Pius XII. zur Toleranz

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Worte

von Papst
Pius XII.
zur Toleranz

1953 / 1956

(Quelle: Pius XII. sagt, Zusammengestellt von Chinigo Michael - Nach den vatikanischen Archiven. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main 1959, S.370-373 [Gedächtnisausgabe, Vierte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage]; Kirchliche Druckerlaubnis Limburg an der Lahn den 15. August 1955 Merkel Generalvikar).

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Toleranz

AUF GRUND DER KONFESSION der großen Mehrheit der Bürger oder auf Grund einer ausdrücklichen Erklärung ihrer Verfassung werden die Mitgliedsvölker und alle Staaten der Gemeinschaft in christliche, nichtchristliche, religiös indifferente oder bewusst laizistische oder auch ausdrücklich atheistische unterschieden werden können. Die religiösen und moralischen Interessen fordern für die ganze Ausdehnung der Gemeinschaft eine genau festgelegte Regelung, die für das gesamte Gebiet der einzelnen souveränen Staaten. die Mitglieder der Staatengemeinschaft sind, gilt. Auf Grund der Wahrscheinlichkeit und der Verhältnisse kann man voraussehen, dass diese Regelung positiven Rechts ungefähr folgendermaßen aussehen wird: Innerhalb seines Staatsgebietes und für seine Bürger regelt jeder Staat die religiösen und moralischen Angelegenheiten durch ein eigenes Gesetz, nichtsdestoweniger wird es im gesamten Gebiet der Staatengemeinschaft allen Bürgern jedes Mitgliedstaates erlaubt sein, seine Glaubensüberzeugungen und seine ethische und religiöse Praxis auszuüben, soweit diese nicht mit den Strafgesetzen des Staates, in dem er sich aufhält, in Widerspruch stehen. Für den katholischen Juristen und Politiker wie auch für den katholischen Staat erhebt sich nun die Frage: Können sie einer solchen Regelung ihre Zustimmung geben, wenn es sich darum handelt, der Völkergemeinschaft beizutreten und in ihr zu verbleiben?

Hinsichtlich der religiösen und sittlichen Interessen stellt sich dabei eine doppelte Frage: die erste betrifft die objektive Wahrheit und die Gewissensverpflichtung gegenüber dem, was objektiv wahr und gut ist; die zweite betrifft die tatsächliche Haltung der Völkergemeinschaft gegenüber dem einzelnen souveränen Staat und die Haltung dieses Staates gegenüber der Völkergemeinschaft in Fragen der Religion und der Sitte. Die erste Frage kann kaum ein Gegenstand der Diskussion und der Regelung zwischen einzelnen Staaten und ihrer Gemeinschaft bilden, ganz besonders nicht im Falle einer Mehrzahl religiöser Bekenntnisse innerhalb der gleichen Gemeinschaft. Die zweite dagegen kann von großer Wichtigkeit und Dringlichkeit sein.

Die Absolutheit des Wahren und des Guten

Auf diese zweite Frage lässt sich nun folgendermaßen richtig antworten. Vor allem muss deutlich unterstrichen werden, dass keine menschliche Autorität, kein Staat, keine Staatengemeinschaft, welchen religiösen Charakter sie auch immer haben mögen, einen positiven Befehl oder eine positive Ermächtigung erteilen können, etwas zu lehren oder zu tun, was gegen die religiöse Wahrheit oder gegen das sittlich Gute wäre. Ein Befehl oder eine Ermächtigung dieser Art hätte keine verpflichtende Kraft und bliebe unwirksam. Keine Autorität kann sie geben, denn es ist gegen die Natur. den Geist und den Willen des Menschen zum Bösen und zum Irrtum zu verpflichten oder beides für gleichgültig zu halten Nicht einmal Gott konnte einen solchen positiven Befehl oder eine solche positive Ermächtigung geben, da sie im Widerspruch zu Seiner absoluten Wahrhaftigkeit und Heiligkeit ständen.

Toleranz und ihre theologischen Grundlagen

Eine andere, wesentlich verschiedene Frage ist, ob in einer Staatengemeinschaft, zum mindesten unter bestimmten Verhältnissen, die Norm aufgestellt werden könnte, dass die freie Ausübung eines Glaubens oder einer religiösen oder sittlichen Praxis, die in einem der Mitgliedstaaten gültig sind, innerhalb des Gebiets der Gemeinschaft nicht durch Gesetze oder staatliche Zwangsmaßnahmen verhindert werden darf. Mit anderen Worten, es fragt sich, ob das "Nichtverhindern" oder die Toleranz unter solchen Verhältnissen erlaubt und also positive Unterdrückung nicht immer eine Pflicht wäre.

Wir haben eben die Autorität Gottes erwähnt. Kann Gott, obwohl es Ihm möglich und leicht wäre, den Irrtum und die Entgleisung zu unterdrücken, in einigen Fällen das "Nichtverhindern" wählen, ohne in Widerspruch mit Seiner Vollkommenheit zu geraten? Kann es geschehen, dass Er unter bestimmten Verhältnissen den Menschen keinen Befehl gibt und keine Verpflichtung auferlegt, ja ihnen nicht einmal das Recht gibt, den Irrtum und das Falsche zu unterdrücken? Ein Blick auf die Wirklichkeit gibt eine bejahende Antwort. Er zeigt, dass sich Irrtum und Sünde in weitem Ausmaß auf der Erde finden. Gott verurteilt sie; doch Er lässt sie bestehen. Daher kann die Behauptung, die religiöse und sittliche Entgleisung müsse immer, wenn es möglich ist, verhindert werden, da es an sich unmoralisch ist, sie zu dulden, nicht in absoluter Unbedingtheit gelten. Andererseits hat Gott auch nicht einmal der menschlichen Autorität einen solchen absoluten und universalen Befehl gegeben, weder im Bereich des Glaubens noch in dem der Moral. Einen solchen Befehl kennt weder die allgemeine Überzeugung der Menschen noch das christliche Gewissen, noch die Quelle der Offenbarung, noch die Praxis der Kirche. Um andere Texte der Heiligen Schrift, die sich auf dieses Argument beziehen, beiseite zu lassen, so hat Christus im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut folgende Mahnung gegeben: Lasst das Unkraut auf dem Felde der Welt zugleich mit dem guten Samen wachsen wegen des Getreides (vgl. Mt 13, 24-30). Die Pflicht, sittliche und religiöse Verirrungen zu unterdrücken, kann also keine letzte Norm des Handelns sein. Sie muss höheren und allgemeineren Normen untergeordnet werden, die unter gewissen Verhältnissen erlauben, ja es vielleicht als den besseren Teil erscheinen lassen, den Irrtum nicht zu verhindern, um ein höheres Gut zu verwirklichen.

Toleranz konkret

Damit sind die beiden Prinzipien geklärt, von denen in den konkreten Fällen die Antwort auf die bedeutungsvolle Frage der Haltung des katholischen Juristen, Staatsmannes und souveränen Staates gegenüber der Formel der religiösen und sittlichen Toleranz in dem oben angegebenen Sinn abgeleitet werden muss, wie sie gegenüber einer Staatengemeinschaft in Erwägung zu ziehen ist:

1. Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion.

2. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Guten gerechtfertigt sein.

Ob dann diese Bedingung im konkreten Fall zutrifft - es ist die quaestio facti -, muss vor allem der katholische Staatsmann selber entscheiden. Er wird sich bei seiner Entscheidung von dem Vergleich der schädlichen Folgen, die die Toleranz hat, mit den schädlichen Folgen, die durch Annahme der Toleranzformel der Staatsgemeinschaft erspart bleiben, leiten lassen, d. h. also von dem Gut, das sich bei einer klugen Voraussicht für die Gemeinschaft als solche und indirekt auch für den Mitgliedsstaat davon erwarten lässt. Was den religiösen und sittlichen Bereich angeht, so wird er auch das Urteil der Kirche einholen. Auf deren Seite ist in solchen entscheidenden Fragen, die das internationale Leben berühren, in letzter Instanz nur der zuständig, dem Christus die Leitung der ganzen Kirche anvertraut hat, der römische Papst (Aus der Ansprache an den 5. Nationalkongress des Verbandes katholischer Juristen Italiens. 6. Dezember 1953).

Was immer in anderen Bekenntnissen, auch nichtchristlichen, an Wahrem und Gutem sich findet, ist beheimatet, hat seinen tiefen Sinn und seine Erfüllung in der Katholischen Kirche. Sie bietet jenen Halt, ohne den Menschen in ein totalitäres System zu zwängen, unter voller Achtung seiner mit Geist und Freiheit begabten Natur, der Würde und übernatürlichen Berufung seiner Person. Auch für die Freiheit des menschlichen Wissens und Forschens kennt sie nur eine Grenze: jene, die Gott selbst durch Seine Offenbarung, durch Sein klares Wort gezogen hat ...

Die Kirche hat immer stark betont, dass es zum Aufbau einer haltbaren sozialen Ordnung neben der Reform der Zustände auch der Gesinnungspflege bedarf: der Ausrichtung der Gewissen an einem unbedingt gültigen Ordnungsbild und der sittlichen Kräfte, um immer dem Gewissen entsprechend zu handeln. Die Kirche nimmt für sich in Anspruch und sie hat erwiesen, dass sie Menschen solcher Gesinnung zu bilden vermag. Auch von hier aus gesehen, ist der eucharistische Frühling, den die Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts gebracht hat, sichtbar und greifbar das Werk der Göttlichen Vorsehung ...

Die Kirche kann auch bangen um ihre Zukunft in den von der Verfolgung erfassten riesigen Räumen, denn dem Gegner stehen in den Zwangsmaßnahmen des totalitären Staates und den ausgeklügelten Methoden der seelischen Bearbeitung der Menschen, besonders der jungen Generation und der Kinder, Mittel zu Gebote wie keinem Kirchenverfolger vergangener Zeiten. Sie mahnt endlich die Gläubigen in den Ländern, in denen sie frei lebt, sich der Gefährlichkeit jenes Gegners bewusst zu sein, und warnt sie erneut vor dem Trugbild einer falschen Koexistenz in dem Sinn, als ob es zwischen dem katholischen Glauben, der Weltanschauung des Katholiken, und jenem System zu einem Ausgleich, einer inneren Angleichung kommen könnte.

Es gibt eine "Koexistenz in der Wahrheit". Wir haben bei früherer Gelegenheit von ihr gesprochen und fügen dem dort Gesagten hinzu: Die Katholische Kirche nötigt niemand, ihr zuzugehören. Sie verlangt jedoch für sich die Freiheit, nach ihrer Verfassung und ihrem Gesetz im Lande leben, ihre Gläubigen betreuen und die Botschaft Jesu Christi offen verkündigen zu können. Dies freilich ist ihr unabdingbare Grundlage für jede ehrliche Koexistenz. Inzwischen kämpft sie weiter - nicht auf dem Feld der Politik und Wirtschaft, wie man ihr immer wieder fälschlich nachgesagt hat, sondern mit ihren eigenen Waffen: der Standhaftigkeit ihrer Gläubigen, dem Gebet, der Wahrheit und der Liebe. Sie opfert die Not der Verfolgung auf für das Heil der Verfolger selbst wie der Länder und Völker, in denen sie verfolgt wird (Aus der Radiobotschaft an den 77. Deutschen Katholikentag, Köln, 2. September 1956).