Verbum Domini (Wortlaut)

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Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Verbum Domini

Seiner Heiligkei
Benedikt XVI.
über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche
30. September 2010
(Offizieller lateinischer Text: AAS 76 [2010/11] 681-787)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; auch in: VAS 187)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


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Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. DAS WORT DES HERRN bleibt in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist « (1 Petr 1,25; vgl. Jes 40,8). Mit diesem Satz aus dem Ersten Petrusbrief, der die Worte des Propheten Jesaja aufgreift, stehen wir vor dem Geheimnis Gottes, der sich durch das Geschenk seines Wortes mitteilt. Dieses Wort, das in Ewigkeit bleibt, ist in die Zeit eingetreten. Gott hat sein ewiges Wort auf menschliche Weise ausgesprochen; sein Wort »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14). Das ist die frohe Botschaft. Das ist die Verkündigung, die durch die Jahrhunderte hindurch bis zu uns in unsere Zeit gelangt. Die XII. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, die vom 5. bis zum 26. Oktober 2008 im Vatikan abgehalten wurde, stand unter dem Thema: Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. Es war eine tiefe Erfahrung der Begegnung mit Christus, dem Wort des Vaters, der dort gegenwärtig ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20). Mit diesem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben komme ich gern der Bitte der Väter nach, den Reichtum, der in dieser Versammlung im Vatikan zum Vorschein gekommen ist, und die in gemeinsamer Arbeit formulierten Weisungen dem ganzen Gottesvolk zu übermitteln.<ref>Vgl. Propositio 1.</ref> Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich die Ergebnisse der Synode unter Bezugnahme auf die vorgelegten Dokumente aufgreifen: die Lineamenta, das Instrumentum laboris, die Vorträge ante und post disceptationem sowie die Texte der Wortmeldungen – der im Sitzungssaal verlesenen ebenso wie jener in scriptis –, die Berichte der Arbeitskreise und ihre Diskussionsbeiträge, die Schlussbotschaft an das Volk Gottes und vor allem einige spezifische Vorschläge (propositiones), die die Väter als besonders wichtig erachtet haben. Auf diese Weise möchte ich einige Grundlinien für eine Wiederentdeckung des göttlichen Wortes – Quelle ständiger Erneuerung – im Leben der Kirche aufzeigen und hoffe zugleich, dass es immer mehr zum Mittelpunkt allen kirchlichen Handelns werden möge.

Damit unsere Freude vollkommen ist

2. Zunächst möchte ich die Schönheit und die Anziehungskraft der erneuerten Begegnung mit dem Herrn Jesus in Erinnerung rufen, die in den Tagen der Synodenversammlung zu spüren war. Indem ich im Namen der Väter spreche, wende ich mich daher an alle Gläubigen mit den Worten aus dem Ersten Johannesbrief: Wir »verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« (1 Joh 1,2-3). Der Apostel spricht davon, das Wort des Lebens zu hören, zu sehen, anzufassen und zu schauen (vgl. 1 Joh 1,1), denn das Leben selbst wurde in Christus offenbar. Und wir, die wir zur Gemeinschaft mit Gott und untereinander berufen sind, müssen Verkündiger dieses Geschenks sein. Unter diesem kerygmatischen Gesichtspunkt war die Synodenversammlung für die Kirche und für die Welt ein Zeugnis dafür, wie schön die Begegnung mit dem Wort Gottes in der kirchlichen Gemeinschaft ist. Ich rufe daher alle Gläubigen auf, die persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Christus, dem sichtbar gewordenen Wort des Lebens, neu zu entdecken und ihn zu verkünden, damit das Geschenk des göttlichen Lebens, die Gemeinschaft, in der Welt immer mehr Verbreitung fi nden möge. Am Leben Gottes, der Dreifaltigkeit der Liebe, teilzuhaben, ist in der Tat »vollkommene Freude« (vgl. 1 Joh 1,4). Und es ist die Gabe und unverzichtbare Aufgabe der Kirche, die Freude zu vermitteln, die aus der Begegnung mit der Person Christi kommt, dem Wort Gottes, das mitten unter uns gegenwärtig ist. In einer Welt, die Gott oft als überfl üssig oder fremd empfi ndet, bekennen wir wie Petrus, dass nur er »Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68) hat. Es gibt keine größere Priorität als diese: dem Menschen von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht und uns seine Liebe mitteilt, damit wir Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,10).

Von der Konstitution »Dei verbum« zur Synode über das Wort Gottes

3. Wir sind uns bewußt, dass wir mit der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode über das Wort Gottes gewissermaßen das Herz des christlichen Lebens thematisiert haben, in Kontinuität mit der vorausgegangenen Synodenversammlung über die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des Lebens und der Sendung der Kirche. Die Kirche gründet in der Tat auf dem Wort Gottes, sie entsteht und lebt aus ihm.<ref> Vgl. XII. ORDENTLICHE GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHOFSSYNODE, Instrumentum laboris, 27.</ref> In allen Jahrhunderten seiner Geschichte hat das Volk Gottes stets in ihm seine Kraft gefunden, und die kirchliche Gemeinschaft wächst auch heute im Hören, in der Feier und im Studium des Wortes Gottes. Man muß anerkennen, dass im kirchlichen Leben in den letzten Jahrzehnten die Sensibilität gegenüber diesem Thema zugenommen hat, besonders in bezug auf die christliche Offenbarung, die lebendige Überlieferung und die Heilige Schrift. Seit dem Pontifi kat von Papst Leo XIII. kann man von einer Zunahme der Beiträge sprechen, die darauf ausgerichtet sind, die Bedeutung des Wortes Gottes und der biblischen Studien im Leben der Kirche stärker zu Bewußtsein zu führen.<ref> Vgl. Leo XIII., Enzyklika Providentissimus deus (18. November 1893): ASS 26 (1893-94), 269-292; Benedikt XV., Enzyklika Spiritus paraclitus (15. September 1920): AAS 12 (1920), 385-422; PIUS XII., Enzyklika Divino afflante Spiritu (30. September 1943): AAS 35 (1943), 297-325 </ref>Höhepunkt dieser Entwicklung war das Zweite Vatikanische Konzil, insbesondere die Promulgation der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum. Sie stellt einen Meilenstein auf dem Weg der Kirche dar: »Die Synodenväter … erkennen mit dankbarem Herzen den großen Nutzen an, den dieses Dokument dem Leben der Kirche auf exegetischer, theologischer, geistlicher, pastoraler und ökumenischer Ebene gebracht hat«.<ref>Propositio 2.</ref> Insbesondere ist in diesen Jahren das Bewußtsein um den »trinitarischen und heilsgeschichtlichen Horizont der Offenbarung«<ref>Propositio 2.</ref> gewachsen, in dem Jesus Christus als »der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung«<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 2. </ref> erkannt wird. Die Kirche bekennt unablässig jeder Generation, dass er »durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 4. </ref>

Es ist allgemein bekannt, dass die dogmatische Konstitution Dei verbum der Wiederentdeckung des Wortes Gottes im Leben der Kirche, der theologischen Reflexion über die göttliche Offenbarung und dem Studium der Heiligen Schrift einen großen Impuls gegeben hat. So gab es dann auch in den letzten 40 Jahren auf diesem Gebiet nicht wenige Beiträge des kirchlichen Lehramts.<ref> Unter den Beiträgen verschiedener Art seien erwähnt: Paul VI., Apostolisches Schreiben Summi Dei verbum (4. November 1963): AAS 55 (1963), 979-995; DERS., Motu proprio Sedula cura (27. Juni 1971): AAS 63 (1971), 665-669; JOHANNES PAUL II., Generalaudienz (1. Mai 1985): L’Osservatore Romano (dt.), 10. Mai 1985, S. 2; DERS., Ansprache über die Interpretation der Bibel in der Kirche (23. April 1993): AAS 86 (1994), 232-243; Benedikt XVI., Ansprache an den Internationalen Kongreß zum 40. Jahrestag der Dogmatischen Konstitution »Dei verbum« (16. September 2005): AAS 97 (2005), 957; DERS., Angelus (6. November 2005): L’Osservatore Romano (dt.), 11. November 2005, S. 1. Erinnert werden soll auch an die Beiträge der Päpstlichen Bibelkommission, Bibel und Christologie (1984): Ench. Vat. 9, Nrn. 1208-1339; Einheit und Vielfalt in der Kirche (11. April 1988): Ench. Vat. 11, Nrn. 544-643;Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993): Ench. Vat. 13, Nrn. 2846-3150; Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001): Ench. Vat. 20, Nrn. 733-1150; Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008.</ref> Im Bewußtsein der Kontinuität ihres Weges unter der Führung des Heiligen Geistes fühlte die Kirche sich durch die Feier dieser Synode berufen, das Thema des göttlichen Wortes weiter zu vertiefen, um sowohl die Umsetzung der Konzilsweisungen zu überprüfen als auch den neuen Herausforderungen zu begegnen, die die gegenwärtige Zeit denen stellt, die an Christus glauben.

Die Bischofssynode über das Wort Gottes

4. In der XII. Synodenversammlung haben sich Hirten aus aller Welt um das Wort Gottes geschart und den Bibeltext symbolisch in den Mittelpunkt der Versammlung gestellt, um das wiederzuentdecken, was wir im Alltag allzuleicht als selbstverständlich voraussetzen: dass Gott redet, dass er antwortet auf unser Fragen. <ref> Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (22. Dezember 2008): AAS 101 (2009), 49. </ref> Gemeinsam haben wir das Wort des Herrn gehört und gefeiert. Wir haben einander erzählt, was der Herr im Gottesvolk wirkt, haben Hoffnungen und Sorgen miteinander geteilt. All das hat uns bewußt gemacht, dass wir unsere Beziehung zum Wort Gottes nur innerhalb des »Wir« der Kirche vertiefen können, im Hören aufeinander und in der gegenseitigen Annahme. Daher sind wir auch dankbar für die Zeugnisse über das kirchliche Leben in den verschiedenen Teilen der Welt, die aus den vielfältigen Beiträgen in der Synodenaula hervorgegangen sind. Ebenso bewegend war es, die Bruderdelegierten anzuhören, die die Einladung angenommen haben, an der Synodenversammlung teilzunehmen. Ich denke insbesondere an die Meditation Seiner Heiligkeit Bartholomaios I., des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, die bei den Synodenvätern tiefe Anerkennung gefunden hat.<ref> Vgl. Propositio 37.</ref> Außerdem hat die Bischofssynode zum ersten Mal auch einen Rabbiner eingeladen, um von ihm ein wertvolles Zeugnis über die heiligen Schriften der Juden zu erhalten, die auch Teil unserer Heiligen Schrift sind. <ref> Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), Ench. Vat. 20, Nrn. 733-1150. </ref> So konnten wir mit Freude und Dankbarkeit feststellen, dass »in der Kirche auch heute Pfingsten ist – das heißt, dass sie in vielen Sprachen redet und dies nicht nur in dem äußeren Sinne, dass alle großen Sprachen der Welt in ihr vertreten sind, sondern mehr noch in dem tieferen Sinn, dass die vielfältigen Weisen des Erfahrens von Gott und Welt, der Reichtum der Kulturen in ihr gegenwärtig ist und so erst die Weite des Menschseins und von ihr her die Weite von Gottes Wort erscheint«. <ref> Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (22. Dezember 2008): AAS 101 (2009), 50.</ref> Außerdem haben wir festgestellt, dass Pfingsten noch in der Entfaltung begriffen ist: viele Völker warten noch darauf, dass das Wort Gottes in ihrer Sprache und in ihrer Kultur verkündet wird.

Natürlich hat uns auf der ganzen Synode das Zeugnis des Apostels Paulus begleitet. Die Vorsehung wollte es ja, dass die XII. Ordentliche Generalversammlung genau in dem Jahr stattfand, das der Gestalt des großen Völkerapostels anläßlich des 2000. Jahrestags seiner Geburt gewidmet war. Sein Leben war ganz vom Eifer für die Verbreitung des Wortes Gottes geprägt. Unweigerlich hören wir in unserem Herzen den Widerhall seiner eindrucksvollen Worte über seine Sendung als Verkündiger des göttlichen Wortes: »Alles aber tue ich um des Evangeliums willen« (1 Kor 9,23). »Denn« – schreibt er im Brief an die Römer –»ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt« (1,16). Wenn wir über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche nachdenken, dann können wir nicht umhin, an den hl. Paulus zu denken und an sein Leben, das er hingegeben hat, um allen Völkern das Heil Christi zu verkünden.

Der Prolog des Johannesevangeliums als Leittext

5. Ich möchte, dass durch dieses Apostolische Schreiben die Ergebnisse der Synode auf das Leben der Kirche nachhaltigen Einfluß nehmen: auf die persönliche Beziehung zur Heiligen Schrift, auf ihre Auslegung in der Liturgie und in der Katechese sowie in der wissenschaftlichen Forschung, damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt, sondern als lebendiges und aktuelles Wort wahrgenommen wird. Zu diesem Zweck möchte ich die Ergebnisse der Synode vorstellen und vertiefen, indem ich immer wieder Bezug nehme auf den Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18), in dem uns die Grundlage unseres Lebens vermittelt wird: Das Wort, das von Anfang an bei Gott ist, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (vgl. Joh 1,14). Es ist ein wunderbarer Text, der eine Synthese des gesamten christlichen Glaubens bietet. Aus der persönlichen Erfahrung der Begegnung mit Christus und der Nachfolge Christi heraus gewann Johannes, den die Überlieferung mit dem »Jünger, den Jesus liebte« (Joh 13,23; 20,2; 21,7.20), gleichsetzt, »eine innige Gewißheit: Jesus ist die fleischgewordene Weisheit Gottes, er ist sein ewiges Wort, das ein sterblicher Mensch geworden ist«.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Angelus (4. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 9. Januar 2009, S. 2. </ref>Er, der »sah und glaubte« (Joh 20,8), möge auch uns helfen, das Haupt an die Brust Jesu zu lehnen (vgl. Joh 13,25), aus dessen Seite Blut und Wasser gefl ossen sind (vgl. Joh 19,34), Symbole der Sakramente der Kirche. Dem Vorbild des Apostels Johannes und der anderen inspirierten Autoren folgend, wollen wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, um in der Lage zu sein, das Wort Gottes immer mehr zu lieben.

ERSTER TEIL: VERBUM DEI

»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. … Und das Wort ist Fleisch geworden« ( Joh 1,1.14)

DER GOTT, DER SPRICHT

Gott im Dialog

6. Das Neue der biblischen Offenbarung besteht darin, dass Gott sich im Dialog zu erkennen gibt, den er mit uns führen möchte. <ref>Vgl. Relatio ante disceptationem, I. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum hatte diese Wirklichkeit herausgestellt, indem sie bekannte: So »redet der unsichtbare Gott aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 2. </ref> Wenn wir jedoch bei der Feststellung haltmachen würden, dass Gott sich uns liebevoll mitteilt, hätten wir die Botschaft des Prologs des hl. Johannes noch nicht ausreichend verstanden. In Wirklichkeit ist das Wort Gottes, durch das »alles geworden« (Joh 1,3) und das selbst »Fleisch geworden« ist (Joh 1,14), dasselbe, das »im Anfang « war (Joh 1,1). Wenn wir hier eine Anspielung auf den Beginn des Buches Genesis (vgl. Gen 1,1) sehen, stehen wir in Wahrheit vor einem Anfang absoluter Natur, der uns vom innersten Leben Gottes spricht. Der johanneische Prolog stellt uns vor die Tatsache, dass der Logos von jeher bestanden hat, und dass er seit jeher selber Gott ist. Es gab also in Gott nie eine Zeit, in der der Logos nicht war. Das Wort bestand schon vor der Schöpfung. Das Innerste des göttlichen Lebens ist daher Gemeinschaft, ist das absolute Geschenk. »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,16), sagt derselbe Apostel an anderer Stelle und kennzeichnet damit »das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges«.<ref> Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217-218.</ref> Gott gibt sich uns zu erkennen als Geheimnis unendlicher Liebe, in der der Vater von aller Ewigkeit her sein Wort im Heiligen Geist zum Ausdruck bringt. Das Wort, das von Anfang an bei Gott ist und das Gott ist, offenbart uns daher Gott selbst im Dialog der Liebe zwischen den göttlichen Personen und lädt uns ein, daran teilzuhaben. Als Abbild Gottes, der die Liebe ist, erschaffen und ihm ähnlich, können wir also uns selbst nur in der Annahme des Wortes und in der Fügsamkeit gegenüber dem Wirken des Heiligen Geistes verstehen. Im Licht der durch das göttliche Wort gewirkten Offenbarung klärt sich das Rätsel des menschlichen Daseins endgültig.

Die Analogie des Wortes Gottes

7. Von diesen Überlegungen aus, die sich aus der Betrachtung des im Johannesprolog ausgedrückten christlichen Geheimnisses ergeben, müssen jetzt die Aussagen der Synodenväter über die verschiedenen Weisen, mit denen wir den Ausdruck »Wort Gottes« benutzen, hervorgehoben werden. Zu Recht war die Rede von einer Symphonie des Wortes, eines einzigen Wortes, das sich auf verschiedene Weisen ausdrückt: als »ein mehrstimmiger Gesang«.<ref> Instrumentum laboris, 9.</ref> Die Synodenväter sprachen in diesem Zusammenhang von einem analogischen Gebrauch der menschlichen Sprache in bezug auf das Wort Gottes. Dieser Ausdruck betrifft einerseits die Mitteilung, die Gott über sich selbst macht, andererseits jedoch besitzt er verschiedene Bedeutungen, die sorgfältig betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, sowohl unter dem Gesichtspunkt der theologischen Reflexion als auch unter dem der Anwendung in der Seelsorge. Wie uns der Johannesprolog deutlich zeigt, bezeichnet der Logos ursprünglich das ewige Wort, also den eingeborenen Sohn, der vor aller Zeit aus dem Vater geboren und eines Wesens mit ihm ist: Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Aber dasselbe Wort, so der hl. Johannes, »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14); daher ist Jesus Christus, der aus der Jungfrau Maria geboren ist, wirklich das Wort Gottes, das uns wesensgleich geworden ist. Der Ausdruck »Wort Gottes« bezeichnet hier also die Person Jesu Christi, den menschgewordenen ewigen Sohn des Vaters.

Wenn im Mittelpunkt der göttlichen Offenbarung das Christusereignis steht, dann muß man ebenfalls erkennen, dass die Schöpfung selbst, der liber naturae, auch ein wesentlicher Teil dieser mehrstimmigen Symphonie ist, in der das einzige Wort seinen Ausdruck findet. Ebenso bekennen wir, dass Gott sein Wort in der Heilsgeschichte mitgeteilt hat, dass er seine Stimme vernehmen ließ und mit der Kraft seines Geistes »gesprochen hat durch die Propheten«.<ref> Nizäno-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis: DS 150. </ref> Das göttliche Wort kommt also in der ganzen Heilsgeschichte zum Ausdruck und besitzt seine Fülle im Geheimnis der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung des Sohnes Gottes. Wort Gottes ist auch das von den Aposteln verkündete Wort, in Gehorsam gegenüber dem Gebot des auferstandenen Christus: »Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!« (Mk 16,15). So wird das Wort Gottes also in der lebendigen Überlieferung der Kirche weitergegeben. Schließlich ist das bezeugte und göttlich inspirierte Wort Gottes die Heilige Schrift, das Alte und das Neue Testament. All das macht deutlich, warum wir in der Kirche die Heilige Schrift hoch verehren, obgleich der christliche Glaube keine »Buchreligion« ist: Das Christentum ist die »Religion des Wortes Gottes«, nicht »eines schriftlichen, stummen Wortes, sondern des menschgewordenen, lebendigen Wortes«.<ref> Bernhard von Clairvaux, Homilia super missus est, IV,11: PL 183, 86B.</ref> Daher muß die Schrift als Wort Gottes verkündigt, gehört, gelesen, aufgenommen und gelebt werden, und zwar in der Spur der apostolischen Überlieferung, mit der es untrennbar verknüpft ist.<ref> Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10. </ref>

Wie die Synodenväter gesagt haben, stehen wir wirklich einem analogen Gebrauch des Ausdrucks »Wort Gottes« gegenüber, und wir müssen uns dessen bewußt sein. Die Gläubigen müssen daher besser herangeführt werden, seine verschiedenen Bedeutungen zu erfassen und seinen einheitlichen Sinn zu verstehen. Auch vom theologischen Gesichtspunkt her ist es notwendig, die Artikulierung der verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks zu vertiefen, damit die Einheit des göttlichen Plans und in ihm die Zentralität der Person Christi besser aufscheint.<ref>Vgl. Propositio 3. </ref>

Kosmische Dimension des Wortes

8. Im Wissen um die grundlegende Bedeutung des Wortes Gottes in bezug auf das fleischgewordene ewige Wort Gottes, den einzigen Retter und Mittler zwischen Gott und dem Menschen,<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche Dominus iesus (6. August 2000), 13-15: AAS 92 (2000), 754– 7550.</ref> und im Hören auf dieses Wort werden wir durch die biblische Offenbarung zu der Einsicht geführt, dass es die Grundlage der ganzen Wirklichkeit ist. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es bezüglich des göttlichen Logos: »Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist« (1,3); auch der Kolosserbrief verweist auf Christus, den »Erstgeborenen der ganzen Schöpfung« (1,15), und sagt: »Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen« (1,16). Und der Autor des Hebräerbriefes ruft in Erinnerung: »Aufgrund des Glaubens erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort erschaffen worden und dass so aus Unsichtbarem das Sichtbare entstanden ist« (11,3).

Diese Verkündigung ist für uns ein befreiendes Wort. Denn die Aussagen der Schrift verweisen darauf, dass alles, was geworden ist, nicht Frucht eines irrationalen Zufalls, sondern von Gott gewollt ist, zu seinem Plan gehört, in dessen Mittelpunkt das Angebot steht, am göttlichen Leben in Christus teilzuhaben. Die Schöpfung entsteht aus dem Logos und trägt die unauslöschliche Spur der schöpferischen Vernunft, die ordnet und leitet. Diese frohe Gewißheit besingen die Psalmen: »Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes« (33,6), und: »Der Herr sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und alles war da« (33,9). Die ganze Wirklichkeit bringt dieses Geheimnis zum Ausdruck: »Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament« (19,2). So lädt uns also die Heilige Schrift selbst ein, den Schöpfer kennenzulernen, indem wir die Schöpfung betrachten (vgl. Weish 13,5; Röm 1,19-20). Die christliche Überlieferung hat dieses Schlüsselelement der Symphonie des Wortes vertieft. So sagt zum Beispiel der hl. Bonaventura, der zusammen mit der großen Überlieferung der griechischen Väter alle Möglichkeiten der Schöpfung im Logos sieht,<ref>Vgl. In Hexaemeron, XX,5; Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S.425-426; Breviloquium, I,8: Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S. 216-217.</ref> dass »jedes Geschöpf Wort Gottes ist, weil es Gott verkündigt«.<ref> Itinerarium mentis in Deum, II,12: Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 302-303; Commentarius in librum Ecclesiastes, Kap. 1, Vers 11; Quaestiones, II,3: Opera omnia, VI, Quaracchi 1891, S. 16. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum hat dies so zusammengefaßt: »Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 3; vgl. ERSTES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über den katholischen Glauben Dei filius, Kap. 2, De revelatione: DS 3004.</ref>

Die Erschaffung des Menschen

9. Die Wirklichkeit entsteht also aus dem Wort als creatura Verbi, und alles ist aufgerufen, dem Wort zu dienen. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist also der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition als »Naturrecht« bezeichnet wird.<ref>Vgl. Propositio 13. </ref> In der Tat »erfährt jeder Mensch, der auf das Gewissen hört und die Verantwortung wahrnimmt, einen inneren Ruf, Gutes zu tun«<ref>Vgl. Internationale Theologenkommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 39. </ref> und daher Böses zu vermeiden. Wie der hl. Thomas von Aquin sagt, gründen auf diesem Prinzip auch alle anderen Vorschriften des Naturrechts.<ref>Vgl. Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 94, a. 2. </ref> Das Hören auf das Wort Gottes lehrt uns zunächst einmal die Achtung gegenüber dem Anspruch, nach diesem Gesetz, das »ins Herz geschrieben« ist (vgl. Röm 2,15; 7,23), <ref> Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008, Nrn. 13, 32, 109.</ref> zu leben. Jesus Christus gibt dann den Menschen das neue Gesetz, das Gesetz des Evangeliums, das das Naturrecht aufnimmt, es in überragender Weise zur Verwirklichung bringt und uns vom Gesetz der Sünde befreit, aufgrund dessen, wie der hl. Paulus sagt, »das Wollen bei mir vorhanden ist, ich das Gute aber nicht zu verwirklichen vermag« (Röm 7,18). Dieses Gesetz schenkt den Menschen durch die Gnade Anteil am göttlichen Leben und die Möglichkeit, den Egoismus zu überwinden. <ref> Vgl. Internationale Theologenkommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 102.</ref>


Der Realismus des Wortes

10. Wer das göttliche Wort kennt, kennt auch die tiefste Bedeutung eines jeden Geschöpfs. Wenn nämlich alles »Bestand« hat in ihm, der »vor aller Schöpfung« ist (vgl. Kol 1,17), dann schafft derjenige, der sein Leben auf diesem Wort aufbaut, einen wirklich soliden und dauerhaften Bau. Das Wort Gottes drängt uns zu einer Änderung unseres Begriffs von Realismus: Realist ist der, der im Wort Gottes das Fundament von allem erkennt.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Homilie bei der Terz zu Beginn der ersten Vollversammlung der Bischofssynode (6. Oktober 2008): AAS 100 (2008), 758–761.</ref> Das brauchen wir besonders in unserer Zeit, in der viele Dinge, auf die man für den Aufbau des Lebens vertraut und seine Hoffnung zu setzen sucht ist, ihr vergängliches Wesen offenbaren. Haben, Genuß und Macht erweisen sich früher oder später als unfähig, das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens zu stillen. Zum Aufbau seines Lebens braucht der Mensch solide Fundamente, die auch dann bestehen bleiben, wenn menschliche Gewißheiten schwinden.

»Herr, dein Wort bleibt auf ewig, es steht fest wie der Himmel«, und die Treue des Herrn währt »von Geschlecht zu Geschlecht« (Ps 119,89-90): Wer auf dieses Wort baut, baut das Haus seines Lebens auf Fels (vgl. Mt 7,24). Möge unser Herz jeden Tag zu Gott sagen können: »Du bist mein Schutz und mein Schild, ich warte auf dein Wort« (Ps 119,114); mögen wir in der Lage sein, jeden Tag wie Petrus im Vertrauen auf den Herrn Jesus zu handeln: »Wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen« (Lk 5,5).

Christologie des Wortes

11. Mit diesem Blick auf die Wirklichkeit als das durch das göttliche Wort vollbrachte Werk der Allerheiligsten Dreifaltigkeit können wir die Worte des Autors des Hebräerbriefes verstehen: »Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat«  (1,1-2). Es ist sehr schön zu sehen, wie bereits das ganze Alte Testament sich uns als Geschichte darstellt, in der Gott sein Wort mitteilt: »Er schloß mit Abraham (vgl. Gen 15,8) und durch Moses mit dem Volke Israel (vgl. Ex 24,8) einen Bund. Dann hat er sich dem Volk, das er sich erworben hatte, durch Wort und Tat als einzigen, wahren und lebendigen Gott so geoffenbart, dass Israel Gottes Wege mit den Menschen an sich erfuhr, dass es sie durch Gottes Wort aus der Propheten Mund allmählich voller und klarer erkannte und sie unter den Völkern mehr und mehr sichtbar machte (vgl. Ps 21,28-29; 95,1-3; Jes 2,1-4; Jer 3,17)«<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 14. </ref> Diese Herablassung Gottes erfüllt sich in unübertrefflicher Weise in der Fleischwerdung des Wortes. Das ewige Wort, das sich in der Schöpfung ausdrückt und sich in der Heilsgeschichte mitteilt, ist in Christus ein Mensch geworden, »geboren von einer Frau« (Gal 4,4). Hier äußert sich das Wort nicht vor allem in einer Rede, in Begriffen oder Regeln. Hier stehen wir vor der Person Jesu selbst. Seine einzigartige Geschichte ist das endgültige Wort, das Gott zur Menschheit spricht. Von da aus versteht man, warum »am Anfang des Christseins … nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee [steht], sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt«. <ref> Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217-218.</ref> Die Erneuerung dieser Begegnung und dieses Bewußtseins erzeugt in den Herzen der Gläubigen das Staunen über die göttliche Initiative, die der Mensch mit seinen rationalen Fähigkeiten und seiner Vorstellungskraft niemals hätte ersinnen können. Es ist eine nie dagewesene und menschlich betrachtet unfaßbare Neuheit: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« ( Joh 1,14a). Diese Worte verweisen nicht auf eine rhetorische Figur, sondern auf eine gelebte Erfahrung! Sie wird vom hl. Johannes vermittelt, einem Augenzeugen: »Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit« ( Joh 1,14b). Der apostolische Glaube bezeugt, dass das ewige Wort einer von uns wurde. Das göttliche Wort drückt sich wirklich in menschli- chen Worten aus.

12. In der Betrachtung dieser »Christologie des Wortes« hat die patristische und mittelalterliche Überlieferung ein eindrucksvolles Wort verwendet: Das Wort hat sich kurz gemacht :<ref>»Ho Logos pachynetai (oder brachynetai)«. Vgl. ORIGENES, Peri Archon, I,2,8: SC 252,127-129. </ref> »Die Kirchenväter lasen in ihrer griechischen Übersetzung des Alten Testaments ein Wort des Propheten Jesaja, das dann auch Paulus zitiert, um zu zeigen, wie die neuen Wege Gottes im Alten Testament schon vorhergesagt waren. „Gott hat sein Wort kurz gemacht, es abgekürzt“, hieß es da ( Jes 10,23; Röm 9,28). … Der Sohn selbst ist das Wort, der Logos; das ewige Wort hat sich klein gemacht – so klein, dass es in eine Krippe paßte. Es hat sich zum Kind gemacht, damit uns das Wort faßbar werde«.<ref> Benedikt XVI., Predigt am Hochfest der Geburt des Herrn (24. Dezember 2006): AAS 99 (2007), 12. </ref> Nun ist das Wort nicht nur hörbar, besitzt es nicht nur eine Stimme, jetzt hat das Wort ein Gesicht, das wir sehen können: Jesus von Nazaret.<ref> Vgl. Schlussbotschaft, II, 4-6. </ref>

Wenn wir die Erzählung der Evangelien verfolgen, stellen wir fest, wie die Menschheit Jesu gerade in bezug auf das Wort Gottes in ihrer ganzen Einzigartigkeit sichtbar wird. Denn in seinem vollkommenen Menschsein erfüllt er Augenblick für Augenblick den Willen des Vaters; Jesus hört sein Wort und gehorcht ihm mit seinem ganzen Sein; er kennt den Vater und hält an seinem Wort fest (vgl. Joh 8,55); er berichtet uns vom Vater (vgl. Joh 12,50): »Die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen« ( Joh 17,8). Jesus zeigt also, dass er der göttliche Logos ist, der sich uns hinschenkt, aber auch der neue Adam, der wahre Mensch, der in jedem Augenblick nicht den eigenen Willen, sondern den des Vaters erfüllt. Er »wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen« (Lk 2,52). In vollkommener Weise hört er das göttliche Wort, verwirklicht es in sich selbst und teilt es uns mit (vgl. Lk 5,1).

Die Sendung Jesu findet schließlich ihre Erfüllung im Ostergeheimnis: Hier stehen wir vor dem »Wort vom Kreuz« (1 Kor 1,18). Das Wort verstummt, wird zur Totenstille, denn es hat sich »ausgesagt« bis hin zum Schweigen, ohne irgend etwas zurückzuhalten, was es uns mitteilen sollte. In der Betrachtung dieses Geheimnisses legen die Kirchenväter der Mutter Gottes in eindrücklicher Weise diese Worte in den Mund: »Wortlos ist das Wort des Vaters, das jedes sprechende Geschöpf erschaffen hat; leblos sind die erloschenen Augen dessen, auf dessen Wort und Zeichen hin alles Lebendige sich bewegt«. <ref> Maximus Confessor, Marienleben, Nr. 89. </ref> Hier wird uns wirklich die »größere« Liebe vermittelt, die das Leben für die Freunde hingibt (vgl. Joh 15,13).

In diesem großen Geheimnis offenbart sich Jesus als das Wort des neuen und ewigen Bundes: Die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen sind einander endgültig begegnet in seinem gekreuzigten Fleisch, in einem unaufl öslichen, immerwährenden Bund. Beim Letzten Abendmahl, bei der Einsetzung der Eucharistie hatte Jesus selbst vom »neuen und ewigen Bund« gesprochen, der in seinem vergossenen Blut geschlossen wurde (vgl. Mt 26,28; Mk 14,24; Lk 22,20), und sich so als das wahre Opferlamm erwiesen, in dem sich die endgültige Befreiung aus der Knechtschaft vollzieht.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 9-10: AAS 99 (2007), 111-112. </ref>

Im lichtvollen Geheimnis der Auferstehung offenbart sich dieses Schweigen des Wortes in seiner wahren und endgültigen Bedeutung. Christus, das fleischgewordene, gekreuzigte und auferstandene Wort Gottes, ist der Herr aller Dinge; er ist der Sieger, der Pantokrator, und so ist alles für immer in ihm vereint (vgl. Eph 1,10). Christus ist also »das Licht der Welt« ( Joh 8,12), das Licht, das »leuchtet in der Finsternis« ( Joh 1,4) und das die Finsternis nicht erfaßt hat (vgl. Joh 1,5). Hier verstehen wir die volle Bedeutung von Psalm 119: »Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade« (V. 105); das Wort, das aufersteht, ist dieses endgültige Licht auf unserem Weg. Von Anfang an wußten die Christen, dass das Wort Gottes in Christus als Person gegenwärtig ist. Das Wort Gottes ist das wahre Licht, das der Mensch braucht. Ja, in der Auferstehung ist der Sohn Gottes als Licht der Welt erstanden. Jetzt können wir, wenn wir mit ihm und für ihn leben, im Licht leben.

13. Sozusagen im Herzen der »Christologie des Wortes« angekommen, ist es wichtig, die Einheit des göttlichen Plans im fleischgewordenen Wort hervorzuheben: Daher präsentiert uns das Neue Testament das Ostergeheimnis in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift als ihre innerste Erfüllung. Der hl. Paulus sagt im Ersten Brief an die Korinther, dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist, »gemäß der Schrift« (15,3), und dass er am dritten Tag auferstanden ist, »gemäß der Schrift« (15,4). Damit stellt der Apostel das Ereignis des Todes und der Auferstehung des Herrn in Beziehung zur Geschichte des Alten Bundes Gottes mit seinem Volk. Mehr noch, er gibt uns zu verstehen, dass diese Geschichte aus ihm ihre Logik und ihre wahre Bedeutung erhält. »Im Ostergeheimnis erfüllen sich die Worte der Schrift. Dies heißt: Dieser Tod, der „gemäß der Schrift“ geschehen ist, ist ein Ereignis, das einen „logos“, eine Logik in sich trägt: Der Tod Christi bezeugt, dass das Wort Gottes bis ins Innerste „Fleisch“, menschliche „Geschichte“, geworden ist«. <ref> Benedikt XVI., Generalaudienz (15. April 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 24. April 2009, S. 2.</ref> Auch die Auferstehung Jesu geschieht »am dritten Tag gemäß der Schrift«: Da nach jüdischer Auslegung die Verwesung nach dem dritten Tag einsetzte, erfüllt sich das Wort der Schrift in Jesus, der aufersteht, bevor die Verwesung einsetzt. Auf diese Weise unterstreicht der hl. Paulus, indem er die Lehre der Apostel getreu überliefert (vgl. 1 Kor 15,3), dass der Sieg Christi über den Tod durch die schöpferische Macht des Wortes Gottes geschieht. Diese göttliche Macht weckt Hoffnung und Freude: Das ist letztlich der befreiende Inhalt der österlichen Offenbarung. An Ostern offenbart Gott sich selbst und die Macht der trinitarischen Liebe, die die zerstörerischen Kräfte des Bösen und des Todes vernichtet.

Wenn wir uns diese wesentlichen Elemente unseres Glaubens ins Gedächtnis rufen, können wir die tiefe Einheit zwischen Schöpfung und neuer Schöpfung und der ganzen Heilsgeschichte in Christus betrachten. Um es in einem Bild auszudrücken, können wir den Kosmos mit einem »Buch« vergleichen – so sagte es auch Galileo Galilei – und ihn als »das Werk eines Autors [betrachten], der sich durch die „Symphonie“ der Schöpfung kundtut. Innerhalb dieser Symphonie findet sich an einem bestimmten Punkt das, was man in der Sprache der Musik ein „Solo“ nennen würde: ein Thema, das einem einzelnen Instrument oder einer einzigen Stimme anvertraut ist. Und dieses Thema ist so wichtig, dass von ihm die Bedeutung des gesamten Werkes abhängt. Dieses „Solo“ ist Jesus … Der Menschensohn faßt in sich die Erde und den Himmel zusammen, die Schöpfung und den Schöpfer, das Fleisch und den Geist. Er ist der Mittelpunkt des Kosmos und der Geschichte, da sich in ihm der Autor und sein Werk vereinen, ohne sich zu vermischen«. <ref> DERS., Predigt am Hochfest der Erscheinung des Herrn (6. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 16. Januar 2009, S. 1. </ref>

Die eschatologische Dimension des Wortes Gottes

14. Mit all dem bringt die Kirche das Bewußtsein zum Ausdruck, dass sie in Jesus Christus dem endgültigen Wort Gottes gegenübersteht; er ist »der Erste und der Letzte« (Offb 1,17). Er hat der Schöpfung und der Geschichte ihren endgültigen Sinn gegeben; deshalb sind wir berufen, in diesem eschatologischen Rhythmus des Wortes die Zeit zu leben, die Schöpfung Gottes zu bewohnen; »daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13)«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 4. </ref> Wie die Väter während der Synode in Erinnerung gerufen haben, »zeigt sich das Besondere des Christentums im Ereignis Jesu Christi, Höhepunkt der Offenbarung, Erfüllung der Verheißungen Gottes und Mittler der Begegnung zwischen dem Menschen und Gott. Er, „der von Gott Kunde gebracht hat“ (vgl. Joh 1,18), ist das einzige und endgültige Wort, das der Menschheit gegeben wurde«.<ref> Propositio 4. </ref> Der hl. Johannes vom Kreuz hat diese Wahrheit wunderbar ausgedrückt: »Da Gott uns seinen Sohn geschenkt hat, der sein einziges und endgültiges Wort ist, hat er uns in diesem einzigen Wort alles auf einmal gesagt und nichts mehr hinzuzufügen ... Denn was er ehedem den Propheten nur teilweise kundgetan hat, das hat er in seinem Sohn vollständig mitgeteilt, indem er uns dieses Ganze gab, seinen Sohn. Wer darum den Herrn jetzt noch befragen oder von ihm Visionen oder Offenbarungen haben wollte, der würde nicht bloß unvernünftig handeln, sondern Gott beleidigen, weil er seine Augen nicht einzig auf Christus richtet, sondern Anderes und Neues sucht«.<ref>HL. Johannes vom Kreuz, Aufstieg auf den Berg Karmel, II,22.</ref>

Folglich hat die Synode empfohlen, »den Gläubigen zu helfen, das Wort Gottes von Privatoffenbarungen zu unterscheiden«.<ref>Propositio 47. </ref> Diese »sind nicht dazu da, die endgültige Offenbarung Christi … zu „vervollständigen“, sondern sollen helfen, in einem bestimmten Zeitalter tiefer aus ihr zu leben«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 67. </ref>Der Wert der Privatoffenbarungen ist wesentlich unterschieden von der einer öffentlichen Offenbarung: Diese fordert unseren Glauben an, denn in ihr spricht durch Menschenworte und durch die Vermittlung der lebendigen Gemeinschaft der Kirche hindurch Gott selbst zu uns. Der Maßstab für die Wahrheit einer Privatoffenbarung ist ihre Hinordnung auf Christus selbst. Wenn sie uns von ihm wegführt, dann kommt sie sicher nicht vom Heiligen Geist, der uns in das Evangelium hinein- und nicht aus ihm herausführt. Die Privatoffenbarung ist eine Hilfe zu diesem Glauben, und sie erweist sich gerade dadurch als glaubwürdig, dass sie auf die eine öffentliche Offenbarung verweist. Die kirchliche Approbation einer Privatoffenbarung zeigt daher im wesentlichen an, dass die entsprechende Botschaft nichts enthält, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; es ist erlaubt, sie zu veröffentlichen, und den Gläubigen ist es gestattet, ihr in kluger Weise ihre Zustimmung zu schenken. Eine Privatoffenbarung kann neue Akzente setzen, neue Weisen der Frömmigkeit herausstellen oder alte vertiefen. Sie kann einen gewissen prophetischen Charakter besitzen (vgl. 1 Thess 5,19-21) und eine wertvolle Hilfe sein, das Evangelium in der jeweils gegenwärtigen Stunde besser zu verstehen und zu leben; deshalb soll man sie nicht achtlos beiseite schieben. Sie ist eine Hilfe, die angeboten wird, aber von der man nicht Gebrauch machen muß. Auf jeden Fall muß es darum gehen, dass sie Glaube, Hoffnung und Liebe nährt, die der bleibende Weg des Heils für alle sind.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Die Botschaft von Fatima (26. Juni 2000): Ench. Vat. 19, Nrn. 974-1021. </ref>

Das Wort Gottes und der Heilige Geist

15. Nachdem wir uns beim letzten und endgültigen Wort Gottes an die Welt aufgehalten haben, müssen wir jetzt an die Sendung des Heiligen Geistes in bezug auf das göttliche Wort erinnern, denn es gibt kein wahres Verständnis der christlichen Offenbarung außerhalb des Wirkens des Parakleten. Das hängt damit zusammen, dass die Selbstmitteilung Gottes stets die Beziehung zwischen dem Sohn und dem Heiligen Geist einschließt; Irenäus von Lyon nennt sie »die beiden Hände des Vaters«.<ref> Adversus haereses, IV,7,4: PG 7, 992-993; V,1,3: PG 7, 1123; V,6,1: PG 7, 1137; V,28,4: PG 7, 1200.</ref> Im übrigen ist es die Heilige Schrift, die uns auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Heilsgeschichte und insbesondere im Leben Jesu hinweist: Dieser wird durch das Wirken des Heiligen Geistes von der Jungfrau Maria empfangen (vgl. Mt 1,18; Lk 1,35); zu Beginn seines öffentlichen Wirkens, am Ufer des Jordan, sieht er ihn wie eine Taube auf sich herab- kommen (vgl. Mt 3,16); im selben Geist handelt, spricht und frohlockt Jesus (vgl. Lk 10,21); und im Geist opfert er sich selbst (vgl. Hebr 9,14). Gegen Ende seiner Sendung bringt Jesus dem Bericht des Evangelisten Johannes zufolge die Hingabe seines Lebens eindeutig in Verbindung mit der Sendung des Heiligen Geistes an die Seinen (vgl. Joh 16,7). Der auferstandene Jesus, der an seinem Leib die Zeichen der Passion trägt, gießt dann mit seinem Hauch den Geist über die Seinen aus (vgl. Joh 20,22) und läßt sie so an seiner eigenen Sendung teilhaben (vgl. Joh 20,21). Der Heilige Geist wird die Jünger alles lehren und sie an alles erinnern, was Christus gesagt hat (vgl. Joh 14,26), denn er, der Geist der Wahrheit (vgl. Joh 15,26), wird die Jünger in die ganze Wahrheit führen. In der Apostelgeschichte steht schließlich, dass der Heilige Geist auf die Apostel herabkommt, die am Pfi ngsttag zusammen mit Maria im Gebet versammelt sind (vgl. 2,1-4), und sie für die Sendung, allen Völkern die Frohe Botschaft zu verkünden, ermutigt.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 12: AAS 99 (2007), 113-114.</ref>

Das Wort Gottes kommt also durch das Wirken des Heiligen Geistes in menschlichen Worten zum Ausdruck. Die Sendung des Sohnes und jene des Heiligen Geistes sind untrennbar miteinander verbunden und bilden eine einzige Heilsökonomie. Der Geist, der in der Inkarnation des Wortes im Schoß der Jungfrau Maria wirkt, ist derselbe, der Jesus in seiner ganzen Sendung leitet und der den Jüngern verheißen wird. Derselbe Geist, der durch die Propheten gesprochen hat, stützt und inspiriert die Kirche in ihrer Aufgabe, das Wort Gottes zu verkündigen, und in der Predigt der Apostel; schließlich ist es dieser Geist, der die Autoren der Heiligen Schrift inspiriert hat.

16. Im Bewußtsein dieser pneumatologischen Perspektive haben die Synodenväter an die Bedeutung des Wirkens des Heiligen Geistes im Leben der Kirche und in den Herzen der Gläubigen in bezug auf die Heilige Schrift erinnert:<ref>Vgl. Propositio 5. </ref> Ohne das wirkungsvolle Handeln des »Geistes der Wahrheit« (Joh 14,16) kann man die Worte des Herrn nicht verstehen. Auch der hl. Irenäus sagt: »Jene, die nicht teilhaben am Geist, ziehen nicht aus der Brust ihrer Mutter (der Kirche) die lebensspendende Nahrung, sie erhalten nichts aus der reinsten Quelle, die dem Leib Christi entspringt«.<ref>Adversus haereses, III,24,1: PG 7, 966.</ref> Wie das Wort Gottes im Leib Christi, im eucharistischen Leib und im Leib der Schriften durch das Wirken des Heiligen Geistes zu uns kommt, so kann es nur durch denselben Geist angenommen und wirklich verstanden werden.

Die großen Autoren der christlichen Tradition stimmen überein in ihrer Beurteilung der Rolle, die der Heilige Geist in der Beziehung der Gläubigen zur Heiligen Schrift spielen muß. Der hl. Johannes Chrysostomos sagt, dass die Schrift »der Offenbarung des Geistes bedarf, damit wir reichen Nutzen ziehen können aus der Entdeckung des wahren Sinnes der Dinge, die darin verborgen sind«.<ref>Homiliae in Genesim, XXII, 1: PG 53, 175. </ref> Auch der hl. Hieronymus ist fest davon überzeugt, dass wir »nicht zum Verständnis der Heiligen Schrift gelangen können ohne die Hilfe des Heiligen Geistes, der sie inspiriert hat«.<ref>Epistula 120, 10: CSEL 55, S. 500-506. </ref> Der hl. Gregor der Große hebt sehr schön das Wirken desselben Geistes in der Herausbildung und in der Auslegung der Bibel hervor: »Er selbst hat die Worte der heiligen Testamente erschaffen, er selbst hat ihren Sinn enthüllt«.<ref>Homiliae in Ezechielem I,VII,17: CC 142, S. 94. </ref> Richard von Sankt Viktor ruft in Erinnerung, dass man »Taubenaugen« braucht, die vom Geist erleuchtet und unterwiesen sind, um den heiligen Text zu verstehen.<ref> »Oculi ergo devotae animae sunt columbarum quia sensus eius per Spiritum Sanctum sunt illuminati et edocti, spiritualia sapientes … Nunc quidem aperitur animae talis sensus, ut intellegat Scripturas«: RICHARD VON SANKT VIKTOR, Explicatio in Cantica canticorum, 15: PL 196, 450B.D. </ref>

Hervorheben möchte ich noch, wie wichtig das Zeugnis über die Beziehung zwischen dem Geist und der Schrift ist, das wir in den liturgischen Texten finden, wo das Wort Gottes verkündigt, gehört und den Gläubigen ausgelegt wird. Dies gilt für die antiken Gebete, die in Form einer Epiklese vor den Lesungen den Geist anrufen: »Sende deinen Heiligen Geist, den Beistand, in unsere Herzen, und laß uns die von ihm inspirierten Schriften verstehen; gib, dass ich sie würdig auslege, auf dass die hier versammelten Gläubigen daraus Nutzen ziehen«. Ebenso finden sich Gebete, die nach der Predigt Gott noch einmal um die Gabe des Geistes an die Gläubigen anrufen: »Gott, unser Retter, … wir bitten dich: Sende den Heiligen Geist auf dieses Volk herab. Der Herr Jesus möge bei ihm sein, den Verstand aller ansprechen, die Herzen für den Glauben bereiten und unsere Seelen zu dir führen, barmherziger Gott«.<ref>Sacramentarium Serapionis II (XX): Didascalia et Constitutiones apostolorum, ed. F.X. FUNK, II, Paderborn 1906, S. 161.</ref> Aus alledem wird leicht verständlich, warum man den Sinn des Wortes nicht erfassen kann, wenn man das Wirken des Parakleten in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen nicht annimmt.

Überlieferung und Schrift

17. Indem wir erneut die tiefe Verbindung zwischen dem Heiligen Geist und dem Wort Gottes festgestellt haben, haben wir auch die Grundlagen geschaffen, um den Sinn und den entscheidenden Wert der lebendigen Überlieferung und der Heiligen Schrift in der Kirche zu verstehen. Weil nämlich »Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab« ( Joh 3,16), hat sich das in der Zeit gesprochene göttliche Wort hingegeben und sich der Kirche endgültig »überantwortet«, damit das Heil zu allen Zeiten und an allen Orten kraftvoll verkündet werden kann. Wie uns die dogmatische Konstitution Dei verbum in Erinnerung ruft, hat Jesus Christus selbst »den Aposteln geboten, das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen. Das ist treu ausgeführt worden, und zwar sowohl durch die Apostel, die durch mündliche Predigt, durch Beispiel und Einrichtungen weitergaben, was sie aus Christi Mund, im Umgang mit ihm und durch seine Werke empfangen oder was sie unter der Eingebung des Heiligen Geistes gelernt hatten, als auch durch jene Apostel und apostolischen Männer, die unter der Inspiration des gleichen Heiligen Geistes die Botschaft vom Heil niederschrieben«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 7.</ref>

Darüber hinaus erinnert das Zweite Vatikanische Konzil daran, dass diese Überlieferung apostolischen Ursprungs eine lebendige und dynamische Wirklichkeit ist: Sie »kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt«, aber nicht in dem Sinne, dass sie sich in ihrer Wahrheit verändert, die immerwährend ist. Vielmehr »wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte« durch die Betrachtung und das Studium, durch Einsicht, die aus tieferer geistlicher Erfahrung stammt, und durch »die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben«.<ref> Ebd., 8. </ref>

Die lebendige Überlieferung ist wesentlich, damit die Kirche im Laufe der Zeit im Verständnis der in den Schriften offenbarten Wahrheit wachsen kann; es wird nämlich »durch dieselbe Überlieferung … der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt, in ihr werden die Heiligen Schriften selbst tiefer verstanden und unaufhörlich wirksam gemacht«.<ref>Ebd. </ref> Letztendlich ist es die lebendige Überlieferung der Kirche, die uns die Heilige Schrift als Wort Gottes angemessen verstehen läßt. Obgleich das Wort Gottes der Heiligen Schrift vorausgeht und sie übersteigt, enthält sie doch, da sie von Gott inspiriert ist, das göttliche Wort (vgl. 2 Tim 3,16) »in ganz einzigartiger Weise«.<ref>Vgl. Propositio 3. </ref>

18. Daraus geht hervor, wie wichtig es ist, dass das Volk Gottes klar unterwiesen wird, den Zugang zur Heiligen Schrift in Verbindung mit der lebendigen Überlieferung der Kirche zu suchen und so in ihr das Wort Gottes selbst zu erkennen. Unter dem Gesichtspunkt des geistlichen Lebens ist es sehr wichtig, dafür zu sorgen, dass diese Haltung bei den Gläubigen zunimmt. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis auf eine von den Kirchenvätern entwickelte Analogie zwischen dem Wort Gottes, das »Fleisch« wird, und dem Wort, das »Buch« wird, hilfreich sein.<ref>Vgl. Schlussbotschaft, II,5. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum greift die alte Überlieferung auf, der zufolge »der Leib des Sohnes die uns überlieferte Schrift ist«, wie der hl. Ambrosius sagt,<ref>Expositio Evangelii secundum Lucam 6,33: PL 15, 1677.</ref> und erklärt: »Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters

Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 13. </ref>So verstanden stellt sich uns die Heilige Schrift trotz der Vielfalt ihrer Formen und Inhalte als Einheit dar. Denn »durch alle Worte der Heiligen Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort, in dem er sich selbst ganz aussagt (vgl. Hebr 1,1-3)«,<ref>Katechismus der Katholischen Kirche 102. Vgl. auch RUPERT VON DEUTZ, De operibus Spiritus Sancti, I,6: SC 131, 72-74. </ref> wie bereits der hl. Augustinus deutlich gemacht hat: »Erinnert euch daran, dass Gottes Rede nur eine ist, die sich in der ganzen Heiligen Schrift entfaltet, und dass nur eines das Wort ist, das aus dem Mund aller heiligen Autoren ertönt«.<ref>Enarrationes in Psalmos, 103,IV,1: PL 37, 1378. Ähnliche Aussagen finden sich bei ORIGENES, In Iohannem V,5-6: SC 120, 380-384.</ref>

Letztlich gibt die Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes und unter der Führung des Lehramts an alle Generationen das weiter, was in Christus offenbart wurde. Die Kirche lebt in der Gewißheit, dass ihr Herr, der in der Vergangenheit gesprochen hat, auch heute noch sein Wort in der lebendigen Überlieferung der Kirche und in der Heiligen Schrift mitteilt. Das Wort Gottes schenkt sich uns in der Heiligen Schrift als inspiriertes Zeugnis der Offenbarung, die mit der lebendigen Überlieferung der Kirche die höchste Richtschnur des Glaubens darstellt.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 21.</ref>

Heilige Schrift, Inspiration und Wahrheit

19. Ein Schlüsselbegriff, der dazu dient, die Heilige Schrift als Wort Gottes in menschlichen Worten zu erfassen, ist die Inspiration. Auch hier kann man eine Analogie anführen: So wie das Wort Gottes im Schoß der Jungfrau Maria Fleisch geworden ist durch das Wirken des Heiligen Geistes, wird die Heilige Schrift durch das Wirken desselben Geistes im Schoß der Kirche geboren. Die Heilige Schrift ist »Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde«.<ref> Ebd., 9.</ref> So erkennt man die ganze Bedeutung des menschlichen Autors, der die inspirierten Texte geschrieben hat, und gleichzeitig Gott selbst als den wahren Autor.

In diesem Zusammenhang zeigt sich ganz deutlich, so die Synodenväter, wie entscheidend das Thema der Inspiration für eine adäquate Annäherung an die Schrift und ihre korrekte Hermeneutik ist,<ref> Vgl. Propositiones 5.12. </ref> die wiederum in demselben Geist geschehen muß, in dem sie geschrieben wurde.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 12. </ref> Wenn in uns das Bewußtsein für die Inspiration abnimmt, dann besteht die Gefahr, die Schrift als Objekt historischen Interesses zu lesen und nicht als Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können.

Außerdem haben die Synodenväter hervorgehoben, dass mit dem Thema der Inspiration auch das Thema der Wahrheit der Schrift verbunden ist.<ref>Vgl. Propositio 12. </ref> Eine Vertiefung der Dynamik der Inspiration führt daher zweifellos auch zu einem besseren Verständnis der in den heiligen Büchern enthaltenen Wahrheit. Die Aussagen des Konzils bekräftigen diesbezüglich, dass die inspirierten Bücher die Wahrheit lehren: »Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte. Daher „ist jede Schrift, von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Gott gehörige Mensch bereit sei, wohlgerüstet zu jedem guten Werk“ (2 Tim 3,16-17gr.)«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 11.</ref>

Gewiß wurden in der theologischen Reflexion Inspiration und Wahrheit stets als zwei Schlüsselbegriffe für eine kirchliche Hermeneutik der Heiligen Schrift betrachtet. Dennoch muß man einräumen, dass es heute notwendig ist, diese Wirklichkeiten adäquat zu vertiefen, um besser antworten zu können auf das, was für eine wesensgemäße Auslegung der heiligen Texte erforderlich ist. In dieser Hinsicht möchte ich meinen dringenden Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die Forschung in diesem Bereich fortschreiten und für die Bibelwissenschaft und für das geistliche Leben der Gläubigen Früchte tragen möge.

Gott Vater, Quell und Ursprung des Wortes

20. Die Ökonomie der Offenbarung hat ihren Beginn und ihren Ursprung in Gott, dem Vater. Durch sein Wort »wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes« (Ps 33,6). Er ist es, durch den wir »erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi« (2 Kor 4,6; vgl. Mt 16,17; Lk 9,29).

Im Sohn, dem »fleischgewordenen Logos« (vgl. Joh 1,14), der gekommen ist, um den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 4,34), zeigt sich Gott, der Quell der Offenbarung, als Vater und bringt die göttliche Erziehung des Menschen zur Vollendung, die bereits vorher durch die Worte der Propheten und die Wunder, die er in der Schöpfung und in der Geschichte seines Volkes und aller Menschen gewirkt hat, angeregt worden war. Den Höhepunkt der Offenbarung Gottes des Vaters bietet der Sohn mit der Gabe des Parakleten (vgl. Joh 14,16) – des Geistes des Vaters und des Sohnes –, der uns »in die ganze Wahrheit führt« ( Joh 16,13).

So werden alle Verheißungen Gottes zum »Ja« in Jesus Christus (vgl. 2 Kor 1,20). Auf diese Weise eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit, den Weg zu gehen, der ihn zum Vater führt (vgl. Joh 14,6), damit am Ende Gott »alles in allem sei« (1 Kor 15,28).

21. Wie das Kreuz Christi zeigt, spricht Gott auch durch sein Schweigen. Das Schweigen Gottes, die Erfahrung der Ferne des allmächtigen Vaters, ist ein entscheidender Abschnitt auf dem irdischen Weg des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Am Holz des Kreuzes hängend, hat er den Schmerz beklagt, den dieses Schweigen ihm zufügt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34; Mt 27,46). Gehorsam bis zum letzten Atemzug, hat Jesus in der Finsternis des Todes den Vater angerufen. Ihm vertraute er sich im Augenblick des Übergangs durch den Tod zum ewigen Leben an: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist«  (Lk 23,46).

Diese Erfahrung Jesu ist bezeichnend für die Situation des Menschen, der, nachdem er das Wort Gottes gehört und erkannt hat, es auch mit seinem Schweigen aufnehmen muß. Es ist eine Erfahrung, die etliche Heilige und Mystiker gemacht haben und die auch heute zum Weg vieler Gläubigen gehört. Das Schweigen Gottes ist wie eine Verlängerung der Worte, die er zuvor gesprochen hat. In diesen dunklen Augenblicken spricht er im Geheimnis seines Schweigens. Darum erscheint in der Dynamik der christlichen Offenbarung das Schweigen als wichtiger Ausdruck des Wortes Gottes.

DIE ANTWORT DES MENSCHEN AN DEN GOTT, DER SPRICHT

Berufen, in den Bund mit Gott einzutreten

22. Durch die Hervorhebung der Vielgestaltigkeit des Wortes konnten wir uns vor Augen führen, auf wie viele Weisen Gott zum Menschen spricht und ihm entgegenkommt, sich ihm im Dialog zu erkennen gibt. Gewiß, »wenn der Dialog« – wie die Synodenväter betont haben – »im Bezug zur Offenbarung steht, ist damit der Primat des an den Menschen gerichteten Wortes Gottes verbunden«.<ref>Propositio 4.</ref> Das Geheimnis des Bundes bringt die Beziehung zwischen Gott, der durch sein Wort ruft, und dem Menschen, der antwortet, zum Ausdruck, im klaren Bewußtsein, dass es sich nicht um eine Begegnung zwischen zwei gleichrangigen Parteien handelt. Das, was wir den Alten und den Neuen Bund nennen, ist kein Übereinkommen zwischen zwei gleichen Teilen, sondern ein reines Geschenk Gottes. Indem er durch dieses Geschenk seiner Liebe jede Distanz überwindet, macht er uns wirklich zu seinen »Partnern« und verwirklicht so das hochzeitliche Geheimnis der Liebe zwischen Christus und der Kirche. In dieser Perspektive erscheint jeder Mensch als der Empfänger des Wortes: Er wird angesprochen und aufgerufen, durch eine freie Antwort in diesen Dialog der Liebe einzutreten. So befähigt Gott einen jeden von uns, das göttliche Wort zu hören und darauf zu antworten. Der Mensch wurde im Wort erschaffen und lebt in ihm; er kann sich selbst nicht verstehen, wenn er sich diesem Dialog nicht öffnet. Das Wort Gottes offenbart das auf Kindschaft und Beziehung beruhende Wesen unseres Lebens. Wir sind wirklich aus Gnade berufen, Christus, dem Sohn des Vaters, gleichgestaltet und in ihm verwandelt zu werden.

Gott hört den Menschen und antwortet auf seine Fragen

23. In diesem Dialog mit Gott verstehen wir uns selbst und fi nden eine Antwort auf die tiefsten Fragen, die wir in unserem Herzen tragen. Das Wort Gottes stellt sich nämlich nicht gegen den Menschen, es unterdrückt nicht seine echten Wünsche, sondern erleuchtet sie sogar, indem es sie reinigt und zur Vollendung führt. Wie wichtig ist es doch für unsere Zeit zu entdecken, dass nur Gott auf das Verlangen antwortet, das im Herzen eines jeden Menschen wohnt! In unserer Zeit hat sich leider, vor allem im Westen, die Vorstellung verbreitet, dass Gott mit dem Leben und den Problemen des Menschen nichts zu tun hat, dass seine Gegenwart sogar eine Bedrohung für die Unabhängigkeit des Menschen sein kann. In Wirklichkeit zeigt uns die gesamte Heilsökonomie, dass Gott zugunsten des Menschen und seines ganzheitlichen Heils spricht und in die Geschichte eingreift. Unter dem Gesichtspunkt der Seelsorge ist es daher entscheidend zu vermitteln, dass das Wort Gottes im Dialog steht mit den Problemen, denen der Mensch im täglichen Leben gegenübersteht. Gerade Jesus zeigt sich uns als derjenige, der gekommen ist, damit wir das Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Wir müssen daher alles tun, um dem Menschen das Wort Gottes in der ihm eigenen Aufgeschlossenheit gegenüber seinen Problemen nahezubringen, als Antwort auf seine Fragen, als Weitung seines Werthorizontes und zugleich als Erfüllung seiner persönlichen Erwartungen. Die Seelsorge der Kirche muß deutlich machen, dass Gott die Nöte des Menschen und sein Schreien hört. Der hl. Bonaventura sagt in seinem Breviloquium: »Die Frucht der Heiligen Schrift ist nicht irgendeine, sondern sogar die Fülle der ewigen Glückseligkeit. Denn die Heilige Schrift ist ja das Buch, in dem Worte des ewigen Lebens geschrieben stehen, damit wir nicht nur glauben, sondern auch das ewige Leben besitzen, in dem wir sehen und lieben werden und in dem all unsere Wünsche erfüllt werden«.<ref>Prol., Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 201-202.</ref>

Mit Gott sprechen durch seine Worte

24. Das göttliche Wort führt einen jeden von uns ins Gespräch mit dem Herrn ein: Der Gott, der spricht, lehrt uns, wie wir mit ihm sprechen können. Man denkt unwillkürlich an das Buch der Psalmen, in dem er uns die Worte gibt, mit denen wir ihn anreden, im Gespräch unser Leben vor ihn tragen können und so das Leben selbst in eine Bewegung auf Gott hin verwandeln.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 721–730. </ref> In den Psalmen finden wir tatsächlich die ganze Bandbreite der Empfindungen, die der Mensch in seinem Leben haben kann und die mit Weisheit vor Gott gebracht werden: Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Furcht und Zittern kommen hier zum Ausdruck. Zusammen mit den Psalmen denken wir auch an die zahlreichen anderen Texte der Heiligen Schrift, die die Hinwendung des Menschen zu Gott ausdrücken in Form der Fürbitte (vgl. Ex 33,12-16), des Jubelliedes um den Sieg (vgl. Ex 15) oder der Wehklage in der Ausübung der eigenen Sendung (vgl. Jer 20,7-18). Auf diese Weise wird das Wort, das der Mensch an Gott richtet, selbst zum Wort Gottes in Bestätigung des dialogischen Wesens der ganzen christlichen Offenbarung,<ref>Vgl. Propositio 4. </ref> und die gesamte Existenz des Menschen wird zu einem Dialog mit Gott, der spricht und zuhört, der ruft und Bewegung in unser Leben bringt. Das Wort Gottes offenbart hier, dass das gesamte Leben des Menschen unter dem göttlichen Ruf steht.<ref> Vgl. Relatio post disceptationem, 12. </ref>

Das Wort Gottes und der Glaube

25. »Dem offenbarenden Gott ist der „Gehorsam des Glaubens“ (Röm 16,26; vgl. Röm 1,5; 2 Kor 10,5-6) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich „dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft“ und seiner Offenbarung willig zustimmt«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 5. </ref> Mit diesen Worten hat die dogmatische Konstitution Dei verbum die Haltung des Menschen gegenüber Gott treffend zum Ausdruck gebracht. Die eigentliche Antwort des Menschen an Gott, der zu ihm spricht, ist der Glaube. Daraus wird ersichtlich, dass »der Mensch, um die Offenbarung anzunehmen, den Verstand und das Herz öffnen muß für das Wirken des Heiligen Geistes, der ihn das in der Heiligen Schrift gegenwärtige Wort Gottes verstehen läßt«.<ref>Propositio 4.</ref> Tatsächlich ist es gerade die Verkündigung des göttlichen Wortes, die den Glauben hervorruft, durch den wir der uns offenbarten Wahrheit von Herzen zustimmen und unser ganzes Sein Christus anvertrauen: »So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi« (Röm 10,17). Die ganze Heilsgeschichte zeigt uns fortschreitend diese enge Verbindung zwischen dem Wort Gottes und dem Glauben, der in der Begegnung mit Christus Erfüllung findet. Durch ihn nimmt der Glaube die Form der Begegnung mit einer Person an, der man sein Leben anvertraut. Christus Jesus bleibt heute in der Geschichte, in seinem Leib, der Kirche, gegenwärtig. Unser Glaubensakt ist daher ein persönlicher und zugleich kirchlicher Akt.

Die Sünde als Nichthören auf das Wort Gottes

26. Das Wort Gottes offenbart unvermeidlich auch die dramatische Möglichkeit, die der Freiheit des Menschen gegeben ist, sich diesem Dialog des Bundes mit Gott, für den wir geschaffen sind, zu entziehen. Das göttliche Wort enthüllt nämlich auch die Sünde, die im Herzen des Menschen wohnt. Sehr häufig finden wir sowohl im Alten als auch im Neuen Testament die Beschreibung der Sünde als ein Nichthören auf das Wort, als Bundesbruch und damit als Verschlossenheit gegenüber Gott, der zur Gemeinschaft mit sich ruft.<ref>Zum Beispiel Dtn 28,1-2.15.45; 32,1; unter den Propheten vgl. Jer 7,22-28; Ez 2,8; 3,10; 6,3; 13,2; bis hin zu den letzten: vgl. Sach 3,8. Für den hl. Paulus vgl. Rm 10,14-18; 1 Thess 2,13.</ref> Die Heilige Schrift zeigt uns, dass die Sünde des Menschen im wesentlichen Ungehorsam und »Nichthören« ist. Gerade der radikale Gehorsam Christi bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8) entlarvt diese Sünde bis auf den Grund. In seinem Gehorsam wird der Neue Bund zwischen Gott und dem Menschen geschlossen und uns die Möglichkeit der Versöhnung geschenkt. Jesus wurde ja vom Vater gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden und für die der ganzen Welt (vgl. 1 Joh 2,2; 4,10; Hebr 7,27). So werden uns aus Barmherzigkeit die Möglichkeit der Erlösung und der Beginn eines neuen Lebens in Christus angeboten. Es ist daher wichtig, dass die Gläubigen dazu erzogen werden, die Wurzel der Sünde im Nichthören auf das Wort des Herrn zu erkennen und in Jesus, dem Wort Gottes, die Vergebung anzunehmen, die uns für das Heil öffnet.

Maria »Mater Verbi Dei« und »Mater fidei«

27. Die Synodenväter haben erklärt, dass es der XII. Versammlung grundlegend darum ging, »den Glauben der Kirche an das Wort Gottes zu erneuern«. Dazu müssen wir dorthin blicken, wo die Wechselseitigkeit zwischen dem Wort Gottes und dem Glauben vollkommene Erfüllung gefun- den hat: auf die Jungfrau Maria, »die mit ihrem Ja zum Wort des Bundes und zu ihrer Sendung die göttliche Berufung der Menschheit vollkommen erfüllt«.<ref>Propositio 55. </ref> Die durch das Wort geschaffene menschliche Wirklichkeit fi ndet ihre vollendete Gestalt im gehorsamen Glauben Marias. Von der Verkündigung bis Pfingsten zeigt sie sich uns als Frau, die sich dem Willen Gottes ganz und gar übereignet. Sie ist die Unbefleckte Empfängnis, die von Gott »Begnadete« (vgl. Lk 1,28), bedingungslos fügsam gegenüber dem göttlichen Wort (vgl. Lk 1,38). Ihr gehorsamer Glaube prägt ihr Leben in jedem Augenblick angesichts der Initiative Gottes. Als hörende Jungfrau lebt sie in vollem Einklang mit dem göttlichen Wort; die Ereignisse, die ihren Sohn betreffen, bewahrt sie in ihrem Herzen und setzt sie gleichsam zu einem einzigen Mosaik zusammen (vgl. Lk 2,19.51).<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 33: AAS 99 (2007), 132-133. </ref>

In unserer Zeit müssen die Gläubigen unterwiesen werden, die Verbindung zwischen Maria von Nazaret und dem gläubigen Hören auf das göttliche Wort tiefer zu entdecken. Ich fordere auch die Fachleute auf, die Beziehung zwischen Mariologie und Theologie des Wortes weiter zu vertiefen. Das kann sowohl für das geistliche Leben als auch für die theologischen und biblischen Studien sehr nützlich sein. Denn das, was das Glaubensverständnis über Maria aussagt, gehört zum innersten Kern der christlichen Wahrheit. Tatsächlich ist die Inkarnation des Wortes undenkbar ohne die Freiheit dieser jungen Frau, die durch ihre Zustimmung entscheidend zum Eintritt des Ewigen in die Zeit beiträgt. Sie ist die Gestalt der Kirche, die auf das Wort Gottes hört, das in ihr Fleisch wird. Maria ist auch Symbol der Öffnung gegenüber Gott und dem Nächsten; sie ist aktives Hören, das verinnerlicht, assimiliert, in dem das Wort Lebensform wird.

28. Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Vertrautheit Marias mit dem Wort Gottes richten. Das leuchtet ganz besonders eindringlich im Magnifi kat auf. Hier sieht man gewissermaßen, wie sie sich mit dem Wort identifiziert, in es hineintritt; in diesem wunderbaren Glaubensgesang preist die Jungfrau Maria den Herrn mit seinem eigenen Wort: »Das Magnifikat – gleichsam ein Porträt ihrer Seele – ist ganz gewoben aus Fäden der Heiligen Schrift, aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, dass sie im Wort Gottes wirklich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit dem Wort Gottes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes her. So ist auch sichtbar, dass ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken sind, dass ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von Gottes Wort durchdrungen war, konnte sie Mutter des fleischgewordenen Wortes werden«.<ref> Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 41: AAS 98 (2006), 251.</ref>

Die Bezugnahme auf die Mutter Gottes zeigt uns außerdem, dass das Handeln Gottes in der Welt immer unsere Freiheit mit einschließt, denn im Glauben verwandelt uns das göttliche Wort. Auch unser apostolisches und seelsorgliches Handeln kann niemals wirksam sein, wenn wir nicht von Maria lernen, uns vom Wirken Gottes in uns formen zu lassen: »Die fromme und liebevolle Aufmerksamkeit gegenüber der Gestalt Marias als Vorbild und Urbild des Glaubens der Kirche ist von grundlegender Bedeutung, um auch heute eine konkrete Änderung des Beziehungsmusters der Kirche zum Wort zu bewirken, sowohl in der Haltung betenden Hörens als auch in der Großherzigkeit des Einsatzes für die Sendung und die Verkündigung«.<ref>Propositio 55. </ref>

Durch die Betrachtung des Lebens der Mutter Gottes, das völlig vom Wort geprägt ist, entdecken wir, dass auch wir berufen sind, in das Geheimnis des Glaubens einzutreten, durch das Christus in unserem Leben Wohnung nimmt. Jeder gläubige Christ, so der hl. Ambrosius, empfängt und gebiert gewissermaßen das Wort Gottes in sich: Wenn es auch nur eine Mutter Christi dem Fleische nach gibt, so ist doch dem Glauben nach Christus die Frucht aller.<ref>Vgl. Expositio Evangelii secundum Lucam 2,19: PL 15, 1559-1560.</ref> Was an Maria geschehen ist, kann daher in jedem von uns täglich beim Hören auf das Wort und bei der Feier der Sakramente wieder geschehen.

DIE HERMENEUTIK DER HEILIGEN SCHRIFT IN DER KIRCHE

Die Kirche als der ursprüngliche Ort der Bibelhermeneutik

29. Ein weiteres großes, während der Synode aufgekommenes Thema, auf das ich jetzt aufmerksam machen möchte, ist die Auslegung der Heiligen Schrift in der Kirche. Gerade durch die innere Verbindung zwischen Wort und Glauben wird deutlich, dass die authentische Bibelhermeneutik nur im kirchlichen Glauben angesiedelt sein kann, der im »Ja« Marias sein Urbild besitzt. Der hl. Bonaventura sagt in diesem Zusammenhang, dass es ohne den Glauben keinen Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt: »Das ist die Erkenntnis Jesu Christi, aus der die Sicherheit und das Verständnis der ganzen Heiligen Schrift wie aus einer Quelle hervorgehen. Niemand kann zu ihr vordringen und sie erkennen, wenn er nicht vorher den Glauben besitzt, der Licht, Tor und Fundament der ganzen Heiligen Schrift ist«.<ref>Breviloquium, Prol., Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S. 201-202. </ref> Und der hl. Thomas von Aquin sagt unter Berufung auf Augustinus mit Nachdruck: »Auch der Buchstabe des Evangeliums tötet, wenn im Innern die heilsame Gnade des Glaubens fehlt«.<ref>Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 106, a. 2. </ref>

So können wir ein grundlegendes Kriterium der Bibelhermeneutik in Erinnerung rufen: Der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung ist das Leben der Kirche. Dies verweist auf den kirchlichen Bezug nicht als äußeres Kriterium, dem die Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist ein Erfordernis, das in der Schrift selbst und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, liegt. Denn »die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahmen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teilnahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), III,A,3: Ench. Vat. 13, Nr. 3035.</ref> »Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde«,<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 12.</ref> müssen also die Exegeten, die Theologen und das ganze Volk Gottes sie als das betrachten, was sie wirklich ist: als das Wort Gottes, das sich uns durch menschliche Worte mitteilt (vgl. 1 Thess 2,13). Das ist eine immerwährende, in der Bibel selbst enthaltene Gegebenheit: »Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom HeiliGeist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2 Petr 1,20). Im übrigen ist es gerade der Glaube der Kirche, der in der Bibel das Wort Gottes erkennt, wie der hl. Augustinus sehr schön sagt: »Ich würde nicht an das Evangelium glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegen würde«.<ref>Contra epistolam Manichaei quam vocant fundamenti, V,6: PL 42, 176.</ref> Der Heilige Geist, der das Leben der Kirche beseelt, ist es, der dazu befähigt, die Schriften authentisch auszulegen. Die Bibel ist das Buch der Kirche, und aus ihrem Eingebettetsein im kirchlichen Leben entspringt auch ihre wahre Hermeneutik.

30. Der hl. Hieronymus erinnert daran, dass wir die Schrift niemals alleine lesen können. Wir finden zu viele verschlossene Türen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem »Wir« in den Kern der Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz (14. November 2007): L’Osservatore Romano (dt.), 23. November 2007, S. 2. </ref> Der große dalmatische Gelehrte, für den »Unkenntnis der Schrift Unkenntnis Christi« <ref>Commentariorum in Isaiam libri, Prol.: PL 24, 17. </ref> ist, sagt, dass die Kirchlichkeit der Bibelauslegung kein von außen auferlegter Anspruch ist: Das Buch ist wirklich die Stimme des pilgernden Gottesvolkes, und nur im Glauben dieses Volkes befi nden wir uns sozusagen in der richtigen Tonart, um die Heilige Schrift zu verstehen. Eine authentische Auslegung der Bibel muß stets in harmonischer Übereinstimmung mit dem Glauben der katholischen Kirche stehen. Zu einem Priester sagte Hieronymus: »Halte fest an der überlieferten Lehre, in der du unterwiesen wurdest, damit du im Sinne der gesunden Lehre ermahnen und jene widerlegen kannst, die ihr widersprechen«.<ref>Epistula 52, 7: CSEL 54, S. 426. </ref>

Ansätze, die unter Ausklammerung des Glaubens an den heiligen Text herangehen, können zwar interessante Elemente zutage fördern, indem sie auf die Struktur des Textes und seine Formen eingehen, ein solcher Versuch wäre jedoch stets nur vorbereitender Art und vom Aufbau her unvollständig. So hat die Päpstliche Bibelkommission ein in der modernen Hermeneutik allgemein anerkanntes Prinzip wiedergegeben und bekräftigt: »Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht«. <ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), II,A,2: Ench. Vat. 13, Nr. 2988. </ref> All das unterstreicht die Beziehung zwischen dem geistlichen Leben und der Hermeneutik der Schrift. Denn »mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht«.<ref>Ebd., II,A,2: Ench.Vat. 13, Nr. 2991. </ref> Die Intensität einer authentischen kirchlichen Erfahrung fördert unwillkürlich ein authentisches Glaubensverständnis hinsichtlich des Wortes Gottes, und umgekehrt ist zu sagen, dass das gläubige Lesen der Schrift das kirchliche Leben selbst steigert. Von diesem Ansatz her können wir das bekannte Wort des hl. Gregor des Großen neu erfassen: »Die göttlichen Worte wachsen mit dem, der sie liest«.<ref>Homiliae in Ezechielem I,VII,8: PL 76, 843D.</ref> So bildet und fördert das Hören auf das Wort Gottes die kirchliche Gemeinschaft mit allen, die im Glauben unterwegs sind.

»Die Seele der heiligen Theologie«

31. Deshalb sei das Studium des heiligen Buches gleichsam die Seele der heiligen Theologie«: <ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 24; vgl. Leo XIII., Enzyklika Providentissimus deus (18. November 1893), Pars II, sub fine: ASS 26 (1893-94), 269-292; Benedikt XV., Enzyklika Spiritus Paraclitus (15. September 1920), Pars III: AAS 12 (1920), 385-422. </ref>

Dieses Wort der dogmatischen Konstitution Dei verbum ist uns in diesen Jahren immer vertrauter geworden. Wir können sagen, dass es in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Zusammenhang mit theologischen und exegetischen Studien oft als Symbol für das neuerliche Interesse an der Heiligen Schrift zitiert wurde. Auch die XII. Versammlung der Bischofssynode hat dieses bekannte Wort oft erwähnt, um auf das Verhältnis hinzuweisen, das in bezug auf den heiligen Text zwischen historischer Forschung und Hermeneutik des Glaubens besteht. In dieser Hinsicht haben die Väter mit Freude das vermehrte Studium des Wortes Gottes in der Kirche innerhalb der letzten Jahrzehnte gewürdigt und ihren herzlichen Dank gegenüber den zahlreichen Exegeten und Theologen ausgedrückt, die durch ihre Hingabe, ihren Einsatz und ihr Fachwissen einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung des Schriftverständnisses geleistet haben und leisten, indem sie sich mit den komplexen Problemen auseinandersetzen, die unsere Zeit der Bibelforschung stellt.<ref>Vgl. Propositio 26.</ref> Ein aufrichtiger Dank gilt auch den Mitgliedern der Päpstlichen Bibelkommission in all diesen Jahren, die in enger Zusammenarbeit mit der Kongregation für die Glaubenslehre fortwährend ihren fachlich versierten Beitrag leisten, indem sie sich besonderen Fragen widmen, die mit dem Studium der Heiligen Schrift verbunden sind. Darüber hinaus hat die Synode die Notwendigkeit verspürt, sich über den gegenwärtigen Stand der Bibelforschung und ihre Bedeutung im theologischen Bereich Gedanken zu machen. Von der fruchtbaren Beziehung zwischen Exegese und Theologie hängt nämlich ein großer Teil der pastoralen Wirkkraft der Arbeit der Kirche und des geistlichen Lebens der Gläubigen ab. Es ist mir daher wichtig, einige Refl exionen aufzugreifen, die in den Auseinandersetzungen der Synode mit diesem Thema zum Vorschein gekommen sind.

Entwicklung der Bibelforschung und kirchliches Lehramt

32. Zunächst muss der Nutzen anerkannt werden, der dem Leben der Kirche aus der historisch-kritischen Exegese und den anderen Methoden der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, erwachsen ist.<ref>Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), A-B: Ench. Vat. 13, Nrn. 2846-3150.</ref> Für die katholische Sichtweise der Heiligen Schrift ist die Berücksichtigung dieser Methoden unverzichtbar und mit dem Realismus der Inkarnation verbunden: »Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem christlichen Prinzip, das wir in Joh 1,14 finden: Verbum caro factum est. Das historische Faktum ist eine Grunddimension des christlichen Glaubens. Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie, sondern wirkliche Geschichte und muss deshalb mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft untersucht werden«.<ref>Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 25.</ref> Die Bibelforschung verlangt daher die Kenntnis und den rechten Gebrauch dieser Forschungsmethoden. Obgleich sich in der Moderne die Sensibilität dafür in der Forschung stärker entwickelt hat – wenn auch nicht überall in gleichem Maße –, gab es doch in der gesunden kirchlichen Überlieferung stets eine Liebe zum Studium des »Buchstabens«. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die monastische Kultur, der wir letztlich die Grundlage der europäischen Kultur verdanken und an deren Wurzel das Interesse am Wort steht. Zum Verlangen nach Gott gehört die Liebe zum Wort in all seinen Dimensionen: »Weil im biblischen Wort Gott unterwegs ist zu uns und wir zu ihm, darum muss man lernen, in das Geheimnis der Sprache einzudringen, sie in ihrem Aufbau und in der Weise ihres Ausdrucks zu begreifen. So werden gerade durch die Gottsuche die profanen Wissenschaften wichtig, die uns den Weg zur Sprache zeigen«.<ref>Ders., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 722–723.</ref>

33. Das lebendige Lehramt der Kirche, dessen Aufgabe es ist, »das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären«,<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10.</ref> hat in kluger und ausgewogener Weise dazu beigetragen, die richtige Haltung hinsichtlich der Einführung neuer Methoden der historischen Analyse zu finden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Enzykliken Providentissimus deus von Papst Leo XIII. und Divino afflante Spiritu von Papst Pius XII. Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat die Bedeutung dieser Dokumente für die Exegese und die Theologie anlässlich der Feier des 100. bzw. des 50. Jahrestages ihrer Promulgation in Erinnerung gerufen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache anlässlich des 100. Jahrestages der Enzyklika Providentissimus deus und des 50. Jahrestages der Enzyklika Divino afflante spiritu (23. April 1993): AAS 86 (1994), 232-243.</ref> Durch den Beitrag von Papst Leo XIII. konnte die katholische Interpretation der Bibel vor den Angriffen des Rationalismus bewahrt werden, ohne einen Rückzug in einen geistlichen, unhistorischen Sinn vorzunehmen. Er lehnte die wissenschaftliche Kritik nicht ab, sondern misstraute nur »vorgefassten Meinungen, die angeblich eine wissenschaftliche Grundlage haben, in Wirklichkeit jedoch unterschwellig den Bereich der Wissenschaft überschreiten«.<ref> Ebd., Nr. 4: AAS 86 (1994), 235.</ref> Papst Pius XII. sah sich hingegen den Angriffen der Anhänger einer so genannten mystischen Exegese ausgesetzt, die jeden wissenschaftlichen Ansatz ablehnte. Die Enzyklika Divino afflante Spiritu hat mit großer Feinfühligkeit vermieden, die Vorstellung einer Dichotomie zwischen der »wissenschaftlichen Exegese« für den apologetischen Gebrauch und der »dem internen Gebrauch vorbehaltenen geistlichen Interpretation«, zu erzeugen. Vielmehr spricht sie sowohl von der »theologischen Tragweite des methodisch definierten wörtlichen Sinnes« als auch von der Zugehörigkeit der »Bestimmung des geistlichen Sinnes … zum Bereich der wissenschaftlichen Exegese«.<ref> Ebd., Nr. 5: AAS 86 (1994), 235.</ref> Auf diese Weise lehnen beide Dokumente einen »Bruch zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Sicht des Glaubens, zwischen dem wörtlichen Sinn und dem geistlichen Sinn« ab.<ref> Ebd., Nr. 5: AAS 86 (1994), 236.</ref> Dieses Gleichgewicht floß später in das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 ein: »Die katholischen Exegeten dürfen bei ihrer Interpretationsarbeit nie vergessen, dass sie das Wort Gottes auslegen. Ihr gemeinsamer Auftrag ist noch nicht beendet, wenn die Quellen unterschieden, die Gattungen bestimmt und die literarischen Ausdrucksmittel erklärt sind. Das Ziel ihrer Arbeit ist erst erreicht, wenn sie den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfasst haben«.<ref> Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), III,C,1: Ench. Vat. 13, Nr. 3065.</ref>


Die Bibelhermeneutik des Konzils: Eine zu übernehmende Anleitung

34. Vor diesem Horizont kann man die großen Auslegungsprinzipien der katholischen Exegese, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil – besonders in der dogmatischen Konstitution Dei verbum – dargelegt wurden, um so mehr würdigen: »Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte«.<ref> Nr. 12.</ref> Einerseits hebt das Konzil als wesentliche Elemente zur Erfassung der Aussageabsicht des heiligen Autors die Untersuchung der literarischen Gattungen und die Kontextualisierung hervor. Da aber andererseits die Schrift in demselben Geist ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, führt die dogmatische Konstitution drei grundlegende Kriterien an, die dazu dienen, die göttliche Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes mit Rücksicht auf die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt, 2) Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich 3) Beachtung der Analogie des Glaubens. »Nur dort, wo beide methodologische Ebenen, die historisch-kritische und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist«.<ref> Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 25.</ref>

Zu Recht haben die Synodenväter gesagt, dass das positive Ergebnis der Anwendung der modernen historisch-kritischen Forschung nicht zu leugnen ist. Während jedoch die heutige akademische – auch die katholische – Exegese im Bereich der historisch-kritischen Methode, einschließlich der in jüngerer Zeit vorgenommenen Ergänzungen, auf hohem Niveau arbeitet, ist ein entsprechendes Studium der theologischen Dimension der biblischen Texte einzufordern, damit die Vertiefung gemäß der drei von der dogmatischen Konstitution Dei verbum angegebenen Elemente voranschreitet. (108)<ref> Vgl. Propositio 26.</ref>

Die Gefahr des Dualismus und die säkularisierte Hermeneutik

35. In diesem Zusammenhang muss auf die große Gefahr eines Dualismus hingewiesen werden, der heute bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift aufkommt. Wenn zwischen den beiden Ansatzebenen unterschieden wird, so geschieht dies keinesfalls in der Absicht, sie voneinander zu trennen, noch sie gegeneinander auszuspielen oder sie auch einfach nur nebeneinanderzustellen. Allein in gegenseitiger Abhängigkeit sind sie sinnvoll. Eine Trennung zwischen ihnen, die zu nichts führt, lässt leider nicht selten Exegese und Theologie einander fremd erscheinen, »selbst auf höchster akademischer Ebene«.<ref> Propositio 27.</ref> Ich möchte hier auf die in besonderer Weise besorgniserregenden Folgen hinweisen, die vermieden werden müssen.

a) Zunächst, wenn die Exegese nur auf die erste Ebene reduziert wird, dann wird die Schrift selbst zu einem Buch der Vergangenheit, »aus dem man wohl moralische Erkenntnisse ziehen und die Geschichte erfahren kann, aber das Buch als solches spricht nur von der Vergangenheit und es handelt sich um eine nicht wirklich theologische, sondern eine rein historiographische Exegese, Geschichte der Literatur«.<ref> Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 26.</ref> In einer solchen Verkürzung wird das Ereignis der Offenbarung Gottes durch sein Wort, das in der lebendigen Überlieferung und in der Schrift an uns weitergegeben wird, natürlich in keiner Weise verständlich.

b) Das Fehlen einer Hermeneutik des Glaubens in bezug auf die Schrift zeigt sich außerdem nicht nur in Form einer Abwesenheit, sondern an ihre Stelle tritt unvermeidlich eine andere Hermeneutik – eine positivistische, säkularisierte Hermeneutik, deren grundlegender Schlüssel die Überzeugung ist, dass das Göttliche sich in der Menschheitsgeschichte nicht zeigt. Dieser Hermeneutik zufolge muss dann, wenn ein göttliches Element vorhanden zu sein scheint, dieses auf andere Weise erklärt und alles auf das menschliche Element reduziert werden. Infolgedessen werden Auslegungen vorgelegt, die die Historizität der göttlichen Elemente leugnen.<ref> Vgl. ebd.</ref>

c) Eine solche Haltung muss unweigerlich dem Leben der Kirche Schaden zufügen, da sie Zweifel aufkommen lässt an den wesentlichen Geheimnissen des Christentums und ihrem historischen Wert, wie zum Beispiel die Einsetzung der Eucharistie und die Auferstehung Christi. Damit wird nämlich eine philosophische Hermeneutik aufgezwungen, die die Möglichkeit, dass das Göttliche in die Geschichte eintritt und in ihr gegenwärtig ist, leugnet. Die Übernahme einer solchen Hermeneutik in die theologischen Studien führt unvermeidlich zu einem heftigen Dualismus zwischen der Exegese, die nur auf der ersten Ebene stattfindet, und der Theologie, die in eine Spiritualisierung des Schriftsinnes abdriftet, die das historische Wesen der Offenbarung nicht berücksichtigt.

All das kann sich auch auf das geistliche Leben und auf die Seelsorge nur negativ auswirken: »Die Abwesenheit dieser zweiten methodologischen Ebene hat einen tiefen Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der lectio divina aufgerissen. So kommt es auch gerade deshalb manchmal zu Ratlosigkeit bei der Vorbereitung der Homilien«.<ref> Ebd.</ref> Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass dieser Dualismus manchmal dem intellektuellen Ausbildungsweg sogar einiger Priesteramtskandidaten Unsicherheit und wenig Standfestigkeit verleiht.<ref>Vgl. Propositio 27.</ref> »Wo die Exegese nicht Theologie ist, kann die Heilige Schrift nicht die Seele der Theologie sein und umgekehrt, wo die Theologie nicht wesentlich Auslegung der Schrift in der Kirche ist, hat die Theologie kein Fundament mehr«.<ref>Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19.</ref> Es ist daher unbedingt notwendig, den Hinweisen der dogmatischen Konstitution Dei verbum in diesem Zusammenhang wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Glaube und Vernunft im Zugang zur Schrift

36. Zu einem umfassenderen Verständnis der Exegese und somit ihrer Beziehung zur gesamten Theologie kann, glaube ich, das beitragen, was in diesem Zusammenhang Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio geschrieben hat. Er sagte nämlich: »Nicht unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht lässt, die es erlaubt, zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, dass auch den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen«.<ref>Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 55: AAS 91 (1999), 49-50.</ref>

Diese weitblickenden Überlegungen machen deutlich, dass im hermeneutischen Zugang zur Heiligen Schrift die richtige Beziehung zwischen Glaube und Vernunft auf dem Spiel steht. Die säkularisierte Hermeneutik der Heiligen Schrift wird ja von einer Vernunft betrieben, die sich grundsätzlich der Möglichkeit verschließen will, dass Gott in das Leben der Menschen eintritt und in menschlichen Worten zu den Menschen spricht. Auch in diesem Fall gilt also die Aufforderung, den Horizont der eigenen Rationalität zu erweitern.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an den IV. nationalen Kongreß der Katholischen Kirche in Italien (19. Oktober 2006): AAS 98 (2006), 804-815.</ref> Bei der Anwendung von Methoden zur historischen Analyse muss man es daher vermeiden, gegebenenfalls vorhandene Kriterien zu übernehmen, die die Offenbarung Gottes im Leben der Menschen von vornherein ausschließen. Die Einheit der beiden Interpretationsebenen der Heiligen Schrift setzt letztlich eine Harmonie von Glauben und Vernunft voraus. Einerseits bedarf es eines Glaubens, der eine angemessene Beziehung zur rechten Vernunft unterhält und daher niemals zum Fideismus verkommt, der fundamentalistische Auslegungen der Schrift unterstützen würde. Andererseits bedarf es einer Vernunft, die sich bei der Untersuchung der in der Bibel vorhandenen historischen Elemente offen zeigt und nicht von vornherein alles zurückweist, was über den eigenen Maßstab hinausgeht. Im Übrigen muss sich die Religion des fleischgewordenen Logos dem Menschen, der aufrichtig nach der Wahrheit und nach dem endgültigen Sinn seines Lebens und der Geschichte sucht, als zutiefst vernünftig erweisen.

Wörtlicher Sinn und geistlicher Sinn

37. Wie die Synodenversammlung gesagt hat, ergibt sich ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz.<ref>Vgl. Propositio 6.</ref> Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in ihrem Mittelpunkt das Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht. Die Väter sind nämlich zunächst einmal und im wesentlichen »Kommentatoren der Heiligen Schrift«.<ref>Vgl. Augustinus, De libero arbitrio, III,XXI,59: PL 32, 1300; De Trinitate, II,1,2: PL 42, 845.</ref> Ihr Vorbild kann »die modernen Exegeten einen wirklich religiösen Zugang zur Heiligen Schrift sowie eine Auslegung lehren, die stets dem Kriterium der Gemeinschaft mit der Erfahrung der Kirche folgt, die vom Heiligen Geist geleitet in der Geschichte unterwegs ist«.<ref>Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instr. Inspectis dierum (10. November 1989),26: AAS 81 (1990), 618.</ref>

Auch wenn die patristische und mittelalterliche Tradition natürlich nicht die philologischen und historischen Ressourcen besaß, die der modernen Exegese zur Verfügung stehen, erkannte sie doch die verschiedenen Sinngehalte der Schrift, angefangen beim wörtlichen; es ist »der durch die Worte der Schrift bezeichnete und durch die Exegese, die sich an die Regeln der richtigen Textauslegung hält, erhobene Sinn«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 116.</ref> Thomas von Aquin sagt zum Beispiel: »Alle Sinngehalte (der Heiligen Schrift) gründen auf dem wörtlichen«.<ref>Summa Theologiae, I, q. 1, a. 10, ad 1.</ref> Man muss sich jedoch stets bewusst sein, dass zur Zeit der Kirchenväter und im Mittelalter jede Form der Exegese, auch die wörtliche, auf der Grundlage des Glaubens betrieben wurde und nicht unbedingt zwischen wörtlichem Sinn und geistlichem Sinn unterschieden wurde. In diesem Zusammenhang sei an das klassische Distichon erinnert, das die Beziehung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift zum Ausdruck bringt:

»Littera gesta docet, quid credas allegoria, 
Moralis quid agas, quo tendas anagogia. 
Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; 
die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 118.</ref>

Wir sehen hier die Einheit und die Unterscheidung von wörtlichem Sinn und geistlichem Sinn, wobei sich dieser wiederum in drei Sinngehalte unterteilt, mit denen die Inhalte des Glaubens, der Moral und der eschatologischen Spannung umschrieben werden.

Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese: »Man ist der Absicht der biblischen Texte nur in dem Maß treu, in dem man versucht, durch ihre Formulierungen hindurch die Wirklichkeit des Glaubens zu erreichen, die in ihnen zur Sprache kommt, und diese mit der Glaubenserfahrung der heutigen Zeit verbindet«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), II,A,2: Ench. Vat. 13, Nr. 2987.</ref> Nur aus dieser Perspektive heraus kann man erkennen, dass das Wort Gottes lebendig ist und sich in der Gegenwart unseres Lebens an jeden Menschen richtet. In diesem Sinne behält das, was die Päpstlichen Bibelkommission gesagt hat, volle Gültigkeit: Sie definiert den geistlichen Sinn dem christlichen Glauben entsprechend als den Sinn, »den die biblischen Texte ausdrücken, wenn sie unter dem Einfluß des Heiligen Geistes im Kontext des österlichen Mysteriums Christi und des daraus folgenden neuen Lebens gelesen werden. Diesen Kontext gibt es tatsächlich. Das Neue Testament erkennt darin die Erfüllung der Schriften. So ist es natürlich, die Schriften im Lichte dieses neuen Kontextes zu lesen, der das Leben im Heiligen Geiste ist«.<ref>Ebd., II,B,2: Ench. Vat. 13, Nr. 3003.</ref>

Die Notwendigkeit der Überschreitung des »Buchstabens«

38. Wenn die Gliederung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift festgestellt wird, ist es also entscheidend, den Übergang vom Buchstaben zum Geist zu erfassen. Dieser Übergang findet nicht automatisch und von sich aus statt; vielmehr bedarf es einer Überschreitung des Buchstabens: »Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen Prozess des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten lässt und daher auch ein Prozess des Lebens werden muss«.<ref>Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 726.</ref> So entdecken wir, warum ein authentischer Interpretationsprozess niemals nur ein intellektueller Prozess ist, sondern auch ein Prozess des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Auf diese Weise werden die in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei verbum hervorgehobenen Kriterien deutlicher: Eine solche Transzendierung kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll. Diesem Prozess wohnt eine Dramatik inne, denn im Prozess der Transzendierung hat der Übergang, der in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, unvermeidlich auch mit der Freiheit eines jeden Menschen zu tun. Der hl. Paulus hat diesen Übergang in seinem eigenen Leben in ganzer Fülle erfahren. Was die Überschreitung des Buchstabens und sein Verstehen allein vom Ganzen her bedeutet, hat er drastisch ausgedrückt in dem Satz: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (2Kor 3,6). Der heilige Paulus entdeckt, dass der »freimachende Geist einen Namen hat und so die Freiheit ein inneres Maß: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17). Der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.<ref>Ebd.</ref> Wir wissen, wie auch für den hl. Augustinus dieser Übergang dramatisch und befreiend zugleich war. Er glaubte an die Schrift, die ihm zunächst so uneinheitlich und manchmal ungeschliffen vorgekommen war, eben aufgrund dieser Transzendierung, die er vom hl. Ambrosius durch die typologische Auslegung lernte, für die das gesamte Alte Testament ein Weg auf Christus hin ist. Für Augustinus hat die Überschreitung des Buchstabens den Buchstaben selbst glaubwürdig gemacht und ihm ermöglicht, endlich die Antwort zu finden auf die tiefste Unruhe seines Herzens, das nach der Wahrheit dürstete.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz (9. Januar 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 18. Januar 2008, S. 2.</ref>

Die innere Einheit der Bibel

39. In der Schule der großen Überlieferung der Kirche lernen wir, im Übergang vom Buchstaben zum Geist auch die Einheit der ganzen Schrift zu erfassen, denn das Wort Gottes, das unser Leben hinterfragt und es ständig zur Umkehr aufruft, ist eines.<ref>Vgl. Propositio 29.</ref> In diesem Zusammenhang werden wir sicher geleitet durch die Worte von Hugo von Sankt Viktor: »Die ganze göttliche Schrift bildet ein einziges Buch, und dieses einzige Buch ist Christus, spricht von Christus und findet in Christus seine Erfüllung«.<ref>De arca Noe, 2,8: PL 176, 642C-D.</ref> Gewiss, unter rein geschichtlichem oder literarischem Gesichtspunkt ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer Texte, deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne Bücher nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar sichtbare Spannungen zwischen ihnen. Das gilt bereits innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen als das Alte Testament bezeichnen. Es gilt noch mehr, wenn wir als Christen das Neue Testament und seine Schriften gleichsam als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel Israels verknüpfen und sie so als Weg zu Christus auslegen. Im Neuen Testament wird der Ausdruck »die Schrift« (vgl. Röm 4,3; 1Petr 2,6) normalerweise nicht verwendet, sondern vielmehr »die Schriften« (vgl. Mt 21,43; Joh 5,39; Röm 1,2; 2Petr 3,16), die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 725.</ref> Daraus wird deutlich, dass es die Person Christi ist, die allen »Schriften« in dem Bezug auf das eine »Wort« Einheit verleiht. So versteht man die Aussage in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei verbum, die auf die innere Einheit der ganzen Bibel als entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens verweist.

Die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament

40. Unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Schriften in Christus müssen sich sowohl die Theologen als auch die Seelsorger der Beziehungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bewusst sein. Vor allem ist eindeutig, dass das Neue Testament selbst das Alte Testament als Wort Gottes anerkennt und somit die Autorität der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes aufgreift.<ref>Vgl. Propositio 10; Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 3-5: Ench. Vat. 20, Nrn. 748-755.</ref> Es erkennt sie implizit an, indem es dieselbe Ausdrucksweise verwendet und oft auf Stellen aus diesen Schriften anspielt. Es erkennt sie explizit an, indem es viele Stellen zitiert und zur Argumentation heranzieht. Die auf den Texten des Alten Testaments gründende Argumentation stellt so im Neuen Testament einen entscheidenden Wert dar, der jenen einfacher menschlicher Beweisführungen übersteigt. Im vierten Evangelium sagt Jesus in diesem Zusammenhang, dass »die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35), und der hl. Paulus präzisiert im besonderen, dass die Offenbarung des Alten Testaments für uns Christen auch weiterhin gilt (vgl. Röm 15,4; 1Kor 10,11).<ref>Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 121-122.</ref> Außerdem bekräftigen wir, »dass Jesus von Nazaret ein Jude war und das Heilige Land das Mutterland der Kirche ist«;<ref>Propositio 52.</ref> die Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament, und das Christentum nährt sich stets aus dieser Wurzel. Daher hat die gesunde christliche Lehre stets jede Form des Markionismus abgelehnt, der immer wiederkehrt und auf verschiedene Weise dazu neigt, das Alte und das Neue Testament einander entgegenzusetzen.<ref>Vgl Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 19: Ench. Vat. 20, Nrn. 799-801; Origenes, Homiliae in Numeros 9,4: SC 415,238-242.</ref>

Außerdem sagt das Neue Testament selbst, dass es mit dem Alten übereinstimmt, und verkündet, dass im Geheimnis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi die Heiligen Schriften des jüdischen Volkes ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben. Es muss jedoch angemerkt werden, dass der Begriff der Erfüllung der Schriften komplex ist, da er eine dreifache Dimension beinhaltet: den grundlegenden Aspekt der Kontinuität mit der Offenbarung des Alten Testaments, einen Aspekt des Bruches sowie einen Aspekt der Erfüllung und Überwindung. Das Geheimnis Christi steht in einer Kontinuität der Absicht zum Opferkult des Alten Testaments; es hat sich jedoch auf eine ganz andere Weise verwirklicht, die vielen Verheißungen der Propheten entspricht, und hat so eine nie dagewesene Vollkommenheit erlangt. Das Alte Testament ist nämlich voller Spannungen zwischen seinen institutionellen und seinen prophetischen Gesichtspunkten. Das Ostergeheimnis Christi, hingegen, stimmt – wenn auch in unvorhersehbarer Weise – mit den Prophezeiungen und dem vorausweisenden Aspekt der Schriften vollkommen überein; dennoch weist es deutliche Gesichtspunkte einer Diskontinuität zu den Institutionen des Alten Testaments auf. 41. Diese Überlegungen zeigen die unersetzliche Bedeutung des Alten Testaments für die Christen auf, heben aber zugleich die Originalität der christologischen Auslegung hervor. Schon zur Zeit der Apostel und dann in der lebendigen Überlieferung wurde die Einheit des göttlichen Plans in den beiden Testamenten von der Kirche durch die Typologie verdeutlicht, die nicht willkürlicher Art ist, sondern den vom heiligen Text berichteten Ereignissen innewohnt und daher die ganze Schrift betrifft. Die Typologie »findet in den Werken Gottes im Alten Bund „Vorformen“ (Typologien) dessen, was Gott dann in der Fülle der Zeit in der Person seines menschgewordenen Wortes vollbracht hat«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 128.</ref> Die Christen lesen also das Alte Testament im Licht des gestorbenen und auferstandenen Christus. Wenn die typologische Auslegung den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes in bezug auf das Neue Testament offenbart, darf sie jedoch nicht dazu verleiten zu vergessen, dass auch das Alte Testament selbst seinen Offenbarungswert behält, den unser Herr selber bekräftigt hat (vgl. Mk 12,29-31). Daher »will das Neue Testament auch im Licht des Alten Testamentes gelesen sein. Die christliche Urkatechese hat beständig auf dieses zurückgegriffen (vgl. 1Kor 5,6-8; 10,1-11.)«.<ref>Ebd., 129.</ref> Aus diesem Grund haben die Synodenväter gesagt, dass »das jüdische Bibelverständnis den Christen beim Verständnis und Studium der Schriften helfen kann«.<ref>Propositio 52.</ref>

»Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, und das Alte ist im Neuen offenbar«<ref>Quaestiones in Heptateuchum, 2,73: PL 34, 623.</ref> – so die scharfsinnige und weise Äußerung des hl. Augustinus zu diesem Thema. Es ist also wichtig, sowohl in der Seelsorge als auch im akademischen Bereich die enge Beziehung zwischen den beiden Testamenten deutlich hervorzuheben und mit dem hl. Gregor dem Großen daran zu erinnern, dass »das Neue Testament die Verheißungen des Alten Testaments sichtbar gemacht hat; was dieses in verborgener Weise ankündigt, verkündet jenes offen als gegenwärtig. So ist das Alte Testament Vorausschau des Neuen Testaments; und das Neue Testament ist der beste Kommentar zum Alten Testament«.<ref>Homiliae in Ezechielem, I,VI,15: PL 76, 836.</ref>

Die »dunklen« Stellen der Bibel

42. Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hat sich die Synode auch mit dem Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich muss man sich vor Augen führen, dass die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt, trotz des Widerstands der Menschen. Gott erwählt ein Volk und erzieht es mit Geduld. Die Offenbarung paßt sich dem kulturellen und sittlichen Niveau weit zurückliegender Zeiten an und berichtet daher von Tatsachen und Bräuchen wie zum Beispiel Betrugsmanövern, Gewalttaten, Völkermord, ohne deren Unsittlichkeit ausdrücklich anzuprangern. Das lässt sich aus dem historischen Umfeld heraus erklären, kann jedoch den modernen Leser überraschen, vor allem dann, wenn man die vielen »dunklen« Seiten menschlichen Verhaltens vergisst, die es in allen Jahrhunderten immer gegeben hat, auch in unseren Tagen. Im Alten Testament erheben die Propheten kraftvoll ihre Stimme gegen jede Art von kollektiver oder individueller Ungerechtigkeit und Gewalt. Dadurch erzieht Gott sein Volk in Vorbereitung auf das Evangelium. Es wäre daher falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch erscheinen, nicht zu berücksichtigen. Vielmehr muss man sich bewusst sein, dass die Auslegung dieser Stellen den Erwerb entsprechender Fachkenntnisse voraussetzt, mittels einer Ausbildung, die die Texte in ihrem literarischen und geschichtlichen Zusammenhang und in christlicher Perspektive liest, deren endgültiger hermeneutischer Schlüssel »das Evangelium und das neue Gebot Jesu Christi ist, das im Ostergeheimnis Erfüllung gefunden hat«.<ref>Propositio 29.</ref> Ich fordere daher die Theologen und die Seelsorger auf, allen Gläubigen zu helfen, auch an diese Stellen heranzugehen, und zwar durch eine Lesart, die ihre Bedeutung im Licht des Geheimnisses Christi offenbar werden lässt.

Christen und Juden im Hinblick auf die Heiligen Schriften

43. In Anbetracht der engen Beziehungen, die das Neue an das Alte Testament binden, ergibt es sich von selbst, jetzt die Aufmerksamkeit der besonderen Verbindung zwischen Christen und Juden zuzuwenden, die sich daraus ableitet und die niemals vergessen werden darf. Papst Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«.<ref>Johannes Paul II., Botschaft an den Oberrabbiner von Rom (22. Mai 2004): L’Osservatore Romano (dt.), 4. Juni 2004, S. 7.</ref> Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, dass »eine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation (ist), die in geheimnisvoller Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 87: Ench. Vat. 20, Nr. 1150.</ref> Paulus sagt nämlich über die Juden: »Von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« (Röm 11,28-29).

Außerdem gebraucht der hl. Paulus das schöne Bild vom Ölbaum, um die ganz engen Beziehungen zwischen Christen und Juden zu beschreiben: Die Kirche der Völker ist wie ein wilder Oliventrieb, der in den edlen Olivenbaum des Bundesvolkes eingepfropft wurde (vgl. 
Röm 11,17-24). Wir nähren uns also aus denselben spirituellen Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken ihrer Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest entschlossen darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der Abschiedszeremonie auf dem Internationalen Flughafen »Ben Gurion« in Tel Aviv (15. Mai 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 22. Mai 2009, S. 15.</ref> Papst Johannes Paul II. sagte außerdem: »Wir haben viel gemeinsam, und wir können zusammen so viel für Frieden, für Gerechtigkeit und für eine menschlichere und brüderlichere Welt tun«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache im Oberrabinat »Hechal Shlomo« (23. März 2000): L’Osservatore Romano (dt.), 7. April 2000, S. 9.</ref>

Ich möchte noch einmal bekräftigen, wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist. Dort, wo die Möglichkeit besteht, sollten auch öffentliche Gelegenheiten zur Begegnung und Diskussion geschaffen werden, die das gegenseitige Kennenlernen, die Wertschätzung füreinander und die Zusammenarbeit fördern, auch beim Studium der Heiligen Schrift.

Die fundamentalistische Auslegung der Heiligen Schrift

44. Nachdem wir uns bis jetzt eingehend dem Thema der Bibelhermeneutik in ihren verschiedenen Aspekten gewidmet haben, können wir nun das auf der Synode mehrmals zur Sprache gebrachte Thema der fundamentalistischen Auslegung der Heiligen Schrift angehen.<ref>Vgl. Propositiones 46.47.</ref> Zu diesem Thema hat die Päpstliche Bibelkommission im Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche wichtige Hinweise gegeben. In diesem Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Lesarten richten, die das wahre Wesen des heiligen Textes missachten, indem sie subjektivistische und willkürliche Interpretationen unterstützen. Die von der fundamentalistischen Lesart befürwortete »Wörtlichkeit« ist nämlich in Wirklichkeit ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn, indem sie den Weg für Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, zum Beispiel durch die Verbreitung kirchenfeindlicher Auslegungen der Schrift selbst. Der problematische Aspekt »dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift liegt darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. … Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), I,F: Ench. Vat. 13, Nr. 2974.</ref> Das Christentum vernimmt im Gegensatz dazu in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 726.</ref> Die wahre Antwort auf eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen Schrift im Glauben«. Diese Lesart, »die von alters her in der Überlieferung der Kirche praktiziert wurde, sucht nach der rettenden Wahrheit für das Leben des einzelnen Gläubigen und für die Kirche. Diese Lesart erkennt den historischen Wert der biblischen Überlieferung an. Gerade aufgrund dieses Wertes als historisches Zeugnis will sie die lebendige Bedeutung der Heiligen Schrift wiederentdecken, die auch für das Leben des Gläubigen von heute bestimmt ist«,<ref>Propositio 46.</ref> ohne dabei die menschliche Vermittlung des inspirierten Textes und seine literarischen Gattungen außer acht zu lassen.

Der Dialog zwischen Seelsorgern, Theologen und Exegeten

45. Die wahre Hermeneutik des Glaubens bringt einige wichtige Konsequenzen im Bereich der Pastoralarbeit der Kirche mit sich. Gerade die Synodenväter haben in diesem Zusammenhang zum Beispiel regelmäßigere Kontakte zwischen Seelsorgern, Exegeten und Theologen empfohlen. Die Bischofskonferenzen sollten diese Begegnungen fördern, »um eine größere Gemeinsamkeit im Dienst am Wort Gottes zu unterstützen«.<ref>Propositio 28.</ref> Eine solche Zusammenarbeit hilft allen, die eigene Arbeit besser durchzuführen zum Wohl der ganzen Kirche. Sich nämlich in den Gesichtskreis der Pastoralarbeit zu versetzen bedeutet auch für die Wissenschaftler, dem heiligen Text in seinem Wesen als Mitteilung zu begegnen, die der Herr den Menschen für das Heil macht. Darum gilt die Empfehlung, die bereits die dogmatische Konstitution Dei verbum formuliert: »Die katholischen Exegeten und die anderen Vertreter der theologischen Wissenschaft müssen in eifriger Zusammenarbeit sich darum mühen, unter Aufsicht des kirchlichen Lehramts mit passenden Methoden die göttlichen Schriften so zu erforschen und auszulegen, dass möglichst viele Diener des Wortes in den Stand gesetzt werden, dem Volke Gottes mit wirklichem Nutzen die Nahrung der Schriften zu reichen, die den Geist erleuchtet, den Willen stärkt und die Menschenherzen zur Gottesliebe entflammt«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 23.</ref>

Bibel und Ökumene

46. Im Bewusstsein, dass die Kirche ihr Fundament in Christus besitzt, dem fleischgewordenen Wort Gottes, hat die Synode die Zentralität des Bibelstudiums im ökumenischen Dialog hervorgehoben, im Hinblick auf den vollkommenen Ausdruck der Einheit aller Gläubigen in Christus.<ref>Es ist jedoch anzumerken, dass Katholiken und Orthodoxe, was die so genannten deuterokanonischen Bücher des Alten Testaments und ihre Inspiration betrifft, nicht genau denselben Bibelkanon haben wie Anglikaner und Protestanten.</ref> In der Schrift selbst finden wir ja das an den Vater gerichtete innige Gebet Jesu, dass seine Jünger alle eins sein sollen, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 17,21). All das bestärkt uns in der Überzeugung, dass das gemeinsame Hören und Meditieren der Schrift uns eine reale, wenn auch noch nicht volle Gemeinschaft leben lässt,<ref>Vgl. Relatio post disceptationem, 36.</ref> denn »das gemeinsame Hören der Schriften führt zum Dialog der Liebe und lässt den Dialog der Wahrheit wachsen«.<ref>Propositio 36.</ref> Gemeinsam das Wort Gottes hören; die lectio divina der Bibel halten; sich überraschen lassen von der Neuheit des Wortes Gottes, die nie alt wird und sich nie erschöpft; unsere Taubheit für jene Worte überwinden, die nicht mit unseren Meinungen oder Vorurteilen übereinstimmen; hören und studieren in der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten – all das stellt einen Weg dar, der beschritten werden muss, um die Einheit im Glauben zu erreichen, als Antwort auf das Hören des Wortes.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Ordentlichen Rates des Generalsekretariats der Bischofssynode (25. Januar 2007): AAS 99 (2007), 85-86.</ref> In diesem Sinn waren die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils wirklich erhellend: So »ist die Heilige Schrift gerade beim (ökumenischen) Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet«.<ref>Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 21.</ref> Es ist daher gut, das Wort Gottes intensiver zu studieren, sich stärker mit ihm auseinanderzusetzen und unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren.<ref>Vgl. Propositio 36.</ref> Diese liturgischen Feiern nutzen der Ökumene, und wenn sie in ihrer wirklichen Bedeutung erlebt werden, stellen sie tiefe Momente echten Gebetes dar, um Gott zu bitten, den ersehnten Tag, an dem wir alle am selben Mahl teilhaben und aus demselben Kelch trinken können, bald herbeizuführen. Im Rahmen einer richtigen und lobenswerten Förderung dieser Momente muss jedoch darauf geachtet werden, dass sie den Gläubigen nicht als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden, die unter das Sonntagsgebot fällt. Innerhalb dieser Tätigkeit, die das Studium und das Gebet betrifft, sehen wir, sachlich betrachtet, dass es auch Aspekte gibt, die noch vertieft werden müssen und in denen wir noch voneinander entfernt sind, wie zum Beispiel das Verständnis der Kirche als maßgebliches Subjekt der Auslegung und die entscheidende Rolle des Lehramts.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10.</ref>

Außerdem möchte ich hervorheben, was die Synodenväter über die Bedeutung gesagt haben, die den Übersetzungen der Bibel in die verschiedenen Sprachen im Rahmen dieser ökumenischen Arbeit zukommt. Wir wissen, dass die Übersetzung eines Textes keine rein mechanische Arbeit ist, sondern in gewissem Sinne zur Auslegung gehört. In diesem Zusammenhang hat der ehrwürdige Diener Gottes Papst Johannes Paul II. gesagt: »Wer sich erinnert, wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen beeinflusst haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt diese Gemeinschaftsübersetzungen darstellen«.<ref>Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 44: AAS 87 (1995), 947.</ref> Darum ist die Förderung der Gemeinschaftsübersetzungen der Bibel Teil der ökumenischen Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die diese wichtige Verantwortung übernommen haben, und sie ermutigen, ihr Werk fortzusetzen.

Konsequenzen für die Ausrichtung der theologischen Studien

47. Aus einer angemessenen Hermeneutik des Glaubens ergibt sich noch eine weitere Konsequenz: Es muss gezeigt werden, was sie für die exegetische und theologische Ausbildung insbesondere der Priesteramtskandidaten bedeutet. Es muss dafür gesorgt werden, dass das Studium der Heiligen Schrift wirklich die Seele der Theologie ist, da man in ihr das Wort Gottes erkennt, das heute an die Welt, an die Kirche und an jeden persönlich gerichtet ist. Wichtig ist, dass die in der Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei verbum genannten Kriterien wirklich berücksichtigt und vertieft werden. Es muss vermieden werden, einen Wissenschaftsbegriff aufrechtzuerhalten, demzufolge die wissenschaftliche Forschung der Schrift gegenüber einen neutralen Standpunkt einnimmt. Darum ist es notwendig, dass die Studenten zusammen mit dem Studium der Sprachen, in denen die Bibel geschrieben wurde, und der entsprechenden Auslegungsmethoden ein tiefes geistliches Leben pflegen, um zu verstehen, dass man die Schrift nur erfassen kann, wenn man sie lebt. Aus dieser Sicht heraus empfehle ich, dass das Studium des überlieferten und niedergeschriebenen Wortes Gottes stets in einem zutiefst kirchlichen Geist geschehen soll. Zu diesem Zweck müssen in der akademischen Ausbildung die Beiträge des Lehramts zu diesen Themen gebührend berücksichtigt werden. »Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10.</ref> Es muss also darauf geachtet werden, dass die Studien in Anerkennung der Tatsache stattfinden, dass »die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht«.<ref>Ebd.</ref> Ich wünsche daher, dass das Studium der in der Gemeinschaft der Universalkirche ausgelegten Heiligen Schrift, der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils entsprechend, wirklich die Seele der Theologie sein möge.<ref>Vgl. ebd., 24.</ref>

Die Heiligen und die Auslegung der Schrift

48. Die Auslegung der Heiligen Schrift bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch jene anhörte, die wirklich das Wort Gottes gelebt haben, also die Heiligen:<ref>Vgl. Propositio 22.</ref> »Viva lectio est vita bonorum«.<ref>Gregor der Große, Moralia in Job, XXIV,VIII,16: PL 76, 295.</ref> Die tiefste Auslegung der Schrift kommt in der Tat von jenen, die sich durch das Wort Gottes – im Hören, im Lesen und in der ständigen Betrachtung – formen ließen.

Es ist gewiss kein Zufall, dass die großen Spiritualitäten, welche die Kirchengeschichte gezeichnet haben, aus einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Schrift heraus entstanden sind. Ich denke zum Beispiel an den heiligen Abt Antonius, den das Wort Christi bewegte: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach« (Mt 19,21).<ref>Vgl. Athanasius, Vita Antonii, II: PL 73, 127.</ref> Nicht weniger eindrücklich fragt der hl. Basilius der Große sich in seinem Werk Moralia: »Was macht den Glauben aus? Die volle und zweifelsfreie Gewissheit der Wahrheit der von Gott inspirierten Worte« … »Was macht den Gläubigen aus? Durch jene volle Gewissheit der Bedeutung der Worte der Schrift gleichgestaltet zu werden ohne zu wagen, etwas wegzunehmen oder hinzuzufügen«.<ref>Regula LXXX, XXII: PG 31, 867.</ref> Der hl. Benedikt verweist in seiner Regel auf die Schrift als »verläßliche Wegweisung für das menschliche Leben«.<ref>Regel, 73,3: SC 182, 672.</ref> Als der hl. Franz von Assisi – so Thomas von Celano – hörte, dass die Jünger Christi »weder Gold noch Silber, noch Geld besitzen dürfen, keine Vorratstasche, kein Brot und keinen Wanderstab mit auf den Weg nehmen und weder Schuhe noch zwei Hemden haben sollten ... wurde er sogleich von der Freude im Heiligen Geist erfüllt und rief: „Das ist es, was ich begehre, worum ich bitte, das zu tun ich von ganzem Herzen ersehne!“«.<ref>Thomas von Celano, Vita prima Sancti Francisci, IX, 22: FF 356.</ref> Die hl. Klara von Assisi greift voll und ganz die Erfahrung des hl. Franziskus auf, wenn sie schreibt: »Die Lebensweise des Ordens der Armen Schwestern ... ist diese: Das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu befolgen«.<ref>Regula, I,1-2: FF 2750.</ref> Der hl. Dominikus de Guzmán »erwies sich überall, in den Worten wie in den Werken, als ein Mann des Evangeliums«,<ref>Jordan von Sachsen, Libellus de principiis Ordinis Praedicatorum, 104: Monumenta Fratrum Praedicatorum Historica, Rom 1935, 16, S. 75.</ref> und er wollte, dass auch seine Brüder im Predigerorden »Männer des Evangeliums« sein sollten.<ref>Predigerorden, Erste Konstitutionen oder Consuetudines, II, XXXI.</ref> Die hl. Theresia von Jesus, die in ihren Schriften ständig auf biblische Bilder Bezug nimmt, um ihre mystische Erfahrung zu beschreiben, erinnert daran, dass Jesus selbst ihr offenbart, dass »alles Übel der Welt daher kommt, dass man die Wahrheit der Heiligen Schrift nicht deutlich kennt«.<ref>Leben 40,1.</ref> Die hl. Thérèse vom Kinde Jesu findet die Liebe als ihre persönliche Berufung, indem sie die Schriften erforscht, insbesondere die Kapitel 12 und 13 des Ersten Korintherbriefs.<ref>Vgl. Geschichte einer Seele, Ms B, 3ro.</ref> Die Heilige selbst beschreibt die Anziehungskraft der Schrift: »Sobald sich mein Blick auf das Evangelium richtet, atme ich sofort den Wohlgeruch des Lebens Jesu ein und weiß, wohin ich mich wenden soll«.<ref>Ebd., Ms C, 35vo.</ref> Jeder Heilige ist wie ein Lichtstrahl, der vom Wort Gottes ausgeht: So denken wir auch an den hl. Ignatius von Loyola in seiner Suche nach der Wahrheit und in der geistlichen Entscheidungsfindung; an den hl. Johannes Bosco in seiner Leidenschaft für die Erziehung der Jugend; an den hl. Johannes Maria Vianney in seinem Bewusstsein um die Größe des Priestertums als Gabe und Aufgabe; an den hl. Pio von Pietrelcina als Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit; an den hl. Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit; an die sel. Teresa von Kalkutta, Missionarin der Nächstenliebe Gottes für die Ärmsten der Armen, bis hin zu den Märtyrern des Nationalsozialismus und des Kommunismus, auf der einen Seite vertreten durch eine Karmelitin, die hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und auf der anderen durch den Kardinalerzbischof von Zagreb, den sel. Alois Stepinac.

49. Die Heiligkeit in bezug auf das Wort Gottes gehört also gewissermaßen zur prophetischen Überlieferung, in der das Wort Gottes das Leben des Propheten selbst in den Dienst nimmt. In diesem Sinne stellt die Heiligkeit in der Kirche eine Hermeneutik der Schrift dar, der sich niemand entziehen kann. Der Heilige Geist, der die heiligen Autoren inspiriert hat, ist derselbe, der auch die Heiligen antreibt, das Leben für das Evangelium hinzugeben. In ihre Schule zu gehen ist ein sicherer Weg, um zu einer lebendigen und wirkkräftigen Hermeneutik des Wortes Gottes zu gelangen.

Von dieser Verbindung zwischen dem Wort Gottes und der Heiligkeit wurde uns auf der XII. Generalversammlung der Bischofssynode unmittelbar Zeugnis gegeben, als am 12. Oktober auf dem Petersplatz die Kanonisierung von vier neuen Heiligen stattfand. Es waren der Priester Gaetano Errico, der Gründer der Kongregation der Missionare von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariä; Mutter Maria Bernarda Bütler, die aus der Schweiz gebürtige Missionarin in Ecuador und in Kolumbien; Schwester Alfonsa von der Unbefleckten Empfängnis, die erste in Indien geborene kanonisierte Heilige, und die junge Ecuadorianerin Narcisa de Jesús Martillo Morán. Durch ihr Leben haben sie in der Welt und der Kirche Zeugnis abgelegt von der immerwährenden Fruchtbarkeit des Evangeliums Christi. Bitten wir den Herrn, dass durch die Fürsprache dieser Heiligen, die gerade in den Tagen der Synodenversammlung über das Wort Gottes heiliggesprochen wurden, unser Leben jener »gute Boden« sein möge, auf den der göttliche Sämann das Wort säen kann, auf dass es in uns Frucht der Heiligkeit bringe, »dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach« (Mk 4,20).

ZWEITER TEIL: VERBUM IN ECCLESIA

»Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden« (Joh1,12)

Das Wort Gottes und die Kirche

Die Kirche nimmt das Wort auf

50. Der Herr spricht sein Wort, damit es von denen aufgenommen wird, die gerade »durch« das Wort geschaffen wurden. »Er kam in sein Eigentum« ( Joh1,11); das Wort ist uns also ursprünglich nicht fremd, und die Schöpfung ist auf eine Beziehung der Vertrautheit mit dem göttlichen Leben hin angelegt. Der Prolog des vierten Evangeliums stellt uns auch vor die Ablehnung des göttlichen Wortes von seiten der »Seinen«, die es »nicht aufnahmen« (Joh1,11). Das Wort nicht aufzunehmen bedeutet, nicht auf seine Stimme zu hören, nicht dem Logos gleichgestaltet zu werden. Dort hingegen, wo der – wenn auch schwache und sündige – Mensch sich aufrichtig der Begegnung mit Christus öffnet, beginnt eine radikale Umwandlung: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden« ( Joh1,12). Das Wort aufzunehmen bedeutet, sich von ihm formen zu lassen, um so in der Kraft des Heiligen Geistes Christus, dem »einzigen Sohn vom Vater« ( Joh1,14) gleichgestaltet zu werden. Es ist der Beginn einer neuen Schöpfung, es entsteht ein neues Geschöpf, ein neues Volk. Alle, die glauben, also jene, die den Glaubensgehorsam leben, sind »aus Gott geboren« ( Joh1,13), haben teil am göttlichen Leben, als »Söhne im Sohn« (vgl. Gal 4,5-6; 
Röm 8,14-17). Der hl. Augustin sagt sehr eindrücklich, als er diese Stelle im Johannesevangelium kommentiert: »Durch das Wort wurdest du geschaffen, aber du musst durch das Wort neu geschaffen werden«.<ref>In Iohannis Evangelium Tractatus I,12: PL 35, 1385.</ref> Hier sehen wir, wie sich das Antlitz der Kirche abzeichnet als Wirklichkeit, die definiert ist durch die Aufnahme des Wortes Gottes, das Fleisch geworden ist und unter uns sein Zelt aufgeschlagen hat (vgl. Joh 1,14). Diese Wohnstätte Gottes unter uns, diese schechina (vgl. Ex 26,1), die im Alten Testament vorgezeichnet ist, findet jetzt ihre Erfüllung in der endgültigen Gegenwart Gottes bei den Menschen in Christus.

Das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi im Leben der Kirche

51. Die Beziehung zwischen Christus, dem Wort des Vaters, und der Kirche kann nicht einfach nur als Ereignis der Vergangenheit verstanden werden, sondern es ist eine lebendige Beziehung, in die persönlich einzutreten jeder Gläubige berufen ist. Tatsächlich sprechen wir von der Gegenwart des Wortes Gottes heute bei uns: »Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Papst Johannes Paul II. sagte: »Das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit verwirklicht sich im lebendigen Leib der Kirche. Darum hat der Herr seinen Jüngern den Heiligen Geist verheißen: er werde sie an seine Gebote ,erinnern‘ und sie ihnen verständlich machen (vgl. Joh 14,26) und werde der Anfang und Quell eines neuen Lebens in der Welt sein (vgl. Joh 3,5-8; Röm 8,1-13)«.<ref>Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), 25: AAS 85 (1993), 1153.</ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum bringt dieses Geheimnis in den biblischen Begriffen des hochzeitlichen Dialogs zum Ausdruck: »So ist Gott, der einst gesprochen hat, ohne Unterlass im Gespräch mit der Braut seines geliebten Sohnes, und der Heilige Geist, durch den die lebendige Stimme des Evangeliums in der Kirche und durch sie in der Welt widerhallt, führt die Gläubigen in alle Wahrheit ein und lässt das Wort Christi in Überfülle unter ihnen wohnen (vgl. Kol 3,16)«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 8.</ref>

Die Braut Christi, Lehrmeisterin des Hörens, wiederholt auch heute gläubig: »Sprich, o Herr, deine Kirche hört«.<ref>Relatio post disceptationem, 11.</ref> Darum beginnt die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum mit den Worten: »Gottes Wort voll Ehrfurcht hörend und voll Zuversicht verkündigend, folgt die Heilige Synode...«.<ref>Nr. 1.</ref> Es handelt sich tatsächlich um eine dynamische Definition des Lebens der Kirche: »Das sind Worte, mit denen das Konzil auf einen wesentlichen Aspekt der Kirche hinweist: Sie ist eine Gemeinschaft, die das Wort Gottes hört und verkündet. Die Kirche lebt nicht von sich selbst, sondern vom Evangelium und schöpft aus dem Evangelium immer aufs neue Orientierung für ihren Weg. Es ist ein Hinweis, den jeder Christ aufnehmen und auf sich selbst anwenden soll: Nur wer zuerst und vor allem auf das Wort Gottes hört, wird es dann auch verkünden können«.<ref>Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongreß »Die Heilige Schrift im Leben der Kirche« (16. September 2005): AAS 97 (2005), 956.</ref> Im verkündigten und gehörten Wort Gottes und in den Sakramenten sagt Jesus heute, hier und jetzt, zu jedem: »Ich bin dein, ich schenke mich dir hin«; damit der Mensch ihn aufnehmen und antworten und seinerseits sagen kann: »Ich bin dein«.<ref>Relatio post disceptationem, 10.</ref> So erscheint die Kirche als das Umfeld, in dem wir aus Gnade das erfahren können, was der Prolog des hl. Johannes verkündet: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden« ( Joh1,12).

Die Liturgie: Der bevorzugte Ort des Wortes Gottes

Das Wort Gottes in der heiligen Liturgie

52. Wenn man die Kirche als »Haus des Wortes«<ref>Schlussbotschaft, III.</ref> betrachtet, muss man sich vor allem der heiligen Liturgie zuwenden. Sie ist in der Tat das bevorzugte Umfeld, in dem Gott in der Gegenwart unseres Lebens zu uns spricht – heute zu seinem Volk spricht, das zuhört und antwortet. Jeder Gottesdienst ist von seinem Wesen her von der Heiligen Schrift durchdrungen. In der Konstitution Sacrosanctum concilium heißt es: »Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Konst. über die Heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 24.</ref> Mehr noch: Christus selbst ist gegenwärtig »in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden«.<ref>Ebd., 7.</ref> Tatsächlich »wird der Gottesdienst zur dauernden, vollen und wirksamen Verkündigung des Wortes Gottes. Das im Gottesdienst fortwährend verkündete Wort Gottes ist durch die Kraft des Heiligen Geistes immer lebendig und wirksam und bezeugt so die immer tätige Liebe des Vaters zu den Menschen«.<ref>Meßlektionar, Pastorale Einführung, 4.</ref> Die Kirche war sich stets bewusst, dass sich im Gottesdienst das Wort Gottes mit dem inneren Wirken des Heiligen Geistes verbindet, der es im Herzen der Gläubigen wirken lässt. Denn durch den Parakleten wird »das Wort Gottes zum Fundament des Gottesdienstes, zur Wegweisung und zur Quelle der Kraft für das ganze Leben. … Der Geist lehrt aber auch das Herz jedes einzelnen Menschen, was in der Verkündigung des Wortes Gottes der ganzen Gemeinde der Gläubigen gesagt wird. Er entfaltet die verschiedenen Gnadengaben, ermutigt zu vielfältigem Handeln und fügt alles zur Einheit zusammen«.<ref>Ebd., 9.</ref>

Man muss also die wesentliche Bedeutung, die die liturgische Handlung für das Verständnis des Wortes Gottes besitzt, verstehen und erleben. In einem gewissen Sinn muss die Hermeneutik des Glaubens im Hinblick auf die Heilige Schrift ihren Bezugspunkt stets in der Liturgie haben, wo das Wort Gottes als aktuelles und lebendiges Wort gefeiert wird: »So folgt die Kirche in der Liturgie treu der Art und Weise, wie Christus die heiligen Schriften gelesen und ausgelegt hat. Er hat dazu aufgefordert, alle Schriften zu ergründen vom ‚Heute‘ des Ereignisses her, das er selber ist«.<ref>Ebd., 3; vgl. Lk 4,16-21; 24,25-35, 44-49.</ref>

Hier wird auch die weise Pädagogik der Kirche ersichtlich, die bei der Verkündigung und beim Hören der Heiligen Schrift dem Rhythmus des Kirchenjahres folgt. Dieses Sich-erstrecken des Wortes Gottes über die Zeit hin geschieht insbesondere in der Eucharistiefeier und im Stundengebet. Der strahlende Mittelpunkt des Ganzen ist das Ostergeheimnis, mit dem alle Geheimnisse Christi und der Heilsgeschichte verknüpft sind, die sakramental vergegenwärtigt werden: »Indem sie so die Mysterien der Erlösung feiert, erschließt sie (die Kirche) die Reichtümer der Machterweise und der Verdienste ihres Herrn, so dass sie jederzeit gewissermaßen gegenwärtig gemacht werden und die Gläubigen mit ihnen in Berührung kommen und mit der Gnade des Heiles erfüllt werden«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Konst. über die Heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 102.</ref> Ich fordere daher die Hirten der Kirche und die Seelsorger auf, dafür zu sorgen, dass alle Gläubigen unterwiesen werden, den tiefen Sinn des Wortes Gottes zu erfahren, das sich in der Liturgie im Laufe des Jahres entfaltet und uns die grundlegenden Geheimnisse unseres Glaubens zeigt. Hiervon hängt auch der richtige Zugang zur Heiligen Schrift ab.

Heilige Schrift und Sakramente

53. In der Auseinandersetzung mit dem Thema der Bedeutung der Liturgie für das Verständnis des Wortes Gottes hat die Bischofssynode auch die Beziehung zwischen der Heiligen Schrift und der sakramentalen Handlung hervorgehoben. Es ist äußerst angebracht, die Beziehung zwischen Wort und Sakrament zu vertiefen, sowohl in der pastoralen Tätigkeit der Kirche als auch in der theologischen Forschung.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 44-45: AAS 99 (2007), 139-141.</ref> »Der Wortgottesdienst ist ein entscheidendes Element bei der Feier eines jeglichen Sakramentes der Kirche«;<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), IV,C,1: Ench. Vat. 13, Nr. 3123.</ref> dennoch sind in der pastoralen Praxis die Gläubigen sich nicht immer dieser Beziehung bewusst und erfassen nicht immer die Einheit zwischen der Geste und dem Wort. »Es kommt den Priestern und den Diakonen zu, besonders bei der Sakramentenspendung die Einheit aufzuweisen, die Wort und Sakrament im Dienst der Kirche hervorbringen«.<ref>Ebd., III,B,3: Ench. Vat. 13, Nr. 3056.</ref> In der Beziehung zwischen Wort und sakramentalem Handeln zeigt sich in liturgischer Form das Gott eigene Wirken in der Geschichte durch den performativen Charakter des Wortes selbst. Es gibt nämlich in der Heilsgeschichte keine Trennung zwischen dem, was Gott sagt, und dem, was er wirkt; sein Wort erweist sich als lebendig und wirksam (vgl. Hebr 4,12), wie schon die Bedeutung des hebräischen Wortes dabar anzeigt. Ebenso stehen wir in der liturgischen Handlung seinem Wort gegenüber, das bewirkt, was es aussagt. Wenn man das Gottesvolk unterweist, den performativen Charakter des Wortes Gottes in der Liturgie zu entdecken, hilft man ihm auch, das Wirken Gottes in der Heilsgeschichte und im persönlichen Leben eines jeden seiner Glieder zu erfassen.

Wort Gottes und Eucharistie

54. Was allgemein von der Beziehung zwischen Wort und Sakramenten gilt, wird durch die Bezugnahme auf die Eucharistiefeier vertieft. Im übrigen ist die innere Einheit zwischen Wort und Eucharistie im Schriftzeugnis verwurzelt (vgl. Joh 6; Lk 24), wird von den Kirchenvätern bezeugt und vom Zweiten Vatikanischen Konzil bestätigt.<ref>Vgl. Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 48.51.56; Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 21.26; Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, 6.15; Dekret über Leben und Dienst der Priester Presbyterorum ordinis, 18; Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis, 6. In der großen Überlieferung der Kirche finden wir bedeutsame Aussagen wie: »Corpus Christi intelligitur etiam (…) Scriptura Dei« (auch Gottes Schrift wird als Leib Christi betrachtet): Waltramus, De unitate Ecclesiae conservanda: 1,14, W. Schwenkenbecher (Hrsg.), Hannoverae 1883, S. 33; »Das Fleisch des Herrn ist wahre Speise und sein Blut wahrer Trank; das ist das wahre Wohl, das uns in diesem Leben vorbehalten ist, uns von seinem Fleisch zu nähren und sein Blut zu trinken, nicht nur in der Eucharistie, sondern auch im Lesen der Heiligen Schrift. Das Wort Gottes ist nämlich wahre Speise und wahrer Trank, die man aus der Kenntnis der Schriften schöpft«: Hieronymus, Commentarius in Ecclesiasten, III: PL 23, 1092A.</ref> In diesem Zusammenhang denken wir an die große Rede Jesu über das Brot des Lebens in der Synagoge von Kafarnaum (vgl. Joh 6,22-59), deren Hintergrund die Gegenüberstellung von Mose und Jesus ist – der eine sprach Auge in Auge mit Gott (vgl. Ex 33,11), der andere hat von Gott Kunde gebracht (vgl. Joh 1,18). Die Brotrede ruft das Geschenk in Erinnerung, das Mose mit dem Manna in der Wüste für sein Volk erhielt und das in Wirklichkeit die Torah ist, das lebensspendende Wort Gottes (vgl. Ps 119; Spr 9,5). Jesus bringt in sich selbst das uralte Zeichen zur Erfüllung: »Das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben … Ich bin das Brot des Lebens« ( Joh6,33-35). »Das Gesetz ist Person geworden. In der Begegnung mit Jesus nähren wir uns sozusagen vom lebendigen Gott selbst, essen wir wirklich „Brot vom Himmel“«.<ref>J. Ratzinger (Benedikt XVI.), Jesus von Nazareth, Freiburg i. Br., 2007, S. 312.</ref> In der Rede von Kafarnaum wird der Prolog des Johannes vertieft: Während dort der Logos Fleisch wird, wird hier dieses Fleisch zu »Brot«, das für das Leben der Welt hingegeben wird (vgl. Joh 6,51), in Anspielung auf die Selbsthingabe Jesu im Geheimnis des Kreuzes, bestätigt durch das Wort über sein Blut, das er zu »trinken« gibt (vgl. 
Joh 6,53). Auf diese Weise zeigt sich im Geheimnis der Eucharistie, welches das wahre Manna ist, das wahre Himmelsbrot: Es ist der fleischgewordene Logos Gottes, der sich selbst im Ostergeheimnis für uns hingegeben hat.

Der Bericht des Lukas über die Jünger von Emmaus gestattet uns eine weitere Reflexion über die Verbindung zwischen dem Hören des Wortes und dem Brechen des Brotes (vgl. Lk 24,13-35). Am Tag nach dem Sabbat gesellte Jesus sich ihnen zu, hörte die Worte, mit denen sie ihrer enttäuschten Hoffnung Ausdruck gaben, und wird ihr Weggefährte; »er legte ihnen dar …, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht« (24,27). Gemeinsam mit diesem Wanderer, der sich ihrem Leben so unerwartet vertraut zeigt, beginnen die beiden Jünger, die Schriften mit neuen Augen zu betrachten. Was in jenen Tagen geschehen ist, wird nicht mehr als Scheitern betrachtet, sondern als Erfüllung und Neubeginn. Doch auch diese Worte scheinen den beiden Jüngern noch nicht zu genügen. Erst als Jesus das Brot nahm, den Lobpreis sprach, das Brot brach und es ihnen gab, »gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn« (24,31), berichtet uns das Lukasevangelium; vorher waren sie »wie mit Blindheit geschlagen, so dass sie ihn nicht erkannten« (24,16). Die Gegenwart Jesu, zunächst durch das Wort, dann durch die Geste des Brotbrechens, hat es den Jüngern ermöglicht, ihn zu erkennen, und sie können nun auf neue Weise noch einmal verspüren, was sie bereits vorher mit ihm erlebt hatten: »Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?« (24,32).

55. Aus diesen Berichten geht hervor, wie die Schrift selbst dazu hinführt, ihre unlösbare Verknüpfung mit der Eucharistie zu erfassen. »Es ist gut, sich vor Augen zu halten: Das Wort Gottes, das die Kirche im Gottesdienst liest und verkündet, zielt geradezu darauf ab, zur Eucharistie, dem Opfer des Bundes und dem Gastmahl der Gnade, hinzuführen«.<ref>Meßlektionar, Pastorale Einführung, 10.</ref> Wort und Eucharistie gehören so eng zueinander, dass eines nicht ohne das andere verstanden werden kann: Das Wort Gottes wird im eucharistischen Geschehen sakramentales Fleisch. Die Eucharistie öffnet uns für das Verständnis der Heiligen Schrift, ebenso wie die Heilige Schrift ihrerseits das eucharistische Geheimnis beleuchtet und erklärt. In der Tat: Ohne die Erkenntnis der Realpräsenz des Herrn in der Eucharistie bleibt das Verständnis der Schrift unvollständig. Darum hat »die Kirche von jeher dem Wort Gottes und der Eucharistie gleichermaßen Verehrung erwiesen, wenn auch in unterschiedlichen gottesdienstlichen Formen. Sie hat gewollt und angeordnet, dass diese Verehrung immer und überall weitergeführt werden soll. Unaufhörlich folgt sie dem Beispiel ihres Gründers und feiert sein Pascha-Mysterium. Sie kommt zusammen und liest, „was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24,27), und vollzieht sein Heilswerk in der Feier des Herrengedächtnisses und der übrigen Sakramente«.<ref>Ebd.</ref>

Die Sakramentalität des Wortes

56. Nach dem Verweis auf den performativen Charakter des Wortes Gottes in der sakramentalen Handlung und der Vertiefung der Beziehung zwischen Wort und Eucharistie sind wir nun bereit, uns einem wichtigen Thema zu widmen, das in der Synodenversammlung zur Sprache gekommen ist und das die Sakramentalität des Wortes betrifft.<ref>Vgl. Propositio 7.</ref> In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, daran zu erinnern, was Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio gesagt hat. Er hat dort »auf den sakramentalen Horizont der Offenbarung und insbesondere auf das Zeichen der Eucharistie verwiesen, wo es die unauflösliche Einheit zwischen der Wirklichkeit und ihrer Bedeutung erlaubt, die Tiefe des Geheimnisses zu erfassen«.<ref>Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 13: AAS 91 (1999), 16.</ref> Von hier aus verstehen wir, dass am Ursprung der Sakramentalität des Wortes Gottes ganz eigentlich das Geheimnis der Menschwerdung steht: »Das Wort ist Fleisch geworden« (Joh 1,14), die Wirklichkeit des offenbarten Geheimnisses gibt sich uns im »Fleisch« des Sohnes. Das Wort Gottes wird durch das »Zeichen« menschlicher Worte und Gesten für den Glauben wahrnehmbar. Der Glaube erkennt also das Wort Gottes, indem er die Gesten und Worte annimmt, durch die Gott selbst sich uns zeigt. Der sakramentale Horizont der Offenbarung zeigt daher die heilsgeschichtliche Weise an, in der das Wort Gottes in Zeit und Raum eintritt und zum Gesprächspartner des Menschen wird, der aufgerufen ist, sein Geschenk im Glauben anzunehmen.

Die Sakramentalität des Wortes lässt sich so in Analogie zur Realpräsenz Christi unter den Gestalten des konsekrierten Brotes und Weines verstehen.<ref>Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1373-1374.</ref> Wenn wir zum Altar gehen und am eucharistischen Mahl teilnehmen, empfangen wir wirklich den Leib und das Blut Christi. Die Verkündigung des Wortes Gottes in der liturgischen Feier geschieht in der Einsicht, dass Christus selbst in ihr gegenwärtig ist und sich uns zuwendet,<ref>Vgl. Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 7.</ref> um aufgenommen zu werden. Über die Haltung, die sowohl gegenüber der Eucharistie als auch gegenüber dem Wort Gottes einzunehmen ist, sagt der hl. Hieronymus: »Wir lesen die Heiligen Schriften. Ich denke, dass das Evangelium der Leib Christi ist; ich denke, dass die Heiligen Schriften seine Lehre sind. Und wenn er sagt: Wer mein Fleisch nicht isst und mein Blut nicht trinkt (Joh 6,53), dann kann man zwar diese Worte auch in bezug auf das (eucharistische) Mysterium verstehen; dennoch ist der Leib Christi und sein Blut wahrhaft das Schriftwort, die Lehre Gottes. Wenn wir uns der Eucharistie nähern und ein kleines Stückchen davon fällt auf den Boden, meinen wir, wir seien verloren. Wenn wir beim Hören des Wortes Gottes, während das Wort Gottes – das Fleisch Christi und sein Blut – uns in die Ohren geträufelt wird, an etwas anderes denken, in welch große Gefahr geraten wir da?«.<ref>In Psalmum 147: CCL 78, 337-338.</ref> Christus, der unter den Gestalten von Brot und Wein wirklich gegenwärtig ist, ist in analoger Weise auch in dem Wort gegenwärtig, das in der Liturgie verkündigt wird. Eine Vertiefung des Empfindens für die Sakramentalität des Wortes kann also förderlich sein, um das Geheimnis der Offenbarung mehr als eine Einheit »in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind«<ref>Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 2.</ref> zu verstehen, zum Nutzen des geistlichen Lebens der Gläubigen und der pastoralen Tätigkeit der Kirche.

Die Heilige Schrift und das Lektionar

57. Bei der Hervorhebung der Verknüpfung zwischen Wort und Eucharistie wollte die Synode zu recht auch auf einige Aspekte der liturgischen Feier hinweisen, die den Dienst am Wort betreffen. Vor allem möchte ich auf die Bedeutung des Lektionars Bezug nehmen. Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil gewollte Reform<ref>Vgl. Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 107-108.</ref> hat Früchte getragen, indem sie den Zugang zur Heiligen Schrift bereichert hat. Sie wird in Fülle angeboten, vor allem in den sonntäglichen Gottesdiensten. In der gegenwärtigen Struktur werden die wichtigsten Texte der Schrift häufig aufgegriffen, und darüber hinaus wird das Verständnis für die Einheit des göttlichen Plans durch die Wechselbeziehung zwischen den Lesungen aus dem Alten und dem Neuen Testament gefördert: »Ihre Mitte ist Christus, der in seinem Pascha-Mysterium vergegenwärtigt wird«.<ref>Meßlektionar, Pastorale Einführung, 66.</ref> Einige Schwierigkeiten, die es beim Verständnis der Beziehung zwischen den Lesungen der beiden Testamente nach wie vor gibt, müssen im Licht der kanonischen Auslegung betrachtet werden, also unter dem Gesichtspunkt der inneren Einheit der ganzen Bibel. Wo es sich als notwendig erweist, können die zuständigen Organe die Veröffentlichung von Erläuterungen veranlassen, die das Verständnis der Verknüpfung zwischen den vom Lektionar vorgesehenen Lesungen erleichtern. Diese müssen, wie von der Tagesliturgie vorgesehen, in der liturgischen Versammlung alle verkündigt werden. Eventuelle weitere Probleme und Schwierigkeiten sind der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung vorzulegen.

Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass das gegenwärtige Lektionar des lateinischen Ritus auch eine ökumenische Bedeutung besitzt, da es auch von Konfessionen benutzt und geschätzt wird, die noch nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen. Anders stellt sich das Problem des Lektionars in den Liturgien der katholischen Ostkirchen dar; die Synode bittet diesbezüglich, dass es »maßgeblich geprüft werde«,<ref>Propositio 16.</ref> der jeweiligen Überlieferung und den Zuständigkeiten der Kirchen sui iuris entsprechend und auch hier unter Berücksichtigung des ökumenischen Umfelds.

Verkündigung des Wortes und Lektorendienst

58. Bereits die Synodenversammlung über die Eucharistie hatte größere Sorgfalt bei der Verkündigung des Wortes Gottes verlangt.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 45: AAS 99 (2007), 140-141.</ref> Bekanntlich wird das Evangelium vom Priester oder vom Diakon verkündet, die Erste und Zweite Lesung hingegen in der lateinischen Tradition vom damit beauftragten Lektor, einem Mann oder einer Frau. Ich möchte mich hier zum Sprachrohr der Synodenväter machen, die auch bei dieser Gelegenheit die Notwendigkeit einer angemessenen Schulung<ref>Vgl. Propositio 14.</ref> für die Ausübung des munus des Lektors in der liturgischen Feier<ref>Vgl. Codex des kanonischen Rechtes, Cann. 230 § 2; 204 § 1.</ref> betont haben – insbesondere was den Lektorendienst betrifft, der als solcher im lateinischen Ritus ein Laiendienst ist. Die mit dieser Aufgabe betrauten Lektoren müssen, auch wenn sie nicht die Beauftragung erhalten haben, wirklich dafür geeignet und gut vorbereitet sein. Diese Vorbereitung muss sowohl biblischen und liturgischen als auch technischen Charakter haben: »Die biblische (Vorbereitung) soll darauf abzielen, dass die Lektoren bzw. Vorleser die Lesungen in ihrem Kontext erfassen und die Hauptaussagen der geoffenbarten Botschaft im Licht des Glaubens verstehen können. Die liturgische Vorbereitung soll die Lektoren bzw. Vorleser in den Sinn und den Aufbau des Wortgottesdienstes einführen und ihnen die Beziehung zwischen ihm und der Eucharistiefeier erschließen. Die technische Schulung soll die Lektoren bzw. Vorleser immer mehr vertraut machen mit der Kunst, vor der Gemeinde zu lesen und dabei die eigene Stimme sowie gegebenenfalls die Möglichkeiten einer Lautsprecheranlage richtig einzusetzen«.<ref>Meßlektionar, Pastorale Einführung, 55.</ref>

Die Bedeutung der Homilie

59. »Die einzelnen (haben) auch in bezug auf das Wort Gottes verschiedene Aufgaben und Dienste. Das Wort Gottes zu hören und zu bedenken ist Aufgabe aller Gläubigen, das Wort Gottes auszulegen ist allein Sache jener, die aufgrund der Weihe am Lehramt teilhaben oder aufgrund einer Beauftragung den Dienst der Verkündigung ausüben«,<ref>Ebd., 8.</ref> also die Bischöfe, Priester und Diakone. Von daher wird verständlich, warum dem Thema der Homilie in der Synode solche Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Bereits im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Sacramentum caritatis habe ich in Erinnerung gerufen: »In Verbindung mit der Bedeutung des Wortes Gottes erhebt sich die Notwendigkeit, die Qualität der Homilie zu verbessern. Sie ist ja „Teil der liturgischen Handlung“ und hat die Aufgabe, ein tieferes Verstehen und eine umfassendere Wirksamkeit des Wortes Gottes im Leben der Gläubigen zu fördern«.<ref>Nr. 46: AAS 99 (2007), 141.</ref> Die Homilie ist eine Aktualisierung der Botschaft der Schrift, durch die die Gläubigen bewegt werden, die Gegenwart und Wirksamkeit des Wortes Gottes im Heute des eigenen Lebens zu entdecken. Sie muss zum Verständnis des gefeierten Geheimnisses führen und zur Mission einladen, indem sie die Gemeinde auf das Glaubensbekenntnis, das allgemeine Gebet und die eucharistische Liturgie vorbereitet. Folglich muss jenen, die durch ihren besonderen Dienst mit dem Predigen betraut sind, diese Aufgabe wirklich am Herzen liegen. Zu vermeiden sind allgemein gehaltene und abstrakte Predigten, die die Einfachheit des Wortes Gottes verdunkeln, ebenso wie nutzlose Abschweifungen, bei denen Gefahr besteht, dass sie die Aufmerksamkeit mehr auf den Prediger als auf den Kernpunkt der Botschaft des Evangeliums lenken. Die Gläubigen müssen deutlich erkennen, dass es dem Prediger am Herzen liegt, Christus aufzuzeigen, der im Mittelpunkt einer jeden Predigt stehen muss. Die Prediger müssen daher mit dem heiligen Text vertraut sein und unablässig mit ihm in Kontakt stehen;<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 25.</ref> sie müssen sich in der Betrachtung und im Gebet auf die Predigt vorbereiten, um mit Überzeugung und Leidenschaft zu predigen. Die Synodenversammlung hat dazu aufgerufen, sich folgende Fragen vor Augen zu halten: »Was sagen die Lesungen, die verkündigt wurden? Was sagen sie mir persönlich? Was soll ich der Gemeinde sagen, unter Berücksichtigung ihrer konkreten Situation?«<ref>Propositio 15.</ref> Der Prediger muss sich »als erster vom Wort Gottes, das er verkündet, befragen lassen«,<ref>Ebd.</ref> denn – wie der hl. Augustinus sagt – »wer das Wort Gottes äußerlich predigt und nicht in sein Innerstes hinein hört, wird zweifellos keine Frucht tragen«.<ref>Sermo 179,1: PL 38, 966.</ref> Der Predigt an Sonn- und Feiertagen muss besondere Sorgfalt gewidmet werden; aber auch unter der Woche sollte es in der Messe cum populo nicht versäumt werden, dort, wo es möglich ist, kurze, der Situation angemessene Reflexionen anzubieten, um den Gläubigen zu helfen, das gehörte Wort anzunehmen und fruchtbar werden zu lassen.

Zweckmäßigkeit eines homiletischen Direktoriums

60. Mit Bezug auf das Lektionar angemessen zu predigen ist wirklich eine Kunst, die gepflegt werden muss. In Kontinuität mit den Forderungen der vorausgegangenen Synode<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 93: AAS 99 (2007), 177.</ref> bitte ich die zuständigen Autoritäten, in Analogie zum eucharistischen Kompendium<ref>Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Compendium eucharisticum (25. März 2009), Vatikanstadt 2009.</ref> auch Werkzeuge und Hilfsmittel zu erarbeiten, die den Amtsträgern helfen können, ihre Aufgabe möglichst gut zu erfüllen – wie zum Beispiel homiletische Leitlinien, in denen die Prediger nützliche Hilfestellungen finden können, um sich auf die Ausübung ihres Dienstes vorzubereiten. Der hl. Hieronymus erinnert uns auch daran, dass die Predigt stets vom Zeugnis des eigenen Lebens begleitet sein muss: »Deine Handlungen sollen deine Worte nicht Lügen strafen, damit es nicht geschieht, dass, während du in der Kirche predigst, jemand in seinem Inneren überlegt: „Warum also handelst gerade du nicht so?“ … Beim Priester Christi müssen der Geist und das Wort in Einklang stehen«.<ref>Epistula 57, 7: CSEL 54, s. 426-427.</ref>

Wort Gottes, Versöhnung und Krankensalbung

61. Im Mittelpunkt der Beziehung zwischen dem Wort Gottes und den Sakramenten steht zweifellos die Eucharistie. Dennoch ist es gut, die Bedeutung der Heiligen Schrift auch in den anderen Sakramenten hervorzuheben, insbesondere in denen der Heilung, also im Sakrament der Versöhnung oder Buße und im Sakrament der Krankensalbung. Oft wird der Bezug auf die Heilige Schrift in diesen Sakramenten vernachlässigt. Ihr muss jedoch der Platz eingeräumt werden, der ihr zukommt. Denn niemals darf man vergessen, dass »das Wort Gottes ein Wort der Versöhnung ist, weil Gott in ihm alles mit sich versöhnt (vgl. 2Kor 5,18-20; Eph 1,10). Die in Jesus inkarnierte barmherzige Vergebung Gottes richtet den Sünder wieder auf«.<ref>Propositio 8.</ref> »Das Wort Gottes hilft dem Sünder bei der Erkenntnis seiner Sünden und ruft ihn zur Umkehr und zum Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes«.<ref>Die Feier der Buße, 17.</ref> Um die versöhnende Kraft des Wortes Gottes zu vertiefen, wird empfohlen, dass der einzelne Pönitent sich durch die Betrachtung eines geeigneten Abschnitts aus der Heiligen Schrift auf die Beichte vorbereitet und dass diese mit dem Lesen oder Hören einer biblischen Ermahnung beginnt, so wie es der jeweilige Ritus vorsieht. Zur anschließenden Bezeigung seiner Reue ist es gut, wenn der Pönitent ein vom Ritus vorgesehenes Gebet spricht, »das sich auf Texte der Heiligen Schrift stützt«.<ref>Ebd., 19.</ref> Wenn möglich, sollte die Einzelbeichte von seiten mehrerer Pönitenten in besonderen Momenten des Jahres, oder wenn sich die Gelegenheit bietet, im Rahmen von Bußfeiern stattfinden – wie vom Rituale vorgesehen und unter Beachtung der verschiedenen liturgischen Traditionen –, in denen dem Wortgottesdienst durch geeignete Lesungen viel Raum gewährt werden kann.

Auch in bezug auf das Sakrament der Krankensalbung sollte nicht vergessen werden, dass »die heilende Kraft des Wortes Gottes im Hörenden ein lebendiger Aufruf zur ständigen persönlichen Bekehrung ist«.<ref>Propositio 8.</ref> Die Heilige Schrift enthält zahlreiche Beispiele des Trostes, der Stärkung und der Heilung, die dem Eingreifen Gottes zu verdanken sind. Man denke insbesondere an die Nähe Jesu zu den Leidenden und daran, dass er selbst, das fleischgewordene Wort Gottes, unsere Schmerzen auf sich genommen, aus Liebe zum Menschen gelitten und so der Krankheit und dem Sterben einen Sinn verliehen hat. In den Pfarreien und vor allem in den Krankenhäusern sollte je nach den Umständen das Sakrament der Krankensalbung in gemeinschaftlicher Form gefeiert werden. Bei diesen Gelegenheiten soll dem Wortgottesdienst breiter Raum gegeben und den kranken Gläubigen geholfen werden, das eigene Leiden im Glauben zu leben, vereint mit dem erlösenden Opfer Christi, der uns vom Bösen befreit.

Wort Gottes und Stundengebet

62. Zu den Gebetsformen, die die Heilige Schrift hervorheben, gehört zweifellos das Stundengebet. Den Synodenvätern zufolge ist es »eine vorzügliche Form des Hörens auf das Wort Gottes, weil es die Gläubigen mit der Heiligen Schrift und mit der lebendigen Überlieferung der Kirche in Berührung bringt«.<ref>Propositio 19.</ref> Man muss sich vor allem die hohe theologische und kirchliche Würde dieses Gebets ins Gedächtnis rufen: »Im Stundengebet übt die Kirche das Priesteramt ihres Hauptes aus und bringt Gott „ohne Unterlass“ (1Thess 5,17) das Lobopfer dar, die Frucht der Lippen, die seinen Namen preisen (vgl. Hebr 13,15). Dieses Gebet ist die „Stimme der Braut, die zum Bräutigam spricht, ja es ist das Gebet, das Christus vereint mit seinem Leibe an seinen Vater richtet“«.<ref>Allgemeine Einführung in das Stundengebet, III,15.</ref> Das Zweite Vatikanische Konzil hat in diesem Zusammenhang gesagt: »Alle, die das vollbringen, erfüllen eine der Kirche obliegende Pflicht und haben zugleich Anteil an der höchsten Ehre der Braut Christi; denn indem sie Gott das Lob darbringen, stehen sie im Namen der Mutter Kirche vor dem Throne Gottes«.<ref>Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 85.</ref> Im Stundengebet als einem öffentlichen Gebet der Kirche zeigt sich das christliche Ideal der Heiligung des ganzen Tages, der seinen Rhythmus erhält durch das Hören auf das Wort Gottes und das Gebet der Psalmen, so dass jede Aktivität ihren Bezugspunkt im Gott dargebrachten Lob findet.

Diejenigen, die aufgrund ihres Lebensstandes zum Stundengebet verpflichtet sind, sollen diese Aufgabe zum Wohl der ganzen Kirche treu erfüllen. Die Bischöfe, die Priester und die Diakone, die Anwärter auf den Presbyterat sind, haben von der Kirche den Auftrag zum Stundengebet empfangen und sind verpflichtet, täglich alle Horen zu beten.<ref>Vgl. Codex des kanonischen Rechtes, Cann. 276 § 3; 1174 § 1.</ref> Was die Verbindlichkeit dieses Gebets in den katholischen Ostkirchen sui iuris betrifft, so ist den Weisungen des Eigenrechts Folge zu leisten.<ref>Vgl. Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen, Cann. 377; 473, §§ 1 und 2, 1°; 538 § 1; 881 § 1.</ref> Außerdem ermuntere ich die Gemeinschaften des geweihten Lebens, in der Feier des Stundengebets vorbildlich zu sein, um so Bezugspunkt und Inspiration für das geistliche und pastorale Leben der ganzen Kirche zu sein.

Die Synode hat den Wunsch geäußert, dass sich diese Art des Gebets im Gottesvolk stärker verbreiten möge, besonders das Gebet der Laudes und der Vesper. Eine solche Ausweitung wird von selbst zu einer größeren Vertrautheit der Gläubigen mit dem Wort Gottes führen. Auch der Wert des für die Erste Vesper der Sonn- und Feiertage vorgesehenen Stundengebets sollte hervorgehoben werden, insbesondere für die katholischen Ostkirchen. Zu diesem Zweck empfehle ich, dass dort, wo es möglich ist, die Pfarreien und Ordensgemeinschaften dieses Gebet unter Beteiligung der Gläubigen fördern.

Wort Gottes und Benediktionale

63. Auch beim Gebrauch des Benediktionale soll der für die Verkündigung, das Hören und die kurze Auslegung des Wortes Gottes vorgesehene Raum berücksichtigt werden. Die Segensgeste darf nämlich – in den von der Kirche vorgesehenen Fällen und wenn sie von den Gläubigen erbeten wird – nicht als solche isoliert werden, sondern muss in dem ihr zukommenden Grad zum liturgischen Leben des Gottesvolkes in Beziehung gesetzt werden. In diesem Sinne erhält die Segnung als wirkliches heiliges Zeichen ihren Sinn und ihre Wirksamkeit aus der Verkündigung des Wortes Gottes.<ref>Rituale Romanum, De Benedictionibus, Praenotanda generalia, 21.</ref> Daher ist wichtig, auch diese Gelegenheiten zu nutzen, um in den Gläubigen den Hunger und Durst nach jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt (vgl. Mt 4,4), neu zu entfachen.

Empfehlungen und konkrete Vorschläge für die liturgische Gestaltung

64. Nachdem ich auf einige grundlegende Elemente der Beziehung zwischen der Liturgie und dem Wort Gottes hingewiesen habe, möchte ich nun einige Vorschläge und Empfehlungen der Synodenväter zusammenfassen und hervorheben, die dazu dienen sollen, im Bereich der liturgischen Handlungen oder in Verbindung mit ihnen im Volk Gottes eine immer größere Vertrautheit mit dem Wort Gottes zu fördern.

a) Wort-Gottes-Feiern

65. Die Synodenväter haben alle Hirten aufgefordert, in den ihnen anvertrauten Gemeinden die Wort-Gottes-Feiern zu verbreiten:<ref>Vgl. Propositio 18; Zweites Vatikanisches Konzil, Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 35.</ref> Sie sind bevorzugte Gelegenheiten der Begegnung mit dem Herrn. Deshalb bringt ein solche Gepflogenheit den Gläubigen großen Nutzen und muss als wichtiges Element der liturgischen Pastoral betrachtet werden. Diese Feiern haben eine besondere Bedeutung in Vorbereitung auf die sonntägliche Eucharistie, indem sie den Gläubigen die Möglichkeit geben, weiter in den Reichtum des Lektionars vorzudringen, um die Heilige Schrift zu betrachten und darüber zu beten, vor allem in den liturgischen Festkreisen von Advent und Weihnachten, Fastenzeit und Ostern. Äußerst angezeigt ist die Wort-Gottes-Feier dann in jenen Gemeinden, in denen es aufgrund des Priestermangels nicht möglich ist, an den gebotenen Feiertagen das eucharistische Opfer zu feiern. Unter Berücksichtigung der Hinweise, die bereits im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Sacramentum caritatis über die sonntäglichen Versammlungen in Erwartung eines Priesters zum Ausdruck gekommen sind,<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 75: AAS 99 (2007), 162-163.</ref> empfehle ich, dass von den zuständigen Autoritäten Direktorien für deren Riten verfasst werden, die sich die Erfahrung der Teilkirchen zunutze machen. Auf solche Weise sollen in diesen Situationen Wort-Gottes-Feiern gefördert werden, die den Glauben der Gemeinde nähren, wobei jedoch vermieden wird, dass sie mit Eucharistiefeiern verwechselt werden; »sie sollten vielmehr bevorzugte Gelegenheiten sein, zu Gott zu beten, dass er heilige Priester nach seinem Herzen sende«.<ref>Ebd.</ref>

Darüber hinaus haben die Synodenväter dazu eingeladen, das Wort Gottes auch anlässlich von Wallfahrten, besonderen Festen, Volksmissionen, geistlichen Einkehrtagen und besonderen Tagen der Buße, der Sühne und der Vergebung zu feiern. Was die verschiedenen Formen der Volksfrömmigkeit betrifft, so sind sie zwar keine liturgischen Handlungen und dürfen auch nicht mit den liturgischen Feiern verwechselt werden, sollen sich aber dennoch an diesen orientieren und vor allem der Verkündigung und dem Hören des Wortes Gottes einen angemessenen Raum geben, denn »in der Bibel findet die Volksfrömmigkeit eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration, unübertreffliche Vorbilder des Gebets und fruchtbare thematische Vorlagen«.<ref>Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen (17. Dezember 2001), 87: Ench. Vat. 20, Nr. 2461.</ref>

b) Das Wort und die Stille

66. Nicht wenige Beiträge der Synodenväter haben den Wert der Stille in bezug auf das Wort Gottes und seine Annahme im Leben der Gläubigen hervorgehoben.<ref>Vgl. Propositio 14.</ref> In der Tat kann das Wort nur in der inneren und äußeren Stille ausgesprochen und gehört werden. Unsere Zeit ist der inneren Sammlung nicht förderlich, und manchmal hat man den Eindruck, dass geradezu eine Angst besteht, sich auch nur für einen Augenblick von den Massenkommunikationsmitteln zu trennen. Daher ist es heute notwendig, dem Gottesvolk den Wert der Stille zu vermitteln. Die Zentralität des Wortes Gottes im Leben der Kirche wiederzuentdecken bedeutet auch, den Sinn der inneren Sammlung und Ruhe wiederzuentdecken. Die große patristische Überlieferung lehrt uns, dass die Geheimnisse Christi an die Stille gebunden sind,<ref>Vgl. Ignatius von Antiochien, Ad Ephesios, XV,2: Patres Apostolici, ed. F.X. FUNK, Tubingae 1901, I, 224.</ref> und nur in ihr kann das Wort Raum in uns finden, wie in Maria, die zugleich Frau des Wortes und der Stille ist – diese Aspekte sind in ihr nicht voneinander zu trennen. Unsere Gottesdienste müssen dieses wahre Hören erleichtern: Verbo crescente, verba deficiunt.<ref>Vgl. Augustinus, Sermo 288,5: PL 38, 1307; Sermo 120,2: PL 38, 677.</ref>

Dieser Wert muss insbesondere in der Liturgie des Wortes aufscheinen, die »so zu feiern (ist), dass sie die Betrachtung fördert«.<ref>Grundordnung des Römischen Meßbuchs, 56.</ref> Dort, wo das Schweigen vorgesehen ist, ist es »als Teil der Feier«<ref>Ebd., 45; vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium, 30.</ref> zu betrachten. Ich rufe daher die Hirten auf, die Momente der Sammlung zu fördern, durch die mit Hilfe des Heiligen Geistes das Wort Gottes im Herzen aufgenommen wird.

c) Feierliche Verkündigung des Wortes Gottes

67. Ein weiterer Vorschlag, der aus der Synode hervorging, war der, vor allem bei herausragenden liturgischen Anlässen die Verkündigung des Wortes, besonders die des Evangeliums, feierlicher zu gestalten, indem das Evangeliar während der Eingangsriten in der Prozession mitgeführt und dann vom Diakon oder einem Priester für die Verkündigung zum Ambo gebracht wird. Dadurch kann das Gottesvolk erkennen: »Die Verkündigung des Evangeliums ist der Höhepunkt des Wortgottesdienstes«.<ref>Meßlektionar, Pastorale Einführung, 13.</ref> Gemäß den Weisungen der Einführung in das Meßlektionar ist es gut, die Verkündigung des Wortes Gottes durch Gesang zur Geltung zu bringen, vor allem die des Evangeliums und besonders an den Hochfesten. Es wäre gut, den Gruß und die Ankündigung »Aus dem heiligen Evangelium …« und den Ruf am Ende »Evangelium unseres Herrn Jesus Christus« zu singen, um die Bedeutung dessen, was vorgelesen wird, hervorzuheben.<ref>Vgl. ebd., 17.</ref>

d) Das Wort Gottes im christlichen Sakralbau

68. Um das Hören auf das Wort Gottes zu fördern, dürfen die Hilfsmittel nicht übersehen werden, die die Aufmerksamkeit der Gläubigen steigern können. In diesem Sinn ist es notwendig, dass in den Sakralbauten – unter Beachtung der liturgischen und architektonischen Vorschriften – niemals die Akustik vernachlässigt wird. »Die Bischöfe müssen, gebührend unterstützt, beim Bau von Kirchen dafür sorgen, dass diese für die Verkündigung des Wortes, die Betrachtung und die Eucharistiefeier geeignete Orte sind. Auch außerhalb der Liturgie müssen die sakralen Räume eine Aussagekraft besitzen und das christliche Geheimnis im Bezug zum Wort Gottes vermitteln«.<ref>Propositio 40.</ref>

Mit besonderer Sorgfalt sollte man auf den Ambo achten als den liturgischen Ort, von dem aus das Wort Gottes verkündigt wird. Er muss an einem gut sichtbaren Platz aufgestellt werden, auf den sich die Aufmerksamkeit der Gläubigen während des Wortgottesdienstes von selbst richtet. Am besten sollte er fest angebracht und als plastisches Element in ästhetischer Harmonie mit dem Altar entworfen sein, so dass auch optisch der theologische Sinn des zweifachen Tisches des Wortes und der Eucharistie vermittelt wird. Am Ambo werden die Lesungen, der Antwortpsalm und das Osterlob verkündet; außerdem können dort die Homilie gehalten und die Fürbitten vorgetragen werden.<ref>Vgl. Grundordnung des Römischen Meßbuchs, 309.</ref>

Darüber hinaus schlagen die Synodenväter vor, dass es in den Kirchen einen Platz geben soll, an dem die Heilige Schrift auch außerhalb der liturgischen Feier aufbewahrt wird.<ref>Vgl. Propositio 14.</ref> Es ist gut, wenn das Buch, das das Wort Gottes enthält, einen sichtbaren Ehrenplatz im christlichen Sakralbau bekommt, ohne jedoch dem Tabernakel, das das Allerheiligste Sakrament enthält, die ihm zukommende zentrale Stellung zu nehmen.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 69: AAS 99 (2007), 157.</ref>

e) Ausschließlichkeit der biblischen Texte in der Liturgie

69. Die Synode hat außerdem noch einmal nachdrücklich das bekräftigt, was im übrigen bereits von der liturgischen Norm der Kirche festgelegt ist,<ref>Vgl. Grundordnung des Römischen Meßbuchs, 57.</ref> dass nämlich die der Heiligen Schrift entnommenen Lesungen nie durch andere Texte ersetzt werden dürfen, so bedeutsam diese vom pastoralen oder geistlichen Gesichtspunkt aus auch sein mögen: »Kein Text der Spiritualität oder der Literatur kann den Wert und den Reichtum erlangen, der in der Heiligen Schrift, dem Wort Gottes, enthalten ist«.<ref>Propositio 14.</ref> Es handelt sich um eine altehrwürdige Norm der Kirche, die bewahrt werden muss.<ref>Vgl. den Kanon 36 der Synode von Hippo des Jahres 393: DS 186.</ref> Angesichts einiger Mißbräuche hatte bereits Papst Johannes Paul II. in Erinnerung gerufen, wie wichtig es ist, niemals die Heilige Schrift durch andere Lesungen zu ersetzen.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Vicesimus quintus annus (4. Dezember 1988), 13: AAS 81 (1989), 910; Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Instruktion Redemptionis sacramentum über einige Dinge bezüglich der heiligsten Eucharistie, die einzuhalten und zu vermeiden sind (25. März 2004), 63: Ench. Vat. 22, Nr. 2248.</ref> Wir erinnern daran, dass auch der Antwortpsalm Wort Gottes ist, mit dem wir auf die Stimme des Herrn antworten, und dass er deshalb nicht durch andere Texte ersetzt werden darf. Es ist jedoch angebracht, ihn in gesungener Form auszuführen.

f) Biblisch inspirierter liturgischer Gesang

70. Im Rahmen der Bemühungen, das Wort Gottes in der liturgischen Feier besser zur Geltung zu bringen, sollte auch der Gesang in den vom jeweiligen Ritus vorgesehenen Augenblicken berücksichtigt werden. Dabei bevorzuge man Gesänge, die ganz klar biblisch inspiriert sind und durch die harmonische Übereinstimmung von Text und Musik die Schönheit des göttlichen Wortes zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne ist es gut, jene Gesänge zu verwenden, die wir der Überlieferung der Kirche verdanken und die diesem Kriterium entsprechen. Ich denke insbesondere an den Gregorianischen Choral.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Konst. über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium , 116; Grundordnung des Römischen Meßbuchs, 41.</ref>

g) Besondere Aufmerksamkeit gegenüber Blinden und Gehörlosen

71. In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass die Synode allen ans Herz gelegt hat, jenen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, die aufgrund ihrer persönlichen Verfassung Probleme haben, an der Liturgie tätig teilzunehmen, wie zum Beispiel die Blinden und die Gehörlosen. Ich ermutige die christlichen Gemeinden, mit geeigneten Hilfsmitteln so weit wie möglich dafür zu sorgen, den Brüdern und Schwestern, die unter dieser Schwierigkeit leiden, entgegenzukommen, damit auch sie die Möglichkeit haben, in lebendigem Kontakt mit dem Wort des Herrn zu stehen.<ref>Vgl. Propositio 14.</ref>

Das Wort Gottes im kirchlichen Leben

Dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift begegnen

72. Wenn einerseits die Liturgie der bevorzugte Ort für die Verkündigung, das Hören und die Feier des Wortes Gottes ist, so muss andererseits diese Begegnung in den Herzen der Gläubigen vorbereitet und vor allem von diesen vertieft und verinnerlicht werden. Das christliche Leben ist ja wesentlich gekennzeichnet durch die Begegnung mit Jesus Christus, der uns in seine Nachfolge ruft. Darum hat die Bischofssynode mehrmals die Bedeutung der Pastoral in den christlichen Gemeinden als den eigentlichen Bereich hervorgehoben, in dem ein persönlicher und gemeinschaftlicher Weg mit dem Wort Gottes beschritten werden kann, so dass dieses wirklich die Grundlage des geistlichen Lebens bildet. Zusammen mit den Synodenvätern wünsche ich mir von Herzen das Aufkeimen »einer neuen Zeit, in der alle Glieder des Gottesvolkes eine größere Liebe zur Heiligen Schrift empfinden, so dass sich durch ihr betendes und gläubiges Lesen allmählich die Beziehung zur Person Christi selbst vertieft«.<ref>Propositio 9.</ref>

In der Kirchengeschichte fehlt es nicht an Ermahnungen von seiten der Heiligen bezüglich der Notwendigkeit, die Schrift kennenzulernen, um in der Liebe Christi zu wachsen. Besonders deutlich tritt das bei den Kirchenvätern hervor. Der hl. Hieronymus, der wahrhaft »verliebt« war in das Wort Gottes, fragte sich: »Wie könnte man ohne die Kenntnis der Schrift leben, durch die man Christus selbst kennenlernt, der das Leben der Gläubigen ist?«.<ref>Epistula 30, 7: CSEL 54, S. 246.</ref> Er war sich wohl bewusst, dass die Bibel das Mittel ist, »durch das Gott jeden Tag zu den Gläubigen spricht«.<ref>Ders., Epistula 133, 13: CSEL 56, S. 260.</ref> So rät er der römischen Matrone Laeta für die Erziehung ihrer Tochter: »Vergewissere dich, dass sie täglich einige Abschnitte aus der Schrift studiert… An das Gebet schließe sie die Lesung an und an die Lesung das Gebet… Statt der Juwelen und Seidengewänder soll sie die Heiligen Bücher lieben«.<ref>Ders., Epistula 197, 9.12: CSEL 55, S. 300.302.</ref> Für uns gilt das, was der heilige Hieronymus an den Priester Nepotianus schrieb: »Lies sehr häufig die göttlichen Schriften; ja, lege das Heilige Buch nie aus der Hand. Lerne hier, was du lehren sollst«.<ref>Ders., Epistula 52, 7: CSEL 54, S. 426.</ref> Nach dem Vorbild des großen Heiligen, der sein Leben dem Studium der Bibel widmete und für dir Kirche ihre lateinische Übersetzung – die so genannte Vulgata – erstellt hat, und aller Heiligen der Kirche, die in den Mittelpunkt ihres geistlichen Lebens die Begegnung mit Christus gestellt haben, wollen wir uns mit neuem Eifer bemühen, das Wort zu vertiefen, das Gott der Kirche geschenkt hat. Auf diese Weise können wir nach jenem »hohen Maßstab des gewöhnlichen christlichen Lebens«<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), 31: AAS 83 (2001), 287-288.</ref> streben, den Papst Johannes Paul II. zu Beginn des dritten christlichen Jahrtausends wünschte und der aus dem Hören auf das Wort Gottes unablässig Nahrung zieht.

Die Bibel als Seele der Pastoral

73. Auf dieser Linie hat die Synode zu einem besonderen pastoralen Einsatz aufgefordert, um die zentrale Stellung des Wortes Gottes im kirchlichen Leben deutlich werden zu lassen, und empfohlen, die »„biblische Pastoral“ nicht neben anderen Formen der Pastoral, sondern als Seele der ganzen Pastoral zu fördern«.<ref>Propositio 30; vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 24.</ref> Es geht also nicht darum, in der Pfarrei oder in der Diözese noch weitere Begegnungen hinzuzufügen, sondern es muss sichergestellt werden, dass in den gewohnten Aktivitäten der christlichen Gemeinden, in den Pfarreien, in den Verbänden und in den Bewegungen wirklich das Herzensanliegen die persönliche Begegnung mit Christus ist, der sich uns in seinem Wort mitteilt. »Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen«<ref>Hieronymus, Commentariorum in Isaiam libri, Prol.: PL 24, 17B.</ref> – in diesem Sinne führt die Bibel als Seele der gesamten ordentlichen und außerordentlichen Pastoral zu einer größeren Kenntnis der Person Christi, der der Offenbarer des Vaters und die Fülle der göttlichen Offenbarung ist.

Ich ermuntere daher die Hirten und die Gläubigen, die Bedeutung der Bibel als Seele der Pastoral zu berücksichtigen: Das wird auch die beste Art sein, einigen pastoralen Problemen zu begegnen, die auf der Synodenversammlung zur Sprache kamen und die zum Beispiel mit der Ausbreitung von Sekten verbunden sind, die eine verzerrte und instrumentalisierte Auslegung der Heiligen Schrift verbreiten. Dort, wo die Gläubigen nicht zu einer Bibelkenntnis gemäß dem Glauben der Kirche und im Schoß ihrer lebendigen Überlieferung herangebildet werden, entsteht in der Tat ein pastorales Vakuum, in dem unter anderem Sekten Boden finden können, um Wurzeln zu schlagen. Aus diesem Grund muss auch für eine angemessene Ausbildung der Priester und der Laien gesorgt werden, die das Gottesvolk den unverfälschten Zugang zur Schrift lehren können.

Wie in den Arbeiten der Synode hervorgehoben wurde, sollte darüber hinaus in der Pastoralarbeit auch die Verbreitung kleiner Gemeinschaften begünstigt werden, »die aus Familien bestehen, die entweder in den Pfarreien verwurzelt oder an die verschiedenen kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften gebunden sind«<ref>Propositio 21.</ref> und in denen die Unterweisung, das Gebet und die Kenntnis der Bibel gemäß dem Glauben der Kirche gefördert werden.

Biblische Dimension der Katechese

74. Ein wichtiges Moment der pastoralen Initiativen der Kirche, in denen man geschickt die Zentralität des Wortes Gottes wieder hervorheben kann, ist die Katechese, die in ihren verschiedenen Formen und Phasen das Gottesvolk stets begleiten muss. Die Begegnung der Jünger von Emmaus mit Jesus, die der Evangelist Lukas (vgl. 24,13-35) beschreibt, ist gewissermaßen das Vorbild für eine Katechese, in deren Mittelpunkt die »Darlegung der Schrift« steht, die nur Jesus zu geben in der Lage ist (vgl. Lk 24,27-28), indem er in sich selbst ihre Erfüllung aufzeigt.<ref>Vgl. Propositio 23.</ref> So keimt wieder die Hoffnung auf, die stärker ist als jede Niederlage und die jene Jünger zu überzeugten und glaubwürdigen Zeugen des Auferstandenen macht.

Im Allgemeinen Direktorium für die Katechese finden wir wertvolle Hinweise, wie die Katechese biblisch beseelt werden kann; auf sie verweise ich gern.<ref>Vgl. Kongregation für den Klerus, Allgemeines Direktorium für die Katechese (15. August 1997), 94-96: Ench. Vat. 16, Nrn. 875-878; Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 27: AAS 71 (1979), 1298-1299.</ref> Bei dieser Gelegenheit möchte ich vor allem hervorheben, dass die Katechese »sich von Gedanken, Geist und Haltungen der Bibel und der Evangelien durch ständigen Kontakt mit den Texten selber prägen und durchdringen lassen muss; das heißt aber auch, dass die Katechese um so reichhaltiger und wirksamer sein wird, je mehr sie die Texte mit dem Verstand und dem Herzen der Kirche liest«<ref>Kongregation für den Klerus, Allgemeines Direktorium für die Katechese (15. August 1997),127: Ench. Vat. 16, Nr. 935; vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 27: AAS 71 (1979), 1299.</ref> und sich von der Reflexion und dem zweitausendjährigen Leben der Kirche anregen lässt. Man muss also die Kenntnis der Gestalten, der Ereignisse und der grundlegenden Stellen des heiligen Textes fördern; dazu kann auch ein verständiges Auswendiglernen einiger in bezug auf die christlichen Geheimnisse besonders bedeutsamer Bibelstellen nützlich sein. Die katechetische Tätigkeit setzt immer voraus, dass man im Glauben und im Geist der Überlieferung der Kirche an die Schrift herangeht, damit jene Worte als lebendig wahrgenommen werden, so wie Christus heute lebendig ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20). Sie muss die Heilsgeschichte und die Glaubensinhalte der Kirche lebendig vermitteln, damit jeder Gläubige erkennt, dass auch das eigene persönliche Leben Teil dieser Geschichte ist.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, die Beziehung zwischen der Heiligen Schrift und dem Katechismus der Katholischen Kirche hervorzuheben, wie es im Allgemeinen Direktorium für die Katechese heißt: »Die Heilige Schrift als „Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde“, und der Katechismus der Katholischen Kirche als bedeutsamer gegenwartsbezogener Ausdruck der lebendigen Überlieferung der Kirche und als sichere Norm für die Glaubensunterweisung sind, auf je eigene Weise und nach ihrer je besonderen Autorität, berufen, die Katechese in der Kirche unserer Zeit zu befruchten«.<ref>Ebd., 128: Ench. Vat. 16, Nr. 936.</ref>

Biblische Ausbildung der Christen

75. Um das von der Synode angestrebte Ziel zu erreichen, der gesamten Pastoral der Kirche eine stärkere biblische Ausrichtung zu geben, ist eine angemessene Ausbildung der Christen und insbesondere der Katecheten notwendig. In diesem Zusammenhang muss das Bibelapostolat verstärkt werden, eine für diesen Zweck sehr wertvolle Methode, wie die kirchliche Erfahrung zeigt. Die Synodenväter haben außerdem empfohlen, Ausbildungszentren für Laien und Missionare einzurichten – wobei möglichst bereits bestehende akademische Einrichtungen genutzt werden sollten –, in denen man lernt, das Wort Gottes zu verstehen, zu leben und zu verkündigen. Wo es für notwendig erachtet wird, sollten auch Fachinstitute für Bibelstudien eingerichtet werden, damit die Exegeten ein solides theologisches Verständnis und eine entsprechende Sensibilität für die Zusammenhänge ihrer Sendung haben.<ref>Vgl. Propositio 33.</ref>

Die Heilige Schrift in den großen kirchlichen Zusammenkünften

76. Unter den vielfältigen Initiativen, die ergriffen werden können, schlägt die Synode vor, in den Zusammenkünften sowohl auf diözesaner als auch auf nationaler und internationaler Ebene die Bedeutung des Wortes Gottes, das Hören auf dieses Wort und die gläubige und betende Bibellesung stärker hervorzuheben. Im Rahmen der nationalen und internationalen eucharistischen Kongresse, der Weltjugendtage und anderer Begegnungen ist es daher lobenswert, den Wort-Gottes-Feiern und der biblischen Unterweisung größeren Raum zu gewähren.<ref>Vgl. Propositio 45.</ref>

Wort Gottes und Berufungen

77. Die Synode hat den inneren Anspruch des Glaubens hervorgehoben, die Beziehung zu Christus, dem Wort Gottes unter uns, zu vertiefen. Dabei hat sie auch betont, dass dieses Wort jeden Menschen ganz persönlich ruft, und damit offenbart, dass das Leben selbst Berufung ist in bezug auf Gott. Das bedeutet: Je mehr wir unsere persönliche Beziehung zu Jesus, dem Herrn, vertiefen, desto mehr bemerken wir, dass er uns zur Heiligkeit beruft, durch endgültige Entscheidungen, mit denen unser Leben auf seine Liebe antwortet, indem wir Aufgaben und Dienste übernehmen, um die Kirche aufzubauen. Aus dieser Perspektive versteht man die Einladungen der Synode an alle Christen, ihre Beziehung zum Wort Gottes zu vertiefen – als Getaufte, aber auch als Menschen, die in verschiedene Lebensstände berufen sind. Hier sprechen wir einen der Angelpunkte der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils an, das die Berufung zur Heiligkeit eines jeden Gläubigen hervorgehoben hat, jeder seinem eigenen Lebensstand gemäß.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 39-42.</ref> In der Heiligen Schrift offenbart sich unsere Berufung zur Heiligkeit: »Seid heilig, weil ich heilig bin« (Lev 11,44; 19,2; 20,7). Der hl. Paulus stellt dann ihre christologische Wurzel heraus: In Christus hat der Vater »uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott« (Eph 1,4). So können wir seinen Gruß an die Brüder und Schwestern der Gemeinde von Rom auf jeden von uns beziehen, die wir »von Gott geliebt sind, die berufenen Heiligen: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« (Röm 1,7).

a) Wort Gottes und geweihte Amtsträger

78. Wenn ich mich jetzt an die geweihten Amtsträger der Kirche wende, erinnere ich sie zunächst an die Aussage der Synode: »Das Wort Gottes ist unverzichtbar, um das Herz eines guten Hirten zu formen, der Diener des Wortes ist«.<ref>Propositio 31.</ref> Bischöfe, Priester und Diakone dürfen keinesfalls meinen, sie könnten ihre Berufung und Sendung leben ohne ein entschlossenes und erneuertes Bemühen um Heiligung, das im Kontakt mit der Bibel einen seiner Grundpfeiler besitzt.

79. Für jene, die zum Bischofsamt berufen und damit die ersten und maßgeblichsten Verkünder des Wortes sind, möchte ich noch einmal betonen, was Papst Johannes Paul II. im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Pastores Gregis gesagt hat. Um das geistliche Leben zu nähren und voranschreiten zu lassen, gehört für den Bischof an die erste Stelle immer »das Lesen und die Betrachtung des Wortes Gottes. Jeder Bischof soll sich immer„Gott und dem Wort seiner Gnade“ anvertrauen, „das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen“ (Apg 20,32). Deshalb muss der Bischof, noch bevor er Vermittler des Wortes ist, zusammen mit seinen Priestern und wie jeder Gläubige, ja wie die Kirche selbst, Hörer des Wortes sein. Er muss gleichsam„innerhalb“ des Wortes sein, um sich von ihm wie von einem Mutterschoß behüten und nähren zu lassen«.<ref>Nr. 15: AAS 96 (2004), 846-847.</ref> In Nachahmung Marias, Virgo audiens und Königin der Apostel, lege ich allen Brüdern im Bischofsamt die häufige persönliche Lektüre und das unermüdliche Studium der Heiligen Schrift ans Herz.

80. Auch in bezug auf die Priester möchte ich die Worte von Papst Johannes Paul II. in Erinnerung rufen, der im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Pastores dabo vobis gesagt hat: »Der Priester ist zunächst Diener des Wortes Gottes, er ist geweiht und gesandt, allen das Evangelium vom Reich Gottes zu verkünden, indem er jeden Menschen zum Glaubensgehorsam ruft und die Gläubigen zu einer immer tieferen Kenntnis und Gemeinschaft des Geheimnisses Gottes führt, das uns in Christus geoffenbart und mitgeteilt wurde. Darum muss der Priester zuallererst selber eine große persönliche Vertrautheit mit dem Wort Gottes entwickeln: Für ihn genügt es nicht, dessen sprachlichen oder exegetischen Aspekt zu kennen, der sicher auch notwendig ist; er muss sich dem Wort mit bereitem und betendem Herzen nähern, damit es tief in seine Gedanken und Gefühle eindringt und in ihm eine neue Gesinnung erzeugt – ‚den Geist Christi‘ (1Kor 2,16)«.<ref>Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 26: AAS 84 (1992), 698.</ref> Demgemäß müssen seine Worte, Entscheidungen und Haltungen zunehmend eine Transparenz, eine Verkündigung und ein Zeugnis des Evangeliums darstellen. »Nur wenn er im Wort „bleibt“, wird der Priester ein vollkommener Jünger des Herrn werden, wird er die Wahrheit erkennen und wirklich frei sein«.<ref>Ebd.</ref>

Schließlich verlangt die Berufung zum Priestertum, »in der Wahrheit« geheiligt zu sein. Jesus selbst bringt diesen Anspruch, den er für seine Jünger erhebt, zum Ausdruck: »Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt«(Joh 17,17-18). Die Jünger werden gewissermaßen »in Gott hineingezogen, indem sie in das Wort Gottes eingetaucht werden. Das Wort Gottes ist gleichsam das Bad, das sie reinigt, die schöpferische Macht, die sie umformt in Gottes Sein hinein«.<ref>Benedikt XVI., Homilie in der Chrisam-Messe (9. April 2009): AAS 101 (2009), 355.</ref> Und da Christus selbst das fleischgewordene Wort Gottes (Joh 1,14), »die Wahrheit« (Joh 14,6) ist, bedeutet das Gebet, das Jesus an den Vater richtet – »heilige sie in der Wahrheit« – im Tiefsten: »Einige sie mit mir – Christus. Binde sie an mich. Ziehe sie hinein in mich. Und in der Tat: Es gibt letztlich nur einen Priester des Neuen Bundes, Jesus Christus selbst«.<ref>Ebd., 356.</ref> Die Priester müssen sich daher dieser Wirklichkeit immer neu und immer tiefer bewusst werden.

81. Ich möchte auch den Platz des Wortes Gottes im Leben jener erwähnen, die zum Diakonat berufen sind, nicht nur als Vorstufe zur Priesterweihe, sondern als ständigen Dienst. Im Direktorium für den ständigen Diakonat heißt es: »Aus dem theologischen Selbstverständnis des Diakons lassen sich mit aller Klarheit die Grundlinien seiner besonderen Spiritualität ableiten, die sich wesentlich als eine Spiritualität des Dienstes darstellt. Das Vorbild schlechthin ist Christus, der Diener, der ganz dem Dienst für Gott zum Wohl der Menschen gelebt hat«.<ref>Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Grundnormen für die Ausbildung der ständigen Diakone (22. Februar 1998), 11: Ench. Vat. 17, Nrn.174-175.</ref> Aus dieser Perspektive heraus versteht man, warum als »charakteristisches Merkmal das Wort Gottes die Spiritualität des Diakons prägt. Dieser ist ja gerufen, sein kompetenter Verkünder zu sein, der glaubt, was er verkündet, lehrt, was er glaubt, und lebt, was er lehrt«.<ref>Ebd., 74: Ench. Vat. 17, Nr. 263.</ref> Ich empfehle daher, dass die Diakone in ihrem Leben die gläubige Lektüre der Heiligen Schrift durch das Studium und das Gebet nähren. Sie müssen in die Heilige Schrift und in deren richtige Auslegung eingeführt werden; in das Verhältnis von Schrift und Tradition; insbesondere in den Gebrauch der Schrift in der Predigt, in der Katechese und in der pastoralen Tätigkeit im allgemeinen.<ref>Vgl. ebd., 81: Ench. Vat. 17, Nr. 271.</ref>

b) Wort Gottes und Kandidaten für die heiligen Weihen

82. Die Synode hat der entscheidenden Rolle des Wortes Gottes im geistlichen Leben der Priesteramtskandidaten besondere Bedeutung zugemessen: »Die Priesteramtskandidaten müssen lernen, das Wort Gottes zu lieben. Die Schrift soll daher die Seele ihrer theologischen Ausbildung sein, wobei der unverzichtbare Kreislauf zwischen Exegese, Theologie, Spiritualität und Sendung hervorgehoben werden muss«.<ref>Propositio 32.</ref> Die Priesteramtskandidaten sind angehalten, eine tiefe persönliche Beziehung zum Wort Gottes zu pflegen, insbesondere in der lectio divina, denn aus dieser Beziehung nährt sich die Berufung selbst: Im Licht und in der Kraft des Wortes Gottes kann die eigene Berufung entdeckt, verstanden, geliebt und befolgt und die eigene Sendung erfüllt werden, indem im Herzen die Gedanken Gottes gepflegt werden, sodass der Glaube als Antwort auf das Wort zum neuen Kriterium für die Beurteilung und Bewertung von Menschen und Dingen, von Ereignissen und Problemen wird.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 47: AAS 84 (1992), 740-742.</ref>

Diese Beachtung der betenden Schriftlesung darf keinesfalls zu einer Dichotomie in bezug auf die exegetischen Studien in der Ausbildungszeit führen. Die Synode hat empfohlen, den Seminaristen konkret zu helfen, die Beziehung zwischen dem Bibelstudium und dem Gebet mit der Schrift zu sehen. Das Studium der Schrift muss das Geheimnis der göttlichen Offenbarung stärker zu Bewusstsein bringen und gegenüber dem Herrn, der spricht, eine Haltung betender Antwort erwecken. Andererseits lässt auch ein echtes Gebetsleben in der Seele des Kandidaten von selbst den Wunsch wachsen, den Gott, der sich in seinem Wort als unendliche Liebe offenbart hat, immer besser kennenzulernen. Es muss daher größte Sorgfalt darauf verwandt werden, im Leben der Seminaristen diese Wechselseitigkeit zwischen Studium und Gebet zu pflegen. Diesem Ziel dient es, dass die Kandidaten in das Studium der Heiligen Schrift durch Methoden eingeführt werden, die einen solchen ganzheitlichen Zugang fördern.

c) Wort Gottes und geweihtes Leben

83. In bezug auf das geweihte Leben hat die Synode vor allem daran erinnert, dass es »aus dem Hören auf das Wort Gottes hervorgeht und das Evangelium als seine Lebensnorm annimmt«.<ref>Propositio 24.</ref> Das Leben in der Nachfolge des keuschen, armen und gehorsamen Christus ist daher eine »lebendige „Exegese“ des Wortes Gottes«.<ref>Benedikt XVI., Predigt am Fest der Darstellung des Herrn (2. Februar 2008); AAS 100 (2008), 133; vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Vita consecrata (25. März 1996), 82; AAS 88 (1996), 458-460.</ref> Der Heilige Geist, in dessen Kraft die Bibel geschrieben wurde, ist derselbe, der »die Gründer und Gründerinnen das Wort Gottes in einem neuen Licht sehen ließ. Diesem Wort entspringt jedes Charisma, und jede Ordensregel will sein Ausdruck sein«.<ref>Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens, Instruktion Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im dritten Jahrtausend ( 19. Mai 2002), 24: Ench. Vat. 21, Nr. 447.</ref> So entstanden Wege christlichen Lebens, die von der Radikalität des Evangeliums geprägt sind.

Ich möchte daran erinnern, dass der grundlegende Faktor der Spiritualität der großen monastischen Tradition stets die Betrachtung der Heiligen Schrift war, insbesondere in der Form der lectio divina. Auch heute sind die älteren und neueren Formen des besonderen geweihten Lebens berufen, wahre Schulen des geistlichen Lebens zu sein, in denen die Schriften gemäß dem Heiligen Geist in der Kirche gelesen werden, so dass das ganze Gottesvolk daraus Nutzen ziehen kann. Die Synode mahnt daher, in den Gemeinschaften des geweihten Lebens dürfe niemals eine solide Unterweisung in der gläubigen Lektüre der Bibel fehlen.<ref>Vgl. Propositio 24.</ref>

Nochmals möchte ich die Aufmerksamkeit und die Dankbarkeit der Synode gegenüber den kontemplativen Lebensformen zum Ausdruck bringen, die aufgrund ihres besonderen Charismas viel Zeit in ihrem Tagesablauf damit verbringen, die Mutter Gottes nachzuahmen, die über die Worte ihres Sohnes und alles, was mit ihm geschah, beständig nachdachte (vgl. Lk 2,19.51), sowie Maria von Betanien, die sich dem Herrn zu Füßen setzte und seinen Worten zuhörte (vgl. Lk 10,39). Ich denke besonders an die Mönche und Nonnen, die in Klausur leben und so in der Form der Trennung von der Welt inniger mit Christus, dem Herzen der Welt, vereint sind. Die Kirche braucht heute mehr denn je das Zeugnis derer, die sich verpflichten, »der Liebe zu Christus nichts vorzuziehen«.<ref>Benedikt von Nursia, Regel, IV,21: SC 181, 456-458.</ref> Die heutige Welt ist oft zu sehr vereinnahmt von äußeren Aktivitäten und läuft Gefahr, sich in ihnen zu verlieren. Die kontemplativen Männer und Frauen erinnern uns mit ihrem Leben des Gebets, des Hörens und der Betrachtung des Wortes Gottes daran, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt (vgl. Mt 4,4). Alle Gläubigen sollen sich daher eines vor Augen halten: Eine solche Lebensform zeigt »der heutigen Welt das Allerwichtigste, ja das letztlich allein Entscheidende: dass es einen letzten Grund gibt, um dessentwillen es sich zu leben lohnt: Gott und seine unergründliche Liebe«.<ref>Benedikt XVI., Ansprache beim Besuch der Abtei Heiligenkreuz (9. September 2007): AAS 99 (2007), 856.</ref>

d) Wort Gottes und gläubige Laien

84. Den gläubigen Laien hatdie Synode viele Male ihre Aufmerksamkeit gewidmet und ihnen gedankt für ihren großherzigen Einsatz bei der Verbreitung des Evangeliums in den verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens, in der Arbeit, in der Schule, in Familie und Erziehung.<ref>Vgl. Propositio 30.</ref> Diese Aufgabe, die sich aus der Taufe ergibt, muss sich weiter entfalten durch ein immer bewussteres christliches Leben, das in der Lage ist, »jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt« (1Petr 3,15), die uns erfüllt. Im Matthäusevangelium sagt Jesus: »Der Acker ist die Welt; der gute Samen, das sind die Söhne des Reiches« (13,38). Diese Worte gelten besonders für die christlichen Laien, die ihre Berufung zur Heiligkeit durch ein Leben nach dem Geist verwirklichen, das »vor allem in ihrem Einbezogensein in den weltlichen Bereich und in ihrer Teilnahme an den irdischen Tätigkeiten zum Ausdruck kommt«.<ref>Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 17: AAS 81 (1989), 418.</ref> Sie müssen unterwiesen werden, den Willen Gottes zu erkennen durch die Vertrautheit mit dem Wort Gottes, das unter Anleitung der rechtmäßigen Hirten in der Kirche gelesen und studiert wird. Mögen sie diese Unterweisung aus den Schulen der großen kirchlichen Spiritualitäten schöpfen, an deren Wurzel stets die Heilige Schrift steht. Ihren Möglichkeiten entsprechend sollen die Diözesen in diesem Sinne Bildungsangebote für Laien mit besonderen kirchlichen Verantwortlichkeiten bereitstellen.<ref>Vgl. Propositio 33.</ref>

e) Wort Gottes, Ehe und Familie

85. Die Synode hat es für nötig gehalten, auch die Beziehung zwischen dem Wort Gottes, der Ehe und der christlichen Familie hervorzuheben. Denn »durch die Verkündigung des Wortes Gottes enthüllt die Kirche der christlichen Familie deren wahre Identität, das, was sie nach dem Plan des Herrn ist und sein soll«.<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 49: AAS 74 (1982), 140-141.</ref> Daher darf man nie aus den Augen verlieren, dass das Wort Gottes am Ursprung der Ehe steht (vgl. Gen 2,24) und dass Jesus selbst die Ehe unter die Institutionen seines Reiches aufgenommen hat (vgl. Mt 19,4-8), indem er das, was ursprünglich in die menschliche Natur eingeschrieben ist, zum Sakrament erhoben hat. »In der Feier des Sakraments sprechen der Mann und die Frau ein prophetisches Wort gegenseitiger Hingabe, das „Ein-Fleisch-Sein“, Zeichen des Geheimnisses der Vereinigung Christi mit der Kirche (vgl. Eph 5,31-32)«.<ref>Propositio 20.</ref> In Treue gegenüber dem Wort Gottes müssen wir auch hervorheben, dass diese Institution heute unter vielen Aspekten dem Angriff durch die gängige Mentalität ausgesetzt ist. Angesichts der weitverbreiteten Unordnung der Affekte und des Aufkommens von Denkweisen, die den menschlichen Leib und den Geschlechtsunterschied banalisieren, bekräftigt das Wort Gottes den ursprünglichen Wert des Menschen, der als Mann und Frau geschaffen wurde und zur treuen, gegenseitigen und fruchtbaren Liebe berufen ist.

Aus dem großen hochzeitlichen Geheimnis kommt eine unabdingbare Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern. Zur echten Vaterschaft und Mutterschaft gehört es nämlich, den Sinn des Lebens in Christus weiterzugeben und zu bezeugen: Durch die Treue und die Einheit des Familienlebens sind die Eheleute vor ihren Kindern die ersten Verkündiger des Wortes Gottes. Die kirchliche Gemeinschaft muss sie unterstützen und ihnen helfen, in der Familie das Gebet, das Hören auf das Wort und die Kenntnis der Bibel zu entwickeln. Daher wünscht die Synode, dass jedes Haus seine Bibel haben möge und sie in würdiger Weise aufbewahre, um in ihr lesen und mit ihr beten zu können. Die notwendige Hilfe kann von Priestern, Diakonen oder gut ausgebildeten Laien kommen. Die Synode hat auch die Bildung kleiner Gemeinschaften unter den Familien empfohlen, um das Gebet und die gemeinsame Betrachtung geeigneter Abschnitte aus der Schrift pflegen.<ref>Vgl. Propositio 21.</ref> Außerdem sollen die Eheleute sich daran erinnern, dass »das Wort Gottes auch in den Schwierigkeiten des Ehe- und Familienlebens eine wertvolle Stütze ist«.<ref>Propositio 20.</ref>

In diesem Zusammenhang möchte ich auch das hervorheben, was die Synode über die Aufgabe der Frauen in bezug auf das Wort Gottes gesagt hat. Der Beitrag des »Genius der Frau«, wie Papst Johannes Paul II. ihn nannte,<ref>Vgl. Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem (15. August 1988), 31: AAS 80 (1988), 1727-1729.</ref> zur Kenntnis der Schrift wie zum gesamten Leben der Kirche ist heute größer als in der Vergangenheit und betrifft nunmehr auch den Bereich der biblischen Studien selbst. Die Synode hat sich in besonderer Weise mit der unverzichtbaren Rolle der Frauen in der Familie, in der Erziehung, in der Katechese und in der Vermittlung von Werten befasst. »Sie verstehen es, das Hören auf das Wort zu wecken, die persönliche Beziehung zu Gott und den Sinn der Vergebung und des Teilens gemäß dem Evangelium zu vermitteln«,<ref>Propositio 17.</ref> Überbringerinnen der Liebe, Lehrmeisterinnen der Barmherzigkeit und Friedenstifterinnen sowie Übermittlerinnen von Wärme und Menschlichkeit in einer Welt zu sein, die Menschen allzu oft nach kalten Kriterien der Ausbeutung und des Profits behandelt.

Betendes Lesen der Heiligen Schrift und »lectio divina«

86. Die Synode hat mehrmals mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass der betende Zugang zum heiligen Text ein unverzichtbares Grundelement des geistlichen Lebens jedes Gläubigen in den verschiedenen Diensten und Lebensständen ist, und dabei besonders auf die lectio divina verwiesen.<ref>Vgl. Propositiones 9; 22.</ref> Das Wort Gottes ist ja das Fundament jeder echten christlichen Spiritualität. So stimmen die Synodenväter mit dem überein, was die Dogmatische Konstitution Dei verbum sagt: »Alle an Christus Glaubenden … sollen deshalb gern an den heiligen Text selbst herantreten, einmal in der mit göttlichen Worten gesättigten heiligen Liturgie, dann in frommer Lesung oder auch durch geeignete Institutionen und andere Hilfsmittel, die heute mit Billigung und auf Veranlassung der Hirten der Kirche lobenswerterweise allenthalben verbreitet werden. Sie sollen daran denken, dass Gebet die Lesung der Heiligen Schrift begleiten muss«.<ref>Nr. 25.</ref> Auf diese Weise wollte das Konzil die große patristische Überlieferung aufgreifen, die stets empfohlen hat, sich der Schrift im Dialog mit Gott zu nähern. So sagt der hl. Augustinus: »Dein Gebet ist dein an Gott gerichtetes Wort. Wenn du (die Bibel) liest, spricht Gott zu dir; wenn du betest, sprichst du zu Gott«.<ref>Enarrationes in Psalmos, 85, 7: PL 37, 1086.</ref> Origenes, ein Meister dieser Lesart der Bibel, sagt, dass das Verständnis der Schrift nicht nur das Studium, sondern mehr noch die Vertrautheit mit Christus und das Gebet erfordert. Er ist nämlich überzeugt, dass der bevorzugte Weg, Gott kennenzulernen, die Liebe ist, und dass es keine echte scientia Christi gibt, ohne dass man sich in ihn verliebt. Im Brief an Gregorius empfiehlt der große alexandrinische Theologe: »Widme dich der lectio der göttlichen Schriften; bemühe dich mit Beharrlichkeit darum. Beschäftige dich mit der lectio in der Absicht, zu glauben und Gott zu gefallen. Wenn du während der lectio vor einer verschlossenen Tür stehst, klopfe an, und es wird sie dir jener Wächter öffnen, von dem Jesus gesagt hat: „Der Türhüter wird sie ihm öffnen“. Wenn du dich auf diese Weise der lectio divina widmest, suche redlich und mit unerschütterlichem Gottvertrauen den Sinn der göttlichen Schriften, der sich in ihnen in reicher Fülle verbirgt. Du darfst dich jedoch nicht damit zufrieden geben, anzuklopfen und zu suchen: Um die Dinge Gottes zu verstehen, bedarfst du unbedingt der oratio. Gerade um uns dazu zu ermahnen, hat der Heiland zu uns nicht nur gesagt: „Sucht, und ihr werdet finden“ und „Klopft an, und euch wird geöffnet werden“, sondern er hat hinzugefügt: „Bittet, und ihr werdet empfangen“«.<ref>Origenes, Epistola ad Gregorium, 3: PG 11, 92.</ref>

In diesem Zusammenhang muss jedoch die Gefahr eines individualistischen Ansatzes vermieden werden, indem man sich vor Augen hält, dass das Wort Gottes uns gegeben wurde, um Gemeinschaft aufzubauen, um uns in der Wahrheit zu vereinen auf unserem Weg zu Gott. Es ist ein Wort, das sich an jeden persönlich richtet, aber es ist auch ein Wort, das Gemeinschaft aufbaut, das die Kirche aufbaut. Deshalb muss der Text immer innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft angegangen werden: »Von großer Bedeutung ist … die gemeinschaftliche Schriftlesung, weil das lebendige Subjekt der Heiligen Schrift das Volk Gottes, die Kirche, ist. … Demnach gehört die Heilige Schrift nicht der Vergangenheit an, weil ihr Subjekt, das von Gott selbst inspirierte Volk Gottes, immer dasselbe ist, und daher ist das Wort immer im lebenden Subjekt lebendig. Es ist darum wichtig, die Heilige Schrift in der Gemeinschaft der Kirche zu lesen und zu hören, das heißt mit allen großen Zeugen dieses Wortes, von den ersten Kirchenvätern bis zu den Heiligen von heute und dem Lehramt von heute«.<ref>Benedikt XVI., Ansprache im Römischen Priesterseminar (17. Februar 2007): AAS 99 (2007), 253-254.</ref>

Darum ist für die betende Lesung der Heiligen Schrift der bevorzugte Ort die Liturgie, insbesondere die Eucharistie, in der durch die Feier von Leib und Blut Christi im Sakrament das Wort selbst unter uns vergegenwärtigt wird. In einem gewissen Sinne muss die – persönliche und gemeinschaftliche – betende Lesung stets in Beziehung zur Eucharistiefeier gelebt werden. Wie die eucharistische Anbetung die eucharistische Liturgie vorbereitet, begleitet und verlängert,<ref>Vgl. ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 66: AAS 99 (2007), 155-156.</ref> so bereitet und vertieft die persönliche und gemeinschaftliche betende Lesung das vor, was die Kirche durch die Verkündigung des Wortes im liturgischen Rahmen feiert. Wenn man lectio und Liturgie in einen so engen Bezug zueinander setzt, kann man besser die Kriterien erfassen, die dieses Lesen im Kontext der Pastoral und des geistlichen Lebens des Gottesvolkes leiten müssen.

87. In den Dokumenten, die die Synode vorbereitet und begleitet haben, wurden verschiedene Methoden der fruchtbaren und gläubigen Annäherung an die Heilige Schrift erwähnt. Die größte Aufmerksamkeit wurde jedoch der lectio divina gewidmet, die wirklich »dem Gläubigen den Schatz des Wortes Gottes erschließen, ihn aber auch zur Begegnung mit Christus, dem lebendigen göttlichen Wort, führen kann«.<ref>Schlussbotschaft, III,9.</ref> Ich möchte hier kurz ihre grundlegenden Schritte in Erinnerung rufen: Sie beginnt mit der Lesung (lectio) des Textes, die die Frage nach einer authentischen Erkenntnis seines Inhalts auslöst: Was sagt der biblische Text in sich? Ohne diesen Augenblick besteht die Gefahr, dass wir den Text nur zum Vorwand nehmen, um niemals aus unseren eigenen Gedanken herauszukommen. Dann folgt die Betrachtung (meditatio), in der sich die Frage stellt: Was sagt uns der biblische Text? Hier muss sich jeder persönlich, aber auch als Gemeinschaft berühren und in Frage stellen lassen, denn es geht nicht darum, über Worte nachzudenken, die in der Vergangenheit gesprochen wurden, sondern über Worte, die in der Gegenwart gesprochen werden. Danach gelangt man zum Augenblick des Gebets (oratio), das die Frage voraussetzt: Was sagen wir dem Herrn als Antwort auf sein Wort? Das Gebet als Bitte, Fürbitte, Dank und Lobpreis ist die erste Art und Weise, in der das Wort uns verwandelt. Schließlich endet die lectio divina mit der Kontemplation (contemplatio), in der wir als Geschenk Gottes seine Sichtweise annehmen in der Beurteilung der Wirklichkeit und uns fragen: Welche Bekehrung des Geistes, des Herzens und des Lebens verlangt der Herr von uns? Der hl. Paulus sagt im Brief an die Römer: »Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist« (12,2). Die Kontemplation ist nämlich darauf ausgerichtet, in uns eine weisheitliche Sicht der Wirklichkeit zu erzeugen, die Gott entspricht, und in uns den »Geist Christi« (1Kor 2,16) heranzubilden. Das Wort Gottes zeigt sich hier als Kriterium zur Unterscheidung: »Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens« (Hebr 4,12). Außerdem ist es gut, daran zu erinnern, dass die lectio divina in ihrer Dynamik nicht abgeschlossen ist, solange sie nicht zur Tat (actio) gelangt, die das Leben des Gläubigen anspornt, sich in Liebe zum Geschenk für die anderen zu machen.

Diese Schritte finden wir in höchster und erhabenster Form zusammengefasst und vereint in der Gestalt der Mutter Gottes. Sie ist für jeden Gläubigen ein Vorbild fügsamer Annahme des göttlichen Wortes, denn sie »bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach« (Lk 2,19; vgl. 2,51) und vermochte das innere Band zu finden, das scheinbar zusammenhanglose Ereignisse, Taten und Dinge im großen göttlichen Plan miteinander verknüpft.<ref>Vgl. ebd.</ref>

Ich möchte außerdem erwähnen, was während der Synode vorgeschlagen wurde bezüglich der Bedeutung der persönlichen Schriftlesung als Praxis, die die Möglichkeit vorsieht, den allgemeinen Weisungen der Kirche entsprechend für sich oder für die Verstorbenen den Ablass zu erlangen.<ref>»Plenaria indulgentia conceditur christifideli qui Sacram Scripturam, iuxta textum a competenti auctoritate adprobatum, cum veneratione divino eloquio debita et ad modum lectionis spiritalis, per dimidiam saltem horam legerit; si per minus tempus id egerit indulgentia erit partialis«: Apostolische Pönitentiarie, Enchiridion indulgentiarum. Normae et concessiones (16. Juli 1999), 30 § 1.</ref> Die Ablasspraxis<ref>Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1471-1479.</ref> schließt die Lehre von den unendlichen Verdiensten Christi ein, die die Kirche als Dienerin der Erlösung austeilt und zuwendet, aber sie schließt auch die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen ein und macht uns deutlich, »wie eng wir in Christus miteinander vereint sind und wie sehr das übernatürliche Leben jedes Einzelnen den anderen nützen kann«.<ref>Paul VI., Apost. Konst. Indulgentiarum doctrina (1. Januar 1967): AAS 59 (1967), 18-19.</ref> Unter diesem Gesichtspunkt unterstützt uns die Lesung des Wortes Gottes auf dem Weg der Buße und der Bekehrung; sie erlaubt uns, das Empfinden für die Zugehörigkeit zur Kirche zu vertiefen und erhält uns in größerer Vertrautheit mit Gott. Der hl. Ambrosius sagte: Wenn wir im Glauben die Heiligen Schriften zur Hand nehmen und sie mit der Kirche lesen, dann wandelt der Mensch wieder mit Gott im Paradies.<ref>Vgl. Epistula 49, 3: PL 16, 1204A.</ref>

Wort Gottes und marianisches Gebet

88. Eingedenk der untrennbaren Verbindung zwischen dem Wort Gottes und Maria von Nazaret lade ich gemeinsam mit den Synodenvätern dazu ein, unter den Gläubigen, vor allem im Familienleben, die marianischen Gebete zu fördern als Hilfe zur Betrachtung der heiligen Geheimnisse, von denen die Bibel berichtet. Ein sehr nützliches Hilfsmittel ist zum Beispiel das persönliche oder gemeinschaftliche Gebet des heiligen Rosenkranzes,<ref>Vgl. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen (17. Dezember 2001), 197-202: Ench. Vat. 20, Nrn. 2638-2643.</ref> das gemeinsam mit Maria die Geheimnisse des Lebens Christi innerlich nachvollzieht<ref>Vgl. Propositio 55.</ref> und das Johannes Paul II. durch die lichtreichen Geheimnisse bereichert hat.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Rosarium virginis mariae (16. Oktober 2002): AAS 95 (2003), 5-36.</ref> Es ist gut, wenn die Verkündigung der einzelnen Geheimnisse durch kurze Abschnitte aus der Bibel begleitet wird, die sich auf das jeweilige Geheimnis beziehen, damit sich einige bedeutsame Schriftworte zu den Geheimnissen des Lebens Christi besser einprägen.

Außerdem hat die Synode empfohlen, unter den Gläubigen das Gebet des Angelus Domini zu fördern. Es handelt sich um ein einfaches und tiefes Gebet, das uns zu einem »täglichen Gedenken der Fleischwerdung des Wortes«verhilft.<ref>Propositio 55.</ref> Es ist angebracht, dass das Gottesvolk, die Familien und die Gemeinschaften gottgeweihter Personen diesem marianischen Gebet treu bleiben, das wir gemäß der Überlieferung bei Sonnenaufgang, zu Mittag und bei Sonnenuntergang beten sollten. Im Gebet des Engels des Herrn bitten wir Gott, auf die Fürsprache Marias auch uns zu gewähren, ebenso wie sie den Willen Gottes zu erfüllen und sein Wort in uns aufzunehmen. Diese Praxis, die im Mittelalter entstanden ist, in einer Zeit, in der man der Menschennatur, die vom Wort Gottes angenommen wurde, große Aufmerksamkeit schenkte, kann auch uns helfen, eine echte Liebe zum Geheimnis der Menschwerdung zu entwickeln.

Auch einige frühe Gebete des christlichen Ostens, die unter Bezugnahme auf die Theotokos, die Mutter Gottes, die gesamte Heilsgeschichte durchlaufen, verdienen es, bekannt gemacht, geschätzt und verbreitet zu werden. Wir beziehen uns insbesondere auf den Akathistos und auf die Paraklesis. Es handelt sich um Lobpreisungen, die in Form der Litanei gesungen werden und die durchdrungen sind vom kirchlichen Glauben und biblischen Bezügen, die den Gläubigen helfen, zusammen mit Maria die Geheimnisse Christi zu betrachten. Insbesondere der ehrwürdige Hymnus an die Mutter Gottes, der Akathistos genannt wird – das heißt übersetzt „stehend zu singen“ –, ist in der byzantinischen Tradition eine der höchsten Ausdrucksformen marianischer Frömmigkeit.<ref>Vgl. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen (17. Dezember 2001), 207: Ench. Vat. 20, Nrn. 2656-2657.</ref> Mit diesen Worten zu beten, erweitert die Seele und macht sie bereit für den Frieden, der von oben kommt, von Gott – für jenen Frieden, der Christus selbst ist, der zu unserem Heil aus Maria geboren ist.

Wort Gottes und Heiliges Land

89. Beim Gedenken an das Wort Gottes, das im Schoße Marias von Nazaret Mensch geworden ist, wendet sich unser Herz jetzt jenem Land zu, in dem das Geheimnis unserer Erlösung sich erfüllt hat und von dem aus das Wort Gottes sich bis an die Enden der Erde verbreitet hat. Durch das Wirken des Heiligen Geistes ist das Wort zu einem genau definierten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort Mensch geworden, in einem Landstrich an den Grenzen des Römischen Reiches. Deshalb blicken wir, je mehr wir die Universalität und die Einzigartigkeit der Person Christi betrachten, um so mehr mit Dankbarkeit auf jenes Land, in dem Jesus geboren ist, gelebt hat und sich selbst für uns alle hingegeben hat. Die Steine, über die unser Erlöser geschritten ist, bleiben für uns voller Erinnerung und »schreien« auch weiterhin die Frohe Botschaft heraus. Darum haben die Synodenväter an die glückliche Formulierung erinnert, die das Heilige Land als »das fünfte Evangelium«<ref>Vgl. Propositio 51.</ref> bezeichnet. Wie wichtig ist es doch, dass es in jener Gegend christliche Gemeinden gibt, trotz aller Schwierigkeiten! Die Bischofssynode bringt allen Christen, die im Land Jesu leben und den Glauben an den Auferstandenen bezeugen, ihre zutiefst empfundene Nähe zum Ausdruck. Hier sind die Christen aufgerufen, »nicht nur ein Lichtstrahl des Glaubens für die universale Kirche zu sein, sondern auch Sauerteig der Eintracht, der Weisheit und des Gleichgewichts im Leben einer Gesellschaft, die traditionell stets pluralistisch, multiethnisch und multireligiös war und dies auch weiterhin ist«.<ref>Benedikt XVI., Homilie in der Eucharistiefeier im Josafat Valley, Jerusalem (12. Mai 2009): AAS 101 (2009), 473.</ref>

Das Heilige Land bleibt auch heute noch Ziel von Pilgerreisen des christlichen Volkes, als Geste des Gebets und der Buße, wie es bereits im Altertum Autoren wie der hl. Hieronymus bezeugen.<ref>Vgl. Epistula 108, 14: CSEL 55, S. 324-325.</ref> Je mehr wir den Blick und das Herz auf das irdische Jerusalem richten, desto mehr wird in uns das Verlangen nach dem himmlischen Jerusalem entflammt, dem wahren Ziel jeder Pilgerreise, und der leidenschaftliche Wunsch entfacht, dass der Name Jesu, in dem allein das Heil zu finden ist, von allen erkannt werde (vgl. Apg 4,12).

DRITTER TEIL: VERBUM MUNDO

»Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht« (Joh1,18)

Die Sendung der Kirche: Das Wort Gottes verkünden

Das Wort vom Vater und zum Vater

90. Der hl. Johannes hebt mit Nachdruck das Grundparadoxon des christlichen Glaubens hervor. Einerseits sagt er: »Niemand hat Gott je gesehen« (Joh1,18; vgl. 1Joh 4,12). Unsere Bilder, Vorstellungen oder Worte können die unendliche Wirklichkeit des Allerhöchsten in keiner Weise beschreiben oder ermessen. Er ist und bleibt der Deus semper maior. Andererseits sagt Johannes, dass das Wort wirklich »Fleisch geworden« ist ( Joh1,14). Der eingeborene Sohn, der am Herzen des Vaters ruht, hat den Gott offenbart, den »niemand je gesehen hat« ( Joh1,18). Jesus Christus kommt zu uns, »voll Gnade und Wahrheit« ( Joh1,14), die uns durch ihn geschenkt werden (vgl. Joh 1,17); denn »aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade« ( Joh 1,16). Auf diese Weise betrachtet der Evangelist Johannes im Prolog das Wort von seinem Sein bei Gott über seine Fleischwerdung bis hin zu seiner Rückkehr in den Schoß des Vaters. Dabei nimmt dieses Wort unsere Menschennatur mit sich, die es für immer angenommen hat. Indem es vom Vater ausgeht und zu ihm zurückkehrt (vgl. Joh 13,3; 16,28; 17,8.10), bringt es uns »Kunde« von Gott. Der Sohn, so der hl. Irenäus von Lyon, »ist der Offenbarer des Vaters«.<ref>Adversus haereses, IV,20,7: PG 7, 1037.</ref> Jesus von Nazaret ist sozusagen der »Exeget« Gottes, den »niemand je gesehen hat«. »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15). Hier erfüllt sich die Prophezeiung des Jesaja über die Wirkkraft des Wortes des Herrn: Wie Regen und Schnee vom Himmel fallen, um die Erde zu tränken und sie zum Keimen und Sprossen zu bringen, so ist es auch mit dem Wort Gottes: »Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe« ( Jes55,10f). Jesus Christus ist dieses endgültige und wirkkräftige Wort, das vom Vater ausgegangen und zu ihm zurückgekehrt ist und das in der Welt seinen Willen vollkommen verwirklicht hat.

Der Welt den »Logos« der Hoffnung verkünden

91. Das Wort Gottes hat uns das göttliche Leben mitgeteilt, das das Antlitz der Erde verwandelt und alles neu macht (vgl. Offb 21,5). Dieses Wort betrifft uns nicht nur als Empfänger der göttlichen Offenbarung, sondern auch als seine Verkündiger. Er, den der Vater gesandt hat, um seinen Willen zu tun (vgl. Joh 5,36-38; 6,38-40; 7,16-18), zieht uns zu sich und bezieht uns in sein Leben und seine Sendung ein. So befähigt der Geist des Auferstandenen unser Leben, das Wort in aller Welt wirkkräftig zu verkünden. Das ist die Erfahrung der ersten christlichen Gemeinde, die sah, wie sich das Wort durch die Verkündigung und das Zeugnis ausbreitete (vgl. Apg 6,7). Ich möchte mich hier besonders auf das Leben des Apostels Paulus beziehen: Er war ein Mann, der völlig vom Herrn ergriffen war (vgl. Phil 3,12) – »nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20) –, ebenso wie von seiner Sendung: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1Kor 9,16). Er war sich bewusst, dass in Christus wirklich das Heil aller Völker offenbart wurde, die Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde, um zur Freiheit der Kinder Gottes zu gelangen. In der Tat ist das, was die Kirche der Welt verkündet, der Logos der Hoffnung (vgl. 1Petr 3,15); um die eigene Gegenwart leben zu können, braucht der Mensch die »große Hoffnung«, und diese große Hoffnung ist »der Gott, der ein menschliches Angesicht hat und der uns geliebt hat bis ans Ende«.<ref>Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi (30. November 2007), 31: AAS 99 (2007), 1010.</ref> Daher ist die Kirche ihrem Wesen nach missionarisch. Wir können die Worte des ewigen Lebens, die uns in der Begegnung mit Jesus Christus geschenkt werden, nicht für uns behalten: Sie sind an alle, an einen jeden Menschen gerichtet. Jeder Mensch unserer Zeit, ob er es weiß oder nicht, braucht diese Verkündigung. Der Herr selbst erwecke, wie zur Zeit des Propheten Amos, bei den Menschen neuen Hunger und neuen Durst nach einem Wort des Herrn (vgl. Am 8,11). Wir haben die Verantwortung, das weiterzugeben, was wir unsererseits aus Gnade empfangen haben.

Die Sendung der Kirche aus dem Wort Gottes

92. Die Bischofssynode hat mit Nachdruck die Notwendigkeit bekräftigt, in der Kirche das missionarische Bewusstsein zu stärken, das im Gottesvolk von Anfang an vorhanden war. Die ersten Christen haben ihre missionarische Verkündigung als eine Notwendigkeit betrachtet, die aus dem Wesen des Glaubens selbst hervorgeht: Der Gott, an den sie glaubten, war der Gott aller Menschen, der eine und wahre Gott, der sich in der Geschichte Israels und schließlich in seinem Sohn gezeigt und so die Antwort gegeben hatte, auf die alle Menschen in ihrem Innersten warten. Die ersten christlichen Gemeinden haben gespürt, dass ihr Glaube nicht einem besonderen kulturellen Brauch zuzuordnen war, der von Volk zu Volk verschieden ist, sondern dem Bereich der Wahrheit, die unterschiedslos alle Menschen betrifft.

Noch einmal ist es der hl. Paulus, der uns durch sein Leben den Sinn der christlichen Mission und ihre von Anfang an vorhandene Universalität erläutert. Denken wir an die Episode auf dem Areopag in Athen, von der die Apostelgeschichte berichtet (vgl. 17,16-34). Der Völkerapostel tritt mit Menschen verschiedener Kulturen in einen Dialog ein, im Bewusstsein, dass das Geheimnis Gottes, des Bekannten-Unbekannten, von dem jeder Mensch eine, wenn auch nur undeutliche, Wahrnehmung besitzt, sich wirklich in der Geschichte offenbart hat: »Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch« (Apg 17,23). Das Neue der christlichen Verkündigung ist, dass sie nun allen Völkern sagen darf: »Er hat sich gezeigt. Er selbst. Und nun ist der Weg zu ihm offen. Die Neuheit der christlichen Verkündigung besteht nicht in einem Gedanken, sondern in einem Faktum: Er hat sich gezeigt«.<ref>Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 730.</ref>

Das Wort und das Reich Gottes

93. Die Sendung der Kirche darf daher nicht als Option oder als Zusatz zum kirchlichen Leben betrachtet werden. Es geht darum, dass wir uns durch den Heiligen Geist mit Christus gleichgestalten lassen, so an seiner eigenen Sendung teilhaben – »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch« ( Joh20,21) – und das Wort mit dem ganzen Leben weitergeben. Das Wort selbst drängt uns, zu den Brüdern zu gehen: Das Wort ist es, das erleuchtet, reinigt, bekehrt; wir sind nichts weiter als Diener.

Daher ist es notwendig, die Dringlichkeit und die Schönheit der Verkündigung des Wortes immer mehr zu entdecken – für das Kommen des Gottesreiches, das Christus selbst verheißen hat. In diesem Sinne wollen wir uns erneut dessen bewusst werden, was den Kirchenvätern so vertraut war: Der Inhalt der Verkündigung des Wortes ist das Reich Gottes (vgl. Mk 1,14-15), das die Person Christi selbst (die Autobasileia) ist, wie Origenes eindrücklich in Erinnerung ruft.<ref>Vgl. In Evangelium secundum Matthaeum 17,7: PG 13, 1197B; Hieronymus, Translatio homiliarum Originis in Lucam, 36: PL 26, 324-325.</ref> Der Herr bietet den Menschen aller Zeiten das Heil an. Wir alle spüren, wie wichtig es ist, dass das Licht Christi alle Bereiche des Menschseins erleuchtet: die Familie, die Schule, die Kultur, die Arbeit, die Freizeit und die anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Homilie zur Eröffnung der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (5. Oktober 2008): AAS 100 (2008), 757.</ref> Es geht nicht darum, ein tröstliches Wort zu verkünden, sondern ein Wort, das in unser Leben hereinbricht, ein Wort, das zur Umkehr ruft, das Zugang verschafft zur Begegnung mit Christus, der eine neue Menschheit erblühen lässt.

Alle Getauften sind für die Verkündigung verantwortlich

94. Da das ganze Gottesvolk ein »gesandtes« Volk ist, hat die Synode bekräftigt, dass »die Sendung, das Wort Gottes zu verkünden, Aufgabe aller Jünger Christi ist, infolge ihrer Taufe«.<ref>Propositio 38.</ref> Kein Christgläubiger darf sich von dieser Verantwortung entbunden fühlen, die der sakramentalen Zughörigkeit zum Leib Christi entspringt. Dieses Bewusstsein muss in jeder Pfarrei, Gemeinschaft, Vereinigung und kirchlichen Bewegung neu erweckt werden. Als Geheimnis der Gemeinschaft ist also die ganze Kirche missionarisch, und jeder ist seinem eigenen Lebensstand gemäß berufen, einen entscheidenden Beitrag zur christlichen Verkündigung zu leisten.

Bischöfe und Priestersind gemäß ihrer besonderen Sendung zu einem Leben berufen, das vom Dienst des Wortes ergriffen ist, zur Verkündigung des Evangeliums, zur Feier der Sakramente und zur Unterweisung der Gläubigen in der wahren Kenntnis der Schrift. Auch die Diakone sollen sich berufen fühlen, gemäß ihrer speziellen Sendung an dieser Evangelisationstätigkeit mitzuwirken.

Das geweihte Lebenzeichnet sich in der gesamten Kirchengeschichte aus durch die Fähigkeit, ausdrücklich die Aufgabe der Verkündigung und der Predigt des Wortes Gottes zu übernehmen, in der missio ad gentes und unter schwierigsten Umständen, in der Bereitschaft, auch zu neuen Fronten der Evangelisierung aufzubrechen, mutig und tapfer neue Wege einzuschlagen und sich neuen Herausforderungen zu stellen für die wirkkräftige Verkündigung des Wortes Gottes.<ref>Vgl. Kongregation für die Institute geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens, Instruktion Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im dritten Jahrtausend (19. Mai 2002), 36: Ench. Vat. 21, Nrn. 488-491.</ref>

Die Laien sind berufen, ihrer prophetischen Aufgabe nachzukommen, die direkt der Taufe entspringt, und das Evangelium im täglichen Leben zu bezeugen, wo immer sie sich befinden. In diesem Zusammenhang haben die Synodenväter ihnen gegenüber »herzlichste Wertschätzung und Dankbarkeit« zum Ausdruck gebracht, und sie »ermutigt zum Dienst der Evangelisierung, den viele Laien, besonders Frauen, mit großherzigem Einsatz in den Gemeinden überall auf der Welt leisten, nach dem Vorbild der Maria Magdalena, der ersten Zeugin der Osterfreude«.<ref>Propositio 30.</ref> Außerdem erkennt die Synode dankbar an, dass die kirchlichen Bewegungen und die neuen Gemeinschaften in dieser Zeit eine große Evangelisierungskraft in der Kirche darstellen, indem sie die Entwicklung neuer Formen der Verkündigung des Evangeliums vorantreiben«.<ref>Vgl. Propositio 38.</ref>

Die Notwendigkeit der »missio ad Gentes«

95. Indem sie alle Gläubigen ermutigt haben, das göttliche Wort zu verkünden, haben die Synodenväter bekräftigt, dass auch in unserer Zeit ein entschlossener Einsatz in der missio ad gentes wichtig ist. Die Kirche darf sich keinesfalls auf eine Pastoral der »Aufrechterhaltung« beschränken, die nur auf jene ausgerichtet ist, die das Evangelium Christi bereits kennen. Der missionarische Schwung ist ein klares Zeichen für die Reife einer kirchlichen Gemeinschaft. Darüber hinaus haben die Väter mit Nachdruck das Bewusstsein zum Ausdruck gebracht, dass das Wort Gottes die Heilswahrheit ist, die jeder Mensch zu jeder Zeit braucht. Daher muss die Verkündigung explizit sein. In der Kraft des Geistes (vgl. 1Kor 2,4-5) muss die Kirche auf alle zugehen und auch weiterhin prophetisch das Recht und die Freiheit der Menschen verteidigen, das Wort Gottes zu hören. Dabei muss sie die wirksamsten Mittel suchen, um es zu verkünden, auch auf die Gefahr der Verfolgung hin.<ref>Vgl. Propositio 49.</ref> Allen Menschen gegenüber fühlt sich die Kirche verpflichtet, das Heilswort zu verkünden (vgl. Röm 1,14).

Verkündigung und Neuevangelisierung

96. Papst Johannes Paul II. hat – auf der Linie dessen, was bereits Papst Paul VI. im Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi zum Ausdruck gebracht hatte – die Gläubigen in vielerlei Weise auf die Notwendigkeit eines neuen missionarischen Aufbruchs für das ganze Gottesvolk verwiesen.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990): AAS 83 (1991), 294-340; ders., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), 40: AAS 93 (2001), 294-295.</ref> Zu Beginn des Dritten Jahrtausends gibt es nicht nur noch viele Völker, die die Frohe Botschaft noch nicht kennengelernt haben, sondern auch viele Christen, denen das Wort Gottes in überzeugender Weise neu verkündet werden muss, damit sie die Kraft des Evangeliums konkret erfahren können. Viele Menschen sind »getauft, aber nicht genügend evangelisiert«.<ref>Propositio 38.</ref> Oft verlieren Nationen, die einst reich an Glauben und Berufungen waren, unter dem Einfluß einer säkularisierten Kultur ihre Identität.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Homilie zur Eröffnung der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (5. Oktober 2008): AAS 100 (2008), 753-757.</ref> Das Erfordernis einer Neuevangelisierung, das mein verehrter Vorgänger so stark verspürte, muss furchtlos bekräftigt werden, in der Gewissheit der Wirkkraft des göttlichen Wortes. Die Kirche, die sich der Treue ihres Herrn sicher ist, wird nicht müde, die Frohe Botschaft des Evangeliums zu verkündigen und lädt alle Christen ein, die Faszination der Nachfolge Christi neu zu entdecken.

Wort Gottes und christliches Zeugnis

97. Die immensen Horizonte der kirchlichen Sendung und die Komplexität der gegenwärtigen Situation verlangen heute neue Modalitäten für eine wirkkräftige Mitteilung des Wortes Gottes. Der Heilige Geist, der Haupthandelnde jeder Evangelisierung, wird nie aufhören, die Kirche Christi in diesem Unterfangen zu leiten. Dennoch ist es wichtig, dass jede Weise der Verkündigung vor allem die innere Beziehung zwischen der Mitteilung des Wortes Gottes und dem christlichen Zeugnis berücksichtigt. Davon hängt die Glaubwürdigkeit der Verkündigung ab. Einerseits bedarf es des Wortes Gottes, das mitteilt, was der Herr selbst gesagt hat. Andererseits ist es unverzichtbar, diesem Wort durch das Zeugnis Glaubwürdigkeit zu verleihen, damit es nicht wie eine schöne Philosophie oder eine Utopie erscheint, sondern vielmehr als eine Wirklichkeit, die man leben kann und die leben lässt. Diese Wechselseitigkeit zwischen Wort und Zeugnis erinnert an die Weise, in der Gott selbst sich durch die Menschwerdung seines Wortes mitgeteilt hat. Das Wort Gottes erreicht die Menschen »durch die Begegnung mit Zeugen, die es gegenwärtig und lebendig machen«.<ref>Propositio 38.</ref> Besonders die kommenden Generationen müssen in das Wort Gottes eingeführt werden »durch die Begegnung und das authentische Zeugnis des Erwachsenen, durch den positiven Einfluß der Freunde und durch die große Gruppe der kirchlichen Gemeinschaft«.<ref>Schlussbotschaft, IV,12.</ref>

Es besteht eine enge Beziehung zwischen dem Zeugnis der Schrift, als Nachweis, den das Wort Gottes von sich selbst gibt, und dem Zeugnis des Lebens der Gläubigen. Das eine schließt das andere ein und führt zu ihm hin. Das christliche Zeugnis teilt das Wort mit, das in der Schrift belegt ist. Die Schrift ihrerseits erläutert das Zeugnis, das die Christen durch das eigene Leben geben sollen. So können jene, die glaubwürdigen Zeugen des Evangeliums begegnen, feststellen, dass das Wort Gottes in denen, die es annehmen, wirksam ist.

98. In dieser Wechselseitigkeit zwischen Zeugnis und Wort verstehen wir, was Papst Paul VI. im Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi gesagt hat. Unsere Verantwortung beschränkt sich nicht darauf, der Welt allgemein anerkannte Werte anzubieten; vielmehr bedarf es der expliziten Verkündigung des Wortes Gottes. Nur so erfüllen wir treu das Mandat Christi: »Die Frohbotschaft, die durch das Zeugnis des Lebens verkündet wird, wird also früher oder später durch das Wort des Lebens verkündet werden müssen. Es gibt keine wirkliche Evangelisierung, wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus von Nazaret, des Sohnes Gottes, verkündet werden«.<ref>Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 22: AAS 68 (1976), 20.</ref>

Die Tatsache, dass mit der Verkündigung des Wortes Gottes das Zeugnis des eigenen Lebens einhergehen muss, war den Christen von Anfang an bewusst. Christus selbst ist der treue und zuverlässige Zeuge (vgl. Offb 1,5; 3,14), der Zeuge der Wahrheit (vgl. Joh 18,37). In diesem Zusammenhang möchte ich die zahllosen Zeugnisse noch einmal aufgreifen, die wir auf der Synodenversammlung vernehmen durften. Wir waren tiefbewegt von den Berichten jener, die auch unter Regimen, die dem Christentum feindselig gegenüberstehen, oder in Situationen der Verfolgung den Glauben gelebt und ein leuchtendes Zeugnis vom Evangelium gegeben haben.

All das darf uns keine Angst machen. Jesus selbst hat zu seinen Jüngern gesagt: »Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen« 
(Joh 15,20). Ich möchte daher mit der ganzen Kirche Gott loben für das Zeugnis so vieler Brüder und Schwestern, die auch in unserer Zeit das Leben hingegeben haben, um die Wahrheit der Liebe Gottes mitzuteilen, die uns im gekreuzigten und auferstandenen Christus offenbart worden ist. Außerdem sage ich im Namen der ganzen Kirche Dank für die Christen, die angesichts von Hindernissen und Verfolgungen um des Evangeliums willen nicht aufgeben. Zugleich sind wir mit tiefer und solidarischer Zuneigung den Gläubigen all jener christlichen Gemeinden nahe, die – besonders in Asien und in Afrika – in dieser Zeit um des Glaubens willen das Leben oder die gesellschaftliche Ausgrenzung riskieren. Wir sehen hier den Geist der Seligpreisungen des Evangeliums am Werk für jene, die um des Herrn Jesus willen verfolgt sind (vgl. Mt 5,11). Gleichzeitig erheben wir unablässig unsere Stimme dafür, dass die Regierungen der Nationen allen die Gewissens- und Religionsfreiheit und auch die Freiheit, den eigenen Glauben öffentlich zu bezeugen, gewährleisten mögen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 2.7.</ref>

Wort Gottes und Einsatz in der Welt

Jesus in seinen »geringsten Brüdern« dienen (Mt 25,40)

99. Das göttliche Wort erleuchtet das menschliche Leben und appelliert an die Gewissen, das eigene Leben tiefgreifend zu prüfen, denn die ganze Geschichte der Menschheit ist dem Urteil Gottes unterworfen: »Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden« (Mt 25,31-32). In unserer Zeit schauen wir oft oberflächlich nicht über den Wert des vorübergehenden Augenblicks hinaus, als ob dieser keine Bedeutung für die Zukunft hätte. Im Gegensatz dazu erinnert uns das Evangelium daran, dass jeder Moment unseres Lebens wichtig ist und intensiv gelebt werden muss in dem Bewusstsein, dass ein jeder über sein Leben Rechenschaft ablegen muss. Im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums bewertet der Menschensohn alles, was wir für einen seiner »geringsten Brüder« (V. 40.45) getan oder nicht haben, als für ihn selbst getan oder nicht getan: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen« (V. 35-36). Das Wort Gottes selbst weist also auf die Notwendigkeit hin, uns in der Welt einzusetzen, und auf unsere Verantwortung vor Christus, dem Herrn der Geschichte. Indem wir das Evangelium verkünden, wollen wir uns gegenseitig ermahnen, Gutes zu tun und uns für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden einzusetzen.

Wort Gottes und Einsatz in der Gesellschaft für die Gerechtigkeit

100. Das Wort Gottes drängt den Menschen, Beziehungen zu knüpfen, die von Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit geprägt sind, und es belegt den hohen Wert, den alle Bemühungen des Menschen, die Welt gerechter und bewohnbarer zu machen, vor Gott besitzen.<ref>Vgl. Propositio 39.</ref> Ohne Umschweife klagt das Wort Gottes selber Ungerechtigkeiten an und fördert Solidarität und Gleichheit.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2009 (8. Dezember 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 19. Dezember 2008, S. 4-5.</ref> Im Licht der Worte des Herrn erkennen wir also die »Zeichen der Zeit« in der Geschichte und scheuen nicht den Einsatz zugunsten der Leidenden und der Opfer des Egoismus. Die Synode hat daran erinnert, dass der Einsatz für die Gerechtigkeit und die Verwandlung der Welt für Evangelisierung grundlegend ist. Wie Papst Paul VI. gesagt hat, geht es darum, »zu erreichen, dass durch die Kraft des Evangeliums die Urteilskriterien, die bestimmenden Werte, die Interessenpunkte, die Denkgewohnheiten, die Quellen der Inspiration und die Lebensmodelle der Menschheit, die zum Wort Gottes und zum Heilsplan im Gegensatz stehen, umgewandelt werden«.<ref>Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 19: AAS 68 (1976), 18.</ref>

Zu diesem Zweck haben die Synodenväter sich besonders an jene gewandt, die sich im politischen und gesellschaftlichen Leben einsetzen. Die Evangelisierung und die Ausbreitung des Wortes Gottes müssen ihr Handeln in der Welt inspirieren, auf der Suche nach dem wahren Wohl aller und in der Achtung und Förderung der Würde jeder Person. Freilich ist es nicht die direkte Aufgabe der Kirche, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, auch wenn sie das Recht und die Pflicht besitzt, sich zu ethischen und moralischen Fragen zu äußern, die das Wohl der Menschen und der Völker betreffen. Es ist vor allem Aufgabe der gläubigen Laien, die in der Schule des Evangeliums herangebildet wurden, direkt in das gesellschaftliche und politische Handeln einzugreifen. Darum empfiehlt die Synode, eine angemessene Unterweisung nach den Grundsätzen der Soziallehre der Kirche zu fördern.<ref>Vgl. Propositio 39.</ref>

101. Darüber hinaus möchte ich alle darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, die Menschenrechte jeder Person zu verteidigen und zu fördern, die auf dem Naturrecht beruhen, das ins Herz des Menschen eingeschrieben ist, und die als solche »allgemein gültig, unverletzlich und unveräußerlich« sind.<ref>Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963), I: AAS 55 (1963), 259.</ref> Die Kirche wünscht sich, dass durch die Bestätigung dieser Rechte die Würde des Menschen wirksamer anerkannt und allgemein gefördert werde.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 47: AAS 83 (1991), 851-852; ders., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen (2. Oktober 1979), 13: AAS 71 (1979), 1152-1153.</ref> Sie ist das Merkmal, das Gott, der Schöpfer, seinem Geschöpf aufgeprägt hat und von Jesus Christus durch seine Menschwerdung, seinen Tod und seine Auferstehung angenommen und erlöst wurde. Daher kann die Ausbreitung des Wortes Gottes die Bestätigung und die Achtung dieser Rechte nur stärken.<ref>Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 152-159. </ref>

Verkündigung des Wortes Gottes, Versöhnung und Frieden unter den Völkern

102. Unter den vielfältigen Einsatzbereichen hat die Synode nachdrücklich die Förderung der Versöhnung und des Frieden empfohlen. In der heutigen Situation ist es notwendiger denn je, das Wort Gottes als Quelle von Versöhnung und Frieden wiederzuentdecken, weil in ihm Gott alles mit sich versöhnt (vgl. 2Kor 5,18-20; Eph 1,10): Christus »ist unser Friede« (Eph 2,14), er reißt die trennende Wand der Feindschaft nieder. Auf der Synode haben viele Zeugnisse die schweren und blutigen Konflikte und die Spannungen belegt, die es auf unserem Planeten gibt. Manchmal scheinen diese Feindseligkeiten die Form eines interreligiösen Konflikts anzunehmen. Noch einmal möchte ich betonen, dass die Religion niemals Intoleranz oder Kriege rechtfertigen kann. Man kann nicht im Namen Gottes Gewalt anwenden!<ref>Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007 (8. Dezember 2006), 10: L’Osservatore Romano (dt.), 22. Dezember 2006, S. 10.</ref> Jede Religion sollte auf einen rechten Gebrauch der Vernunft drängen und ethische Werte fördern, die das zivile Zusammenleben aufbauen.

Getreu dem Werk der Versöhnung, das von Gott in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, vollbracht wurde, müssen die Katholiken und alle Menschen guten Willens sich bemühen, Vorbilder der Versöhnung zu sein, um eine gerechte und friedliche Gesellschaft zu schaffen.<ref>Vgl. Propositio 8.</ref> Wir dürfen nie vergessen: »Dort, wo menschliche Worte machtlos werden, weil der tragische Lärm der Gewalt und der Waffen vorherrscht, nimmt die prophetische Kraft des Wortes Gottes nicht ab und sagt uns immer wieder, dass der Friede möglich ist und dass wir Werkzeuge der Versöhnung und des Friedens sein müssen«.<ref>Benedikt XVI., Homilie (25. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 6. Februar 2009, S. 8.</ref>

Das Wort Gottes und die tätige Nächstenliebe

103. Das Bemühen um Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden hat seine letzte Wurzel und seine Erfüllung in der Liebe, die uns in Christus offenbart wurde. Durch das Anhören der Zeugnisse, die während der Synode gegeben wurden, ist unsere Aufmerksamkeit für die Verbindung zwischen dem liebenden Hören auf das Wort Gottes und dem uneigennützigen Dienst an den Brüdern geschärft worden; alle Gläubigen sollten die Notwendigkeit erkennen, »das gehörte Wort in Gesten der Liebe umzusetzen, weil nur so die Verkündigung des Evangeliums glaubwürdig wird, trotz aller menschlichen Schwächen«.<ref>Ders., Homilie zum Abschluß der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (26. Oktober 2008): AAS 100 (2008), 779.</ref> Jesus zog in dieser Welt umher und tat Gutes (vgl. Apg 10,38). Wenn man bereitwillig das Wort Gottes in der Kirche hört, erwacht »die Liebe und die Gerechtigkeit gegenüber allen, vor allem gegenüber den Armen«.<ref>Propositio 11.</ref> Nie darf man vergessen: »Liebe – Caritas – wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. … Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen«.<ref>Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 28: AAS 98 (2006), 240.</ref> Ich rufe daher alle Gläubigen auf, häufig über das Hohelied der Liebe des Apostels Paulus zu meditieren und sich von ihm inspirieren zu lassen: »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf« (1Kor 13,4-8).

Die Nächstenliebe, die in der Gottesliebe verwurzelt ist, verlangt also unseren ständigen Einsatz – als Einzelne und als kirchliche Gemeinschaft, als Ortskirche und als Weltkirche. Der hl. Augustinus sagt: »Es ist eine grundlegende Einsicht, dass die Erfüllung des Gesetzes und aller göttlichen Schriften die Liebe ist … Wer also glaubt, die Schriften ganz oder wenigstens teilweise verstanden zu haben, ohne sich zu bemühen, durch dieses Verständnis diese zweifache Liebe zu Gott und zum Nächsten aufzubauen, zeigt, dass er sie noch nicht verstanden hat«.<ref>De doctrina christiana, I,35,39-36,40: PL 34, 34.</ref>

Verkündigung des Wortes Gottes und die Jugendlichen

104. Die Synode hat der Verkündigung des göttlichen Wortes an die jungen Generationen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Jugendlichen sind schon jetzt aktive Glieder der Kirche und stellen ihre Zukunft dar. In ihnen finden wir häufig eine spontane Offenheit gegenüber dem Wort Gottes und ein aufrichtiges Verlangen, Jesus kennenzulernen. In der Jugendzeit tauchen nämlich unbezwingbar und aufrichtig die Fragen nach dem Sinn und der zukünftigen Ausrichtung des eigenen Lebens auf. Auf diese Fragen kann nur Gott eine wahre Antwort geben. Die Aufmerksamkeit für die Welt der Jugendlichen verlangt den Mut zu einer klaren Verkündigung; wir müssen den Jugendlichen helfen, Vertrauen in die Heilige Schrift zu gewinnen und zur Vertrautheit mit ihr zu gelangen, damit diese gleichsam ein Kompaß ist, der den Weg weist, dem man folgen muss.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum XXI. Weltjugendtag  (22. Februar 2006): AAS 98 (2006), 282-286.</ref> Daher brauchen sie Zeugen und Lehrmeister, die mit ihnen gehen und sie anleiten, das Evangelium zu lieben und es ihrerseits vor allem an ihre Altersgenossen weiterzugeben und so selbst zu wahren und glaubwürdigen Verkündern zu werden.<ref>Vgl. Propositio 34.</ref>

Das göttliche Wort muss auch in seinem Bezug zur Berufung dargestellt werden, um den Jugendlichen Hilfe und Orientierung in ihren Lebensentscheidungen zu bieten, auch im Hinblick auf eine Ganzhingabe.<ref>Vgl. ebd.</ref> Echte Berufungen zum geweihten Leben und zum Priestertum finden ihren Nährboden im treuen Umgang mit dem Wort Gottes. Ich möchte heute noch einmal die Einladung wiederholen, die ich zu Beginn meines Pontifikats gemacht habe, die Türen weit für Christus zu öffnen: »Wer Christus einlässt, dem geht nichts, nichts – gar nichts verloren von dem, was das Leben frei, schön und groß macht. Nein, erst in dieser Freundschaft öffnen sich die Türen des Lebens. Erst in dieser Freundschaft gehen überhaupt die großen Möglichkeiten des Menschseins auf. … Liebe junge Menschen…, habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück. Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus – dann findet Ihr das wirkliche Leben«.<ref>Homilie (24. April 2005): AAS 97 (2005), 712.</ref>

Verkündigung des Wortes Gottes und die Migranten

105. Das Wort Gottes macht uns aufmerksam gegenüber der Geschichte und dem Neuen, das in ihr aufkeimt. Daher hat die Synode im Zusammenhang mit der Evangelisierungssendung der Kirche das Augenmerk auch auf das komplexe Phänomen der Migrationsbewegungen gerichtet, das in diesen Jahren nie gekannte Ausmaße angenommen hat. Hier stellen sich sehr heikle Fragen in bezug auf die Sicherheit der Nationen und die Aufnahme derer, die Zuflucht, bessere Lebensbedingungen, Gesundheit und Arbeit suchen. Eine große Anzahl von Menschen, die Christus nicht kennen oder ein verzerrtes Bild von ihm haben, lassen sich in Ländern christlicher Tradition nieder. Gleichzeitig wandern Menschen, die Völkern angehören, die tief vom christlichen Glauben geprägt sind, in Länder aus, in welche die Verkündigung Christi und einer Neuevangelisierung gebracht werden muss. Diese Situationen bieten neue Möglichkeiten für die Ausbreitung des Wortes Gottes. In diesem Zusammenhang haben die Synodenväter bekräftigt, dass die Migranten das Recht haben, das Kerygma zu hören, das ihnen angeboten, nicht aber aufgezwungen wird. Wenn sie Christen sind, brauchen sie angemessenen seelsorglichen Beistand, um ihren Glauben zu stärken und selbst Überbringer der Botschaft des Evangeliums zu werden. Im Wissen um die Komplexität des Phänomens müssen alle betroffenen Diözesen sich rüsten, die Migrationsbewegungen auch als Gelegenheit zu verstehen, um neue Formen der Anwesenheit und der Verkündigung zu entdecken und den je eigenen Möglichkeiten entsprechend für eine angemessene Aufnahme und Ermunterung dieser unserer Mitmenschen zu sorgen, damit sie, von der Frohen Botschaft berührt, selbst Verkündiger des Wortes Gottes und Zeugen des auferstandenen Jesus, der Hoffnung der Welt, werden können.<ref>Vgl. Propositio 38.</ref>

Verkündigung des Wortes Gottes und die Leidenden

106. Bei den Arbeiten der Synode war das Augenmerk der Väter auch auf die Notwendigkeit gerichtet, das Wort Gottes allen zu verkünden, die Leid tragen, sei es auf physischer, psychischer oder geistlicher Ebene. Im Moment des Schmerzes geschieht es nämlich, dass im Herzen des Menschen die Fragen nach dem letzten Sinn seines Lebens mit besonderer Heftigkeit aufsteigen. Während allem Anschein nach das menschliche Wort vor dem Geheimnis von Schmerz und Leid verstummt und unsere Gesellschaft dem Leben nur dann Wert zuspricht, wenn es einen gewissen Grad an Leistungsfähigkeit und Wohlergehen aufweist, offenbart uns das Wort Gottes, dass auch diese Lebensumstände geheimnisvoll »umarmt« sind von der zärtlichen Liebe Gottes. Der Glaube, der aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entsteht, verschafft uns die Einsicht, dass das menschliche Leben in ganzer Fülle lebenswert ist, auch wenn es vom Leiden geschwächt ist. Gott hat den Menschen für die Glückseligkeit und für das Leben erschaffen, während Krankheit und Tod infolge der Sünde in die Welt eingetreten sind (vgl. Weish 2,23-24). Aber der Vater des Lebens ist für den Menschen der Arzt schlechthin; unablässig beugt er sich liebevoll über die leidende Menschheit. Den Höhepunkt der Nähe Gottes zum Leiden des Menschen sehen wir in Jesus selbst. Er ist das »fleischgewordene Wort. Er hat mit uns gelitten, er ist gestorben. Durch sein Leiden und seinen Tod hat er unsere Schwachheit bis ins Letzte angenommen und verwandelt«.<ref>Benedikt XVI., Homilie anlässlich des XVII. Welttags der Kranken  (11. Februar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 20. Februar 2009, S. 1.</ref>

Die Nähe Jesu zu den Leidenden ist ungebrochen: Sie erstreckt sich über die Zeit durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Sendung der Kirche, im Wort und in den Sakramenten, in den Menschen guten Willens, in den Pflegediensten, die die Gemeinden mit brüderlicher Liebe fördern und so das wahre Antlitz Gottes und seine Liebe zeigen. Die Synode dankt Gott für das leuchtende und oft verborgene Zeugnis vieler Christen – Priester, Ordensleute und Laien –, die Christus, dem wahren Arzt des Leibes und der Seele, ihre Hände, ihre Augen und ihre Herzen geliehen haben und leihen! Sie mahnt auch, weiterhin für die kranken Menschen Sorge zu tragen und ihnen im Wort und in der Eucharistie die lebensspendende Gegenwart Jesu, des Herrn, zu bringen. Man helfe ihnen, die Schrift zu lesen und zu entdecken, dass sie gerade in ihrer Lage in besonderer Weise am erlösenden Leiden Christi für das Heil der Welt teilhaben können (vgl. 2Kor 4,8-11.14).<ref>Vgl. Propositio 35.</ref>

Verkündigung des Wortes Gottes und die Armen

107. Die Heilige Schrift belegt die besondere Liebe Gottes zu den Armen und Notleidenden (vgl. Mt 25,31-46). Häufig haben die Synodenväter auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Verkündigung des Evangeliums, das Bemühen der Hirten und der Gemeinden überall diesen unseren Brüdern und Schwestern zuzuwenden. Denn »die ersten, die das Recht auf die Verkündigung des Evangeliums haben, sind die Armen, die nicht nur Brot brauchen, sondern auch Worte des Lebens«.<ref>Propositio 11.</ref> Die Diakonie der Nächstenliebe, die in unseren Kirchen niemals fehlen darf, muss stets an die Verkündigung des Wortes und an die Feier der heiligen Geheimnisse geknüpft sein.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 25: AAS 98 (2006), 236-237.</ref> Zugleich muss anerkannt und hervorgehoben werden, dass die Armen selbst auch Träger der Evangelisierung sind. In der Bibel ist der wahre Arme derjenige, der ganz auf Gott vertraut, und Jesus selbst bezeichnet sie im Evangelium als selig, »denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3; vgl. Lk 6,20). Der Herr preist die Einfachheit des Herzens derer, die in Gott den wahren Reichtum erkennen und ihre Hoffnung auf ihn setzen, nicht auf die Güter dieser Welt. Die Kirche darf die Armen nicht enttäuschen: »Die Hirten sind aufgerufen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen, sie in ihrem Glauben zu leiten und sie zu ermutigen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen«.<ref>Propositio 11.</ref>

Die Kirche weiß auch, dass es eine Armut gibt, die als Tugend gepflegt und frei gewählt werden muss, wie viele Heilige es getan haben, und ein Elend, das oft das Ergebnis von Ungerechtigkeit ist, verursacht durch Egoismus, ein Elend, das von Not und Hunger geprägt ist und Konflikte schürt. Wenn die Kirche das Wort Gottes verkündet, weiß sie, dass ein »Kreislauf der Tugend« gefördert werden muss zwischen der »zu wählenden« Armut und der »zu bekämpfenden« Armut. So »müssen die Einfachheit und die Solidarität als Werte wiederentdeckt werden, die dem Evangelium entsprechen und gleichzeitig universal sind … Dies bringt Entscheidungen für Gerechtigkeit und Genügsamkeit mit sich«.<ref>Benedikt XVI., Homilie (1. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 9. Januar 2009, S. 2.</ref>

Wort Gottes und Bewahrung der Schöpfung

108. Der Einsatz in der Welt, der vom göttlichen Wort verlangt wird, drängt uns, den ganzen von Gott erschaffenen Kosmos mit neuen Augen zu betrachten, der bereits die Spuren des Wortes in sich trägt, durch das alles geworden ist (vgl. Joh 1,3). Als Gläubige und Verkünder des Evangeliums tragen wir nämlich auch gegenüber der Schöpfung Verantwortung. Indem die Offenbarung uns den Plan Gottes für den Kosmos kundtut, veranlaßt sie uns auch, falsche Haltungen des Menschen anzuprangern, wenn dieser die Dinge nicht als Abglanz des Schöpfers erkennt, sondern sie als reine Materie betrachtet, die skrupellos manipuliert werden kann. In diesem Fall fehlt dem Menschen jene wesentliche Demut, die es ihm erlaubt, die Schöpfung als Geschenk Gottes anzuerkennen, das nach dessen Plan angenommen und gebraucht werden muss. Die Anmaßung des Menschen, der so lebt, als gäbe es Gott nicht, führt im Gegenteil dazu, die Natur auszubeuten und zu entstellen, weil er in ihr nicht das Werk des Schöpferwortes wahrnimmt. In diesem theologischen Rahmen möchte ich die Aussagen der Synodenväter erwähnen, die daran erinnert haben, dass »die Annahme des in der Heiligen Schrift und in der lebendigen Überlieferung der Kirche bezeugten Wortes Gottes eine neue Sichtweise der Dinge bewirkt und eine echte Ökologie fördert, deren tiefste Wurzel im Glaubensgehorsam liegt … (sowie) eine erneuerte theologische Sensibilität für das Gutsein aller in Christus geschaffenen Dinge entwickelt«.<ref>Propositio 54.</ref> Der Mensch muss neu zum Staunen erzogen werden und dazu, die wahre Schönheit zu erkennen, die sich in den geschaffenen Dingen zeigt.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 92: AAS 99 (2007), 176-177.</ref>

Wort Gottes und Kulturen

Der Wert der Kultur für das Leben des Menschen

109. Die johanneische Verkündigung der Menschwerdung des Wortes offenbart die unlösliche Verbindung zwischen dem göttlichen Wort und den menschlichen Worten, durch die es sich uns mitteilt. Im Rahmen dieser Überlegungen hat sich die Synode mit der Beziehung zwischen dem Wort Gottes und der Kultur befasst. Gott offenbart sich dem Menschen nämlich nicht in abstrakter Form, sondern er übernimmt Sprachen, Bilder und Ausdrücke, die an die verschiedenen Kulturen gebunden sind. Diese fruchtbare Beziehung ist in der Kirchengeschichte reichlich belegt. Aufgrund der Verbreitung und Verwurzelung der Evangelisierung in den verschiedenen Kulturen sowie der jüngsten Entwicklungen der westlichen Kultur tritt diese Beziehung heute in eine neue Phase ein. Dies erfordert zunächst einmal, die Bedeutung der Kultur als solche für das Leben eines jeden Menschen anzuerkennen. Das Phänomen der Kultur in seinen vielfältigen Aspekten stellt sich nämlich als Grundelement der menschlichen Erfahrung dar: »Der Mensch lebt stets gemäß einer ihm eigenen Kultur, die ihrerseits zwischen den Menschen eine Verbindung herstellt, die ihnen ebenfalls zu eigen ist und die den zwischenmenschlichen und sozialen Charakter des menschlichen Lebens bestimmt«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die UNESCO (2. Juni 1980), 6: AAS 72 (1980), 738.</ref>

Das Wort Gottes hat durch die Jahrhunderte hindurch die verschiedenen Kulturen inspiriert und sittliche Grundwerte, hervorragende künstlerische Ausdrucksformen und vorbildliche Lebensstile hervorgebracht.<ref>Vgl. Propositio 41.</ref> Im Hinblick auf eine erneuerte Begegnung zwischen Bibel und Kulturen möchte ich daher gegenüber allen Kulturträgern noch einmal bekräftigen, dass sie nichts zu befürchten haben, wenn sie sich dem Wort Gottes öffnen, das die wahre Kultur niemals zerstört, sondern einen ständigen Ansporn darstellt für die Suche nach immer passenderen und bedeutungsvolleren menschlichen Ausdrucksformen. Jede wahre Kultur muss, um wirklich dem Menschen zu dienen, offen sein für die Transzendenz, also letztendlich für Gott.

Die Bibel als großer Kodex für die Kulturen

110. Die Synodenväter haben hervorgehoben, wie wichtig es ist, unter den Kulturträgern eine angemessene Bibelkenntnis zu fördern, auch in säkularisierten Umfeldern und unter den Nichtgläubigen;<ref>Vgl. ebd.</ref> in der Heiligen Schrift sind anthropologische und philosophische Werte enthalten, die die ganze Menschheit positiv beeinflusst haben.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 80: AAS 91 (1999), 67-68.</ref> Der Sinn der Bibel als großer Kodex für die Kulturen muss vollständig wiedererlangt werden.

Die Kenntnis der Bibel in den Schulen und Universitäten

111. Ein besonderer Bereich der Begegnung zwischen Wort Gottes und Kulturen sind Schule und Universität. Die Hirten müssen sich um diese Bereiche in besonderer Weise kümmern und eine tiefe Kenntnis der Bibel fördern, damit deren fruchtbare kulturelle Auswirkungen auch auf das Heute deutlich werden. Die von den katholischen Trägern geleiteten Studienzentren leisten einen eigenständigen Beitrag zur Förderung von Kultur und Bildung, der anerkannt werden muss. Auch der Religionsunterricht darf nicht vernachlässigt werden; die Lehrer müssen dafür eine sorgfältige Ausbildung erhalten. In vielen Fällen stellt er für die Schüler eine einzigartige Gelegenheit der Berührung mit der Botschaft des Glaubens dar. Es ist gut, wenn in diesem Unterricht die Kenntnis der Heiligen Schrift gefördert wird, indem man alte und neue Vorurteile überwindet und versucht, ihre Wahrheit zu vermitteln.<ref>Vgl. Lineamenta 23.</ref>

Die Heilige Schrift in den verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen

112. Die Beziehung zwischen dem Wort Gottes und der Kultur hat in Werken vielerlei Art Ausdruck gefunden, insbesondere in der Welt der Kunst. Die große Überlieferung des Ostens und des Westens hat daher stets den von der Heiligen Schrift inspirierten künstlerischen Erscheinungsformen großen Wert beigemessen, wie zum Beispiel der bildenden Kunst und der Architektur, der Literatur und der Musik. Ich denke auch an die altehrwürdige Ausdrucksform der Ikonen, die sich von der orientalischen Überlieferung ausgehend in der ganzen Welt verbreitet haben. Zusammen mit den Synodenvätern bringt die ganze Kirche den »in die Schönheit verliebten« Künstlern, die sich von den heiligen Texten haben inspirieren lassen, Wertschätzung, Hochachtung und Bewunderung entgegen. Sie haben einen Beitrag geleistet zum Schmuck unserer Kirchen, zur Feier unseres Glaubens, zur Bereicherung unserer Liturgie, und zugleich haben viele von ihnen dazu beigetragen, die unsichtbaren und ewigen Wirklichkeiten irgendwie in Zeit und Raum wahrnehmbar zu machen.<ref>Vgl. Propositio 40.</ref> Ich fordere die zuständigen Einrichtungen auf, in der Kirche eine solide Unterweisung der Künstler in der Heiligen Schrift im Licht der lebendigen Überlieferung der Kirche und des Lehramts zu fördern.

Wort Gottes und soziale Kommunikationsmittel

113. Mit der Beziehung zwischen dem Wort Gottes und den Kulturen verbindet sich auch die sorgfältige und intelligente Nutzung der alten und neuen sozialen Kommunikationsmittel. Die Synodenväter haben eine angemessene Kenntnis dieser Mittel empfohlen: Ihre rasche Entwicklung und die verschiedenen Ebenen, in denen ein Austausch stattfindet, müssen beachtet und größere Kräfte investiert werden, um Fachkenntnisse in den verschiedenen Bereichen zu erlangen, besonders in dem der neuen Medien, wie zum Beispiel dem Internet. Es gibt bereits eine bedeutende Präsenz von seiten der Kirche in der Welt der Massenkommunikation, und auch das kirchliche Lehramt hat sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mehrfach zu diesem Thema geäußert.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica; Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel, Pastoralinstruktion Communio et progressio über die Instrumente der sozialen Kommunikation, veröffentlicht im Auftrag des Zweiten Vatikanischen Ökumenischen Konzils (23. Mai 1971): AAS 63 (1971), 593-656; Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Die schnelle Entwicklung (24. Januar 2005): AAS 97 (2005), 265-274; Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel, Pastoralinstruktion Aetatis novae zur sozialen Kommunikation zwanzig Jahre nach »Communio et progressio« (22. Februar 1992): AAS 84 (1992), 447-468; ders., Kirche und Internet (22. Februar 2002): Ench. Vat. 21, Nrn. 66-95; ders., Ethik im Internet (22. Februar 2002): Ench. Vat. 21, Nrn. 96-127.</ref> Der Erwerb neuer Methoden zur Weitergabe der Botschaft des Evangeliums gehört zum ständigen Evangelisationsstreben der Gläubigen, und heute gibt es in der Kommunikation ein Netz, das den ganzen Globus umspannt. So bekommt der Aufruf Christi neue Bedeutung: »Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern« (Mt 10,27). Das göttliche Wort muss außer in gedruckter Form auch durch die anderen Kommunikationsformen verbreitet werden.<ref>Vgl. Schlussbotschaft, IV,11; Benedikt XVI., Botschaft zum 43. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel (24. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 6. Februar 2009, S. 7.</ref> Daher möchte ich gemeinsam mit den Synodenvätern den Katholiken danken, die sich mit Sachkenntnis für eine signifikante Präsenz in der Welt der Medien einsetzen und fordere sie zu einem noch umfassenderen und qualifizierteren Einsatz auf.<ref>Vgl. Propositio 44.</ref>

Unter den neuen Formen der Massenkommunikation spielt das Internet heute eine immer größere Rolle. Es bietet ein neues Forum zur Verkündigung des Evangeliums, wobei man sich jedoch bewusst sein muss, dass die virtuelle Welt niemals die reale Welt ersetzen kann und dass sich die Evangelisierung die von den neuen Medien angebotene Virtualität zur Aufnahme bedeutender Beziehungen nur dann zunutze machen kann, wenn es zur persönlichen Begegnung kommt, die als solche stets unersetzlich bleibt. In der Welt des Internet, durch das Milliarden von Bildern auf Millionen Bildschirmen überall auf dem Erdkreis erscheinen, muss das Antlitz Christi sichtbar werden und seine Stimme zu hören sein, »denn wo kein Platz für Christus ist, da ist auch kein Platz für den Menschen«.<ref>Johannes Paul II., Botschaft zum 36. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel (24. Januar 2002), 6: L’Osservatore Romano (dt.), 1. Februar 2002, S. 11.</ref>

Bibel und Inkulturation

114. Durch das Geheimnis der Menschwerdung wissen wir, dass Gott sich einerseits immer in einer konkreten Geschichte mitteilt und die kulturellen Kodizes annimmt, die in sie eingeschrieben sind. Andererseits kann und muss das Wort an andere Kulturen weitergegeben werden und sie von innen her verwandeln durch das, was Papst Paul VI. als Evangelisierung der Kulturen bezeichnete.<ref>Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 20: AAS 68 (1976), 18-19.</ref> Das Wort Gottes, wie im übrigen der christliche Glaube überhaupt, offenbart so einen tief interkulturellen Charakter, der zur Begegnung mit unterschiedlichen Kulturen fähig ist und diese miteinander in Kontakt bringen kann.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 78: AAS 99 (2007), 165.</ref>

In diesem Zusammenhang wird auch der Wert der Inkulturation des Evangeliums verständlich.<ref>Vgl. Propositio 48.</ref> Die Kirche ist fest davon überzeugt, dass dem Wort Gottes die Fähigkeit innewohnt, alle Menschen in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext zu erreichen: »Diese Überzeugung kommt von der Bibel selbst, die schon vom Buch der Genesis an eine universale Perspektive hat (vgl. Gen 1,27-28), die in der Verheißung des Segens für alle Völker durch Abraham und seine Nachkommen weitergeht (vgl. Gen 12,3; 18,18) und sich definitiv erfüllt, als die christliche Verkündigung ‚an alle Nationen‘ ergeht«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), IV,B: Ench. Vat. 13, Nr. 3112.</ref> Daher darf die Inkulturation nicht mit oberflächlicher Anpassung verwechselt werden und auch nicht mit synkretistischer Verwirrung, die die Eigenart des Evangeliums verwässert, um es leichter annehmbar zu machen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, 22; Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), IV,B: Ench. Vat. 13, Nrn. 3111-3117.</ref> Das wahre Vorbild der Inkulturation ist die Menschwerdung des Wortes: »Die „Akkulturation“ oder „Inkulturation“ … ist dann wirklich ein Abglanz der Menschwerdung des Wortes, wenn eine Kultur, vom Evangelium verwandelt und neu geschaffen, aus ihrer eigenen lebendigen Tradition ursprüngliche christliche Ausdrucksformen des Lebens, des Feierns und des Denkens hervorbringt«,<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Bischöfe in Kenia  (7. Mai 1980), 6: AAS 72 (1980), 497.</ref> indem sie die lokale Kultur von innen her fermentiert, die »semina Verbi« und alles Positive, das in ihr vorhanden ist, zur Geltung bringt und für die Werte des Evangeliums öffnet.<ref>Vgl. Instrumentum laboris 56.</ref>

Übersetzungen und Verbreitung der Bibel

115. Wenn die Inkulturation des Wortes Gottes ein unverzichtbarer Teil der Sendung der Kirche in der Welt ist, dann ist ein entscheidendes Moment in diesem Prozess die Verbreitung der Bibel durch die wertvolle Arbeit der Übersetzung in die verschiedenen Sprachen. In diesem Zusammenhang muss man sich stets vor Augen halten, dass die Übersetzung der Schrift schon zur Zeit des Alten Testaments begann, »als man den hebräischen Text der Bibel mündlich ins Aramäische (vgl. Neh 8,8.12) und später schriftlich ins Griechische übersetzte. Eine Übersetzung ist in der Tat immer mehr als eine bloße Übertragung des Originaltextes in eine andere Sprache. Der Übergang von einer Sprache zur andern bringt notwendigerweise eine Änderung des kulturellen Kontextes mit sich: die Begrifflichkeit ist nicht dieselbe, und die Bedeutung der Symbole ist verschieden, denn sie wachsen aus anderen Denktraditionen und anderen Lebensformen heraus«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), IV,B: Ench. Vat. 13, Nr. 3113.</ref>

Während der Synodenarbeiten musste man feststellen, dass etliche Ortskirchen noch nicht über eine vollständige Übersetzung der Bibel in ihren eigenen Sprachen verfügen. Viele Völker hungern und dürsten heute nach dem Wort Gottes, aber »der Zugang zur Heiligen Schrift« steht ihnen leider noch nicht »weit offen«,<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 22.</ref> wie das Zweite Vatikanische Konzil es gewünscht hatte! Daher hält die Synode vor allem die Ausbildung von Fachleuten für wichtig, die sich der Bibelübersetzung in die verschiedenen Sprachen widmen.<ref>Vgl. Propositio 42.</ref> Ich ermutige dazu, Mittel in diesen Bereich zu investieren. Insbesondere möchte ich empfehlen, die Bemühungen der Katholischen Bibelföderation zu unterstützen, damit die Zahl der Übersetzungen der Heiligen Schrift und ihre flächendeckende Verbreitung weiter zunimmt.<ref>Vgl. Propositio 43.</ref> Aufgrund des Wesens einer solchen Arbeit sollte dies soweit wie möglich in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Bibelgesellschaften geschehen.

Das Wort Gottes überwindet die Grenzen der Kulturen

116. Im Rahmen der Debatte über die Beziehung zwischen dem Wort Gottes und den Kulturen hat die Synodenversammlung das Bedürfnis verspürt, noch einmal zu bestätigen, was die ersten Christen vom Pfingsttag an erfahren konnten (vgl. Apg 2,1-13). Das göttliche Wort ist in der Lage, in verschiedene Kulturen und Sprachen einzudringen und sich dort Ausdruck zu verschaffen, aber dasselbe Wort überwindet die Grenzen der einzelnen Kulturen und schafft Gemeinschaft unter verschiedenen Völkern. Das Wort des Herrn lädt uns ein, auf eine größere Gemeinschaft zuzugehen. »Wir verlassen die Begrenztheit unserer Erfahrungen und treten ein in die Realität, die wahrhaft universal ist. Wenn wir in die Gemeinschaft mit dem Wort Gottes eintreten, treten wir in die Gemeinschaft der Kirche ein, die das Wort Gottes lebt… Es bedeutet, aus der Begrenztheit der einzelnen Kulturen hinauszutreten in die Universalität, die alle verbindet und vereint, die uns alle zu Brüdern macht«.<ref>Benedikt XVI., Homilie bei der Terz zu Beginn der ersten Vollversammlung der Bischofssynode (6. Oktober 2008): AAS 100 (2008), 760.</ref> Das Verkünden des Wortes Gottes verlangt also zuerst von uns selbst einen immer neuen Exodus. Wir müssen aus unseren Maßstäben und unseren begrenzten Vorstellungen herauskommen, um in uns Platz zu machen für die Gegenwart Christi.

Wort Gottes und interreligiöser Dialog

Der Wert des interreligiösen Dialogs

117. Als wesentlichen Teil der Verkündigung des Wortes erkennt die Kirche die Begegnung, den Dialog und die Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens, besonders mit denen, die den verschiedenen religiösen Traditionen der Menschheit angehören, wobei sie Formen von Synkretismus und Relativismus vermeidet und den Linien folgt, die die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra aetate aufgezeigt hat und die vom nachfolgenden Lehramt der Päpste entfaltet wurden.<ref>Unter den zahlreichen Beiträgen verschiedener Art seien besonders erwähnt: Johannes Paul II., Enzyklika Dominum et vivificantem (18. Mai 1986): AAS 78 (1986), 809-900; ders., Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990): AAS 83 (1991), 249-340; ders., Ansprachen und Homilien in Assisi anlässlich des Weltgebetstreffens für den Frieden (27. Oktober 1986): L’Osservatore Romano (dt.), 7. November 1986, S. 9-11; Gebetstreffen für den Frieden in der Welt (24. Januar 2002): L’Osservatore Romano (dt.), 1. Februar 2002, S. 7-8; Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche Dominus iesus (6. August 2000): AAS 92 (2000), 742-765.</ref> Der für unsere Zeit charakteristische rasch fortschreitende Prozess der Globalisierung versetzt uns in die Lage, in engerem Kontakt mit Menschen anderer Kulturen und Religionen zu leben. Das ist eine von der Vorsehung geschenkte Gelegenheit, um zu zeigen, dass der wahre religiöse Sinn unter den Menschen Beziehungen universaler Brüderlichkeit fördern kann. Es ist ein wichtiges Anliegen, dass die Religionen in unseren oft säkularisierten Gesellschaften eine Mentalität fördern können, die in Gott, dem Allmächtigen, die Grundlage alles Guten, den unerschöpflichen Quell des sittlichen Lebens und die Stütze eines tiefen Empfindens der universalen Brüderlichkeit sieht.

In der jüdisch-christlichen Überlieferung zum Beispiel findet sich die eindrucksvolle Bezeugung der Liebe Gottes zu allen Völkern, die er bereits im Bund mit Noach, in einer einzigen großen Umarmung vereint, symbolisiert durch den »Bogen in den Wolken« (vgl. Gen 9,13.14.16), und die er den Worten der Propheten gemäß in einer einzigen weltweiten Familie sammeln will (vgl. Jes 2,2ff; 42,6; 66,18-21; Jer 4,2; Ps 47). Zeugnisse der engen Verbindung zwischen der Gottesbeziehung und der Ethik der Liebe zu jedem Menschen sind in der Tat in vielen großen religiösen Traditionen zu verzeichnen.

Dialog zwischen Christen und Muslimen

118. Unter den verschiedenen Religionen betrachtet die Kirche mit Hochachtung auch die Muslime, die die Existenz eines alleinigen Gottes anerkennen.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 3.</ref> Sie beziehen sich auf Abraham und verehren Gott vor allem durch Gebet, Almosen und Fasten. Wir anerkennen, dass in der Überlieferung des Islam viele biblische Gestalten, Symbole und Themen vorhanden sind. In Kontinuität mit dem bedeutenden Wirken von Papst Johannes Paul II. wünsche ich, dass die vor vielen Jahren geknüpften vertrauensvollen Beziehungen zwischen Christen und Muslimen fortbestehen und sich in einem Geist des aufrichtigen und respektvollen Dialogs weiterentwickeln.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die beim Heiligen Stuhl akkreditierten Botschafter der Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung (25. September 2006): AAS 98 (2006), 704-706.</ref> Die Synode hat den Wunsch geäußert, dass in diesem Dialog die Achtung vor dem Leben als Grundwert, die unveräußerlichen Rechte des Mannes und der Frau und ihre gleiche Würde vertieft werden mögen. Unter Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen sozio-politischer Ordnung und religiöser Ordnung müssen die Religionen ihren Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Die Synode bittet die Bischofskonferenzen, dort, wo es angebracht und nützlich erscheint, Begegnungen zum gegenseitigen Kennenlernen zwischen Christen und Muslimen zu unterstützen, um die Werte zu fördern, die die Gesellschaft für ein friedliches und positives Zusammenleben braucht.<ref>Vgl. Propositio 53.</ref>

Dialog mit den anderen Religionen

119. Bei dieser Gelegenheit möchte ich darüber hinaus den Respekt der Kirche für die antiken Religionen und geistlichen Traditionen der verschiedenen Kontinente zum Ausdruck bringen; sie enthalten Werte, die die Verständigung zwischen Personen und Völkern sehr fördern können.<ref>Vgl. Propositio 50.</ref> Oft stellen wir Übereinstimmungen mit Werten fest, die auch in ihren religiösen Büchern zum Ausdruck kommen, wie zum Beispiel die Achtung vor dem Leben, die Kontemplation, das Schweigen, die Einfachheit im Buddhismus; der Sinn für das Heilige, das Opfer und das Fasten im Hinduismus; und auch die Werte der Familie und der Gesellschaft im Konfuzianismus. Wir sehen auch in anderen religiösen Erfahrungen eine ehrliche Aufmerksamkeit gegenüber der Transzendenz Gottes, der als Schöpfer erkannt wird, ebenso wie gegenüber der Achtung vor dem Leben, vor der Ehe und vor der Familie und ein starkes Solidaritätsbewusstsein.

Dialog und Religionsfreiheit

120. Dennoch wäre der Dialog nicht fruchtbar, wenn er nicht auch die wahre Achtung jedes Menschen einschließen würde, damit dieser seine Religion frei ausüben kann. Während die Synode die Zusammenarbeit zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen unterstützt, erinnert sie darum ebenso an »die Notwendigkeit, allen Gläubigen wirklich die Freiheit zu gewährleisten, die eigene Religion privat und öffentlich zu bekennen, ebenso wie die Gewissensfreiheit«.<ref>Propositio 50.</ref> Denn »Achtung und Dialog verlangen Gegenseitigkeit in allen Bereichen, vor allem was die Grundfreiheiten, und ganz speziell die Religionsfreiheit, betrifft. Sie begünstigen den Frieden und die Verständigung unter den Völker«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache bei der Begegnung mit muslimischen Jugendlichen in Casablanca in Marokko (19. August 1985), 5: AAS78 (1986), 99.</ref>

SCHLUSS

Das endgültige Wort Gottes

121. Am Ende dieser Überlegungen, mit denen ich den Reichtum der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche zusammenfassen und vertiefen wollte, möchte ich noch einmal das ganze Gottesvolk – die Hirten, die Personen geweihten Lebens und die Laien – auffordern, sich um eine immer größere Vertrautheit mit der Heiligen Schrift zu bemühen. Wir dürfen nie vergessen, dass die Grundlage jeder echten und lebendigen christlichen Spiritualität das in der Kirche verkündete, angenommene, gefeierte und betrachtete Wort Gottes ist. Diese Intensivierung der Beziehung zum göttlichen Wort wird mit um so größerem Elan geschehen, je mehr wir uns bewusst sind, dass wir sowohl in der Schrift als auch in der lebendigen Überlieferung der Kirche das endgültige Wort Gottes über den Kosmos und über die Geschichte vor uns haben.

Wie uns der Prolog des Johannesevangeliums vor Augen führt, steht alles Sein unter dem Zeichen des Wortes. Das Wort geht vom Vater aus, wohnt unter den Seinen und kehrt in den Schoß des Vaters zurück, um die gesamte Schöpfung mit sich zu nehmen, die »in ihm und durch ihn« geschaffen wurde. Jetzt lebt die Kirche ihre Sendung in banger Erwartung der endzeitlichen Erscheinung des Bräutigams: »Der Geist und die Braut aber sagen: Komm!« (Offb 22,17). Dieses Warten ist niemals passiv, sondern missionarisches Streben einer Verkündigung des Wortes Gottes, das jeden Menschen heilt und erlöst: Auch heute noch sagt der auferstandene Jesus zu uns: »Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!« (Mk 16,15).

Neuevangelisierung und neues Hören

122. Daher muss unsere Zeit immer mehr die Zeit eines neuen Hörens auf das Wort Gottes und einer Neuevangelisierung sein. Wenn wir die Zentralität des göttlichen Wortes im christlichen Leben wiederentdecken, finden wir den tiefsten Sinn dessen wieder, was Papst Johannes Paul II. nachdrücklich angemahnt hat: die missio ad gentes fortzusetzen und mit allen Kräften eine Neuevangelisierung vorzunehmen, vor allen in den Nationen, in denen das Evangelium durch einen weitverbreiteten Säkularismus in Vergessenheit geraten oder den meisten Menschen gleichgültig geworden ist. Der Heilige Geist möge in den Menschen Hunger und Durst nach dem Wort Gottes erzeugen und eifrige Verkündiger und Zeugen des Evangeliums erwecken.

In Nachahmung des großen Völkerapostels, der gänzlich umgewandelt wurde, nachdem er die Stimme des Herrn vernommen hatte (vgl. Apg 9,1-30), vernehmen auch wir das göttliche Wort, das uns stets hier und jetzt persönlich anfragt. Wie uns die Apostelgeschichte berichtet, wählte der Heilige Geist sich Paulus und Barnabas für die Verkündigung und die Verbreitung der Frohen Botschaft aus (vgl. 13,2). So hört der Heilige Geist auch heute nicht auf, überzeugte und überzeugende Hörer und Verkündiger des Wortes des Herrn zu berufen.

Das Wort und die Freude

123. Je besser wir verstehen, uns dem göttlichen Wort zur Verfügung zu stellen, desto mehr können wir feststellen, dass sich das Pfingstgeheimnis auch heute in der Kirche Gottes vollzieht. Der Geist des Herrn gießt auch weiterhin seine Gaben über die Kirche aus, damit wir in die ganze Wahrheit geführt werden; er erschließt uns den Sinn der Schrift und macht uns in der Welt zu glaubwürdigen Verkündigern des heilbringenden Wortes. So kehren wir zum Ersten Johannesbrief zurück. Im Wort Gottes haben auch wir das Wort des Lebens gehört, geschaut und angefasst. Durch Gnade haben wir die Verkündigung angenommen, dass das ewige Leben offenbart wurde. So erkennen wir jetzt, dass wir in Gemeinschaft miteinander stehen, mit jenen, die uns im Zeichen des Glaubens vorausgegangen sind, und mit all jenen, die überall auf der Welt das Wort hören, die Eucharistie feiern, das Zeugnis der Liebe leben. Diese Verkündigung – erinnert uns der hl. Johannes – ist uns vermittelt worden, damit »unsere Freude vollkommen ist« (1Joh 1,4).

Die Synodenversammlung hat uns ermöglicht, persönlich zu erfahren, was in der johanneischen Botschaft enthalten ist: Die Verkündigung des Wortes schafft Gemeinschaft und ruft Freude hervor – eine tiefe Freude, die dem Herzen des dreifaltigen Lebens selbst entspringt und sich uns im Sohn mitteilt. Diese Freude ist ein unsagbares Geschenk, das die Welt nicht geben kann. Feste kann man organisieren, nicht aber die Freude. Der Schrift zufolge ist die Freude Frucht des Heiligen Geistes (vgl. Gal 5,22), der uns ermöglicht, in das Wort einzudringen und zu erreichen, dass das göttliche Wort in uns eingeht und Frucht bringt für das ewige Leben. Indem wir das Wort Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes verkünden, möchten wir auch den Quell der wahren Freude mitteilen – nicht einer oberflächlichen und vergänglichen Freude, sondern jener, die dem Bewusstsein entspringt, dass nur Jesus, der Herr, Worte des ewigen Lebens hat (vgl. Joh 6,68).

»Mater Verbi et Mater laetitiae«

124. Diese innige Beziehung zwischen dem Wort Gottes und der Freude wird gerade bei der Mutter Gottes ganz deutlich. Erinnern wir uns an die Worte der hl. Elisabeth: »Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lk 1,45). Maria ist selig, weil sie Glauben besitzt, weil sie geglaubt und in diesem Glauben das Wort Gottes in ihrem Schoß aufgenommen hat, um es der Welt zu schenken. Die von dem Wort empfangene Freude kann sich jetzt ausbreiten auf alle, die sich im Glauben durch das Wort Gottes verwandeln lassen. Das Lukasevangelium stellt uns in zwei Textstellen dieses Geheimnis des Hörens und der Freude vor Augen. Jesus sagt: »Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln« (8, 21). Und auf den Ausruf einer Frau aus der Menge, die den Leib, der ihn getragen, und die Brust, die ihn genährt hat, preisen will, antwortet Jesus, indem er das Geheimnis der wahren Freude offenbart: »Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen« (11, 28). Jesus macht die wahre Größe Marias deutlich und erschließt so auch jedem von uns die Möglichkeit jener Seligkeit, die aus dem gehörten und befolgten Wort kommt. Daher erinnere ich alle Christen daran, dass unsere persönliche und gemeinschaftliche Beziehung zu Gott von der wachsenden Vertrautheit mit dem göttlichen Wort abhängt. Schließlich wende ich mich an alle Menschen, auch an jene, die sich von der Kirche entfernt, den Glauben aufgegeben oder die Verkündigung des Heils nie vernommen haben. Zu jedem einzelnen sagt der Herr: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (Offb 3,20).

Jeder Tag unseres Leben sei daher geprägt von der immer neuen Begegnung mit Christus, dem menschgewordenen Wort des Vaters: Er steht am Anfang und am Ende, und »in ihm hat alles Bestand« (Kol 1,17). Pflegen wir die Stille, um das Wort des Herrn zu hören und darüber nachzudenken, damit es durch das Wirken des Heiligen Geistes alle Tage unseres Lebens immer neu in uns wohnt, in uns lebt und zu uns spricht. Auf diese Weise erneuert und verjüngt sich die Kirche fortwährend durch das Wort des Herrn, das in Ewigkeit bleibt (vgl. 1 Petr 1,25; Jes 40,8). So können auch wir in den großen hochzeitlichen Dialog einstimmen, mit dem die Heilige Schrift schließt: »Der Geist und die Braut aber sagen: „Komm!“. Wer hört, der rufe: „Komm!“... Er, der dies bezeugt, spricht: „Ja, ich komme bald.“ – Amen. Komm, Herr Jesus!« (Offb 22,17.20).

Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 30. September,

dem Gedenktag des heiligen Hieronymus,
im Jahr 2010, dem sechsten meines Pontifikats.

Benedikt XVI.

Anmerkungen

<references />