Evangelium vitae
Evangelium vitae ist eine Enzyklika von Papst Johannes Paul II., die sich vor allem mit der Frage des Lebensrechtes befasst. Das Schreiben wurde am 25. März 1995 veröffentlicht.
Inhaltsverzeichnis
Entstehungsgeschichte
Die Enzyklika wurde beim außerordentliche Konsistorium der Kardinäle, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat, angeregt. Die Kardinäle haben damals den Papst einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen. Zu Pfingsten 1991 wurde ein persönliches Schreiben an alle Bischöfe gerichtet mit der Bitte, hier Vorschläge einzubringen. In dem Brief hat der Papst auch einen Bezug zur Sozial-Enzyklika Rerum novarum hergestellt und betont: "Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein."
Inhalt
Einführung
Die Enzyklika besteht aus einer Einführung und vier Teilen. In der Einführung verweist der Papst darauf, dass das "Evangelium vom Leben" den Menschen als Frohe Botschaft verkündet werden soll. Diese Frohbotschaft beginnt mit der Geburt des Jesus-Kindes. Dann stellt der Papst unter Bezugnahme auf das Johannes-Evangelium (Kapitel 10,10, Leben in Fülle) einen Brücke zum ewigen Leben her und erklärt dann den unvergleichliche Wert der menschlichen Person.
Weiter betont Johannes Paul, dass dieses "Evangelium vom Leben" im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet und kommt dann zum eigentlichen Thema der Enzyklika: die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens, die für die Verkündigung besonders dringend sind. "Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben." Der Papst nennt hier wörtlich folgende Bedrohungen: Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der (freiwillige) Selbstmord.
Johannes Paul II. sagt im Vorwort auch gleich, dass die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht nur nicht zu bestrafen sondern ihnen sogar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen. Er bezeichnet dies ein "besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall." Entscheidungen, "die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet."
Dann kommt der Papst zum Hauptthema der Enzyklika und betont, dass das fundamentale Recht auf Leben heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten wird. Die Enzyklika versteht sich als Appell: "Achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!"
I. KAPITEL - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS
Der erste Teil beginnt mit dem bekannten Bibelzitat aus Genesis 4,8: "Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn." Dieser erste Mord ist für den Papst "eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird". Johannes Paul nimmt den Brudermord aus dem Alten Testament her um zu erklären, dass "bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet wird. "Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der "Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12)."
In weiterer Folge zeigt der Papst auf, wie Gott zwar Kain bestraft, aber er auch gleichzeitig der Barmherzige ist. Er bekommt ein Zeichen. Dadurch wird gesagt, dass nicht einmal der Mörder seine Personwürde verliert. Die Frage Gottes "Was hast du getan?" ist auch an die heutigen Menschen gerichtet. In Evangelium vitae, Kap. 11 (=EV 11), kommt dann der Papst auf die Abtreibung und auf die Euthanasie zu sprechen, auf die er seine Aufmerksamkeit lenken möchte, weil diese "Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, dass sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so dass eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird."
Das zusätzlich Problematische bei Abtreibung und Euthanasie ist, dass hier die Opfer völlig wehrlos sind und dass diese Angriffe großteils in der Familie passieren. Das Ganze ist für den Papst ein "Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen" und sozusagen eine "Verschwörung gegen das Leben"
Auf den Mythos, dass durch die von der Kirche abgelehnten Verhütung weniger Abtreibungen verursacht würden, geht der Papst ein und sagt, dass dieser Einwand "trügerisch" ist. "Denn es mag sein, dass viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens." Johannes Paul II. stellt fest, dass sich die Abtreibungskultur gerade dort besonders entwickelt hat, wo die Lehre der Kirche über Verhütung abgelehnt wird. Er bezeichnet Abtreibung und Verhütung als "Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander". In EV 14 wird wir die Anwendung verschiedener Techniken künstlicher Fortpflanzung kritisiert und die vorgeburtliche Diagnose kritisiert. Auch die Euthanasie ist für den Papst ein wichtiges Thema. "Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien."
Zum Bevölkerungswachstum meint er in EV 16, dass heutzutage viele Mächtige die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum empfinden und befürchten, dass die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. "Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht." Das ganze ist für den Papst "ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel". Johannes Paul II. spricht auch in diesem Zusammenhang von "falschen Propheten und Lehrer" und einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben«, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen. Kritik wird an den Massenmedien geübt, die häufig zu Komplizen dieser Verschwörung werden.
Die Wurzeln für das Übel sind in dem falschen Umgang mit der Freiheit zu sehen. "Die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedes Mal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune. Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34)."
Der Papst spricht weiter vom Kampf zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« und von einer perversen Freiheitsvorstellung sowie einer Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen. Johannes Paul II. spricht dann auch davon, dass die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen unvermeidlich zum praktischen Materialismus führt, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. "Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt."
In EV 27 geht der Papst dann auf die Pro-Life-Gruppen ein und betont: "Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit eine breitere Bewusstmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in die Praxis um."
Zentrale Aussagen
Zitat: (EV 13.) Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht.
Deutung: Unter dem Begriff "solche Praktiken" versteht die Enzyklika die Empfängnisverhütung und die Abtreibung, mit der der Mensch meint, die Weitergabe des menschlichen Lebens beeinflussen zu können. Der Wille Gottes wird dabei allerdings nicht "voll und ganz" befolgt.
II. KAPITEL - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN
Im II. Kapitel von EV ermutigt der Papst, angesichts dieser Ohnmacht, dass der Blick auf Christus, "das Wort des Lebens" gerichtet werden soll. "Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person Jesu selber besteht." Johannes Paul II. sagt in dem Kapitel klar, dass das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein beschränkt. "Das Leben, das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh 1, 4), beruht darauf, dass es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12-13)."
Die christliche Wahrheit über das Leben erreicht ihren Höhepunkt in der Erkenntnis, dass die Würde dieses Lebens nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm abhängt. Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht. Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben.
In EV 42 betont der Papst, dass das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben eine Aufgabe ist, die Gott jedem Menschen aufträgt. In EV 47 stellt Johannes Paul II. nochmals klar, dass kein Mensch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden darf, denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Apg 17, 28). In EV 50 erinnert er unter Berufung auf die dunklen Stunden am Karfreitag, dass auch wir uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens« befinden. "Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens."
III. KAPITEL - DU SOLLST NICHT TÖTEN: DAS HEILIGE GESETZ GOTTES
Das dritte Kapitel ist eine Auslegung des Gottesgebotes „Du sollst nicht töten“ im Kontext unserer Zeit. Wie steht das Tötungsverbot im Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft? Der Papst zeigt einen zweifachen geschichtlichen Radius des Textes auf. Zunächst ist das fünfte Gebot Bestandteil des Sinaibundes und damit auch präsent im Evangelium, bereits im Noach-Bund gegeben und verbunden mit der Vernunftwahrheit.
1. Das fünfte Gebot ist Bestandteil des Sinaibundes: Es gehört zum Bund dazu. Es ist Ausdruck der Zuwendung Gottes zum Menschen, dem der Weg des Lebens gezeigt wird. Diese Herzmitte des AT - die Wegweisung ins rechte Menschsein hinein – bleibt auch im NT gültig. Auf die Frage nach dem Leben sagt der Herr als erstes zu dem reichen Jüngling: „Du sollst nicht töten“, dazu dann die anderen Gebote der zweiten Gesetzestafel mit den Geboten vier bis zehn. - Gottes Gebot ist Ausdruck seiner Liebe zum Menschen (Nr. 52,2). - Der Mensch ist als Abbild Gottes auch Teilnehmer an der Königsherrschaft Gottes (Nr. 52,3).
2. Der Sinai weist aber nicht nur voraus auf das Evangelium, er weist auch zurück in die älteste Geschichte der Menschheit: Die Unantastbarkeit und die Sakralität des menschlichen Lebens ist der Kern des noachitischen Bundes (Nr. 53, 2-3), das ist ein universaler Bund, der die ganze Menschheit umgreift (Gen 9,5-6) mit dem Regenbogen als Bundeszeichen. Zur Klarstellung: Der Bund mit Noach ist tatsächlich wie der Papst in Nr. 53,2 sagt, „der allererste Bund“. Aber er weist zugleich auf das Paradies hin, da hier schon die erste Offenbarung an die Menschen erfolgte. Man sieht beim Lesen von Gen 9,1 ff sofort: hier wird bezüglich der Aufgaben und Gebote alles wiederholt, was Gott am Anfang den Menschen im Paradies sagte: Siehe Gen 1,26 ff. Obwohl der Noach-Bund der erste Bund war, erfolgte im Paradies die erste Offenbarung. Der Noach-Bund führt das weiter, was im Paradies schon grundgelegt war.
3. Das fünfte Gebot gehört zu den von der Vernunft erkennbaren Wahrheiten Das Wissen um die Heiligkeit des menschlichen Lebens, das für uns nicht verfügbar ist, sondern als treu zu hütende Gabe geschenkt ist, gehört zum moralischen Erbe der Menschheit. Dieses Wissen ist nicht überall in gleicher Reinheit und Größe gegenwärtig, aber in seinem Kern nirgendwo ganz verloren. Wir stehen hier vor dem, was Gott in jedes Menschen Herz hineingeschrieben hat. Glaubensethik und Vernunftethik decken sich in diesem Punkt. Der Glaube weckt nur die schlafende oder müde gewordene Vernunft wieder auf. Ihr wird an dieser Stelle nichts Fremdes von außen zugeführt, sondern sie wird einfach zu sich selbst gebracht. Diese Gedanken nimmt der Papst am Schluss des 3. Kapitels wieder auf (Nr. 75). Er kommt nochmals auf die wesentliche Vernünftigkeit des Gebotes zurück und zeigt zugleich, wie Vernunft und Glaube hier fortschreiten können.
Die Gültigkeit des 5. Gebotes und seine konkreten ethischen Imperative
1. Um es kurz vorweg zu nehmen: das fünfte Gebot gilt absolut, duldet also keine Ausnahmen (Nr. 53 - 54). Das menschliche Leben ist heilig und unantastbar, heißt die Überschrift zu Nr. 53 und 54. Zunächst gilt allgemein: Die negativen sittlichen Vorschriften haben einen absoluten Wert für die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie weisen darauf hin, dass die Wahl bestimmter Verhaltensweisen nicht nur mit der Liebe zu Gott, sondern auch mit der Würde des nach seinem Bild erschaffenen Menschen radikal unvereinbar ist. Sie können auch nicht aufgewogen werden durch eine gute Absicht oder durch gute Folgen. Der Papst zitiert Augustinus, wonach die erste Freiheit im Freisein von Verbrechen besteht: Nr. 75, 2. Von diesem Nein aus, in dem der Mensch Freiheit übt und frei wird, eröffnet sich dann ein unermessliches Feld des Ja, die weiten schöpferischen Möglichkeiten der Liebe, des Dienstes am Leben. Das Nein ist die Voraussetzung für das Ja. Das Nein gilt absolut, das Ja aber schließt unendliche Möglichkeiten der Liebe ein.
2. Wie steht es dann aber mit der Notwehr? - wie mit der Todesstrafe? Hat nicht die Kirche – und vorher schon das AT – immer die rechtmäßige Verteidigung für erlaubt gehalten, selbst wenn sie den Tod des anderen mit sich bringt? Sie hat sich der Todesstrafe nicht entgegengestellt. Was ist also mit dieser Ausnahmslosigkeit? Sind nicht Notwehr und Todesstrafe dann Ausnahmen des fünften Gebotes? Eine erste Präzisierung zu dieser Frage betrifft das Objekt des fünften Gebotes. Bei der Notwehr kollidiert anscheinend das Recht, das eigene Leben zu schützen mit der Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen (Nr. 55,1). „Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom AT verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Das Recht sich zu verteidigen bleibt. Darauf kann jemand nur kraft einer heroischen Liebe verzichten, „die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5,38-48) in die aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selbst ist".
3. Das Recht sich zu verteidigen kann sogar zur schwerwiegenden Pflicht werden für den, der für das Leben anderer oder das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist (KKK 2265). Es geschieht nun leider, dass der ungerechte Angreifer getötet wird. Diesen Tod muss man aber ihm selbst zur Last legen, denn er setzt sich dem Tod durch seinen Angriff selbst aus – und das gilt selbst dann, wenn „er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre“ (Nr. 55, Ende). Das bedeutet aber auch: Wer einen unschuldigen Menschen tötet, wird schuldig. Beim fünften Gebot ist das Objekt „der unschuldige Mensch“. Bei der Notwehr handelt es sich um ein anderes Objekt, hier ist das Objekt „der schuldige Mensch“. Diese Präzisierung ist insofern bereits im AT gegeben, als dort für das vom fünften Gebot ausgeschlossene Töten ein anderes Verb benutzt wird, als das an den Stellen, wo von der rechtmäßigen Verteidigung und von der Todesstrafe die Rede ist. Damit wird aber auch deutlich: es handelt sich nicht nur um ein anderes Objekt, sondern auch um eine andere Tat, eine andere Handlung, oder wie man auch sagt: es handelt sich um einen anderen Akt. Auch die Todesstrafe hat von diesem Grundgedanken der Verteidigung der Menschenwürde und des Menschenrechts gegen dessen Zertreten seine Rechtfertigung gefunden (Nr. 56). Der Papst schließt in der Enzyklika nicht aus, dass es diese Situation geben kann, in der die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des einzelnen nicht mehr auf andere Weise verteidigt werden können. Aber seine Vorbehalte gegen die Todesstrafe sind noch stärker als die schon im Katechismus dargelegten (KKK 2266 und 2267). Den dort geäußerten strengen Bedingungen fügt er noch zwei Hinweise dazu: In der Gesellschaft wie in der Kirche gebe es „eine Tendenz ..., die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert“. Diese Feststellung wird noch einmal aufgenommen, wenn der Papst etwas später sagt: „Solche Fälle sind jedoch heutzutage ... schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben“. Damit klingt allerdings auch an, dass die Todesstrafe eine andere Handlung ist als die direkte Tötung eines Unschuldigen. Das fünfte Gebot gilt unter Beachtung dieser Präzisierungen absolut. Oder anders und ausführlicher gesagt: Das vom Dekalog gemeinte Tötungsverbot setzt voraus: - den freien Willensakt und - die direkte Ausrichtung dieses Willensaktes auf das Töten, - und es bezieht sich auf den unschuldigen Menschen. In dieser Präzisierung, die dem Gebot wesentlich ist, gilt es unbedingt und ausnahmslos.
4. In der ersten und grundlegendsten der drei feierlichen Aussagen der Enzyklika heißt es darum (Nr. 57): „Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der Katholischen Kirche, dass die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist“. Mit dieser Aussage stellt der Papst nichts Neues fest. Er bekräftigt, was Schrift, Überlieferung und Lehramt sagen und was die Vernunft erkennen kann, weil dies jedem Menschenherzen eingeschrieben ist. Das Gesagte ist ebenso eine Glaubenswahrheit wie eine Vernunfteinsicht. Die Art der Formulierung dieser Forderung zeigt, dass es sich hier um eine Aussage höchster Lehrautorität handelt.
5. Mit dieser Aussage ist der Sinn und die unbedingte Geltung des Gebotes geklärt. In den Nummern 62 und 65 spricht der Papst nun in autoritativer Weise über zwei konkrete Anwendungsfälle des fünften Gebotes, die sehr aktuell sind: Abtreibung und Euthanasie. Er zeigt, dass in beiden Fällen keine neuen Lehren aufgestellt werden, sondern nur angewandt wird, was im fünften Gebot eindeutig enthalten ist.
Konkrete moralische Imperative
a) Die Abtreibung
Der Papst stützt sich nun wiederum auf Schrift, Überlieferung und Lehramt (Nr. 61) und – im Falle der Abtreibung – auf die große Umfrage bei allen Bischöfen der Welt, die er im Anschluss an das Konsistorium von 1991 hatte vornehmen lassen. Auch legt der Papst wiederum Wert darauf, dass hier die Forderung der Vernunft mit der des Glaubens zusammenfallen. Dann folgt in Nr. 62,3 die zweite autoritative Feststellung: „Mit der Autorität, die Christus Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen (...), dass die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen“. Nachdem der Papst bereits in der ersten Forderung das fünfte Gebot absolut setzte und die Tötung des Unschuldigen als schweres Unrecht einstufte, folgt nun das gleiche bezüglich der ungeborenen Menschen. Denn: niemand kann bezweifeln, dass das ungeborene Kind unter die Kategorie der Unschuldigen fällt. Es greift niemanden an und bedroht niemanden (Nr. 58,3). Nachdem er des weiteren in Nr. 58 erklärte, dass es darauf ankomme auch sprachlich nicht die Realität zu verwischen (etwa das Wort Abtreibung durch Schwangerschaftsabbruch zu ersetzen), kommt er auch auf Einwände, die heute gern gemacht werden, zurück. Da ist vor allem der Einwand, ob der embryonale Mensch im Mutterschoß im Vollsinn des Wortes als Mensch bezeichnet werden kann. Der Papst legt zu dieser Frage zwei Argumentationstypen vor, die eng zusammenhängen. Er erinnert zunächst an eine von der modernen Naturwissenschaft ermittelte Gewissheit: „In Wirklichkeit beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter ist" (Nr. 60,1). Dieser heute unbestrittenen Tatsache wird nun aber von manchen Kreisen entgegengehalten, der frühe Embryo habe zwar genetische, aber nicht multizellulare Individualität. So könnte man im ontogenetischen Sinn den frühen Embryo doch als prä-individuell einstufen. Anders gesagt: genetische Individualität und personale Individualität seien zu unterscheiden. Erst wenn ein durchgehender menschlicher Körper vorhanden sei, sei auch Person-Sein möglich. Das Dokument der Glaubenskongregation über die Gabe des Lebens vom 22. Februar 1987, das der Papst in seiner Enzyklika aufgreift, war durchaus im Bewusstsein solcher Spekulationen geschrieben worden. Es sah in dieser Argumentation die Vermischung von Naturwissenschaft und Philosophie, in der die Leib-Seele-Einheit des Menschen verkannt und eine letztlich arbiträre Spekulation über das Verhältnis von Leiblichkeit, Individuum und Person-Sein betrieben wird. Es hatte demgegenüber nicht seinerseits Spekulationen über das Verhältnis von Individuation und Personalisation versucht, sondern das Geheimnis ihres inneren Zusammenhangs und ihrer inneren Einheit in einer Frage formuliert: 'Sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?' (Nr. 60,1). Letztlich ist jede Trennung von Individuum und Person beim Menschen willkürlich, ein Spiel zwischen Naturwissenschaft und Philosophie ohne realen Erkenntniswert. Daran schließt das zweite Argument der Enzyklika an, in dem der Papst das Spiel der Hypothesen übersteigt mit der vernünftigerweise unbestreitbaren Feststellung, dass '... schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird' (60,2)".
In die gleiche Kategorie der verwerflichen Handlungen gehört somit auch (Nr. 63):
- die Forschung mit menschlichen Embryonen, denn sie mache Menschen zum Versuchsobjekt,
- die Verwendung der bei der In-Vitro-Befruchtung übrigbleibenden Embryonen als "biologisches Material",
- entsprechende Einschränkungen gelten auch der „vorgeburtlichen Diagnostik“, die eine Eugenik-Mentalität fördert.
b) Die Euthanasie
In Bezug auf die Euthanasie macht der Papst deutlich, wie der heutige Mensch mit den modernen Mitteln, die ihm die Technik an die Hand gibt, immer stärker der Versuchung erliegt, „sich zum Herrn über Tod und Leben zu machen“, also der „Versuchung von Eden“ (Nr. 66) zu erliegen und eine „Kultur des Todes“ zu entwickeln. Denn, so sagt Ratzinger, „die Entwicklung der modernen Medizin droht ja zu einer fatalen Alternative zu führen: Entweder man entwürdigt das Menschenleben in einem Ausschöpfen aller technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung bis zum Absurden hin, oder man entscheidet, wann das Leben nicht mehr lebenswert ist und schaltet es dann einfach ab. Beide Male macht sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod. Indem er die Macht über Leben und Tod an sich zu reißen versucht, verfällt er der Versuchung von Eden: selber wie Gott werden (Nr. 66)". Auch hier beginnt der Papst mit sorgfältigen Unterscheidungen, um die moralisch unzulässige Euthanasie genau einzugrenzen:
„Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden“ (Nr. 65,1). Von der Euthanasie im eigentlichen Sinn ist zu unterscheiden
1. die Entscheidung, auf „therapeutischen Übereifer“ zu verzichten, also auf weitere Heilversuche, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, und die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken. Es ist gerade dieser therapeutische Übereifer, dessen Schrecklichkeit zum Haupteinwand für die Euthanasie wird. Der Papst versteht unter „therapeutischen Übereifer“ bestimmte ärztliche Eingriffe, „die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen“ (Nr. 65). Aber dieses ärztliche Tun, das das Leben um jeden Preis verlängert, ist keineswegs eine moralische Verpflichtung. Der Verzicht darauf „ist nicht mit Selbstmord oder Euthanasie gleichzusetzen; er ist vielmehr Ausdruck dafür, dass die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird" (Nr. 65,2). Von der Euthanasie im eigentlichen Sinn sind auch zu unterscheiden
2. die „palliativen Behandlungsweisen, die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene Begleitung gewährleisten“ (Nr. 65,3). Diese palliative Sterbebegleitung ist selbstverständlich erlaubt – „doch darf man Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner Bewußtseinsklarheit berauben". Etwas ganz anderes aber als der Verzicht auf extreme und sinnlose medizinische Aktionen ist die Selbstverfügung über den Zeitpunkt des Todes, die entweder Selbstmord – heute häufig in der Form der Beihilfe zum Selbstmord (Nr. 66) – oder schlichtweg Mord ist. Wo der Mensch aus Eigenem entscheidet, welches Menschenleben wert ist, gelebt zu werden, ist die vom fünften Gebot gezogene Grenze überschritten, die genau die Markierung zwischen Menschlichkeit und Barbarei darstellt. Die Freiheit des Tötens ist das Eingangstor der Unfreiheit, weil Aufhebung von Menschenwürde und Menschenrecht. Daher erfolgt als die dritte Forderung des Papstes: „Mit diesen Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem Lehramt meiner Vorgänger und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, dass die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet“ (Nr. 65,4). Dazu gehört auch: Weder darf man um die Tötung bitten – was Selbstmord wäre – noch darf man bei der „Beihilfe zum Selbstmord“ mitmachen (Nr. 66).
Moralische Imperative in Bezug auf das konkrete Verhalten
der Politiker und der Beteiligten
1. Staatliches Gesetz und Sittengesetz allgemein:
Wenn Abtreibung und Euthanasie vom Sittengesetz absolut verboten sind, welche Folgen hat das dann für den Rechtsstaat und für rechtsstaatliche Prinzipien? Der Papst setzt sich hier sorgsam mit der weitverbreiteten Meinung auseinander, „wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugung der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt“ (Nr. 69,1). Man sagt: Da Wahrheit nicht für alle als solche erkennbar sei (Nr. 68,3), bleibe dem Politiker gar kein anderer Maßstab als der Mehrheitsentscheid (Nr. 69,2). Nur ein solcher praktischer Relativismus garantiere Freiheit und Toleranz, während das Beharren auf objektiven moralischen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führe (Nr. 70,1). Der Papst zeigt nun (Siehe Nr. 70 ff.) in scharfsinnigen Erwägungen die innere Widersprüchlichkeit einer solchen Position, die zur Krise der Demokratie führen und sie als moralische Größe aufheben muss.
2. Aufmerksam gemacht wird von ihm auf den Widerspruch im Verständnis des Gewissens. Während die einzelnen Individuen volle moralische Autonomie für sich in Anspruch nehmen, wird dem Politiker auferlegt, seine eigene Gewissensüberzeugung beiseite zu lassen und sich dem Kanon der Mehrheitsmeinung zu unterwerfen (Nr. 69, letzte Sätze). Demokratische Rechtssetzung sinkt dann aber ab zu einem Mechanismus des Ausgleichs zwischen den entgegengesetzten Interessen, bei dem häufig das Recht des Stärkeren obsiegt (Nr. 70, Anfang und Ende).
3. Auch eine Demokratie kann theoretisch zur Tyrannei werden. Die Absolutsetzung des Mehrheitsprinzips kann – wenn ihr kein für alle verbindlicher Maßstab mehr zugrunde liegt – tyrannisch sein, wenn sich ihr Rechtssystem wie im Fall der Abtreibung gerade gegen die Schwächsten richtet. "...Tatsächlich darf die Demokratie nicht so lange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit ... gemacht wird. ... der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert". Diese grundlegenden Werte, die die Demokratie voraussetzen muss, um eine moralische Verfassung menschlicher Gesellschaft zu sein, sind: „Die Würde der menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen ... Rechte, sowie die Übernahme des Gemeinwohls als Ziel und als regelndes Kriterium für das politische Leben" (Nr. 70,4).
4. Es ist daher nötig die Grundzüge einer richtigen Beziehung zwischen staatlichem Gesetz und Sittengesetz zu beachten (Nr. 71,2). Die eben genannten grundlegenden Aussagen über die wesentlichen Bedingungen eines Rechtsstaates führen bereits zu einer praktischen Schlussfolgerung: Gesetze, die den zentralen moralischen Werten widersprechen, sind nicht Recht, sondern regulieren Unrecht. Sie haben daher keinen Rechtscharakter. Ihnen ist man keinen Gehorsam schuldig; man muss ihnen vielmehr den Einspruch aus Gewissensgründen entgegensetzen (Nr. 73). Daher spricht der Papst zwei Fälle konkret an: nämlich die Haltung der Politiker und der Beteiligten.
5. Praktische Konsequenzen für das Verhalten von Politikern im Konfliktfall:
Der erste Fall ist das vieldiskutierte Problem politischer Moral: Wie soll sich ein an den Normen des biblischen Glaubens und der von ihm herausgestellten menschlichen Grundwerten orientierter Abgeordneter verhalten, wenn sich eine Möglichkeit auftut, ein extrem ungerechtes Abtreibungsgesetz wesentlich zu verbessern, aber die Chance nicht besteht, eine Mehrheit für den totalen Ausschluss freiwilliger und direkter Tötung Ungeborener zu finden? Muss er um seiner Gewissensüberzeugung treu zu bleiben, das verbesserte Gesetz, das immer noch Unrecht zu Recht erhebt, ablehnen und sich so zum Komplizen derer machen, die das gewordene noch größere Unrecht weiterhin sanktionieren wollen? Aber kann man Kompromisse schließen, wo es um die Wahl zwischen gut und böse geht? Der Papst sagt dazu: Grundlegend ist, dass der Abgeordnete keinen Zweifel lässt an seinem persönlichen und absoluten Nein zur Abtreibung, und dass diese Haltung auch öffentlich unmissverständlich klargestellt wird. Unter dieser Voraussetzung kann der Parlamentarier Vorschlägen zustimmen, deren erklärtes Ziel Schadensbegrenzung und Verminderung der negativen Auswirkungen ist (Nr. 73,2). Nie kann er freilich dazu seine Stimme geben, dass Unrecht für Recht erklärt werde.
6. Praktisches Verhalten im Konfliktfall für die beteiligten Personen:
Hier spricht der Papst sehr klar: „Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht“ (Nr. 74,2). Des weiteren sagt der Papst: Der Staat muss, um wenigstens ein moralisches Minimum zu garantieren, „für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern ... die Möglichkeit sicherstellen, die Beteiligung an der Phase der Beratung, Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissengründen greift, muss nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein“ (Nr. 74). Am Ende des drittes Kapitels lehrt der Papst, dass alle diese Forderungen zugleich auch Forderungen der Vernunft sind. Und er zeigt es in Überlegungen über die Freiheit (Nr. 75).
IV. KAPITEL - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS
Das IV. Kapitel bietet einen abschließenden Ausblick. Zitat:
(Nr. 78) Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude und Heil empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom Vater gesandt wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk 4, 18). Sie hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die ganze Welt ausgesandt wurden (vgl. Mk 16, 15; Mt 28, 19-20). Die aus diesem Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums entstandene Kirche vernimmt in sich selbst jeden Tag das mahnende Wort des Apostels: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde« (1 Kor 9, 16). »Evangelisieren ist — schrieb Paul VI. — in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren«.
Literatur
- Papst Johannes Paul II.: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. VAS 120.
- Papst Johannes Paul II.: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens.Christiana Verlag (144 Seiten; 2. Auflage).