Absolutheitsanspruch

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Der Absolutheitsanspruch der Religion tritt in zweierlei Varianten auf. Im weiteren Sinne behauptet jede religiöse Überzeugungsgemeinschaft, dass ihre Lehre wahr sei. Der Begriff einer in mehr oder weniger dogmatisch gefassten Überzeugungen gebundenen Gemeinschaft lässt sich überdies, über die etablierten Religionen hinaus, auch auf Anhänger bestimmter philosophischer Systeme, politischer Ideologien und hermetischer Religionspraktiken erstrecken. In diesem weiteren Sinne vertreten, auch unter öffentlicher Behauptung des Gegenteils, sogar bekennende Atheisten, Pantheisten, Okkultisten oder Freidenker kompromisslos ihren Standpunkt.

Im eigentlichen Sinne des Wortes wird der religiöse Absolutheitsanspruch jedoch nur vom Christentum und hier unter allen Konfessionen nachweislich in unüberbietbar ausgeprägter Form nur vom Katholizismus vertreten. Der Katholizismus behaupt nämlich, über den Wahrheitsanspruch seiner religiösen Lehren hinaus, eine in den öffentlichen Raum hinein artikulierte Geltung der katholischen Interpretation des Sittengesetzes; und nimmt für die Kirche einen Vorrang vor Politik und Gesellschaft in Anspruch, der sich im Papsttum zeigt.

Aus katholischer Perspektive ist diese Auffassung biblisch fundiert, da Jesus seinen Jüngern die Binde- und Lösegewalt zusprach. Den zugespitzten Ausdruck der generellen Irrtumslosigkeit des Volkes Gottes stellt die Überzeugung dar, dass eine definitive Entscheidung des Papstes irrtumslos bleibt. Der Absolutheitsanspruch der Religion bezieht sich jedoch nicht in erster Linie auf die Richtigkeit der Lehre, sondern auf die Unfehlbarkeit des übernatürlichen Ziels, das die Kirche im Auftrag Christi den Menschen verkündet: "Ich will, dass sie das Leben haben; und dass sie es in Fülle haben."

Der Katholizismus beantwortet mithin deutlicher als selbst andere christliche Konfessionen oder die ihm nahestehenden monotheistischen Religionenen, dass die absolute Wahrheit Christi die Wahrheit der Erlösung des Menschen von Sünde und Tod ist. Während andere Überzeugungsgemeinschaften über das letzte Ziel der Menschen allenfalls spekulieren, legt das Christentum für die Auferstehung Jesu bewusst Zeugnis ab und bekennt das Ostergeheimnis als historische Tatsache und eigentlichen Wendepunkt der Geschichte der Menschheit. "Gott rettet."

Jede andere Religion oder Philosophie bleibt gegenüber dieser absoluten Behauptung vorsichtig. Im Laufe der Kirchengeschichte resultierten Spaltungen der Christenheit jedoch daraus, dass divergierende Auffassungen über die Gestalt und Verbindlichkeit der kirchlichen Verkündigung der Geheimnisse Christi unüberbrückbar wurden. Fast stets haben diese Konflikte wesentliche Ursachen im Ringen der geistlichen Gewalt des römischen Papsttums mit von weltlichen Mächten beeinflussten Oppositionsbewegungen. Das große Schisma von 1054 zwischen Rom und Byzanz, obwohl gewiss auch von Rom mitverursacht, war nicht zu bewältigen, solange die Orthodoxie unter beherrschendem Einfluss des Staatskirchentums stand. Erst im 20. Jahrhundert sind sämtliche orthodoxen Monarchien untergegangen, so dass aus staatskirchenrechtlicher Sicht der Ökumene neue Tore offenstehen. Einen gegenüber der orthodoxen Staatskirchenverfassung weiter abgeschwächten Begriff kirchlicher Realpräsenz des Handelns Christi vertreten die kirchlichen Gemeinschaften, die aus der 1517 begonnenen Reformation hervorgegangen sind. Sie bekennen weiterhin und mit großem Nachdruck den Absolutheitsanspruch Jesu Christi, vertreten aber die Überzeugung, dass der einzelne Christ im Heilsdialog nicht auf kirchliche Vermittlung hoffen kann. Das so eingeführte Prinzip individueller, subjektiver Religionsauffassung gesteht letztlich jedem Menschen zu, das Christentum individuell zu vollziehen (und es also auch im Zweifel fallenzulassen). Dieser Ansatz war sicherlich der modernen Geistesentwicklung geschuldet, die in der Konsequenz etablierte Durchsetzung des modernen Toleranzdogmas als Grundlage der offenen Gesellschaft aber sicherlich noch nicht im Blick.

Der Katholizismus hat aus den jüngsten 500 Jahren im 20. Jahrhundert die Konsequenz gezogen, zu einer genaueren Unterscheidung dessen zu gelangen, auf was sich der von ihm vertretene Absolutheitsanspruch bezieht. Das Prinzip Extra Ecclesiam nulla salus wird heute als nach innen gerichtet formuliert: Wer von der Heilsnotwendigkeit der Kirche Christi, die in der katholischen Kirche im wesentlichen anzutreffen ist, hinreichend Kenntnis hat, darf sich von ihr nicht abwenden, ohne sein Seelenheil zu riskieren. Zugleich akzeptiert die Kirche, dass Gott selbst allein weiß, auf welchen Wegen er den Menschen das unverlierbare Heil zusprechen wird.

Explizit aufgegeben hat die von Papst und Bischöfen angeleitete Kirche einen solchen Absolutheitsanspruch, der aus religiösen Motiven eine Alleinstellung oder Vorrangestllung im öffentlichen Leben oder im Staatswesen herleitet. Das Ideal ist nicht mehr der katholische Staat, der dem "katholischen" Erdkreis zu dienen hat. Im Vertrauen auf das Wirken Gottes in seiner Kirche stützt sich die Mission der Kirche seit dem II. Vatikanum allein auf die Überzeugungskraft der Wahrheit selber, die Christus ist. Von daher ist eine Annäherung an den Protestantismus und die Orthodoxie nicht nur plausibel, sondern auch notwendig, um vor der Welt glaubwürdiger als bisher das Wort des Herrn zu vertreten.

Das III. Jahrtausend wird erweisen, ob eine Christenheit, welche die Pluralität des Zusammenlebens divergierender Überzeugungen in der Gesellschaft nicht nur duldet, sondern auch aktiv fördert, ihrem Herrn so mitreißend höhere Ehre erweist, dass der universale Anspruch Jesu mittels freiwilliger Nachfolge schließlich doch die Zivilisation wieder zum Guten zu prägen vermag. Wenn das Wort Christi die Antwort auf das unruhige Herz der Menschen ist, dann wird sich das bewahrheiten.

Literatur

Jean Guitton, L'Église et l'Évangile, Paris 1939.