jer 20,7-9). Es ist der Seinsgrund, das Fundament und der letzte und objektive Bezugspunkt eurer Weihe. Das Wort Gottes ist Wahrheit. Indem ihr ihm gehorcht, heiligt ihr eure Seelen, um einander aufrichtig als Brüder und Schwestern zu lieben (vgl. 1 Petr 1,22). Welchen kanonischen Status auch immer euer Institut hat, seid bereit, im Geist der Gemeinschaft mit dem Bischof am seelsorglichen und missionarischen Wirken mitzuarbeiten. Das Ordensleben ist ein persönliches Verbundensein mit Christus, dem Haupt des Leibes (vgl. Kol 1,18; Eph 4,15), und spiegelt das unauflösliche Band zwischen Christus und seiner Kirche wider. Unterstützt daher in diesem Sinn die Familien in ihrer christlichen Berufung und ermutigt die Pfarreien, für die verschiedenen Priester- und Ordensberufungen offen zu sein. Dies trägt dazu bei, innerhalb der Ortskirche das Gemeinschaftsleben für das Zeugnis zu stärken.<ref>Vgl. Kongregation für die Ordensleute und Säkularinstitute / Kongregation für die Bischöfe, Leitlinien für die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bischöfen und Ordensleuten in der Kirche Mutuae relationes (19. Mai 1978), 52-65: AAS 70 (1978), S. 500-505. Zur Stellung der Mönche in den katholischen Ostkirchen siehe Kodex der Kanones der Orientalischen Kirchen, Cann. 410-572.</ref> Werdet nicht müde, auf die Anfragen der Männer und Frauen unserer Zeit zu antworten, indem ihr ihnen den Weg und den tiefen Sinn des Menschseins zeigt.

54. Ich möchte eine zusätzliche Erwägung hinzufügen, die sich nicht nur an die Gottgeweihten richtet, sondern an alle Glieder der katholischen Ostkirchen. Sie betrifft die evangelischen Räte, die besonders das monastische Leben kennzeichnen. Bekanntlich war gerade das Ordensleben am Anfang zahlreicher Kirchen sui iuris maßgeblich und ist es in ihrem gegenwärtigen Leben weiterhin. Mit scheint, es wäre angebracht, ausführlich und sorgfältig über die evangelischen Räte – den Gehorsam, die Keuschheit und die Armut – nachzudenken, um ihre Schönheit, die Kraft ihres Zeugnisses und ihre seelsorgliche Dimension heute wiederzuentdecken. Eine innere Erneuerung des Gläubigen, der Gemeinde der Glaubenden und der ganzen Kirche kann es nur geben, wenn es – gemäß der jeweiligen Berufung – eine entschlossene und unmissverständliche Rückkehr zum quaerere Deum, zur Suche nach Gott, gibt, die hilft, die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst zu bestimmen und in Wahrheit zu leben. Dies betrifft gewiß die Kirchen sui iuris, aber auch die lateinische Kirche.

Die Laien

55. Durch die Taufe sind die gläubigen Laien volle Glieder des Leibes Christi und haben teil an der Sendung der universalen Kirche.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 30-38; Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, 3; Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988): AAS 81 (1989), S. 393-521.</ref> Ihre Teilnahme am Leben und am inneren Wirken der Kirche ist die beständige geistliche Quelle, die es ihnen ermöglicht, über die Grenzen der kirchlichen Strukturen hinauszugehen. Als Apostel in der Welt übersetzen sie das Evangelium, die Glaubens- und die Soziallehre der Kirche in konkrete Taten.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban (10. Mai 1997), 45.103: AAS 89 (1997), S. 350-352.400; Propositio 24.</ref> Die Christen können und müssen nämlich „als vollberechtigte Bürger im Geist der Seligpreisungen ihren Beitrag leisten und so Erbauer des Friedens und Apostel der Versöhnung zum Wohl der ganzen Gesellschaft werden.“<ref>Benedikt XVI., Predigt in der Eucharistiefeier zum Abschluss der Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten (24. Oktober 2010): AAS 102 (2010), S. 814.</ref>

56. Da der euch eigene Bereich der weltliche ist,<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 31.</ref> ermutige ich euch, liebe gläubige Laien, die Bande der Brüderlichkeit und der Zusammenarbeit mit den Menschen guten Willens zu stärken für das Streben nach dem Gemeinwohl, für die gute Verwaltung der öffentlichen Güter, die Religionsfreiheit und die Achtung der Würde jedes Menschen. Auch wenn die Sendung der Kirche in einer Umgebung, in der die ausdrückliche Verkündigung des Evangeliums auf Hindernisse stößt oder nicht möglich ist, schwierig geworden ist, so führt unter den Völkern „ein rechtschaffenes Leben, damit sie durch eure guten Taten zur Einsicht kommen und Gott preisen am Tag der Heimsuchung“ (1 Petr 2,12). Laßt es euch ein Herzensanliegen sein, durch die Kohärenz eures Lebens und eures täglichen Handelns für euren Glauben Rede und Antwort zu stehen (vgl. 1 Petr 3,15).<ref>Vgl. Propositio 30.</ref> Damit euer Zeugnis wirklich Frucht bringt (vgl. Mt 7,16.20), rufe ich euch auf, die Spaltungen und alle subjektivistischen Interpretationen des christlichen Lebens zu überwinden. Seid darauf bedacht, das christliche Leben – mit seinen Werten und Anforderungen – nicht vom Leben in der Familie oder in der Gesellschaft, bei der Arbeit, in der Politik und in der Kultur zu trennen, weil alle verschiedenen Bereiche im Leben des Laien in den Plan Gottes hineingenommen sind.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 57-63: AAS 81 (1989), S. 506-518.</ref> Ich lade euch ein, um Christi willen wagemutig zu sein in der Gewißheit, dass weder Bedrängnis, noch Not, noch Verfolgung euch von ihm scheiden können (vgl. Röm 8,35).

57. Im Nahen Osten sind die Laien gewohnt, regelmäßige brüderliche Beziehungen mit den katholischen Gläubigen der verschiedenen Patriarchatskirchen oder mit der lateinischen Kirche zu pflegen und ihre Gotteshäuser zu besuchen, besonders wenn keine andere Möglichkeit besteht. Zu dieser bewundernswerten Wirklichkeit, die eine authentisch gelebte Gemeinschaft zeigt, kommt die Tatsache hinzu, dass sich die verschiedenen kirchlichen Jurisdiktionen auf fruchtbare Weise innerhalb desselben Territoriums überschneiden. In dieser Hinsicht ist die Kirche im Nahen Osten beispielhaft für die anderen Ortskirchen der restlichen Welt. Der Nahe Osten ist so gewissermaßen ein Labor, das schon die Zukunft der kirchlichen Situation vorwegnimmt. Diese Beispielhaftigkeit, die danach verlangt, vervollkommnet und unentwegt gereinigt zu werden, betrifft ebenso die vor Ort erworbene Erfahrung auf dem Gebiet der Ökumene.

Die Familie

58. Die Familie ist als auf die Ehe gründete göttliche Institution, wie sie vom Schöpfer selbst gewollt wurde (vgl. Gen 2,18-24; Mt 19,5), heute einigen Gefahren ausgesetzt. Besonders die christliche Familie ist mehr denn je mit der Frage nach ihrer eigentlichen Identität konfrontiert. Denn die Wesenseigenschaften der sakramentalen Ehe – Einheit und Unauflöslichkeit (vgl. Mt 19,6) – und das christliche Modell von Familie, Sexualität und Liebe werden in unseren Tagen von manchen Gläubigen, wenn nicht bestritten, so doch zumindest nicht verstanden. Es gibt die Versuchung, sich Modelle anzueignen, die dem Evangelium widersprechen, doch durch eine gewisse, auf der ganzen Welt verbreitete, zeitgenössische Kultur vermittelt werden. Die eheliche Liebe ist in den endgültigen Bund zwischen Gott und seinem Volk eingefügt, der im Kreuzesopfer vollständig besiegelt wurde. Ihr Merkmal der gegenseitigen Selbsthingabe bis zum Martyrium wird in manchen Ostkirchen deutlich, wo während der Hochzeitsfeier, die mit Fug und Recht „Feier der Krönung“ genannt wird, jeder der Verlobten den anderen als „Krone“ empfängt. Die eheliche Liebe ist nicht das Werk eines Augenblicks, sondern das geduldige Projekt eines ganzen Lebens. Die christliche Familie, die aufgerufen ist, täglich die Liebe in Christus zu leben, ist ein bevorzugtes Instrument der Gegenwart und der Sendung der Kirche in der Welt. In dieser Hinsicht braucht sie seelsorgliche Begleitung<ref>Vgl. ders., Apostolisches Schreiben über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute Familiaris consortio (22. November 1981): AAS 74 (1982), S. 81-191; Heiliger Stuhl, Charta der Familienrechte (22. Oktober 1983), Vatikanstadt 1983; Johannes Paul II., Brief an die Familien (2. Februar 1994): AAS 86 (1994), S. 868-925; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nrn. 209-254.</ref> und Unterstützung in ihren Problemen und Schwierigkeiten, besonders dort, wo die gesellschaftlichen, familiären und religiösen Bezugspunkte im Begriff sind, schwächer zu werden oder verloren zu gehen.<ref>Vgl. Propositio 35.</ref>

59. Ihr christlichen Familien im Nahen Osten, ich lade euch ein, euch immer durch die Kraft des Wortes Gottes und der Sakramente zu erneuern, um noch mehr Hauskirche zu sein, die zum Gebet und zum Glauben erzieht, wie auch Pflanzstätte von Berufungen, natürliche Schule der Tugenden und der sittlichen Werte, lebendige Grundzelle der Gesellschaft. Betrachtet stets die Familie von Nazareth,<ref>Vgl. Benedikt XVI., Homilie in der Messe auf dem „Mount Precipice“, Nazareth (14. Mai 2009): AAS 101 (2009), S. 478-482.</ref> welche die Freude hatte, das Leben zu empfangen und ihre Frömmigkeit durch die Einhaltung des Gesetzes und der religiösen Bräuche ihrer Zeit auszudrücken (vgl. Lk 2,22-24.41). Schaut auf diese Familie, die auch die Prüfung des Verlusts des jungen Jesus, den Schmerz der Verfolgung und der Auswanderung sowie die harte Alltagsarbeit erlebt hat (vgl. Mt 2,13ff; Lk 2,41ff). Helft euren Kindern, im Heranwachsen an Weisheit und Gnade zuzunehmen vor Gott und den Menschen (vgl. Lk 2,52); lehrt sie, Gottvater zu vertrauen, Christus nachzuahmen und sich vom Heiligen Geist führen zu lassen.

60. Nach diesen Überlegungen über die gemeinsame Würde und Berufung von Mann und Frau in der Ehe gehen meine Gedanken mit besonderer Aufmerksamkeit zu den Frauen im Nahen Osten. Der erste Schöpfungsbericht zeigt die ontologische Gleichheit von Mann und Frau (vgl. Gen 1,27-29). Diese Gleichheit ist durch die Folgen der Sünde verletzt (vgl. Gen 3,16; Mt 19,4). Dieses Erbe, das Frucht der Sünde ist, zu überwinden, ist für jeden Menschen, Mann oder Frau, eine Pflicht.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), 10: AAS 80 (1988), S. 1676-1677.</ref> Ich möchte allen Frauen versichern, dass die katholische Kirche in Treue zum göttlichen Plan die persönliche Würde der Frau und ihre Gleichheit mit dem Mann fördert angesichts der verschiedensten Formen von Diskriminierung, denen sie aufgrund der Tatsache ihres Frauseins unterworfen sind.<ref>Vgl. ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 49: AAS 81 (1989), S. 487.</ref> Ein derartiges Handeln verwundet das Leben der Gemeinschaft und des Zeugnisses. Es verletzt nicht nur die Frau schwer, sondern auch und vor allem Gott, den Schöpfer. In Anerkennung ihrer natürlichen Feinfühligkeit für die Liebe und den Schutz des menschlichen Lebens und in Wertschätzung ihres spezifischen Beitrags in der Erziehung, der Gesundheit, der humanitären Arbeit und des apostolischen Lebens bin ich der Ansicht, dass die Frauen sich für das öffentliche und kirchliche Leben stärker einsetzen und darin noch mehr einbezogen werden sollen.<ref>Vgl. ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Une espérance nouvelle pour le Liban (10. Mai 1997), 50: AAS 89 (1997), S. 355; Schlussbotschaft (22. Oktober 2010), 4.4: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 40 (2010), Nr. 44 (5. November 2010), S. 14; vgl. Propositio 27.</ref> So werden sie ihren eigenen Beitrag zum Aufbau einer brüderlicheren Gesellschaft und einer durch die wirkliche Gemeinschaft der Getauften noch schöneren Kirche leisten.

61. Ferner muss bei Rechtsstreitigkeiten, in denen sich Mann und Frau, vor allem in Ehefragen, leider gegenüberstehen, die Stimme der Frau gleich der des Mannes voll Respekt gehört und berücksichtigt werden, damit gewisse Ungerechtigkeiten ein Ende finden. In diesem Sinn muss eine bessere und gerechtere Anwendung des Kirchenrechts angeregt werden. Die Gerechtigkeit der Kirche muss auf allen Ebenen und in allen Bereichen, die sie berührt, vorbildlich sein. Man muss unbedingt darauf achten, dass Rechtsstreitigkeiten in Ehefragen nicht zum Glaubensabfall führen. Außerdem müssen die Christen in den Ländern der Region die Möglichkeit haben, im Bereich der Ehe und in anderen Bereichen ihr Recht ohne Einschränkung anwenden zu können.

Die Jugendlichen und die Kinder

62. Mit väterlicher Sorge grüße ich alle Kinder und Jugendlichen der Kirche im Nahen Osten. Ich denke an die Jugendlichen auf der Suche nach einem bleibenden menschlichen und christlichen Sinn ihres Lebens. Ich vergesse auch jene nicht, für die die Jugendzeit mit einer zunehmenden Entfernung von der Kirche einhergeht, was durch ein Aufgeben der religiösen Praxis zum Ausdruck kommt.

63. Ich lade euch, liebe Jugendliche, ein, durch die Kraft des Gebets ständig die wahre Freundschaft mit Jesus zu pflegen (vgl. Joh 15,13-15). Je fester sie ist, desto mehr wird sie euch als Leuchtturm dienen und euch vor Verwirrungen des Jugendalters schützen (vgl. Ps 25,7). Das persönliche Gebet wird durch den regelmäßigen Empfang der Sakramente stärker, die eine echte Begegnung mit Gott und mit den Brüdern in der Kirche ermöglichen. Fürchtet oder schämt euch nicht, die Freundschaft mit Jesus im Kreis der Familie und in der Öffentlichkeit zu bezeugen. Macht es immer im Respekt vor Andersgläubigen, Juden und Muslimen, mit denen ihr den Glauben an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und auch die großen menschlichen und spirituellen Ideale teilt. Fürchtet oder schämt euch nicht, Christen zu sein. Die Beziehung zu Jesus wird euch die innere Bereitschaft zu einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit mit euren Mitbürgern schenken, welcher Religion sie auch angehören, um die Zukunft eurer Länder auf die Menschenwürde zu bauen, die Quelle und das Fundament der Freiheit, der Gleichheit und des Friedens in Gerechtigkeit. In der Liebe zu Christus und zu seiner Kirche könnt ihr in der heutigen Zeit die Werte, die für eure volle Verwirklichung nützlich sind, von den Übeln, die langsam euer Leben vergiften, klug unterscheiden. Gebt acht, euch nicht durch den Materialismus und durch gewisse soziale Netzwerke verführen zu lassen, deren wahlloser Gebrauch die wahre Natur der menschlichen Beziehungen beeinträchtigen könnte. Die Kirche im Nahen Osten rechnet sehr mit eurem Gebet, eurem Enthusiasmus, eurer Kreativität, eurem Können und eurem ganzen Einsatz im Dienst für Christus, für die Kirche, für die Gesellschaft und vor allem für eure Altersgenossen.<ref>Vgl. Propositio 36.</ref> Zögert nicht, euch allen Initiativen anzuschließen, die euch helfen, euren Glauben zu stärken und dem besonderen Ruf, den der Herr an euch richtet, zu antworten. Zögert auch nicht, dem Ruf Christi zu folgen und das priesterliche, gottgeweihte oder missionarische Leben zu wählen.

64. Ist es nötig, liebe Kinder – ich richte mich jetzt an euch –, euch daran zu erinnern, dass ihr auf eurem Weg mit dem Herrn euren Eltern besondere Ehre schuldet (vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16)? Sie sind eure Erzieher im Glauben. Gott hat euch ihnen anvertraut als eine unermeßliche Gabe für die Welt, damit sie für eure Gesundheit, eure menschliche und christliche Erziehung und für eure intellektuelle Bildung Sorge tragen. Die Eltern, die Erzieher und Ausbilder und die öffentlichen Einrichtungen haben ihrerseits die Pflicht, die Rechte der Kinder vom Augenblick der Empfängnis an zu respektieren.<ref>Vgl. Propositio 27.</ref> Was euch betrifft, liebe Kinder, lernt schon jetzt den Gehorsam gegenüber Gott, indem ihr euren Eltern gehorcht, wie Jesus es als Kind getan hat (vgl. Lk 2,51). Lernt auch, in der Familie, in der Schule und überall als Christen zu leben. Der Herr vergißt euch nicht (vgl. Jes 49,15). Er geht immer an eurer Seite und möchte, dass ihr aufgeweckt, mutig und freundlich mit ihm geht (vgl. Tob 6,2). In allen Umständen lobt Gott, den Herrn, bittet ihn, eure Wege zu leiten und eure Pfade und eure Unternehmungen zum Ziel zu führen. Erinnert euch immer an seine Gebote und laßt sie euch nicht aus eurem Herzen reißen (vgl. Tob 4,19).

65. Ich möchte auch erneut auf die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen dringen, die von besonderer Bedeutung ist. Die christliche Familie ist der natürliche Ort der Entfaltung des Glaubens der Kinder und Jugendlichen, ihre erste Schule der Katechese. In diesen schwierigen Zeiten ist es nicht leicht, ein Kind oder einen Jugendlichen zu erziehen. Diese unersetzbare Aufgabe ist aufgrund der besonderen sozio-politischen und religiösen Situation, in der sich die Region befindet, noch komplexer geworden. Daher möchte ich den Eltern meine Unterstützung und mein Gebet versichern. Es ist wichtig, dass ein Kind in einer Familie aufwächst, die eins ist und ihren Glauben einfach und überzeugt lebt. Es ist für Kinder und Jugendliche wichtig, ihre Eltern beten zu sehen. Es ist wichtig, dass sie ihre Eltern zur Kirche begleiten und sehen und verstehen, dass sie Gott lieben und danach verlangen, ihn noch besser zu kennen. Es ist ebenfalls wichtig, dass Kinder und Jugendliche die Liebe ihrer Eltern gegenüber dem Nächsten, der wirklich in Not ist, sehen. So verstehen sie, dass es gut und schön ist, Gott zu lieben, und sie werden gerne in der Kirche sein und stolz darauf sein, weil sie von innen her verstanden und erfahren haben, wer der wahre Fels ist, auf den sie ihr Leben bauen (vgl. Mt 7,24-27; Lk 6,48). Den Kindern und Jugendlichen, die diese Chance nicht haben, wünsche ich, auf ihrem Weg echte Zeugen zu finden, die ihnen helfen, Christus zu begegnen und die Freude zu entdecken, sich in seine Nachfolge zu begeben.

Dritter Teil: „Wir … verkündigen Christus als den Gekreuzigten … Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,23-24)

66. Das christliche Zeugnis, die erste Missionsform, gehört zur ursprünglichen Berufung der Kirche und wird in der Treue zu dem von Jesus, dem Herrn, empfangenen Auftrag erfüllt: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). Wenn sie Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündigt (vgl. Apg 2,23-24), wird die Kirche immer mehr das, was sie von ihrem Wesen und ihrer Berufung her schon ist: Sakrament der Gemeinschaft und der Versöhnung mit Gott und unter den Menschen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 1.</ref> Gemeinschaft und Zeugnis für Christus sind also die beiden Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, denn das eine wie das andere schöpfen aus der gleichen Quelle, der Heiligen Dreifaltigkeit, und ruhen auf denselben Fundamenten: auf dem Wort Gottes und den Sakramenten.

67. Diese geben den anderen Gottesdiensthandlungen Nahrung und machen sie authentisch ebenso wie die Andachtsübungen der Volksfrömmigkeit. Die Stärkung des geistlichen Lebens lässt die Liebe wachsen und führt naturgemäß zum Zeugnis. Der Christ ist vor allem ein Zeuge. Und um den Ansprüchen unserer Zeitgenossen genügen zu können, verlangt das Zeugnis nicht nur eine christliche Bildung, die der Verständlichkeit der Glaubenswahrheiten angemessen ist, sondern auch die Kohärenz eines Lebens, das mit ebendiesem Glauben übereinstimmt.

Das Wort Gottes, Seele und Quelle der Gemeinschaft und des Zeugnisses

68. „Sie hielten an der Lehre der Apostel fest“ (Apg 2,42). Durch diese Aussage macht der heilige Lukas die erste Gemeinde zum Prototyp der apostolischen Kirche, d. h. der Kirche, die auf die von Christus erwählten Apostel und ihre Lehre gegründet ist. Die Hauptaufgabe der Kirche, die sie von Christus selber erhält, ist, das apostolische Glaubensgut, das Fundament ihrer Einheit, unversehrt zu bewahren (vgl. 1 Tim 6,20) und diesen Glauben der ganzen Welt zu verkünden. Die Lehre der Apostel hat die Beziehung der Kirche zu den Schriften des Ersten Bundes, die in der Person Jesu Christi ihre Erfüllung finden, deutlich dargestellt (vgl. Lk 24,44-53).

69. Wenn man das Geheimnis der Kirche als Gemeinschaft und Zeugnis im Licht dieser Schriften, des großen Buches des Bundes zwischen Gott und seinem Volk (vgl. Ex 24,7), meditiert, wird man zu der Erkenntnis Gottes als „Licht für den Pfad“ (vgl. Ps 119,105) geführt, das den „Fuß nicht wanken“ lässt (Ps 121,3).<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini (30. September 2010), 24: AAS 102 (2010), S. 704.</ref> Mögen die Gläubigen, die Erben dieses Bundes, die Wahrheit immer in der gesamten Schrift suchen, die von Gott eingegeben ist (vgl. 2 Tim 3,16-17). Sie ist nicht Objekt historischen Interesses, sondern „Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können“,<ref>Ebd., Nr. 19: AAS 102 (2010), S. 701.</ref> in unserer menschlichen Geschichte.

70. Die exegetischen Schulen von Alexandrien, von Antiochien, von Edessa oder von Nisibis haben im 4. und 5. Jahrhundert stark zum Verständnis und zur dogmatischen Formulierung des christlichen Mysteriums beigetragen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref> Die ganze Kirche ist ihnen dafür dankbar. Die Anhänger der verschiedenen Strömungen der Textinterpretation einigten sich über traditionelle exegetische Grundsätze, die von den Kirchen des Ostens und des Westens gemeinhin anerkannt werden. Der wichtigste ist der Glaube, dass Jesus Christus die innere Einheit der beiden Testamente und folglich die Einheit von Gottes Heilsplan in der Geschichte verkörpert (vgl. Mt 5,17). Die Jünger haben erst nach der Auferstehung, als Jesus verherrlicht worden war (vgl. Joh 12,16), begonnen, diese Einheit zu begreifen. Danach kommt die Treue zu einer typologischen Lesart der Bibel, der zufolge gewisse Tatsachen des Alten Testaments eine Präfiguration (Typus und Bild) der Wirklichkeiten des Neuen Bundes in Jesus Christus sind; er ist der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Bibel (vgl. 1 Kor 15,22.45-47; Hebr 8,6-7). Die liturgischen und geistlichen Texte der Kirche bezeugen die Fortdauer dieser beiden Interpretationsprinzipien, die die kirchliche Feier des Wortes Gottes strukturieren und das christliche Zeugnis inspirieren. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dazu weiter klargestellt, dass man, um den richtigen Sinn der heiligen Texte zu entdecken, auf den Inhalt und auf die Einheit der ganzen Schrift achten muss, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens.<ref>Vgl. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 12.</ref> Aus der Sicht eines kirchlichen Zugangs zur Bibel wird eine individuelle wie auch eine in der Gruppe durchgeführte Lektüre des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens Verbum Domini sehr nützlich sein.

71. Die christliche Präsenz in den biblischen Ländern des Nahen Ostens ist weit mehr als eine soziologische Zugehörigkeit oder ein bloßer wirtschaftlicher und kultureller Erfolg. Wenn sie in der Nachfolge der ersten Jünger, die Jesus wählte, um sie als seine Gefährten bei sich zu haben und um sie zur Verkündigung auszusenden (vgl. Mk 3,14), den Elan des Ursprungs wiederfindet, wird die christliche Präsenz einen neuen Anlauf nehmen. Damit das Wort Gottes die Seele und das Fundament des christlichen Lebens sei, soll die Verbreitung der Bibel in den Familien die tägliche Lektüre und Meditation des Wortes Gottes (lectio divina) begünstigen. Es geht darum, in geeigneter Weise eine wirkliche biblische Pastoral 
einzurichten.

72. Die modernen Kommunikationsmittel können ein passendes Instrument zur Verkündigung des Wortes Gottes sein und seine Lektüre und Meditation fördern. Eine einfache und verständliche Erklärung der Bibel wird dazu beitragen, Vorurteile oder falsche Vorstellungen über sie, die nutzlose und beschämende Kontroversen schüren, gründlich zu zerstreuen.<ref>Vgl. Propositio 2.</ref> In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, die notwendige Unterscheidung zwischen Inspiration und Offenbarung mit einzubeziehen, denn die nicht eindeutige Auffassung dieser beiden Begriffe in der Vorstellung vieler verfälscht ihr Verständnis der heiligen Texte, was für die Zukunft des interreligiösen Dialogs nicht ohne Auswirkung bleibt. Diese Mittel können auch für die Verbreitung der Lehre der Kirche hilfreich sein.

73. Damit diese Ziele erreicht werden, sollte man die bereits bestehenden Kommunikationsmittel unterstützen oder die Entwicklung neuer geeigneter Strukturen fördern. Die Ausbildung von Personal, das auf diesem nicht nur unter technischem, sondern auch unter dogmatischem und ethischem Aspekt neuralgischen Gebiet spezialisiert ist, wird immer dringlicher, besonders im Hinblick auf die Evangelisierung.

74. Doch gleich welcher Platz den eingesetzten sozialen Kommunikationsmitteln eingeräumt wird, dürfen sie nicht die Meditation des Wortes Gottes, seine Verinnerlichung und seine Anwendung im Hinblick auf die Beantwortung der Fragen der Gläubigen ersetzen. So wird in ihnen eine Vertrautheit mit der Schrift wachsen, sie werden nach Spiritualität suchen und sie vertiefen, und sie werden sich für das Apostolat und die Mission einsetzen.<ref>Vgl. ebd.</ref> Entsprechend den pastoralen Bedingungen eines jeden Landes der Region könnte eventuell ein Jahr der Bibel ausgerufen und, wenn es angebracht erscheint, im Anschluß daran eine jährliche Bibelwoche durchgeführt werden.<ref>Vgl. Propositio 3.</ref>

Die Liturgie und das sakramentale Leben

75. Die ganze Geschichte hindurch ist die Liturgie für die Gläubigen des Nahen Ostens ein wesentliches Element geistlicher Einheit und der Gemeinschaft gewesen. Tatsächlich bezeugt die Liturgie in vorzüglicher Weise die Überlieferung der Apostel, die in den besonderen Traditionen der Kirchen des Ostens und des Westens fortgesetzt und entfaltet worden ist. Eine Erneuerung der liturgischen Texte und Feiern dort vorzunehmen, wo es nötig ist, könnte den Gläubigen erlauben, sich die Tradition sowie den biblischen und patristischen, theologischen und spirituellen Reichtum<ref>Vgl. Propositio 39.</ref> der Liturgien in der Erfahrung des Mysteriums, in das diese einführen, besser zu eigen zu machen. Eine solche Unternehmung muss natürlich so weit wie möglich in Zusammenarbeit mit den Kirchen durchgeführt werden, die nicht in voller Gemeinschaft stehen, aber gemeinsam Hüter derselben liturgischen Traditionen sind. Die erwünschte liturgische Erneuerung muss auf das Wort Gottes, auf die jeder Kirche eigene Tradition und auf die neuen christlichen Errungenschaften auf den Gebieten der Theologie und der Anthropologie gegründet sein. Sie wird Frucht bringen, wenn die Christen zu der Überzeugung kommen, dass das sakramentale Leben sie tief in das neue Leben in Christus einführt (vgl. Röm 6,1-6; 2 Kor 5,17), das die Quelle von Gemeinschaft und Zeugnis ist.

76. Ein wesentliches Band besteht zwischen der Liturgie, die Quelle und Höhepunkt des Lebens der Kirche ist und die Einheit des Episkopats wie der Weltkirche begründet, und dem Petrusdienst, der diese Einheit erhält. Die Liturgie drückt diese Wirklichkeit vor allem während der Eucharistie aus, die in Einheit nicht nur mit dem Bischof, sondern als erstes mit dem Papst, dem Episkopat, dem gesamten Klerus und mit dem ganzen Volk Gottes gefeiert wird.

77. Durch das Sakrament der Taufe, die im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit gespendet wird, treten wir in die Gemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein und werden Christus gleichgestaltet, um ein neues Leben zu führen (vgl. Röm 6,11-14; Kol 2,12), ein Leben des Glaubens und der Umkehr (vgl. Mk 16,15-16; Apg 2,38). Die Taufe fügt uns auch in den Leib Christi, die Kirche, ein, die ein Keim und eine Vorwegnahme der in Christus versöhnten Menschheit ist (vgl. 2 Kor 5,19). Da sich die Getauften in Gemeinschaft mit Gott befinden, sind sie aufgerufen, hier und jetzt untereinander in geschwisterlicher Gemeinschaft zu leben und eine echte Solidarität mit den anderen Gliedern der Menschheitsfamilie zu entwickeln, ohne Diskriminierung z. B. aufgrund der Ethnie und der Religion. In diesem Zusammenhang sollte man dafür sorgen, dass die Vorbereitung der Jugendlichen und der Erwachsenen auf die Sakramente mit äußerster Gründlichkeit und über einen nicht zu kurzen Zeitraum hin geschieht.

78. Die katholische Kirche sieht in der gültig gespendeten Taufe „ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind“.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 22.</ref> Möge eine ökumenische Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Taufe zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen, mit denen sie einen theologischen Dialog führt, unverzüglich zustande kommen, um in der Folge die volle Gemeinschaft im apostolischen Glauben wiederherstellen zu können! Die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft und des christlichen Zeugnisses im Nahen Osten hängt zum Teil davon ab.

79. Die Eucharistie, in der die Kirche das große Mysterium des Todes und der Auferstehung Jesu Christi für das Heil der vielen feiert, begründet die kirchliche Gemeinschaft und führt sie zur Vollendung. Der heilige Paulus hat das in wunderbarer Weise zu einem ekklesiologischen Grundsatz erhoben, indem er sagt: „Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10,17). Da die Kirche Christi in ihrer Mission unter dem Drama der Spaltungen und der Trennungen leidet und nicht wünscht, dass die Zusammenkunft ihrer Glieder ihnen zum Gericht wird (vgl. 1 Kor 11,17-34), hofft sie inständig, dass der Tag nahe ist, an dem alle Christen endlich gemeinsam in der Einheit eines einzigen Leibes an dem einen Brot teilhaben können.

80. In der Feier der Eucharistie macht die Kirche auch die tägliche Erfahrung der Gemeinschaft ihrer Glieder im Hinblick auf das tägliche Zeugnis in der Gesellschaft; diese Erfahrung stellt eine wesentliche Dimension der christlichen Hoffnung dar. So wird sich die Kirche der inneren Einheit von eschatologischer Hoffnung und Engagement in der Welt bewusst, wenn sie das Gedächtnis der gesamten Heilsökonomie feiert – von der Inkarnation bis zur Parusie. Diese Einsicht könnte noch mehr vertieft werden in einer Zeit, in der die eschatologische Dimension des Glaubens verblaßt ist und der christliche Sinn der Geschichte als Weg zur Vollendung in Gott von Projekten überdeckt wird, die auf den rein menschlichen Horizont beschränkt bleiben. Als Pilger auf dem Weg zu Gott und in der Nachfolge unzähliger Einsiedler und Mönche, die als Suchende nach dem Absoluten Ausschau hielten, werden die Christen im Nahen Osten in der Eucharistie die Kraft und das Licht zu finden wissen, die nötig sind, um – oft gegen den Strom und trotz zahlloser Beschränkungen – das Evangelium zu bezeugen. Sie werden sich auf die Fürsprache der Gerechten, der Heiligen, der Märtyrer und der Bekenner sowie all jener stützen, die dem Herrn wohlgefällig sind, wie unsere Liturgien des Ostens und des Westen sie besingen.

81. Das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung, für das ich gemeinsam mit allen Synodenvätern eine Erneuerung im Verständnis und in der Praxis der Gläubigen wünsche, ist eine Einladung zur Umkehr des Herzens.<ref>Vgl. Propositio 37.</ref> In der Tat fordert Christus klar und deutlich: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst … geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder“ (Mt 5,23-24). Die sakramentale Umkehr ist ein Geschenk, das verlangt, besser angenommen und praktiziert zu werden. Das Sakrament der Vergebung und der Versöhnung schenkt gewiß den Nachlaß der Sünden, aber es heilt auch. Eine häufigere Praxis fördert unweigerlich die Gewissensbildung und die Versöhnung und hilft zugleich, die verschiedenen Ängste zu überwinden und die Gewalt zu bekämpfen. Denn Gott allein schenkt den wahren Frieden (vgl. Joh 14,27). In diesem Sinne ermahne ich die Hirten und die ihnen anvertrauten Gläubigen, unablässig das individuelle und das kollektive Gedächtnis zu reinigen und durch die gegenseitige Akzeptanz und die Zusammenarbeit mit Menschen guten Willens das Denken von Vorurteilen zu befreien. Ich rufe sie ebenfalls auf, alle Initiativen für Frieden und Versöhnung zu fördern, selbst inmitten von Verfolgungen, um wahre Jünger Christi gemäß dem Geist der Seligpreisungen zu werden (vgl. Mt 5,3-12). Die „rechtschaffene Lebensführung“ (vgl. 1 Petr 3,16) muss durch ihre Vorbildlichkeit der „Sauerteig“ werden, der die gesamte Menschheit verwandelt (vgl. Lk 13,20-21), denn diese Rechtschaffenheit gründet sich auf Christus, der zur Vollkommenheit einlädt (vgl. Mt 5,48; Jak 1,4; 1 Petr 1,16).

Das Gebet und die Wallfahrten

82. Die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten hat mit Nachdruck die Notwendigkeit des Gebetes im Leben der Kirche unterstrichen, damit sie sich von ihrem Herrn verwandeln lässt und jeder Gläubige dazu bereit ist, dass Christus in ihm lebt (vgl. Gal 2,20). Wie nämlich Jesus selbst es gezeigt hat, als er sich in den entscheidenden Momenten seines Lebens zum Gebet zurückzog, findet die Wirksamkeit der missionarischen Verkündigung und folglich des Zeugnisses ihre Quelle im Gebet. Wenn der Gläubige sich dem Wirken des Geistes Gottes öffnet, lässt er mit seinem persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet den Reichtum der Liebe und das Licht der Hoffnung, die er in sich trägt (vgl. Röm 5,5), in die Welt dringen. Möge das Verlangen nach dem Gebet bei den Hirten des Gottesvolkes und bei den Gläubigen wachsen, damit die Betrachtung des Angesichtes Christi immer mehr ihr Zeugnis und ihre Taten inspiriere! Jesus hat seinen Jüngern empfohlen, ohne Unterlaß zu beten und nicht den Mut zu verlieren (vgl. Lk 18,1). Die durch Egoismus, Ungerechtigkeit oder Machtstreben verursachten schmerzlichen menschlichen Situationen können Überdruß und Mutlosigkeit erzeugen. Darum empfiehlt Jesus, beharrlich zu beten. Es ist das wahre „Offenbarungszelt“ (vgl. Ex 40,34), der bevorzugte Ort der Gemeinschaft mit Gott und mit den Menschen. Vergessen wir nicht die Bedeutung des Namens des Kindes, dessen Geburt durch Jesaja angekündigt wurde und das das Heil bringt: Immanuel, „Gott mit uns“ (vgl. Jes 7,14; Mt 1,23). Jesus ist unser Immanuel, der wahre Gott mit uns. Rufen wir ihn inständig an!

83. Als Land der biblischen Offenbarung ist der Nahe Osten sehr bald ein bevorzugtes Wallfahrtsziel für viele Christen geworden, die aus aller Welt kamen, um ihren Glauben zu festigen und eine zutiefst geistliche Erfahrung zu machen. Es handelte sich damals um einen Weg der Buße, der einem authentischen Durst nach Gott entsprach. Die heutigen biblischen Pilgerreisen müssen zu dieser anfänglichen inneren Einstellung zurückkehren. Wenn die Wallfahrt zu den heiligen und apostolischen Stätten in einer Haltung der Buße und Umkehr und in der Suche nach Gott den Schritten Christi und der Apostel in der Geschichte nachgeht, kann sie, wenn sie im Glauben und mit innerer Tiefe erlebt wird, eine authentische Nachfolge Christi sein. In zweiter Linie erlaubt sie den Gläubigen auch, noch mehr den sichtbaren Reichtum der biblischen Geschichte in sich aufzunehmen, der ihnen die großen Momente der Heilsökonomie vor Augen führt. Mit der biblischen Pilgerreise sollte man auch die Wallfahrt zu den Heiligtümern der Märtyrer und der Heiligen verbinden, in denen die Kirche Christus, die Quelle ihres Martyriums und ihrer Heiligkeit, verehrt.

84. Sicher, die Kirche lebt in der wachsamen und zuversichtlichen Erwartung der endgültigen Ankunft des Bräutigams (vgl. Mt 25,1-13).  Ihrem Meister folgend erinnert sie daran, dass die wahre Anbetung im Geist und in der Wahrheit geschieht und nicht auf einen heiligen Ort begrenzt ist, gleich welche symbolische und religiöse Bedeutung er im Bewußtsein der Gläubigen haben mag (vgl. Joh 4,21.23). Dennoch empfindet die Kirche und in ihr jeder Getaufte das legitime Bedürfnis einer Rückkehr zu den Quellen. An den Orten, wo die Heilsereignisse stattgefunden haben, kann jeder Pilger einen Weg der Umkehr zu seinem Herrn beschreiten und neue Kraft finden. Ich hoffe, dass die Gläubigen des Nahen Ostens selber zu diesen durch den Herrn selbst geheiligten Orten pilgern können und uneingeschränkt freien Zugang zu den heiligen Stätten haben. Außerdem werden die Wallfahrten an diese Orte die Christen nicht-östlicher Tradition den liturgischen und spirituellen Reichtum der orientalischen Kirchen entdecken lassen. Sie werden auch dazu beitragen, die christlichen Gemeinden zu unterstützen und zu ermutigen, treu und tapfer auf diesem gesegneten Boden zu bleiben.

Evangelisierung und Nächstenliebe: Auftrag der Kirche

85. Die Weitergabe des christlichen Glaubens ist für die Kirche ein wesentlicher Auftrag. Um besser auf die Herausforderungen der Welt von heute zu reagieren, habe ich die Gesamtheit der Gläubigen der Kirche zu einer neuen Evangelisierung aufgerufen. Damit sie Frucht bringt, muss sie treu im Glauben an Jesus Christus verharren. „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ (1 Kor 9,16), rief der heilige Paulus aus. In der derzeitigen im Wandel begriffenen Lage möchte diese Neuevangelisierung dem Gläubigen bewusst machen, dass sein Lebenszeugnis<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini (30. September 2010), 97: AAS 102 (2010), S. 767-768.</ref> seinem Wort Kraft verleiht, wenn er es wagt, offen und mutig von Gott zu sprechen, um die Frohe Botschaft vom Heil zu verkünden. Mit der Weltkirche ist auch die Gesamtheit der katholischen Kirche im Nahen Osten eingeladen, sich in dieser Evangelisierung zu engagieren, wobei sie umsichtig den kulturellen und sozialen Kontext berücksichtigen und in der Lage sein muss, seine Erwartungen und seine Grenzen zu erkennen. Es ist vor allem ein Aufruf, durch die Begegnung mit Christus sich selber neu evangelisieren zu lassen, ein Aufruf, der sich an die ganze kirchliche Gemeinschaft wie an jedes ihrer Glieder richtet. Denn „schließlich“ – wie Papst Paul VI. in Erinnerung rief – „wird derjenige, der evangelisiert worden ist, auch seinerseits wieder evangelisieren. Dies ist der Wahrheitstest, die Probe der Echtheit der Evangelisierung: Es ist undenkbar, dass ein Mensch das Wort Gottes annimmt und in das Himmelreich eintritt, ohne auch von sich aus Zeugnis zu geben und dieses Wort zu verkünden.“<ref>Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 24: AAS 68 (1976), S. 21.</ref>

86. Die Vertiefung des theologischen und pastoralen Sinns dieser Evangelisierung ist eine wichtige Aufgabe, um „das unschätzbare Geschenk zu teilen, das Gott uns machen wollte, indem er uns an seinem eigenen Leben teilhaben ließ.“<ref>Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben in Form eines „Motu proprio“ Ubicumque et semper (21. September 2010): AAS 102 (2010), S. 791.</ref> Eine solche Reflexion muss auf die beiden Dimensionen hin offen sein, die innerer Bestandteil der ganz eigenen Berufung und Sendung der katholischen Kirche im Nahen Osten sind: die ökumenische und die interreligiöse Dimension.

87. Seit mehreren Jahren sind im Nahen Osten die kirchlichen Bewegungen und die neuen Gemeinschaften präsent. Sie sind ein Geschenk des Geistes an unsere Zeit. Wenn man den Geist nicht auslöschen darf (vgl. 1 Thess 5,19), ist es jedoch Pflicht eines jeden und jeder Gemeinschaft, das eigene Charisma in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen (vgl. 1 Kor 12,7). Die katholische Kirche im Nahen Osten freut sich über das Zeugnis des Glaubens und des brüderlichen Miteinanders jener Gemeinschaften, in denen sich Christen mehrerer Kirchen ohne Vermengung oder Proselytismus zusammenfinden. Ich ermutige die Mitglieder dieser Bewegungen und Gemeinschaften, in Einheit mit dem Ortsbischof und in Übereinstimmung mit den pastoralen Vorschriften sowie unter Berücksichtigung der Geschichte, der Liturgie, der Spiritualität und der Kultur der Ortskirche Verbindendes aufzubauen und Zeugen des Friedens zu sein, der von Gott kommt.<ref>Vgl. Propositio 17.</ref> So werden sie ihre großherzige Hingabe sowie ihren Wunsch, der Ortskirche und der Weltkirche zu dienen, zeigen. Schließlich wird ihre gute Einbindung die Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit ausdrücken und der Neuevangelisierung hilfreich sein.

88. Als Erbin eines apostolischen Elans, der die Frohe Botschaft in ferne Länder getragen hat, ist jede der im Nahen Osten ansässigen katholischen Kirchen auch eingeladen, ihren missionarischen Geist zu erneuern; und zwar durch die Ausbildung und die Aussendung von Männern und Frauen, die auf ihren Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Christus stolz sind und in der Lage, mutig das Evangelium sowohl in der Region wie in Gebieten der Diaspora oder auch in anderen Ländern der Welt zu verkünden.<ref>Vgl. Propositio 34.</ref> Das Jahr des Glaubens, das im Zusammenhang mit der Neuevangelisierung steht, wird, wenn es mit starker Überzeugung gelebt wird, ein hervorragender Anreiz sein, eine innere Evangelisierung der Kirchen der Region zu fördern und das christliche Zeugnis zu festigen. Den gestorbenen und auferstandenen Sohn Gottes, den alleinigen und einzigen Retter aller, bekannt zu machen, ist eine grundlegende Pflicht der Kirche und eine gebotene Verantwortung für jeden Getauften. „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Angesichts dieser dringenden und anspruchsvollen Aufgabe und in einer multikulturellen wie multireligiösen Umgebung kann die Kirche auf den Beistand des Heiligen Geistes – ein Geschenk des auferstandenen Herrn, der die Seinen weiter unterstützt – zurückgreifen und auf den Schatz der großen spirituellen Traditionen, die helfen, Gott zu suchen. Ich ermutige die kirchlichen Gebiete, die Ordensinstitute und die Bewegungen, einen authentischen missionarischen Schwung zu entwickeln, der für sie ein Unterpfand spiritueller Erneuerung sein wird. Für diese Aufgabe kann sich die katholische Kirche im Nahen Osten auf die Unterstützung der Weltkirche verlassen.

89. Seit langer Zeit wirkt die katholische Kirche im Nahen Osten durch ein Netz von Bildungseinrichtungen und sozialen wie karitativen Institutionen. Sie macht sich den Aufruf Jesu zu eigen: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Sie begleitet die Verkündigung des Evangeliums mit Werken der Nächstenliebe, gemäß dem Wesen der christlichen Liebe selbst, als Antwort auf die unmittelbaren Bedürfnisse aller, gleich welcher Religion und unabhängig von Parteien und Ideologien, in der einzigen Absicht, auf Erden die Liebe Gottes zu den Menschen zu leben.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 31: AAS 98 (2006), S. 243-245.</ref> Durch das Zeugnis der Liebe leistet die Kirche ihren Beitrag zum Leben der Gesellschaft und wünscht sich, zum Frieden beizusteuern, den die Region so nötig hat.

90. Jesus Christus hat sich zum Nächsten der Schwächsten gemacht. Nach seinem Beispiel, widmet sich die Kirche der Aufnahme von Kindern in Entbindungsstationen und Waisenhäusern und arbeitet im Dienst der Aufnahme von Armen, Behinderten, Kranken und allen Bedürftigen, damit sie immer besser in die menschliche Gemeinschaft eingebunden werden. Die Kirche glaubt an die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen, und sie betet Gott, den Schöpfer und Vater, an, wenn sie seinem Geschöpf in materieller wie in spiritueller Not dient. Um Jesu willen, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, erfüllt die Kirche ihren Dienst der Tröstung, der nichts anderes will, als die Liebe Gottes zur Menschheit widerzuspiegeln. Ich möchte an dieser Stelle meine Bewunderung und meinen Dank all denen zum Ausdruck bringen, die ihr Leben diesem edlen Ideal widmen, und ihnen versichern, dass Gott ihnen seinen Segen schenkt.

91. Die katholischen Bildungszentren, Schulen, Hochschulen und Universitäten des Nahen Ostens sind zahlreich. Die Ordensleute und die Laien, die dort arbeiten, leisten eine eindrucksvolle Arbeit, die ich sehr begrüße und unterstütze. Weit entfernt von jeglichem Proselytismus nehmen diese katholischen Bildungseinrichtungen Schüler oder Studenten anderer Kirchen und anderer Religionen auf.<ref>Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung (3. Dezember 2007), 12, Anmerkung 49 zum Proselytismus: AAS 100 (2008), S. 502.</ref> Da sie unschätzbare kulturelle Mittel zur Bewußtseinsbildung der Jugendlichen sind, beweisen sie in aller Deutlichkeit, dass es im Nahen Osten möglich ist, durch eine Erziehung zur Toleranz und ein ständiges Bemühen um Menschlichkeit in gegenseitiger Achtung zu leben und zusammenzuarbeiten. Aufmerksam begegnen sie auch den örtlichen Kulturen, die sie fördern möchten, indem sie die in ihnen enthaltenen positiven Elemente unterstreichen. Eine große Solidarität unter den Eltern, den Studenten, den Universitäten wie auch unter den Eparchien und Diözesen, einschließlich der Hilfe von Sozialkassen, wird es ermöglichen, allen den Zugang zur Bildung zu gewährleisten, vor allem denen, die nicht die nötigen finanziellen Mittel besitzen. Die Kirche bittet auch die verschiedenen politisch Verantwortlichen, diese Einrichtungen zu unterstützen, die durch ihre Aktivität konkret und wirkungsvoll zum Gemeinwohl beitragen und am Aufbau und der Zukunft verschiedener Nationen mitwirken.<ref>Vgl. Propositio 32.</ref>

Die Katechese und die christliche Erziehung

92. Der heilige Petrus erinnert in seinem ersten Brief: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig“ (3,15-16). Die Getauften haben das Geschenk des Glaubens erhalten. Er inspiriert ihr ganzes Leben und bringt sie dazu, feinfühlig und respektvoll gegenüber den anderen, aber auch freimütig und furchtlos darüber Rechenschaft abzulegen (vgl. Apg 4,29ff). Sie sollen auch in angemessener Weise auf die Feier der heiligen Mysterien vorbereitet, in die Kenntnis der offenbarten Lehre eingeführt und zu einem kohärenten täglichen Leben und Handeln aufgerufen werden. Diese Erziehung der Gläubigen wird vor allem durch die Katechese sichergestellt, so weit wie möglich in brüderlicher Zusammenarbeit unter den verschiedenen Kirchen.

93. Die Liturgie und an erster Stelle die Feier der Eucharistie ist eine Glaubensschule, die zum Zeugnis führt. Das in geeigneter Weise verkündete Wort Gottes muss die Gläubigen dazu führen, seine Gegenwart und seine Wirksamkeit in ihrem Leben und in dem der Menschen von heute zu entdecken. Der Katechismus der Katholischen Kirche ist eine notwendige Grundlage. Wie ich bereits sagte, muss seine Lektüre und die Unterweisung in seiner Lehre ebenso wie eine konkrete Einführung in die Soziallehre der Kirche gefördert werden, die bekanntlich im Kompendium der Soziallehre der Kirche und in den großen Dokumenten des Päpstlichen Lehramtes formuliert worden ist.<ref>Vgl. Propositio 30.</ref> Die Realität des kirchlichen Lebens im Nahen Osten und die gegenseitige Unterstützung in der Diakonie der Liebe werden dieser Erziehung die Möglichkeit einer ökumenischen Dimension verschaffen, gemäß der Besonderheit der Orte und in Übereinstimmung mit den jeweiligen kirchlichen Autoritäten.

94. Außerdem wird das Engagement der Christen in der Kirche und in den zivilen Einrichtungen durch eine solide geistliche Bildung gestärkt werden. Es erscheint notwendig, den Gläubigen – vor allem denen, die in den östlichen Traditionen leben, und vornehmlich aufgrund der Geschichte ihrer Kirchen – den Zugang zu den Schätzen der Kirchenväter und der geistlichen Lehrer zu erleichtern. Ich lade die Synoden und die anderen bischöflichen Einrichtungen ein, ernsthaft über die schrittweise Verwirklichung dieses Wunsches und die nötige Aktualisierung der Lehre der Kirchenväter nachzudenken, welche die biblische Schulung ergänzen wird. Das schließt ein, dass an erster Stelle die Priester, die gottgeweihten Personen und die Seminaristen oder Novizen aus diesen Schätzen schöpfen, um ihr persönliches Glaubensleben zu vertiefen, damit sie dann diese Schätze sicher mit anderen teilen können. Die Unterweisungen der geistlichen Lehrer des Ostens und des Westens sowie die der Heiligen werden denen, die wirklich nach Gott suchen, hilfreich sein.

Schluss

95. „Fürchte dich nicht, du kleine Herde!“ (Lk 12,32). Mit diesen Worten Christi möchte ich alle Hirten und die gläubigen Christen im Nahen Osten ermutigen, furchtlos die Flamme der göttlichen Liebe in der Kirche und in ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld lebendig zu erhalten. Auf diese Weise werden sie das Wesen und die Sendung der Kirche so, wie Christus sie gewollt hat, unversehrt bewahren. Auf diese Weise werden auch die legitimen und historischen Unterschiede die Gemeinschaft unter den Getauften sowie mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus, dessen Blut von aller Sünde reinigt (vgl. 1 Joh 1,3.6-7), bereichern. Zu Beginn der Christenheit schrieb der heilige Petrus als Apostel Jesu Christi seinen ersten Brief an einige gläubige Gemeinden Kleinasiens, die sich in Schwierigkeiten befanden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war es gut, dass sich um den Nachfolger Petri Hirten und Gläubige des Nahen Ostens und aus anderen Orten zur Synode versammelten, um gemeinsam zu beten und nachzudenken. Der apostolische Anspruch und die Vielschichtigkeit des Augenblicks laden zum Gebet und zur pastoralen Rührigkeit ein. Die Dringlichkeit der Stunde und die Ungerechtigkeit so vieler dramatischer Situationen erfordern in einer relecture des Ersten Petrusbriefes, dass man sich zusammenfindet, um gemeinsam den gestorbenen und auferstandenen Christus zu bezeugen. Dieses Zusammensein, diese von unserem Herrn und Gott gewollte Gemeinschaft, ist nötiger denn je. Schieben wir alles beiseite, was Ursache – auch berechtigter – Unzufriedenheit zu sein scheint, um uns einmütig auf das einzig Notwendige zu konzentrieren: im einzigen Sohn alle Menschen und das ganze Universum zu vereinen (vgl. Röm 8,29; Eph 1,5.10).

96. Christus hat Petrus die besondere Aufgabe anvertraut, seine Schafe zu weiden (vgl. Joh 21,15-17), und auf ihn hat er seine Kirche gebaut (vgl. Mt 16,18). Als Nachfolger Petri vergesse ich die Nöte und Leiden der Gläubigen Christi – und vor allem derer, die im Nahen Osten leben – nicht. Der Papst ist ihnen im Geist besonders verbunden. Das ist der Grund, warum ich die politisch und religiös Verantwortlichen der Gesellschaften im Namen Gottes bitte, nicht nur die Leiden zu lindern, sondern die Ursachen, die sie hervorrufen, zu beseitigen. Ich bitte sie, alles zu tun, damit endlich der Friede herrsche.

97. Der Papst vergißt auch nicht, dass die Kirche – die Heilige Stadt, das himmlische Jerusalem –, deren Eckstein Christus ist (vgl. 1 Petr 2,4.7) und die auf Erden zu hüten er selbst den Auftrag erhalten hat, auf Fundamenten aus verschiedenen farbigen und kostbaren Edelsteinen aufgebaut ist (vgl. Offb 21,14.19-20). Die altehrwürdigen orientalischen Kirchen und die Kirche lateinischen Ritus’ sind diese glänzenden Juwelen, die verblassen in der Anbetung vor dem „Strom, dem Wasser des Lebens, klar wie Kristall, der vom Thron Gottes und des Lammes ausgeht“ (vgl. Offb 22,1).

98. Um den Menschen zu ermöglichen, dass sie das Angesicht Gottes und seinen auf ihre Stirn geschriebenen Namen (vgl. Offb 22,4) schauen, lade ich die Gesamtheit der katholischen Gläubigen ein, sich vom Geist Gottes leiten zu lassen, um untereinander die Gemeinschaft noch mehr zu festigen und sie in einer einfachen und frohen Brüderlichkeit zu leben. Ich weiß, dass gewisse Umstände manchmal dazu führen können, zu Anpassungen zu neigen, welche die menschliche und christliche Gemeinschaft zu zerbrechen drohen. Solche Anpassungen geschehen leider zu häufig, und diese Lauheit mißfällt Gott (vgl. Offb 3,15-19). Das Licht Christi (vgl. Joh 12,46) will alle Winkel der Erde und des Menschen erreichen, auch die dunkelsten (vgl. 1 Petr 2,9). Um ein Leuchter zu sein, der das eine Licht trägt (vgl. Lk 11,33-36), und um überall Zeugnis geben zu können (vgl. Mk 16,15-18), ist es wichtig, den Weg zu wählen, der zum Leben führt (vgl. Mt 7,14), und die unfruchtbaren Werke der Finsternis hinter sich zu lassen (vgl. Eph 5,9-14) und sie mit Entschiedenheit zu verwerfen (vgl. Röm 13,12f).

99. Möge die Brüderlichkeit der Christen durch ihr Zeugnis ein „Sauerteig“ werden, der die gesamte Menschheit verwandelt (vgl. Mt 13,33)! Mögen die Christen des Nahen Ostens – Katholiken und andere – in Einheit mutig dieses nicht leichte, aber dank Christus mitreißende Zeugnis geben, um den Kranz des Lebens zu erhalten (vgl. Offb 2,10b)! Die Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft ermutigt und unterstützt sie. Möge die Prüfung, die einige unserer Brüder und Schwestern erleben (vgl. Ps 66,10; Jes 48,10; 1 Petr 1,7), die Treue und den Glauben aller stärken! „Gnade sei mit euch und Friede in Fülle. … Friede sei mit euch allen, die ihr in Christus seid“ (1 Petr 1,2b; 5,14b)!

100. Das Herz Marias, der Theotokos und Mutter der Kirche, wurde durchbohrt (vgl. Lk 2,34-35) aufgrund des „Widerspruchs“, den ihr göttlicher Sohn herausgefordert hat, das heißt aufgrund der Widerstände und der Feindseligkeit gegen die Mission des Lichtes, auf die Christus gestoßen ist und die die Kirche, sein mystischer Leib, weiterhin erlebt. Maria, die von der ganzen Kirche – im Osten wie im Westen – innig verehrt wird, wird uns mütterlich zur Seite stehen. Maria, die ganz heilige, die unter uns gewandelt ist, wird abermals unsere Nöte vor ihren göttlichen Sohn tragen. Sie schenkt uns ihren Sohn. Hören wir auf sie, die uns der Hoffnung öffnet: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5).

Gegeben zu Beirut im Libanon,

am 14. September 2012, dem Fest der Kreuzerhöhung,
im achten Jahr meines Pontifikats.

Benedikt XVI. PP.

Anmerkungen

<references />

Weblinks