Evangelium vitae: Unterschied zwischen den Versionen

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(I. KAPITEL - DAS BLUT DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS)
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Evangelium vitae ist ein [[Enzyklika]] von Papst [[Johannes Paul II.]], die sich vor allem mit der Frage des Lebensrechts befasst. Das Schreiben wurde am 25. März 1995 veröffentlicht.  
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'''Evangelium vitae''' ist eine [[Enzyklika]] von Papst [[Johannes Paul II.]], die sich vor allem mit der Frage des ''Lebensrechtes'' befasst. Das Schreiben wurde am 25. März 1995 veröffentlicht.  
  
 
== Entstehungsgeschichte ==  
 
== Entstehungsgeschichte ==  
  
Die Enzyklika wurde beim außerordentliche Konsistorium der Kardinäle, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat, angeregt. Die Kardinäle haben damals den Papst einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen. Pfingsten 1991 wurde ein persönliches Schreiben an alle Bischöfe gerichtet mit der Bitte, hier Vorschläge einzubringen. In dem Brief hat der Papst auch einen Bezug zur Sozial-Enzyklika [[Rerum novarum]] hergestellt und betont: "Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein."
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Die Enzyklika wurde beim außerordentliche Konsistorium der Kardinäle, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat, angeregt. Die Kardinäle haben damals den Papst einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen. Zu Pfingsten 1991 wurde ein persönliches Schreiben an alle Bischöfe gerichtet mit der Bitte, hier Vorschläge einzubringen. In dem Brief hat der Papst auch einen Bezug zur Sozial-Enzyklika [[Rerum novarum]] hergestellt und betont: "Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein."
  
 
== Inhalt ==
 
== Inhalt ==
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Die Enzyklika besteht aus einer Einführung und vier Teilen. In der Einführung verweist der Papst darauf, dass das "Evangelium vom Leben" den Menschen als Frohe Botschaft verkündet werden soll. Diese Frohbotschaft beginnt mit der Geburt des Jesus-Kindes. Dann stellt der Papst unter Bezugnahme auf das Johannes-Evangelium (Kapitel 10,10, Leben in Fülle) einen Brücke zum ewigen Leben her und erklärt dann den unvergleichliche Wert der menschlichen Person.  
 
Die Enzyklika besteht aus einer Einführung und vier Teilen. In der Einführung verweist der Papst darauf, dass das "Evangelium vom Leben" den Menschen als Frohe Botschaft verkündet werden soll. Diese Frohbotschaft beginnt mit der Geburt des Jesus-Kindes. Dann stellt der Papst unter Bezugnahme auf das Johannes-Evangelium (Kapitel 10,10, Leben in Fülle) einen Brücke zum ewigen Leben her und erklärt dann den unvergleichliche Wert der menschlichen Person.  
  
Weiters betont Johannes Paul, dass dieses "Evangelium vom Leben" im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet und kommt dann zum eigentlichen Thema der Enzyklika, der neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens, die die Verkündigung besonders dringend. "Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben." Der Papst nennt hier wörtlich folgende Bedrohungen: Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord.  
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Weiter betont Johannes Paul, dass dieses "Evangelium vom Leben" im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet und kommt dann zum eigentlichen Thema der Enzyklika: die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens, die für die Verkündigung besonders dringend sind. "Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben." Der Papst nennt hier wörtlich folgende Bedrohungen: [[Mord]], Völkermord, [[Abtreibung]], Euthanasie und auch der (freiwillige) Selbstmord.  
  
Johannes Paul II. im Vorwort auch gleich, dass die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen. Er bezeichnet dies
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Johannes Paul II. sagt im Vorwort auch gleich, dass die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht nur nicht zu bestrafen sondern ihnen sogar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen. Er bezeichnet dies
ein "besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall." "Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet."  
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ein "besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall." Entscheidungen, "die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet."  
  
 
Dann kommt der Papst zum Hauptthema der Enzyklika und betont, dass das fundamentale Recht auf Leben heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten wird. Die Enzyklika versteht sich als Appell: "Achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!"
 
Dann kommt der Papst zum Hauptthema der Enzyklika und betont, dass das fundamentale Recht auf Leben heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten wird. Die Enzyklika versteht sich als Appell: "Achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!"
  
 
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=== I. KAPITEL - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS ===
=== I. KAPITEL - DAS BLUT DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS ===
 
  
 
Der erste Teil beginnt mit dem bekannten Bibelzitat aus Genesis 4,8: "Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn." Dieser erste Mord ist für den Papst "eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird". Johannes Paul nimmt den Brudermord aus dem Alten Testament her um zu erklären, dass "bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet wird. "Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der "Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12)."
 
Der erste Teil beginnt mit dem bekannten Bibelzitat aus Genesis 4,8: "Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn." Dieser erste Mord ist für den Papst "eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird". Johannes Paul nimmt den Brudermord aus dem Alten Testament her um zu erklären, dass "bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet wird. "Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der "Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12)."
  
In weiterer Folge zeigt der Papst auf, wie Gott zwar Kain bestraft, aber er auch gleichzeitig der Barmherzige ist. Er bekommt ein Zeichen. Dadurch wird gesagt, dass nicht einmal der Mörder seine Personwürde verliert. Die Gottesfrage "Was hast du getan?" ist auch an die heutigen Menschen gerichtet. In Evangelium vitae 11 kommt dann der Papst auf die Abtreibung und auf die Euthanasie zu sprechen, auf die er seine Aufmerksamkeit lenken möchte, weil diese "Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, daß sie im Bewußtsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so daß eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird."  
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In weiterer Folge zeigt der Papst auf, wie Gott zwar Kain bestraft, aber er auch gleichzeitig der Barmherzige ist. Er bekommt ein Zeichen. Dadurch wird gesagt, dass nicht einmal der Mörder seine Personwürde verliert. Die Frage Gottes "Was hast du getan?" ist auch an die heutigen Menschen gerichtet. In Evangelium vitae, Kap. 11 (=EV 11), kommt dann der Papst auf die Abtreibung und auf die Euthanasie zu sprechen, auf die er seine Aufmerksamkeit lenken möchte, weil diese "Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, dass sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so dass eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird."  
 
 
Das zusätzlihc problematische bei Abtreibung und Euthanasie ist, dass hier die Opfer völlig wehrlos sind und dass diese Angriffe großteils in der Familie passieren. Das ganze ist für den Papst ein
 
"Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen" und eine "Verschwörung gegen das Leben"
 
 
 
Auf auf den Mythos, dass durch die von der Kirche abgelehnten Verhütung weniger Abtreibungen verursacht würden, geht der Papst ein und sagt, dass dieser Einwand "trügerisch" ist. "Denn es mag sein, daß viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens." Johannes Paul II. stellt fest, dass sich die Abtreibungskultur gerade dort besonders entwickelt hat, wo die Lehre der Kirche über Verhütung abgelehnt wird. Er bezeichnet Abtreibung und Verhütung als "Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander". In EV, 14 wird wir die Anwendung verschiedener Techniken künstlicher Fortpflanzung kritisiert ud die vorgeburtliche Diagnose kritisiert. Auch die Euthanasie ist für den Papst ein wichtiges Thema. "Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien."
 
 
 
Zum Bevölkerungswachstum meint er im EV 16, dass heutzutage viele Mächtige die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum empfinden und befürchten, daß die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. "Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht." Das ganze ist für den Papst "ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel". Johannes Paul II. spricht auch in diesem Zusammenhang von "falschen Propheten und Lehrer" und einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben«, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen. Kritik wird an den Massenmedien geübt, die häufig zu Komplizen dieser Verschwörung werden.
 
 
 
Die Wurzeln für das Übel sind in den falschen Umgang mit der Freiheit zu sehen. "Die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedesmal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune. Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34)."
 
 
 
Der Papst spricht weiters vom Kampf zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« und von einer perversen Freiheitsvorstellung sowie einer Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen. Johannes Paul II. spricht dann auch davon, dass die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen, führt. "Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt."
 
 
 
In EV 27 geht der Papst dann auf die Pro-Life-Gruppen ein und betont: "Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit eine breitere Bewußtmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in die Praxis um."
 
 
 
=== II. KAPITEL - ICH BIN GEKOMMEN, DAMIT SIE DAS LEBEN HABEN - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN ===
 
 
 
Das Leben wurde offenbart, wir haben es gesehen« (1 Joh 1, 2): der Blick ist auf Christus, »das Wort des Lebens« gerichtet
 
 
 
29. Angesichts der unzähligen ernsten Bedrohungen des Lebens in der modernen Welt könnte man von einem Gefühl unüberwindlicher Ohnmacht übermannt werden: das Gute wird nie die Kraft haben können, das Böse zu überwinden!
 
 
 
Das ist der Augenblick, in dem das Volk Gottes und in ihm jeder Gläubige aufgerufen ist, demütig und mutig seinen Glauben an Jesus Christus, »das Wort des Lebens« (1 Joh 1, 1), zu bekennen. Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person Jesu selber besteht. Dem Apostel Thomas und in ihm jedem Menschen zeigt sich Jesus mit den Worten: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6). Mit derselben Identität weist er sich Marta, der Schwester des Lazarus gegenüber aus: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 25-26). Jesus ist der Sohn, der von Ewigkeit her vom Vater das Leben empfängt (vgl. Joh 5, 26) und zu den Menschen gekommen ist, um sie an diesem Geschenk teilhaben zu lassen: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10).
 
 
 
Vom Wort, von der Tat, und selbst von der Person Jesu wird also dem Menschen die Möglichkeit gegeben, die ganze Wahrheit über den Wert des menschlichen Lebens zu »erkennen«; aus jener »Quelle« erwächst ihm insbesondere die Fähigkeit, vollkommen diese Wahrheit »zu tun« (vgl. Joh 3, 21), das heißt, die Verantwortung zur Liebe des menschlichen Lebens und zum Dienst an ihm, zu seiner Verteidigung und Förderung voll anzunehmen und zu verwirklichen. Denn in Christus wird jenes bereits in der Offenbarung des Alten Testamentes dargebotene und jedem Mann und jeder Frau sogar irgendwie ins Herz geschriebe Evangelium vom Leben endgültig verkündet und in seiner Fülle verschenkt; es erfüllt jedes sittliche Bewußtsein »von Anfang an», das heißt von der Erschaffung an, so daß es trotz der negativen Beeinflussungen durch die Sünde in seinen wesentlichen Zügen auch von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann. Christus ist es, wie das II. Vatikansche Konzil schreibt, »der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken«. 22
 
 
 
30. Während wir den Blick auf den Herrn Jesus gerichtet haben, wollen wir also von ihm wieder »die Worte Gottes« (Joh 3, 34) hören und neu nachdenken über das Evangelium vom Leben. Den tieferen und ursprünglichen Sinn dieser Meditation über die geoffenbarte Botschaft vom menschlichen Leben hat der Apostel Johannes erfaßt, als er in seinem ersten Brief einleitend schrieb: »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Wort wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1, 1-3).
 
 
 
In Jesus, dem »Wort des Lebens«, wird also das göttliche und ewige Leben verkündet und mitgeteilt. Durch diese Verkündigung und dieses Geschenk gewinnt das physische und geistige Leben des Menschen auch in seiner irdischen Phase vollen Wert und Bedeutung: das göttliche und ewige Leben ist in der Tat das Ziel, auf das hin der in dieser Welt lebende Mensch ausgerichtet und zu dem er berufen ist. Das Evangelium vom Leben schließt somit alles ein, was die menschliche Erfahrung und die Vernunft über den Wert des menschlichen Lebens sagen, nimmt es an, erhöht es und bringt es zur Vollendung.
 
 
 
 
 
 
»Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden« (Ex 15, 2): das Leben ist immer ein Gut
 
 
 
31. Die evangelische Fülle der Botschaft über das Leben ist in Wirklichkeit schon im Alten Testament vorbereitet. Vor allem im Geschehen des Exodus, dem Kern der Glaubenserfahrung des Alten Testamentes, entdeckt Israel, wie kostbar sein Leben in Gottes Augen ist. Als es schon der Ausrottung preisgegeben zu sein scheint, weil alle seine männlichen Neugeborenen vom Tod bedroht sind (vgl. Ex 1, 15-22), offenbart sich ihm der Herr als Retter, der den Hoffnungslosen eine Zukunft sicherzustellen vermag. So wird in Israel ein klares Bewußtsein geboren: sein Leben ist nicht einem Pharao ausgeliefert, der sich seiner mit despotischer Willkür bedienen kann; es ist vielmehr das Objekt einer zärtlichen und starken Liebe Gottes.
 
 
 
Die Befreiung aus der Knechtschaft ist das Geschenk einer Identität, die Anerkennung einer unauslöschlichen Würde und der Beginn einer neuen Geschichte, in der die Entdeckung Gottes und Selbstentdeckung miteinander einhergehen. Das Erlebnis des Exodus ist eine exemplarische Gründungserfahrung. Israel lernt dabei, daß es sich jedesmal, wenn es in seiner Existenz bedroht ist, nur mit neuem Vertrauen an Gott zu wenden braucht, um bei Ihm wirksame Hilfe zu finden: »Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht« (Jes 44, 21).
 
 
 
Während Israel so den Wert seiner Existenz als Volk erkennt, macht es auch Fortschritte in der Wahrnehmung des Sinnes und Wertes des Lebens als solchen. Eine Reflexion, die, ausgehend von der täglichen Erfahrung der Ungewißheit des Lebens und von der Kenntnis der es gefährdenden Bedrohungen, besonders in den Weisheitsbüchern entfaltet wird. Der Glaube wird angesichts der Gegensätzlichkeiten des Daseins herausgefordert, eine Antwort anzubieten.
 
 
 
Vor allem das Problem des Schmerzes setzt dem Glauben zu und stellt ihn auf die Probe. Soll man etwa in der Meditation des Buches Ijob nicht das universale Stöhnen des Menschen vernehmen? Der vom Leid geschlagene Unschuldige ist verständlicherweise geneigt sich zu fragen: »Warum schenkt er dem Elenden Licht und Leben denen, die verbittert sind? Sie warten auf den Tod, der nicht kommt, sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze« (3, 20-21). Aber auch in der tiefsten Finsternis veranlaßt der Glaube zur vertrauensvollen und anbetenden Erkenntnis des »Geheimnisses»: »Ich habe erkannt, daß du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt« (Ijob 42, 2).
 
 
 
Nach und nach macht die Offenbarung mit immer größerer Klarheit den Keim unsterblichen Lebens begreiflich, der vom Schöpfer ins Herz der Menschen gelegt wurde: »Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt« (Koh 3, 11). Dieser Keim von Ganzheit und Fülle wartet darauf, sich in der Liebe zu offenbaren und sich durch die unentgeltliche Hingabe Gottes in der Teilhabe an seinem ewigen Leben zu verwirklichen.
 
 
 
 
 
 
»Der Name Jesu hat diesen Mann zu Kräften gebracht« (Apg 3, 16): in der Ungewißheit des menschlichen Daseins bringt Jesus den Sinn des Lebens zur Vollendung
 
 
 
32. Die Erfahrung des Bundesvolkes erneuert sich in der Erfahrung aller »Armen», die Jesus von Nazaret begegnen. Wie schon Gott, der »Freund des Lebens« (Weish 11, 26), Israel inmitten der Gefahren beruhigt hatte, so verkündet nun der Gottessohn allen, die sich in ihrer Existenz bedroht und behindert fühlen, daß auch ihr Leben ein Gut ist, dem die Liebe des Vaters Sinn und Wert verleiht.
 
 
 
»Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk 7, 22). Mit diesen Worten des Propheten Jesaja (35, 5-6; 61, 1) legt Jesus die Bedeutung seiner Sendung dar: so vernehmen alle, die unter einer irgendwie von Behinderung gekennzeichneten Existenz leiden, von ihm die frohe Kunde von der Anteilnahme Gottes ihnen gegenüber und finden bestätigt, daß auch ihr Leben eine in den Händen des Vaters eifersüchtig gehütete Gabe ist (vgl. Mt 6, 25-34).
 
 
 
Es sind besonders die »Armen», an die sich die Verkündigung und das Wirken Jesu richtet. Die Massen von Kranken und Ausgegrenzten, die ihm folgen und ihn suchen (vgl. Mt 4, 23-25), finden in seinem Wort und in seinen Taten offenbart, welch großen Wert ihr Leben besitzt und wie begründet ihre Heilserwartungen sind.
 
 
 
Nicht anders geschieht es in der Sendung der Kirche seit ihren Anfängen. Sie, die Jesus als den verkündet, der »umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm« (Apg 10, 38), weiß sich als Trägerin einer Heilsbotschaft, die in ihrer ganzen Neuartigkeit gerade in den von Elend und Armut geprägten Lebenssituationen des Menschen zu vernehmen ist. So macht es Petrus bei der Heilung des Gelähmten, der jeden Tag an die »Schöne Pforte« des Tempels von Jerusalem gesetzt wurde, wo er um Almosen betteln sollte: »Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!« (Apg 3, 6). Im Glauben an Jesus, den »Urheber des Lebens« (Apg 3, 15), gewinnt das verlassen und bedauernswert daniederliegende Leben wieder Selbstbewußtsein und volle Würde.
 
 
 
Das Wort und die Taten Jesu und seiner Kirche gelten nicht nur dem, der von Krankheit, von Leiden oder von den verschiedenen Formen sozialer Ausgrenzung betroffen ist. Tiefgehender berühren sie den eigentlichen Sinn des Lebens jedes Menschen in seinen moralischen und geistlichen Dimensionen. Nur wer erkennt, daß sein Leben von der Krankheit der Sünde gezeichnet ist, kann in der Begegnung mit dem Retter Jesus die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der eigenen Existenz entsprechend dessen eigenen Worten wiederfinden: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten« (Lk 5, 31-32).
 
 
 
Wer hingegen wie der reiche Landwirt im Gleichnis des Evangeliums meint, er könne sein Leben durch den Besitz allein der materiellen Güter sichern, täuscht sich in Wirklichkeit: das Leben entgleitet ihm, und er wird es sehr bald verlieren, ohne dazu gekommen zu sein, seine wahre Bedeutung zu erfassen: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?« (Lk 12, 20).
 
 
 
33. Im Leben Jesu selbst begegnet man von Anfang bis Ende dieser einzigartigen »Dialektik« zwischen der Erfahrung der Gefährdung des menschlichen Lebens und der Geltendmachung seines Wertes. Denn gefährdet ist das Leben Jesu von seiner Geburt an. Gewiß findet er Aufnahme von seiten der Gerechten, die sich dem bereiten und freudigen »Ja« Marias anschließen (vgl. Lk 1, 38). Aber da ist auch sofort die Ablehnung durch eine Welt, die feindselig auftritt und das Kind »zu töten« trachtet (Mt 2, 13) oder sich gegenüber der Erfüllung des Geheimnisses dieses Lebens, das in die Welt eintritt, gleichgültig und achtlos verhält: »in der Herberge war kein Platz für sie« (Lk 2, 7). Gerade aus dem Gegensatz zwischen den Bedrohungen und Unsicherheiten einerseits und der Mächtigkeit des Gottesgeschenkes andererseits leuchtet mit um so größerer Kraft die Herrlichkeit, die vom Haus in Nazaret und von der Krippe in Betlehem ausstrahlt: dieses hier geborene Leben bedeutet Heil für die ganze Menschheit (vgl. Lk 2, 11).
 
 
 
Widersprüche und Gefahren des Lebens werden von Jesus voll angenommen: »Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« (2 Kor 8, 9). Die Armut, von der Paulus spricht, besteht nicht nur darin, daß sich Jesus der göttlichen Vorrechte entäußert, sondern auch die niedrigsten und unsichersten Bedingungen menschlichen Lebens teilt (vgl. Phil 2, 6-7). Jesus lebt diese Armut sein ganzes Leben hindurch bis zu dessen Höhepunkt am Kreuz: »er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen« (Phil 2, 8-9). Gerade in seinem Tod macht Jesus die ganze Größe und den Wert des Lebens offenbar, weil sein Sichhingeben am Kreuz zur Quelle neuen Lebens für alle Menschen wird (vgl. Joh 12, 32). Auf diesem Pilger- weg durch die Widersprüche des Lebens und selbst bei dessen Verlust läßt sich Jesus von der Gewißheit leiten, daß es in den Händen des Vaters liegt. Darum kann er am Kreuz zu ihm sagen: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lk 23, 46), das heißt mein Leben. Der Wert des menschlichen Lebens ist in der Tat groß, wenn der Sohn Gottes es angenommen und zu dem Ort gemacht hat, an dem sich das Heil für die ganze Menschheit verwirklicht!
 
 
 
 
 
 
»Sie sind dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben« (vgl. Röm 8, 29): die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen
 
 
 
34. Das Leben ist immer ein Gut. Das ist eine intuitive Ahnung oder sogar eine Erfahrungstatsache, deren tiefen Grund zu erfassen der Mensch berufen ist.
 
 
 
Warum ist das Leben ein Gut? Die Frage durchzieht die ganze Bibel und findet bereits auf ihren ersten Seiten eine wirkungsvolle und wunderbare Antwort. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist anders und eigenständig gegenüber dem eines jeden anderen Lebewesens, weil der Mensch, auch wenn er mit dem Staub der Erde verwandt ist (vgl. Gen 2, 7; 3, 19; Ijob 34, 15; Ps 103 1, 14; 104 2, 29), in der Welt Offenbarung Gottes, Zeichen seiner Gegenwart, Spur seiner Herrlichkeit ist (vgl. Gen 1, 26-27; Ps 8, 6). Das wollte auch der hl. Irenäus von Lyon mit seiner berühmten Definition unterstreichen: »Der lebendige Mensch ist die Herrlichkeit Gottes«. 23 Dem Menschen wird eine erhabene Würde geschenkt, die ihre Wurzeln in den innigen Banden hat, die ihn mit seinem Schöpfer verbinden: im Menschen erstrahlt ein Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst.
 
 
 
Das führt das erste Buch der Genesis im ersten Schöpfungsbericht aus, indem es den Menschen als Höhepunkt des Schöpfungswerkes Gottes, als seine Krönung, an das Ende eines Prozesses stellt, der vom unterschiedslosen Chaos zum vollkommensten Geschöpf führt. Alles in der Schöpfung ist auf den Menschen hingeordnet und alles ist ihm untergeordnet: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht... über alle Tiere, die sich auf dem Land regen« (1, 28), gebietet Gott dem Mann und der Frau. Eine ähnliche Botschaft stammt auch aus dem zweiten Schöpfungsbericht: »Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (Gen 2, 15). So wird die Vorrangstellung des Menschen über die Dinge bekräftigt: sie sind auf ihn hin ausgerichtet und seiner Verantwortung anvertraut, während er selbst unter keinen Umständen an seinesgleichen versklavt werden und gleichsam auf die Ebene einer Sache herabgestuft werden kann.
 
 
 
In der biblischen Erzählung wird die Unterscheidung des Menschen von den anderen Geschöpfen vor allem dadurch herausgestellt, daß nur seine Erschaffung als Frucht eines besonderen Entschlusses Gottes dargestellt wird, als Ergebnis einer Entscheidung, die in der Herstellung einer eigenen und besonderen Verbindung mit dem Schöpfer besteht: »Laß uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gen 1, 26). Das Leben, das Gott dem Menschen anbietet, ist ein Geschenk, durch das Gott sein Geschöpf an etwas von sich selbst teilhaben läßt.
 
 
 
Israel wird noch lange Fragen nach dem Sinn dieser eigenen und besonderen Bindung des Menschen an Gott stellen. Auch das Buch Jesus Sirach räumt ein, daß Gott die Menschen bei ihrer Erschaffung »ihm selbst ähnlich mit Kraft bekleidet und nach seinem Abbild erschaffen hat« (17, 3). Darauf führt der Verfasser nicht nur ihre Beherrschung der Welt zurück, sondern auch die wesentlichsten geistigen Fähigkeiten des Menschen, wie Vernunft, Erkenntnis von Gut und Böse, den freien Willen: »Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und Böses zu erkennen« (Sir 17, 7). Die Fähigkeit, Wahrheit und Freiheit zu erlangen, sind Vorrechte des Menschen, geschaffen nach dem Abbild seines Schöpfers, des wahren und gerechten Gottes (vgl. Dtn 32, 4). Unter allen sichtbaren Kreaturen ist nur der Mensch »fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben«. 24 Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist weit mehr als ein zeitlich-irdisches Dasein. Es ist ein Streben nach einer Lebensfülle; es ist Keim einer Existenz, die über die Grenzen der Zeit hinausgeht: »Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht« (Weish 2, 23).
 
 
 
35. Auch der jahwistische Schöpfungsbericht bringt dieselbe Überzeugung zum Ausdruck. Die ältere Erzählung spricht nämlich von einem göttlichen Hauch, der in den Menschen geblasen wird, damit er ins Leben trete: »Gott, der Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gen 2, 7).
 
 
 
Der göttliche Ursprung dieses Lebensgeistes erklärt das ständige Unbefriedigtsein, das den Menschen in seinen Erdentagen begleitet. Da er von Gott geschaffen wurde und eine unauslöschliche Spur Gottes in sich trägt, trachtet der Mensch natürlich nach ihm. Jeder Mensch muß, wenn er die tiefe Sehnsucht seines Herzens vernimmt, sich das Wort der vom hl. Augustinus ausgesprochenen Wahrheit zu eigen machen: »Du, o Herr, hast uns für Dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir«. 25
 
 
 
Äußerst vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des Menschen im Garten Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die natürliche Welt der Pflanzen und Tiere ist (vgl. Gen 2, 20). Erst das Auftreten der Frau, das heißt eines Wesens, das Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen 2, 23) und in dem ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt, vermag sein Verlangen nach interpersonalem Dialog, der für die menschliche Existenz so wichtig ist, zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt sich Gott selbst, endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen.
 
 
 
»Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?«, fragt der Psalmist (Ps 8, 5). Angesichts der Unermeßlichkeit des Universums ist er klein und unbedeutend; aber gerade dieser Gegensatz läßt seine Größe sichtbar werden: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott (man könnte auch übersetzen: als die Engel), hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Ps 8, 6). Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen. In ihm findet der Schöpfer seine Ruhe, wie der hl. Ambrosius voll Erstaunen und Ergriffenheit kommentiert: »Der sechste Tag ist zu Ende und die Schöpfung der Welt wird mit der Gestaltung des Hauptwerkes abgeschlossen, des Menschen, der die Herrschaft über alle Lebewesen ausübt und gleichsam der Gipfel des Universums und die höchste Schönheit jedes geschaffenen Wesens ist. Wir müßten wahrhaftig in verehrungsvollem Schweigen verharren, da sich der Herr von jedem Werk der Welt ausruhte. Er ruhte sich dann im Innern des Menschen aus, er ruhte sich aus in seinem Verstand und seinem Denken; denn er hatte den Menschen erschaffen, ihn mit Vernunft ausgestattet und ihn befähigt, ihn nachzuahmen, seinen Tugenden nachzueifern, nach den himmlischen Gnaden zu dürsten. In diesen seinen Gaben ruht Gott, der gesagt hat: 'Was wäre das für ein Ort, an dem ich ausruhen könnte?... Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten und auf den, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66, 1-2). Ich danke dem Herrn, unserem Gott, daß er ein so wunderbares Werk geschaffen hat, in dem er den Ort zum Ausruhen finden kann«. 26
 
 
 
36. Leider wird Gottes herrlicher Plan durch den Einbruch der Sünde in die Geschichte getrübt. Mit der Sünde lehnt sich der Mensch gegen den Schöpfer auf, bis er am Ende die Geschöpfe vergöttert: »Sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers« (Röm 1, 25). Auf diese Weise entstellt der Mensch nicht nur in sich selbst das Bild Gottes, sondern ist versucht, es auch in den anderen dadurch zu beleidigen, daß er die Beziehungen der Gemeinschaft durch Verhaltensweisen wie Mißtrauen, Gleichgültigkeit, Feindschaft bis hin zum mörderischen Haß ersetzt. Wenn man nicht Gott als Gott anerkennt, verrät man die tiefe Bedeutung des Menschen und beeinträchtigt die Gemeinschaft der Menschen untereinander.
 
 
 
Mit der Menschwerdung des Gottessohnes erstrahlt im Leben des Menschen wieder das Bild Gottes und offenbart sich in seiner ganzen Fülle: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1, 15), »der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens« (Hebr 1, 3), lebt das vollkommene Ebenbild des Vaters.
 
 
 
Der dem ersten Adam übertragene Lebensplan findet schließlich in Christus seine Vollendung. Während der Ungehorsam Adams Gottes Plan bezüglich des Lebens des Menschen zerstört und entstellt und den Tod in die Welt bringt, ist der erlösende Gehorsam Christi Quelle der Gnade, die sich über die Menschen ergießt, indem sie für alle die Tore zum Reich des Leßens aufreißt (vgl. Röm 5, 12-21). Der Apostel Paulus sagt: »Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist« (1 Kor 15, 45).
 
  
Allen, die sich zustimmend in die Nachfolge Christi stellen, wird die Fülle des Lebens geschenkt: in ihnen wird das göttliche Bild wiederhergestellt, erneuert und zur Vollendung geführt. Das ist der Plan Gottes mit den Menschen: daß sie »an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben« (Röm 8, 29). Nur so, im Glanz dieses Bildes, kann der Mensch von der Knechtschaft des Götzendienstes befreit werden, die zerbrochene Brüderlichkeit wiederherstellen und seine Identität wiederfinden.
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Das zusätzlich Problematische bei Abtreibung und Euthanasie ist, dass hier die Opfer völlig wehrlos sind und dass diese Angriffe großteils in der Familie passieren. Das Ganze ist für den Papst ein
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"Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen" und sozusagen eine "Verschwörung gegen das Leben"
  
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Auf den Mythos, dass durch die von der Kirche abgelehnten Verhütung weniger Abtreibungen verursacht würden, geht der Papst ein und sagt, dass dieser Einwand "trügerisch" ist. "Denn es mag sein, dass viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens." Johannes Paul II. stellt fest, dass sich die Abtreibungskultur gerade dort besonders entwickelt hat, wo die Lehre der Kirche über Verhütung abgelehnt wird. Er bezeichnet Abtreibung und Verhütung als "Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander". In EV 14 wird wir die Anwendung verschiedener Techniken künstlicher Fortpflanzung kritisiert und die vorgeburtliche Diagnose kritisiert. Auch die Euthanasie ist für den Papst ein wichtiges Thema. "Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien."
  
»Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 26): das Geschenk des ewigen Lebens
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Zum Bevölkerungswachstum meint er in EV 16, dass heutzutage viele Mächtige die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum empfinden und befürchten, dass die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. "Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht." Das ganze ist für den Papst "ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel". Johannes Paul II. spricht auch in diesem Zusammenhang von "falschen Propheten und Lehrer" und einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben«, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der [[Empfängnisverhütung]], der [[Sterilisation]] und der [[Abtreibung]] anregen und planen. Kritik wird an den Massenmedien geübt, die häufig zu Komplizen dieser Verschwörung werden.
  
37. Das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, beschränkt sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein. Das Leben, das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh 1, 4), beruht darauf, daß es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12-13).
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Die Wurzeln für das Übel sind in dem falschen Umgang mit der Freiheit zu sehen. "Die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedes Mal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune. Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34)."
  
Manchmal nennt Jesus dieses Leben, das zu schenken er gekommen ist, einfach: »das Leben»; und stellt die Geburt aus Gott als eine notwendige Bedingung dar, um das Ziel erreichen zu können, für das Gott den Menschen erschaffen hat: »Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Joh 3, 3). Das Geschenk dieses Lebens bildet den eigentlichen Zweck der Sendung Jesu: er ist der, der »vom Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt« (Joh 6, 33), so daß er mit voller Wahrheit sagen kann: »Wer mir nachfolgt, ... wird das Licht des Lebens haben« (Joh 8, 12).
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Der Papst spricht weiter vom Kampf zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« und von einer perversen Freiheitsvorstellung sowie einer Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen. Johannes Paul II. spricht dann auch davon, dass die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen unvermeidlich zum praktischen Materialismus führt, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. "Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt."
  
An anderen Stellen spricht Jesus vom »ewigen Leben», wobei das Adjektiv nicht nur auf eine überirdische Perspektive verweist. »Ewig« ist das Leben, das Jesus verheißt und schenkt, weil es Fülle der Teilhabe am Leben des »Ewigen« ist. Jeder, der an Jesus glaubt und in Gemeinschaft mit ihm tritt, hat das ewige Leben (vgl. Joh 3, 15; 6, 40), weil er von ihm die einzigen Worte hört, die seinem Dasein Lebensfülle offenbaren und einflößen; es sind die »Worte des ewigen Lebens», die Petrus in seinem Glaubensbekenntnis anerkennt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes« (Joh 6, 68-69). Worin dann das ewige Leben besteht, erklärt Jesus selbst, wenn er sich im Hohenpriesterlichen Gebet an den Vater wendet: »Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast« (Joh 17, 3).
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In EV 27 geht der Papst dann auf die Pro-Life-Gruppen ein und betont: "Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit eine breitere Bewusstmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in die Praxis um."
  
Gott und seinen Sohn erkennen heißt, das Geheimnis der Liebesgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im eigenen Leben anzunehmen, das sich schon jetzt in der Teilhabe am göttlichen Leben dem ewigen Leben öffnet.
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====Zentrale Aussagen====
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'''Zitat:'''
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''(EV 13.) Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes'' voll und ganz ''zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht.''
  
38. Das ewige Leben ist also das Leben Gottes selbst und zugleich das Leben der Kinder Gottes. Immer neues Staunen und grenzenlose Dankbarkeit müssen den Gläubigen angesichts dieser unerwarteten und unaussprechlichen Wahrheit erfassen, die uns von Gott in Christus zuteil wird. Der Gläubige macht sich die Worte des Apostels Johannes zu eigen: »Wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es... Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1 Joh 3, 1-2).
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'''Deutung:'''
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Unter dem Begriff "solche Praktiken" versteht die Enzyklika die Empfängnisverhütung und die Abtreibung, mit der der Mensch meint, die Weitergabe des menschlichen Lebens beeinflussen zu können. Der [[Wille]] Gottes wird dabei allerdings nicht "voll und ganz" befolgt.
  
So erreicht die christliche Wahrheit über das Leben ihren Höhepunkt. Die Würde dieses Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm. Im Lichte dieser Wahrheit präzisiert und vervollständigt der hl. Irenäus seine Lobpreisung des Menschen: »Herrlichkeit Gottes« ist »der lebendige Mensch», aber »das Leben des Menschen besteht in der Schau Gottes«. 27
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=== II. KAPITEL - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN ===
  
Daraus erwachsen unmittelbare Konsequenzen für das menschliche Leben in seiner irdischen Situation, in dem allerdings bereits das ewige Leben keimt und heranwächst. Wenn der Mensch instinktiv das Leben liebt, weil es ein Gut ist, so findet diese Liebe weitere Motivierung und Kraft, neue Fülle und Tiefe in den göttlichen Dimensionen dieses Gutes. So gesehen beschränkt sich die Liebe, die jeder Mensch zum Leben hat, nicht auf die einfache Suche eines Raumes der Selbstäußerung und der Beziehung zu den anderen, sondern sie entwickelt sich aus dem freudigen Bewußtsein, die eigene Existenz zu dem »Ort« der Offenbarwerdung Gottes sowie der Begegnung und der Gemeinschaft mit ihm machen zu können. Das Leben, das Jesus uns schenkt, entwertet nicht unser zeitliches Dasein, sondern nimmt es an und führt es seiner letzten Bestimmung zu: »Ich bin die Auferstehung und das Leben...; jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 25. 26).
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Im II. Kapitel von EV ermutigt der Papst, angesichts dieser Ohnmacht, dass der Blick auf Christus, "das Wort des Lebens" gerichtet werden soll. "Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person Jesu selber besteht." Johannes Paul II. sagt in dem Kapitel klar, dass
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das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein beschränkt. "Das Leben, das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh 1, 4), beruht darauf, dass es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12-13)."
  
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Die christliche Wahrheit über das Leben erreicht ihren Höhepunkt in der Erkenntnis, dass die Würde dieses Lebens nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm abhängt. Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht. Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben.
  
»Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen 9, 5): Achtung und Liebe für das Leben aller
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In EV 42 betont der Papst, dass das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben eine Aufgabe ist, die Gott jedem Menschen aufträgt. In EV 47 stellt Johannes Paul II. nochmals klar, dass kein Mensch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden darf, denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Apg 17, 28). In EV 50 erinnert er unter Berufung auf die dunklen Stunden am Karfreitag, dass
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auch wir uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens« befinden. "Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens."
  
39. Das Leben des Menschen kommt aus Gott, es ist sein Geschenk, sein Abbild und Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der einzige Herr über dieses Leben: der Mensch kann nicht darüber verfügen. Gott selbst bekräftigt dies gegenüber Noach nach der Sintflut: »Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen 9, 5). Und der biblische Text ist darauf bedacht zu unterstreichen, daß die Heiligkeit des Lebens in Gott und in seinem Schöpfungswerk begründet ist: »Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht« (Gen 9, 6).
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===III. KAPITEL - DU SOLLST NICHT TÖTEN: DAS HEILIGE GESETZ GOTTES===
  
Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht: »In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist«, ruft Ijob aus (12, 10). »Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf« (1 Sam 2, 6). Er allein kann sagen: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32, 39).
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Das dritte Kapitel ist eine Auslegung des Gottesgebotes „Du sollst nicht töten“ im Kontext unserer Zeit. Wie steht das Tötungsverbot im Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft? Der Papst zeigt einen zweifachen geschichtlichen Radius des Textes auf. Zunächst ist das fünfte Gebot Bestandteil des Sinaibundes und damit auch präsent im Evangelium, bereits im Noach-Bund gegeben und verbunden mit der Vernunftwahrheit.
  
Aber diese Macht übt Gott nicht als bedrohliche Willkür aus, sondern als liebevolle Umsicht und Sorge gegenüber seinen Geschöpfen. Wenn es wahr ist, daß das Leben des Menschen in Gottes Händen ruht, so ist es ebenso wahr, daß es liebevolle Hände sind wie die einer Mutter, die ihr Kind annimmt, nährt und sich um es sorgt: »Ich lieb meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in dir« (Ps 131 1, 2; vgl. Jes 49, 15; 66, 12-13; Hos 11, 4). So sieht Israel im Geschehen der Völker und im Schicksal der einzelnen nicht das Ergebnis einer bloßen Zufälligkeit oder eines blinden Schicksals, sondern das Ergebnis eines Planes der Liebe, in den Gott sämtliche Lebensmöglichkeiten aufnimmt und den aus der Sünde entstehenden Kräften des Todes entgegenstellt: »Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen« (Weish 1, 13-14).
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'''1.''' Das fünfte Gebot ist Bestandteil des Sinaibundes: Es gehört zum Bund dazu. Es ist Ausdruck der Zuwendung Gottes zum Menschen, dem der Weg des Lebens gezeigt wird. Diese Herzmitte des AT
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-  die Wegweisung ins rechte Menschsein hinein – bleibt auch im NT gültig. Auf die Frage nach dem Leben sagt der Herr als erstes zu dem reichen Jüngling: „Du sollst nicht töten“, dazu dann die anderen Gebote der zweiten Gesetzestafel mit den Geboten vier bis zehn.
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-  Gottes Gebot ist Ausdruck seiner Liebe zum Menschen (Nr. 52,2).
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- Der Mensch ist als Abbild Gottes auch Teilnehmer an der Königsherrschaft Gottes (Nr. 52,3).  
  
40. Aus der Heiligkeit des Lebens erwächst seine Unantastbarkeit, die von Anfang an dem Herzen des Menschen, seinem Gewissen, eingeschrieben ist. Die Frage »Was hast du getan?« (Gen 4, 10), mit der sich Gott an Kain wendet, nachdem dieser seinen Bruder Abel getötet hat, gibt die Erfahrung jedes Menschen wieder: in der Tiefe seines Gewissens wird er immer an die Unantastbarkeit des Lebens — seines Lebens und jenes der anderen — erinnert, als Realität, die nicht ihm gehört, weil sie Eigentum und Geschenk Gottes, des Schöpfers und Vaters, ist.
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'''2.''' Der Sinai weist aber nicht nur voraus auf das Evangelium, er weist auch zurück in die älteste Geschichte der Menschheit: Die Unantastbarkeit und die Sakralität des menschlichen Lebens ist der Kern des noachitischen Bundes (Nr. 53, 2-3), das ist ein universaler Bund, der die ganze Menschheit umgreift (Gen 9,5-6) mit dem Regenbogen als Bundeszeichen. Zur Klarstellung: Der Bund mit Noach ist tatsächlich  wie der Papst in Nr. 53,2 sagt, „der allererste Bund“. Aber er weist zugleich auf das Paradies hin, da hier schon die erste Offenbarung an die Menschen erfolgte. Man sieht beim Lesen von Gen 9,1 ff sofort: hier wird bezüglich der Aufgaben und Gebote alles wiederholt, was Gott am Anfang den Menschen im Paradies sagte: Siehe Gen 1,26 ff. Obwohl der Noach-Bund der erste Bund war, erfolgte im Paradies die erste Offenbarung. Der Noach-Bund führt das weiter, was im Paradies schon grundgelegt war.
  
Das auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bezügliche Gebot steht im Zentrum der »zehn Worte« im Bund vom Sinai (vgl.Ex 34, 28). Es verbietet zuallererst den Mord: »Du sollst nicht morden« (Ex 20, 13); »Wer unschuldig und im Recht ist, den bring nicht um sein Leben« (Ex 23, 7); aber es verbietet auch — wie in der weiteren Gesetzgebung Israels genau bestimmt wird — jede dem anderen zugefügte Verletzung (vgl. Ex 21, 12-27). Sicher muß man zugeben, daß im Alten Testament diese Sensibilität für den Wert des Lebens, selbst wenn sie bereits so hervorgehoben wird, noch nicht den Scharfsinn der Bergpredigt erreicht, wie aus manchen Aspekten der damals geltenden Gesetzgebung hervorgeht, die schwere Körperstrafen und sogar die Todesstrafe vorsah. Aber die Gesamtbotschaft, die das Neue Testa- ment zur Vervollkommnung bringen wird, ist ein mächtiger Appell zur Achtung der Unantastbarkeit des physischen Lebens und der persönlichen Integrität und erreicht ihren Höhepunkt in dem positiven Gebot, das dazu verpflichtet, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19, 18).
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'''3.''' Das fünfte Gebot gehört zu den von der Vernunft erkennbaren Wahrheiten
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Das Wissen um die Heiligkeit des menschlichen Lebens, das für uns nicht verfügbar ist, sondern als treu zu hütende Gabe geschenkt ist, gehört zum moralischen Erbe der Menschheit. Dieses Wissen ist nicht überall in gleicher Reinheit und Größe gegenwärtig, aber in seinem Kern nirgendwo ganz verloren. Wir stehen hier vor dem, was Gott in jedes Menschen Herz hineingeschrieben hat. Glaubensethik und Vernunftethik decken sich in diesem Punkt. Der Glaube weckt nur die schlafende oder müde gewordene Vernunft wieder auf. Ihr wird an dieser Stelle nichts Fremdes von außen zugeführt, sondern sie wird einfach zu sich selbst gebracht.
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Diese Gedanken nimmt der Papst am Schluss des 3. Kapitels wieder auf (Nr. 75). Er kommt nochmals auf die wesentliche Vernünftigkeit des Gebotes zurück und zeigt zugleich, wie Vernunft und Glaube hier fortschreiten können.
  
41. Das Gebot »du sollst nicht töten», das in jenem positiven Gebot von der Nächstenliebe eingeschlossen und vertieft ist, wirdvom Herrn Jesus in seiner ganzen Gültigkeit bekräftigt. Dem reichen Jüngling, der ihn fragt: »Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?», antwortet er: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19, 16.17). Und als erstes nennt er das Gebot »du sollst nicht töten« (Mt 19, 18). In der Bergpredigt verlangt Jesus von den Jüngern auch im Bereich der Achtung vor dem Leben eine höhere Gerechtigkeit als die der Schriftgelehrten und Pharisäer: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein« (Mt 5, 21-22).
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== Die Gültigkeit des 5. Gebotes und seine konkreten ethischen Imperative ==
  
Durch sein Wort und sein Tun verdeutlicht Jesus die positiven Forderungen des Gebots von der Unantastbarkeit des Lebens noch weiter. Sie waren bereits im Alten Testament vorhanden, wo es der Gesetzgebung darum ging, Daseinsbeziehungen schwachen und bedrohten Lebens zu gewährleisten und es zu schützen: den Fremden, die Witwe, den Waisen, den Kranken, überhaupt den Armen, ja selbst das Leben vor der Geburt (vgl. Ex 21, 22; 22, 20-26). Mit Jesus erlangen diese positiven Forderungen neue Kraft und neuen Schwung und werden in ihrer ganzen Weite und Tiefe offenbar: sie reichen von der Sorge um das Leben des Bruders (des Familienangehörigen, des Angehörigen desselben Volkes, des Ausländers, der im Land Israel wohnt) zur Sorge um den Fremden bis hin zur Liebe des Feindes.
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'''1.''' Um es kurz vorweg zu nehmen: das fünfte Gebot gilt absolut, duldet also keine Ausnahmen (Nr. 53 - 54). Das menschliche Leben ist heilig und unantastbar, heißt die Überschrift zu Nr. 53 und 54.
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Zunächst gilt allgemein: Die negativen sittlichen Vorschriften haben einen absoluten Wert für die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie weisen darauf hin, dass die Wahl bestimmter Verhaltensweisen nicht nur mit der Liebe zu Gott, sondern auch mit der Würde des nach seinem Bild erschaffenen Menschen radikal unvereinbar ist. Sie können auch nicht aufgewogen werden durch eine gute Absicht oder durch gute Folgen. Der Papst zitiert Augustinus, wonach die erste Freiheit im Freisein von Verbrechen besteht: Nr. 75, 2.
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Von diesem Nein aus, in dem der Mensch Freiheit übt und frei wird, eröffnet sich dann ein unermessliches Feld des Ja, die weiten schöpferischen Möglichkeiten der Liebe, des Dienstes am Leben. Das Nein ist die Voraussetzung für das Ja. Das Nein gilt absolut, das Ja aber schließt unendliche Möglichkeiten der Liebe ein.
  
Der Fremde ist nicht länger ein Fremder für den, der für einen anderen Menschen in Not zum Nächsten werden muß, bis zu dem Punkt, daß er die Verantwortung für sein Leben übernimmt, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr anschaulich und einprägsam schildert (vgl. Lk 10, 25-37). Auch der Feind ist für den kein Feind mehr, der ihn zu lieben (vgl. Mt 5, 38-48; Lk 6, 27-35) und dem er »Gutes zu tun« verpflichtet ist (vgl. Lk 6, 27. 33. 35), indem er auf die Nöte seines Lebens rasch und in der Gesinnung der Unentgeltlichkeit eingeht (vgl. Lk 6, 34-35). Höhepunkt dieser Liebe ist das Gebet für den Feind, durch das man sich mit der sorgenden Liebe Gottes in Einklang bringt: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5, 44-45; vgl. Lk 6, 28. 35).
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'''2.''' Wie steht es dann aber mit der Notwehr? - wie mit der Todesstrafe?
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Hat nicht die Kirche – und vorher schon das AT – immer die rechtmäßige Verteidigung für erlaubt gehalten, selbst wenn sie den Tod des anderen mit sich bringt? Sie hat sich der Todesstrafe nicht entgegengestellt. Was ist also mit dieser Ausnahmslosigkeit?
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Sind nicht Notwehr und Todesstrafe dann Ausnahmen des fünften Gebotes? Eine erste Präzisierung zu dieser Frage betrifft das Objekt des fünften Gebotes. Bei der Notwehr kollidiert anscheinend das Recht, das eigene Leben zu schützen mit der Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen (Nr. 55,1). „Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom AT verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Das Recht sich zu verteidigen bleibt. Darauf kann jemand nur kraft einer heroischen Liebe verzichten, „die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5,38-48) in die aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selbst ist".
  
Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben. Mit dieser Lehre wendet sich der Apostel Paulus an die Christen von Rom, indem er dem Wort Jesu (vgl. Mt 19, 17-18) beistimmt: »Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Röm 13, 9-10).
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'''3.''' Das Recht sich zu verteidigen kann sogar zur schwerwiegenden Pflicht werden für den, der für das Leben anderer oder das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist (KKK 2265).
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Es geschieht nun leider, dass der ungerechte Angreifer getötet wird. Diesen Tod muss man aber ihm selbst zur Last legen, denn er setzt sich dem Tod durch seinen Angriff selbst aus – und das gilt selbst dann, wenn „er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre“ (Nr. 55, Ende). Das bedeutet aber auch: Wer einen unschuldigen Menschen tötet, wird schuldig. Beim fünften Gebot ist das Objekt „der unschuldige Mensch“. Bei der Notwehr handelt es sich um ein anderes Objekt, hier ist das Objekt „der schuldige Mensch“.
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Diese Präzisierung ist insofern bereits im AT gegeben, als dort für das vom fünften Gebot ausgeschlossene Töten ein anderes Verb benutzt wird, als das an den Stellen, wo von der rechtmäßigen Verteidigung und von der Todesstrafe die Rede ist.
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Damit wird aber auch deutlich: es handelt sich nicht nur um ein anderes Objekt, sondern auch um eine andere Tat, eine andere Handlung, oder wie man auch sagt: es handelt sich um einen anderen Akt. Auch die Todesstrafe hat von diesem Grundgedanken der Verteidigung der Menschenwürde und des Menschenrechts gegen dessen Zertreten seine Rechtfertigung gefunden (Nr. 56). Der Papst schließt in der Enzyklika nicht aus, dass es diese Situation geben kann, in der die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des einzelnen nicht mehr auf andere Weise verteidigt werden können. Aber seine Vorbehalte gegen die Todesstrafe sind noch stärker als die schon im Katechismus dargelegten (KKK 2266 und 2267). Den dort geäußerten strengen Bedingungen fügt er noch zwei Hinweise dazu: In der Gesellschaft wie in der Kirche gebe es „eine Tendenz ..., die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert“. Diese Feststellung wird noch einmal aufgenommen, wenn der Papst etwas später sagt: „Solche Fälle sind jedoch heutzutage ... schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben“. Damit klingt allerdings auch an, dass die Todesstrafe eine andere Handlung ist als die direkte Tötung eines Unschuldigen. Das fünfte Gebot gilt unter Beachtung dieser Präzisierungen absolut. Oder anders und ausführlicher gesagt:
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Das vom Dekalog gemeinte Tötungsverbot setzt voraus:
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-  den freien Willensakt und
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die direkte Ausrichtung dieses Willensaktes auf das Töten,
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- und es bezieht sich auf den unschuldigen Menschen.
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In dieser Präzisierung, die dem Gebot wesentlich ist, gilt es unbedingt und ausnahmslos.
  
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'''4.''' In der ersten und grundlegendsten der drei feierlichen Aussagen der Enzyklika heißt es darum (Nr. 57): „Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der Katholischen Kirche, dass die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist“. Mit dieser Aussage stellt der Papst nichts Neues fest. Er bekräftigt, was Schrift, Überlieferung und Lehramt sagen und was die Vernunft erkennen kann, weil dies jedem Menschenherzen eingeschrieben ist. Das Gesagte ist ebenso eine Glaubenswahrheit wie eine Vernunfteinsicht. Die Art der Formulierung dieser Forderung zeigt, dass es sich hier um eine Aussage höchster Lehrautorität handelt.
  
»Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen 1, 28): die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben
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'''5.''' Mit dieser Aussage ist der Sinn und die unbedingte Geltung des Gebotes geklärt. In den Nummern 62 und 65 spricht der Papst nun in autoritativer Weise über zwei konkrete Anwendungsfälle des fünften Gebotes, die sehr aktuell sind: Abtreibung und Euthanasie. Er zeigt, dass in beiden Fällen keine neuen Lehren aufgestellt werden, sondern nur angewandt wird, was im fünften Gebot eindeutig enthalten ist.
  
42. Das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben ist eine Aufgabe, die Gott jedem Menschen aufträgt, wenn er ihn als sein pulsierendes Abbild zur Teilhabe an seiner Herrschaft über die Welt beruft: »Gott segnete sie und sprach: "Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen"« (Gen 1, 28).
 
  
Der biblische Text legt die Weite und Tiefe der Herrschaft an den Tag, die Gott dem Menschen schenkt. Es geht zunächst um die Herrschaft über die Erde und über alle Tiere, wie das Buch der Weisheit erwähnt: »Gott der Väter und Herr des Erbarmens... den Menschen hast du durch deine Weisheit erschaffen, damit er über deine Geschöpfe herrscht. Er soll die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten« (9, 1. 2-3). Auch der Psalmist preist die Herrschaft des Menschen als Zeichen der vom Schöpfer empfangenen Herrlichkeit und Ehre: »Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht« (Ps 8. 7-9).
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== '''Konkrete moralische Imperative''' ==
  
Der Mensch, der berufen wurde, den Garten der Welt zu bebauen und zu hüten (vgl. Gen 2, 15), hat eine besondere Verantwortung für die Lebensumwelt, das heißt für die Schöpfung, die Gott in den Dienst seiner personalen Würde, seines Lebens gestellt hat: Verantwortung nicht nur in bezug auf die gegenwärtige Menschheit, sondern auch auf die künftigen Generationen. Die ökologische Frage — von der Bewahrung des natürlichen Lebensraumes der verschiedenen Tierarten und der vielfältigen Lebensformen bis zur »Humanökologie« im eigentlichen Sinne des Wortes 28 — findet in dem Bibeltext eine einleuchtende und wirksame ethische Anleitung für eine Lösung, die das große Gut des Lebens, jeden Lebens, achtet. In Wirklichkeit ist »die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu 'gebrauchen oder mißbrauchen' oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, 'von der Frucht des Baumes zu essen' (vgl. Gen 2, 16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten darf«. 29
 
  
43. Eine gewisse Teilhabe des Menschen an der Herrschaft Gottes offenbart sich auch in der besonderen Verantwortung, die ihm gegenüber dem eigentlich menschlichen Leben anvertraut wird. Eine Verantwortung, die ihren Höhepunkt in der Weitergabe des Lebens durch die Zeugung seitens des Mannes und der Frau in der Ehe erreicht, wie das II. Vatikanische Konzil ausführt: »Derselbe Gott, der gesagt hat: 'Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei' (Gen 2, 18), und der 'den Menschen von Anfang an als Mann und Frau schuf' (Mt 19, 4), wollte ihm eine besondere Teilnahme an seinem schöpferischen Wirken verleihen, segnete darum Mann und Frau und sprach: 'Wachset und vermehrt euch' (Gen 1, 28)«. 30
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== '''a) Die Abtreibung''' ==
  
Wenn das Konzil von »einer besonderen Teilnahme« von Mann und Frau am »schöpferischen Wirken« Gottes spricht, will es hervorheben, daß die Zeugung des Kindes ein zutiefst menschliches und in hohem Maße religiöses Ereignis ist, weil sie die Ehegatten, die »ein Fleisch« werden (Gen 2, 24), und zugleich Gott selber hineinzieht, der gegenwärtig ist. Wenn, wie ich in meinem Brief an die Familien geschrieben habe, »aus der ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selber in die Welt: in die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person eingeschrieben. Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes, beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen vielmehr hervorheben, daß in der menschlichen Elternschaft Gott selber in einer anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«. Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung«. 31
 
  
Das lehrt in direkter und beredter Sprache der Bibeltext, wenn er vom Freudenschrei der ersten Frau, der »Mutter aller Lebendigen« (Gen 3, 20), berichtet. Eva, die sich des Eingreifens Gottes bewußt ist, ruft aus: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4, 1). Durch die Weitergabe des Lebens von den Eltern an das Kind wird also bei der Zeugung dank der Erschaffung der unsterblichen Seele 32 das Abbild und Gleichnis Gottes selbst übertragen. In diesem Sinne heißt es zu Beginn der »Liste der Geschlechterfolge nach Adam«: »Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau erschuf er sie, er segnete sie und nannte sie Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden. Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn, der ihm ähnlich war, wie sein Abbild, und nannte ihn Set« (Gen 5, 1-3). Auf dieser ihrer Rolle von Mitarbeitern Gottes, der sein Bild auf das neue Geschöpf überträgt, beruht gerade die Größe der Eheleute, die bereit sind »zur Mitwirkung mit der Liebe des Schöpfers und Erlösers, der durch sie seine eigene Familie immer mehr vergrößert und bereichert«. 33 In diesem Licht pries Bischof Amphilochios die »heilige, erwählte und über alle irdischen Gaben erhabene Ehe« als »Erzeuger der Menschheit, Urheber von Ebenbildern Gottes«. 34
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Der Papst stützt sich nun wiederum auf Schrift, Überlieferung und Lehramt (Nr. 61) und – im Falle der Abtreibung – auf die große Umfrage bei allen Bischöfen der Welt, die er im Anschluss an das Konsistorium von 1991 hatte vornehmen lassen. Auch legt der Papst wiederum Wert darauf, dass hier die Forderung der Vernunft mit der des Glaubens zusammenfallen.
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Dann folgt in Nr. 62,3 die zweite autoritative Feststellung: „Mit der Autorität, die Christus Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen (...), dass die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen“.
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Nachdem der Papst bereits in der ersten Forderung das fünfte Gebot absolut setzte und die Tötung des Unschuldigen als schweres Unrecht einstufte, folgt nun das gleiche bezüglich der ungeborenen Menschen. Denn: niemand kann bezweifeln, dass das ungeborene Kind unter die Kategorie der Unschuldigen fällt. Es greift niemanden an und bedroht niemanden (Nr. 58,3).
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Nachdem er des weiteren in Nr. 58 erklärte, dass es darauf ankomme auch sprachlich nicht die Realität zu verwischen (etwa das Wort Abtreibung durch Schwangerschaftsabbruch zu ersetzen), kommt er auch auf Einwände, die heute gern gemacht werden, zurück. Da ist vor allem der Einwand, ob der embryonale Mensch im Mutterschoß im Vollsinn des Wortes als Mensch bezeichnet werden kann. Der Papst legt zu dieser Frage zwei Argumentationstypen vor, die eng zusammenhängen. Er erinnert zunächst an eine von der modernen Naturwissenschaft ermittelte Gewissheit: „In Wirklichkeit beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter ist" (Nr. 60,1). Dieser heute unbestrittenen Tatsache wird nun aber von manchen Kreisen entgegengehalten, der frühe Embryo habe zwar genetische, aber nicht multizellulare Individualität. So könnte man im ontogenetischen Sinn den frühen Embryo doch als prä-individuell einstufen. Anders gesagt: genetische Individualität und personale Individualität seien zu unterscheiden. Erst wenn ein durchgehender menschlicher Körper vorhanden sei, sei auch Person-Sein möglich. Das Dokument der Glaubenskongregation über die Gabe des Lebens vom 22. Februar 1987, das der Papst in seiner Enzyklika aufgreift, war durchaus im Bewusstsein solcher Spekulationen geschrieben worden. Es sah in dieser Argumentation die Vermischung von Naturwissenschaft und Philosophie, in der die Leib-Seele-Einheit des Menschen verkannt und eine letztlich arbiträre Spekulation über das Verhältnis von Leiblichkeit, Individuum und Person-Sein betrieben wird. Es hatte demgegenüber nicht seinerseits Spekulationen über das Verhältnis von Individuation und Personalisation versucht, sondern das Geheimnis ihres inneren Zusammenhangs und ihrer inneren Einheit in einer Frage formuliert: 'Sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?' (Nr. 60,1). Letztlich ist jede Trennung von Individuum und Person beim Menschen willkürlich, ein Spiel zwischen Naturwissenschaft und Philosophie ohne realen Erkenntniswert.
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Daran schließt das zweite Argument der Enzyklika an, in dem der Papst das Spiel der Hypothesen übersteigt mit der vernünftigerweise unbestreitbaren Feststellung, dass '... schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird' (60,2)".
  
So werden Mann und Frau nach Vereinigung in der Ehe zu Teilhabern am göttlichen Werk: durch den Zeugungsakt wird Gottes Geschenk angenommen, und ein neues Leben öffnet sich der Zukunft.
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In die gleiche Kategorie der verwerflichen Handlungen gehört somit auch (Nr. 63):  
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*die Forschung mit menschlichen Embryonen, denn sie mache Menschen zum Versuchsobjekt,
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*die Verwendung der bei der In-Vitro-Befruchtung übrigbleibenden Embryonen als "biologisches Material",
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*entsprechende Einschränkungen gelten auch der „vorgeburtlichen Diagnostik“, die eine Eugenik-Mentalität fördert.
  
Aber über den spezifischen Auftrag der Eltern hinaus betrifft die Aufgabe, das Leben anzunehmen und ihm zu dienen, alle und muß sich vor allem gegenüber dem im Zustand größter Schwachheit befindlichen Leben erweisen. Christus selber erinnert uns daran, wenn er verlangt, daß man ihn liebt und ihm in den von jeder Art von Leid heimgesuchten Brüdern dient: Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken, Gefangenen... Was einem jeden von ihnen getan wird, wird Christus selbst getan (vgl. Mt 25, 31-46).
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== '''b) Die Euthanasie''' ==
  
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In Bezug auf die Euthanasie macht der Papst deutlich, wie der heutige Mensch mit den modernen Mitteln, die ihm die Technik an die Hand gibt, immer stärker der Versuchung erliegt, „sich zum Herrn über Tod und Leben zu machen“, also der „Versuchung von Eden“ (Nr. 66) zu erliegen und eine „Kultur des Todes“ zu entwickeln. Denn, so sagt Ratzinger, „die Entwicklung der modernen Medizin droht ja zu einer fatalen Alternative zu führen: Entweder man entwürdigt das Menschenleben in einem Ausschöpfen aller technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung bis zum Absurden hin, oder man entscheidet, wann das Leben nicht mehr lebenswert ist und schaltet es dann einfach ab. Beide Male macht sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod. Indem er die Macht über Leben und Tod an sich zu reißen versucht, verfällt er der Versuchung von Eden: selber wie Gott werden (Nr. 66)".
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Auch hier beginnt der Papst mit sorgfältigen Unterscheidungen, um die moralisch unzulässige Euthanasie genau einzugrenzen:
  
»Du hast mein Inneres geschaffen« (Ps 139 2, 13): die Würde des ungeborenen Kindes
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„Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden“ (Nr. 65,1). Von der Euthanasie im eigentlichen Sinn ist zu unterscheiden
  
44. Das menschliche Leben befindet sich in einer Situation großer Gefährdung, wenn es in die Welt eintritt und wenn es das irdische Dasein verläßt, um in den Hafen der Ewigkeit einzugehen. Die Aufforderungen zu Sorge und Achtung vor allem gegenüber dem von Krankheit und Alter gefährdeten Sein sind im Wort Gottes sehr wohl vorhanden. Wenn es an direkten und ausdrücklichen Aufforderungen zum Schutz des menschlichen Lebens in seinen Anfängen, insbesondere des noch ungeborenen wie auch des zu Ende gehenden Lebens fehlt, so läßt sich das leicht daraus erklären, daß schon allein die Möglichkeit, das Leben in diesen Situationen zu verletzen, anzugreifen oder gar zu leugnen, der religiösen und kulturellen Sicht des Gottesvolkes fremd ist.
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'''1.''' die Entscheidung, auf „therapeutischen Übereifer“ zu verzichten, also auf weitere Heilversuche, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, und die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken. Es ist gerade dieser therapeutische Übereifer, dessen Schrecklichkeit zum Haupteinwand für die Euthanasie wird. Der Papst versteht unter „therapeutischen Übereifer“ bestimmte ärztliche Eingriffe, „die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen“ (Nr. 65). Aber dieses ärztliche Tun, das das Leben um jeden Preis verlängert, ist keineswegs eine moralische Verpflichtung. Der Verzicht darauf „ist nicht mit Selbstmord oder Euthanasie gleichzusetzen; er ist vielmehr Ausdruck dafür, dass die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird" (Nr. 65,2). Von der Euthanasie im eigentlichen Sinn sind auch zu unterscheiden
  
Im Alten Testament wird die Unfruchtbarkeit als ein Fluch gefürchtet, während die zahlreiche Nachkommenschaft als ein Segen empfunden wird: »Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (Ps 127 3, 3; vgl. Ps 128 4, 3-4). Eine Rolle spielt bei dieser Überzeugung auch das Bewußtsein Israels, das Volk des Bundes und berufen zu sein, sich gemäß der an Abraham ergangenen Verheissung zu vermehren: »Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst... So zahlreich werden deine Nachkommen sein« (Gen 15, 5). Wirksam ist aber vor allem die Gewißheit, daß das von den Eltern weitergegebene Leben seinen Ursprung in Gott hat, wie die vielen Bibelstellen bezeugen, die voll Achtung und Liebe von der Empfängnis, von der Formung des Lebens im Mutterleib, von der Geburt und von der engen Verbindung sprechen, die zwischen dem Anfang des Seins und dem Tun Gottes, des Schöpfers, besteht.
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'''2.''' die „palliativen Behandlungsweisen, die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene Begleitung gewährleisten“ (Nr. 65,3). Diese palliative Sterbebegleitung ist selbstverständlich erlaubt – „doch darf man Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner Bewußtseinsklarheit berauben".
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Etwas ganz anderes aber als der Verzicht auf extreme und sinnlose medizinische Aktionen ist die Selbstverfügung über den Zeitpunkt des Todes, die entweder Selbstmord – heute häufig in der Form der Beihilfe zum Selbstmord (Nr. 66) – oder schlichtweg Mord ist. Wo der Mensch aus Eigenem entscheidet, welches Menschenleben wert ist, gelebt zu werden, ist die vom fünften Gebot gezogene Grenze überschritten, die genau die Markierung zwischen Menschlichkeit und Barbarei darstellt. Die Freiheit des Tötens ist das Eingangstor der Unfreiheit, weil Aufhebung von Menschenwürde und Menschenrecht. Daher erfolgt als die dritte Forderung des Papstes:
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„Mit diesen Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem Lehramt meiner Vorgänger und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, dass die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet“ (Nr. 65,4).
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Dazu gehört auch: Weder darf man um die Tötung bitten – was Selbstmord wäre – noch darf man bei der „Beihilfe zum Selbstmord“ mitmachen (Nr. 66).
  
»Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer 1, 5): die Existenz jedes einzelnen Menschen ist von ihren Anfängen an im Plan Gottes vorgegeben. Ijob in seinem tiefen Schmerz hält inne, um eine Betrachtung anzustellen über das Wirken Gottes bei der wunderbaren Formung seines Leibes im Schoß der Mutter; daraus schließt er den Grund der Zuversicht und äußert die Gewißheit, daß es einen göttlichen Plan für sein Leben gebe: »Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht; dann hast du dich umgedreht und mich vernichtet. Denk daran, daß du wie Ton mich geschaffen hast. Zum Staub willst du mich zurückkehren lassen. Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten. Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut schützte meinen Geist« (10, 8-12). Hinweise anbetenden Staunens über Gottes Eingreifen bei der Bildung des Lebens im Mutterleib finden sich auch in den Psalmen. 35
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== Moralische Imperative in Bezug auf das konkrete Verhalten ==
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'''der Politiker und der Beteiligten'''
  
Wie sollte man annehmen, daß auch nur ein Augenblick dieses wundervollen Prozesses des Hervorquellens des Lebens dem weisen und liebevollen Wirken des Schöpfers entzogen sein und der Willkür des Menschen überlassen bleiben könnte? Die Mutter der sieben Brüder ist jedenfalls nicht dieser Meinung: sie bekennt ihren Glauben an Gott, Anfang und Gewähr des Lebens von seiner Empfängnis an und zugleich Grund der Hoffnung auf das neue Leben über den Tod hinaus: »Ich weiß nicht, wie ihr in meinem Leib entstanden seid, noch habe ich euch Atem und Leben geschenkt; auch habe ich keinen von euch aus den Grundstoffen zusammengefügt. Nein, der Schöpfer der Welt hat den werdenden Menschen geformt, als er entstand; er kennt die Entstehung aller Dinge. Er gibt euch gnädig Atem und Leben wieder, weil ihr jetzt um seiner Gesetze willen nicht auf euch achtet« (2 Makk 7, 22-23).
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'''1.''' Staatliches Gesetz und Sittengesetz allgemein:
  
45. Die Offenbarung des Neuen Testamentes bestätigt die unbestrittene Anerkennung des Wertes des Lebens von seinen Anfängen an. Die Lobpreisung der Fruchtbarkeit und die beflissene Erwartung des Lebens sind aus den Worten herauszuhören, mit denen Elisabet ihrer Freude über ihre Schwangerschaft Ausdruck verleiht: »Der Herr... hat gnädig auf mich geschaut und mich von der Schande befreit« (Lk 1, 25). Aber noch deutlicher verherrlicht wird der Wert der Person von ihrer Empfängnis an in der Begegnung zwischen der Jungfrau Maria und Elisabet und zwischen den beiden Kindern, die sie im Schoß tragen. Es sind gerade die Kinder, die den Anbruch des messianischen Zeitalters offenbaren: in ihrer Begegnung beginnt die erlösende Kraft der Anwesenheit des Gottessohnes unter den Menschen wirksam zu werden. »Sogleich — schreibt der hl. Ambrosius — machen sich die Segnungen des Kommens Marias und der Gegenwart des Herrn bemerkbar... Elisabet hörte als erste die Stimme, aber Johannes nahm als erster die Gnade wahr; sie hörte nach den Gesetzen der Natur, er hörte kraft des Geheimnisses; sie bemerkte die Ankunft Marias, er die des Herrn: die Frau die Ankunft der Frau, das Kind die Ankunft des Kindes. Die Frauen sprechen von den empfangenen Gnaden, die Kinder im Schoß der Mütter verwirklichen die Gnade und das Geheimnis der Barmherzigkeit zum Nutzen der Mütter selber: und diese sprechen auf Grund eines zweifachen Wunders unter der Inspiration der Kinder, die sie tragen, Prophezeiungen aus. Von dem Sohn heißt es, daß er sich freute, von der Mutter, daß sie vom Heiligen Geist erfüllt wurde. Nicht die Mutter wurde zuerst vom Heiligen Geist erfüllt, sondern der vom Heiligen Geist erfüllte Sohn war es, der auch die Mutter mit ihm erfüllte«. 36
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Wenn Abtreibung und Euthanasie vom [[Sittengesetz]] absolut verboten sind, welche Folgen hat das dann für den Rechtsstaat und für rechtsstaatliche Prinzipien?
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Der Papst setzt sich hier sorgsam mit der weitverbreiteten Meinung auseinander, „wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugung der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt“ (Nr. 69,1). Man sagt: Da Wahrheit nicht für alle als solche erkennbar sei (Nr. 68,3), bleibe dem Politiker gar kein anderer Maßstab als der Mehrheitsentscheid (Nr. 69,2). Nur ein solcher praktischer Relativismus garantiere Freiheit und [[Toleranz]], während das Beharren auf objektiven moralischen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führe (Nr. 70,1).
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Der Papst zeigt nun (Siehe Nr. 70 ff.) in scharfsinnigen Erwägungen die innere Widersprüchlichkeit einer solchen Position, die zur Krise der Demokratie führen und sie als moralische Größe aufheben muss.  
  
   
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'''2.''' Aufmerksam gemacht wird von ihm auf den Widerspruch im Verständnis des Gewissens. Während die einzelnen Individuen volle moralische Autonomie für sich in Anspruch nehmen, wird dem Politiker auferlegt, seine eigene Gewissensüberzeugung beiseite zu lassen und sich dem Kanon der Mehrheitsmeinung zu unterwerfen (Nr. 69, letzte Sätze). Demokratische Rechtssetzung sinkt dann aber ab zu einem Mechanismus des Ausgleichs zwischen den entgegengesetzten Interessen, bei dem häufig das Recht des Stärkeren obsiegt (Nr. 70, Anfang und Ende).
  
»Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt« (Ps 116 1, 10): das Leben im Alter und im Leiden
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'''3.''' Auch eine Demokratie kann theoretisch zur Tyrannei werden. Die Absolutsetzung des Mehrheitsprinzips kann – wenn ihr kein für alle verbindlicher Maßstab mehr zugrunde liegt – tyrannisch sein, wenn sich ihr Rechtssystem wie im Fall der Abtreibung gerade gegen die Schwächsten richtet. "...Tatsächlich darf die Demokratie nicht so lange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit ... gemacht wird. ... der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert". Diese grundlegenden Werte, die die Demokratie voraussetzen muss, um eine moralische Verfassung menschlicher Gesellschaft zu sein, sind: „Die Würde der menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen ... Rechte, sowie die Übernahme des Gemeinwohls als Ziel und als regelndes Kriterium für das politische Leben" (Nr. 70,4).
  
46. Auch was die letzten Augenblicke der Existenz betrifft, wäre es anachronistisch, aus der biblischen Offenbarung einen ausdrücklichen Bezug auf die aktuelle Problematik der Achtung der alten und kranken Menschen und eine ausdrückliche Verdammung von Versuchen zu erwarten, das Ende gewaltsam vorwegzunehmen: denn wir befinden uns hier in einem kulturellen und religiösen Umfeld, das einer derartigen Versuchung nicht ausgesetzt ist, sondern, was den alten Menschen betrifft, in seiner Weisheit und Erfahrung einen unersetzlichen Reichtum für die Familie und die Gesellschaft erkennt.
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'''4.''' Es ist daher nötig die Grundzüge einer richtigen Beziehung zwischen staatlichem Gesetz und [[Sittengesetz]] zu beachten (Nr. 71,2). Die eben genannten grundlegenden Aussagen über die wesentlichen Bedingungen eines Rechtsstaates führen bereits zu einer praktischen Schlussfolgerung: Gesetze, die den zentralen moralischen Werten widersprechen, sind nicht Recht, sondern regulieren Unrecht. Sie haben daher keinen Rechtscharakter. Ihnen ist man keinen Gehorsam schuldig; man muss ihnen vielmehr den Einspruch aus Gewissensgründen entgegensetzen (Nr. 73). Daher spricht der Papst zwei Fälle konkret an: nämlich die Haltung der Politiker und der Beteiligten.
  
Das Alter wird von Ansehen gekennzeichnet und von Achtung umgeben (vgl. 2 Makk 6, 23). Und der Gerechte bittet nicht darum, vom Alter und seiner Last verschont zu bleiben; er betet im Gegenteil so: »Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf... Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlaß mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke« (Ps 71 2, 5. 18). Das Ideal der messianischen Zeit wird als das hingestellt, in dem »es keinen... Greis 3, der nicht das volle Alter erreicht« (Jes 65, 20).
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'''5.''' Praktische Konsequenzen für das Verhalten von Politikern im Konfliktfall:
  
Aber wie soll man im Alter dem unvermeidlichen Verfall des Lebens begegnen? Wie soll man sich dem Tod gegenüber verhalten? Der Gläubige weiß, daß sein Leben in Gottes Händen ruht: »Herr, du hältst mein Los in deinen Händen« (vgl. Ps 16 4, 5), und nimmt auch das Sterben von ihm an: »Er (der Tod) ist das Los, das allen Sterblichen von Gott bestimmt ist. Was sträubst du dich gegen das Gesetz des Höchsten?« (Sir 41, 4). Wie der Mensch nicht Herr über das Leben ist, so auch nicht über den Tod; sowohl in seinem Leben wie in seinem Tod muß er sich ganz dem »Willen des Höchsten«, seinem Plan der Liebe anvertrauen.
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Der erste Fall ist das vieldiskutierte Problem politischer Moral: Wie soll sich ein an den Normen des biblischen Glaubens und der von ihm herausgestellten menschlichen Grundwerten orientierter Abgeordneter verhalten, wenn sich eine Möglichkeit auftut, ein extrem ungerechtes Abtreibungsgesetz wesentlich zu verbessern, aber die Chance nicht besteht, eine Mehrheit für den totalen Ausschluss freiwilliger und direkter Tötung Ungeborener zu finden? Muss er um seiner Gewissensüberzeugung treu zu bleiben, das verbesserte Gesetz, das immer noch Unrecht zu Recht erhebt, ablehnen und sich so zum Komplizen derer machen, die das gewordene noch größere Unrecht weiterhin sanktionieren wollen? Aber kann man Kompromisse schließen, wo es um die Wahl zwischen gut und böse geht? Der Papst sagt dazu: Grundlegend ist, dass der Abgeordnete keinen Zweifel lässt an seinem persönlichen und absoluten Nein zur Abtreibung, und dass diese Haltung auch öffentlich unmissverständlich klargestellt wird. Unter dieser Voraussetzung kann der Parlamentarier Vorschlägen zustimmen, deren erklärtes Ziel Schadensbegrenzung und Verminderung der negativen Auswirkungen ist (Nr. 73,2). Nie kann er freilich dazu seine Stimme geben, dass Unrecht für Recht erklärt werde.
  
Auch zum Zeitpunkt der Krankheit ist der Mensch aufgerufen, dasselbe Vertrauen zum Herrn zu leben und seine grundsätzliche Zuversicht in ihn zu erneuern, der »alle Gebrechen heilt« (vgl. Ps 103 5, 3). Selbst dann, wenn sich vor dem Menschen jede Aussicht auf Gesundheit zu verschließen scheint — so daß er sich veranlaßt sieht auszurufen: »Meine Tage schwinden dahin wie Schatten, ich verdorre wie Gras« (Ps 102 6, 12) —, ist der Gläubige von dem unerschütterlichen Glauben an die lebenspendende Macht Gottes erfüllt. Die Krankheit treibt ihn nicht zur Verzweiflung und auf die Suche nach dem Tod, sondern zu dem hoffnungsvollen Ausruf: »Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin tief gebeugt« (Ps 116 7, 10); »Herr, mein Gott, ich habe zu dir geschrien, und du hast mich geheilt. Herr, du hast mich herausgeholt aus dem Reich des Todes, aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben gerufen« (Ps 30 8, 3-4).
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6. Praktisches Verhalten im Konfliktfall für die beteiligten Personen:
  
47. Die Sendung Jesu zeigt mit den zahlreichen von ihm vollbrachten Krankenheilungen an, wie sehr Gott auch das physische Leben des Menschen am Herzen liegt. »Als Leib- und Seelenarzt« 37 wird Jesus vom Vater gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden und alle zu heilen, deren Herz zerbrochen ist (vgl. Lk 4, 18; Jes 61, 1). Als er dann seine Jünger in die Welt sendet, erteilt er ihnen einen Auftrag, in dem die Heilung der Kranken mit der Verkündigung des Evangeliums einhergehen soll: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Mt 10, 7-8; vgl. Mk 6, 13; 16, 18).
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Hier spricht der Papst sehr klar: „Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht“ (Nr. 74,2). Des weiteren sagt der Papst: Der Staat muss, um wenigstens ein moralisches Minimum zu garantieren, „für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern ... die Möglichkeit sicherstellen, die Beteiligung an der Phase der Beratung, Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissengründen greift, muss nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein“ (Nr. 74).
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Am Ende des drittes Kapitels lehrt der Papst, dass alle diese Forderungen zugleich auch Forderungen der Vernunft sind. Und er zeigt es in Überlegungen über die Freiheit (Nr. 75).
  
Sicher ist für den Gläubigen das physische Leben in seinem irdischen Zustand kein Absolutum, so daß von ihm gefordert werden kann, es um eines höheren Gutes willen aufzugeben; denn, wie Jesus sagt, »wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mk 8, 35). Dazu gibt es im Neuen Testa- ment eine Reihe von Zeugnissen. Jesus zögert nicht, sich selbst zu opfern und macht freiwillig sein Leben zu einer Opfergabe an den Vater (vgl. Joh 10, 17) und an die Seinen (vgl. Joh 10, 15). Auch der Tod Johannes des Täufers, des Vorläufers des Erlösers, bezeugt, daß das irdische Leben nicht das absolute Gut ist: wichtiger ist die Treue zum Wort des Herrn, auch wenn sie das Leben aufs Spiel setzen kann (vgl. Mk 6, 17-29). Und Stephanus, während er als treuer Zeuge der Auferstehung des Herrn das irdische Leben verliert, folgt dem Beispiel des Meisters und geht mit den Worten der Vergebung auf die zu, die ihn steinigen (vgl. Apg 7, 59-60), womit er den Weg für die zahllose Schar von Märtyrern öffnet, die von der Kirche von Anfang an verehrt werden.
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===IV. KAPITEL - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS===
  
Kein Mensch darf jedoch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden; denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Apg 17, 28).
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Das IV. Kapitel bietet einen abschließenden Ausblick. Zitat:
  
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(Nr. 78) ''Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude und Heil empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom Vater gesandt wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk 4, 18). Sie hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die ganze Welt ausgesandt wurden (vgl. Mk 16, 15; Mt 28, 19-20). Die aus diesem Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums entstandene Kirche vernimmt in sich selbst jeden Tag das mahnende Wort des Apostels: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde« (1 Kor 9, 16). »Evangelisieren ist — schrieb [[Paul VI.]] — in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren«.''
  
»Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben« (Bar 4, 1): vom Gesetz des Sinai zur Spendung des Geistes
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==Literatur==
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* Papst [[Johannes Paul II.]]: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. [[VAS]] 120.
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* Papst [[Johannes Paul II.]]: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens.[[Christiana Verlag]] (144 Seiten; 2. Auflage).
  
48. Das Leben trägt unauslöschlich eine ihm wesenseigene Wahrheit in sich. Der Mensch muß sich, wenn er das Geschenk Gottes annimmt, bemühen, das Leben in dieser Wahrheit zu erhalten, die für jenes wesentlich ist. Die Abwendung von ihr ist gleichbedeutend mit der eigenen Verurteilung zu Bedeutungslosigkeit und Unglück, was zur Folge hat, daß man auch zu einer Bedrohung für das Leben anderer werden kann, sobald die Schutzdämme niedergerissen sind, die in jeder Situation die Achtung und Verteidigung des Lebens garantieren.
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==Der deutsche Text der Enzyklika==
 
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[[Evangelium vitae (Wortlaut)]]
Die dem Leben eigene Wahrheit wird vom Gebot Gottes geoffenbart. Das Wort des Herrn gibt konkret an, welcher Richtung das Leben folgen muß, um seine Wahrheit respektieren und seine Würde schützen zu können. Nicht nur das spezifische Gebot »du sollst nicht töten« (Ex 20, 13; Dtn 5, 17) gewährleistet den Schutz des Lebens: das ganze Gesetz des Herrn steht im Dienst dieses Schutzes, weil es jene Wahrheit offenbart, in der das Leben seine volle Bedeutung findet.
 
 
 
Es verwundert daher nicht, daß der Bund Gottes mit seinem Volk so stark an die Perspektive des Lebens, auch in seiner physischen Dimension, gebunden ist. Das Gebot wird in ihm als Weg des Lebens angeboten: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden, und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, segnen« (Dtn 30, 15-16). Hier geht es nicht nur um das Land Kanaan und um die Existenz des Volkes Israel, sondern um die heutige und zukünftige Welt und um die Existenz der ganzen Menschheit. Denn es ist absolut unmöglich, daß das Leben voll glaubwürdig bleibt, wenn es sich vom Guten entfernt; und das Gute wiederum ist wesentlich an die Gebote des Herrn gebunden, das heißt an das »lebenspendende Gesetz« (Sir 17, 11). Das Gute, das erfüllt werden soll, kommt nicht wie eine beschwerende Last zum Leben hinzu, weil der Grund des Lebens selbst ja das Gute ist und das Leben nur durch die Erfüllung des Guten aufgebaut wird.
 
 
 
Das Gesetz in seiner Gesamtheit schützt also voll das Leben des Menschen. Daraus erklärt sich, wie schwierig es ist, sich getreu an das Gebot »du sollst nicht töten« zu halten, wenn die anderen »Worte des Lebens« (Apg 7, 38), mit denen dieses Gebot zusammenhängt, nicht eingehalten werden. Außerhalb dieser Sichtweise wird das Gebot schließlich zu einer bloß äußerlichen Verpflichtung, deren Grenzen sehr rasch sichtbar werden und für die man nach Abschwächungen oder Ausnahmen suchen wird. Nur wenn man sich der Fülle der Wahrheit über Gott, über den Menschen und über die Geschichte öffnet, erstrahlt das Wort »du sollst nicht töten« wieder als Gut für den Menschen in allen seinen Dimensionen und Beziehungen. Aus dieser Sicht können wir die Wahrheitsfülle begreifen, die in der Stelle des Buches Deuteronomium enthalten ist, die Jesus in der Antwort auf die erste Versuchung aufgreift: »Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern... von allem, was der Mund des Herrn spricht« (8, 3; vgl. Mt 4, 4).
 
 
 
Wenn der Mensch das Wort des Herrn hört, kann er würdig und gerecht leben; wenn der Mensch das Gesetz Gottes befolgt, kann er Früchte bringen an Leben und Glück: »Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben; doch alle, die es verlassen, verfallen dem Tod« (Bar 4, 1).
 
 
 
49. Die Geschichte Israels zeigt, wie schwierig es ist, die Treue zum Gesetz vom Leben aufrechtzuerhalten, das Gott den Menschen ins Herz geschrieben und dem Bundesvolk am Berg Sinai anvertraut hat. Angesichts der Suche nach alternativen Lebensprojekten zum Plan Gottes weisen insbesondere die Propheten mit Nachdruck darauf hin, daß allein der Herr die authentische Quelle des Lebens ist. So schreibt Jeremia: »Mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten« (2, 13). Die Propheten weisen mit anklagendem Finger auf alle, die das Leben mißachten und die Rechte der Menschen verletzen: »Sie treten die Kleinen in den Staub« (Am 2, 7); »Mit dem Blut Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt« (Jer 19, 4). Und unter ihnen prangert der Prophet Ezechiel wiederholt die Stadt Jerusalem an und nennt sie »die Stadt voll Blutschuld« (22, 2; 24, 6.9), die »Stadt, die in ihrer Mitte Blut vergießt« (22, 3).
 
 
 
Aber während die Propheten die Angriffe auf das Leben anzeigen, kümmern sie sich vor allem darum, die Erwartung eines neuen Lebensprinzips anzuregen, das in der Lage ist, eine erneuerte Beziehung zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern zu begründen. So eröffnen sie noch unbekannte und außerordentliche Möglichkeiten für das Verständnis und die Verwirklichung aller im Evangelium vom Leben enthaltenen Forderungen. Das wird einzig und allein dank der Gabe Gottes möglich sein, die reinigt und erneuert: »Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch« (Ez 36, 25-26; vgl. Jer 31, 31-34). Dank dieses »neuen Herzens« vermag man den eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu begreifen und zu verwirklichen: nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt. Das ist die lichtvolle Botschaft über den Wert des Lebens, die uns von der Gestalt des Gottesknechtes zuteil wird: »Der Herr rettete den, der sein Leben als Sühneopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben... Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht« (Jes 53, 10. 11).
 
 
 
In der Person Jesu von Nazaret erfüllt sich das Gesetz, und durch seinen Geist wird uns das neue Herz geschenkt. Jesus hebt nämlich das Gesetz nicht auf, sondern bringt es zur Erfüllung (vgl. Mt 5, 17): Gesetz und Propheten lassen sich in der goldenen Regel von der gegenseitigen Liebe zusammenfassen (vgl. Mt 7, 12). In Ihm wird das Gesetz endgültig zum »Evangelium«, zur Frohbotschaft von der Herrschaft Gottes über die Welt, die das ganze Dasein auf seine Wurzeln und seine ursprünglichen Perspektiven zurückführt. Es ist das Neue Gesetz, »das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus« (Röm 8, 2), dessen grundlegender Ausdruck — in Nachahmung des Herrn, der sein Leben hingibt für seine Freunde (vgl. Joh 15, 13) — die Selbsthingabe in der Liebe zu den Schwestern und Brüdern ist: »Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben« (1 Joh 3, 14). Es ist das Gesetz der Freiheit, der Freude und der Seligkeit.
 
 
 
 
 
 
»Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben« (Joh 19, 37): am Stamm des Kreuzes erfüllt sich das Evangelium vom Leben
 
 
 
50. Zum Abschluß dieses Kapitels, in dem wir Betrachtungen zur christlichen Botschaft über das Leben angestellt haben, möchte ich mit einem jeden von euch innehalten, um uns in den zu versenken, den sie durchbohrt haben und der alle an sich zieht (vgl. Joh 19, 37; 12, 32). Wenn wir »das Schauspiel« der Kreuzigung (vgl. Lk 23, 48) betrachten, werden wir an diesem glorreichen Stamm die Erfüllung und volle Offenbarung des ganzen Evangeliums vom Leben entdecken können.
 
 
 
In den frühen Nachmittagsstunden des Karfreitag, »brach eine Finsternis über das ganze Land herein... Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riß mitten entzwei« (Lk 23, 44. 45). Das ist das Symbol einer gewaltigen kosmischen Umwälzung und eines schrecklichen Kampfes zwischen den Mächten des Guten und den Mächten des Bösen, zwischen Leben und Tod. Auch wir befinden uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens«. Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens.
 
 
 
Der an das Kreuz genagelte Jesus wird erhöht. Er erlebt den Augenblick seiner größten »Ohnmacht«, und sein Leben scheint völlig dem Hohn und Spott seiner Widersacher und den Händen seiner Mörder preisgegeben zu sein: er wird verspottet, verhöhnt, geschmäht (vgl. Mk 15, 24-36). Doch gerade angesichts all dessen ruft der römische Hauptmann aus, als er »ihn auf diese Weise sterben sah«: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!« (Mk 15, 39). So wird im Augenblick seiner äußersten Schwachheit die Identität des Gottessohnes offenbar: am Kreuz offenbart sich seine Herrlichkeit!
 
 
 
Durch seinen Tod erhellt Jesus den Sinn des Lebens und des Todes jedes Menschen. Vor seinem Tod betet Jesus zum Vater und ruft ihn um Vergebung für seine Verfolger an (vgl. Lk 23, 34), und dem Verbrecher, der ihn bittet, an ihn zu denken, wenn er in sein Reich kommt, antwortet er: »Amen, das sage ich dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23, 43). Nach seinem Tod »öffneten sich die Gräber, und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt« (Mt 27, 52). Das von Jesus gewirkte Heil ist Geschenk des Lebens und der Auferstehung. Während seines Erdendaseins hatte Jesus auch Heil geschenkt, indem er alle heilte und segnete (vgl. Apg 10, 38). Aber die Wunder, die Krankenheilungen und selbst die Auferweckungen waren Zeichen für ein anderes Heil, das in der Vergebung der Sünden, das heißt in der Befreiung des Menschen von der tiefsten Krankheit, und in seiner Erhebung zum Leben Gottes selbst besteht.
 
 
 
Am Kreuz erneuert und verwirklicht sich in seiner ganzen, endgültigen Vollendung das Wunder von der von Mose in der Wüste erhöhten Schlange (vgl. Joh 3, 14-15; Num 21, 8-9). Auch heute begegnet jeder in seiner Existenz bedrohte Mensch, wenn er auf den blickt, der durchbohrt wurde, der sicheren Hoffnung, Befreiung und Erlösung zu finden.
 
 
 
51. Aber da ist noch eine andere genaue Begebenheit, die meinen Blick auf sich zieht und ein ergriffenes Nachdenken bei mir auslöst: »Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf« (Joh 19, 30). Und der römische Soldat »stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus« (Joh 19, 34).
 
 
 
Nun hat alles seine ganze Vollendung erlangt. Das »Aufgeben des Geistes« beschreibt den Tod Jesu ähnlich dem jedes anderen Menschen, spielt aber, wie es scheint, auch auf die »Spendung des Geistes« an, durch die er uns vom Tod befreit und uns einem neuen Leben öffnet.
 
 
 
Es ist das Leben Gottes selbst, das dem Menschen zuteil wird. Es ist das Leben, das durch die Sakramente der Kirche — deren Symbole sind das aus der Seite Christi geflossene Blut und Wasser — ständig den Kindern Gottes mitgeteilt wird, die so das Volk des neuen Bundes bilden. Vom Kreuz, der Quelle des Lebens her entsteht das »Volk des Lebens« und breitet sich aus.
 
 
 
Die Betrachtung des Kreuzes führt uns so zu den tiefsten Wurzeln des ganzen Geschehens. Jesus, der beim Eintritt in die Welt gesagt hatte: »Ja, Gott, ich komme, um deinen Willen zu tun« (vgl. Hebr 10, 9), war in allem dem Vater gehorsam, und da er »die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung« (Joh 13, 1), indem er sich ganz für sie hingab.
 
 
 
Er, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10, 45), erreicht am Kreuz den Gipfel der Liebe. »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Joh 15, 13). Und er ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren (vgl. Röm 5, 8).
 
 
 
Solcherart verkündet er, daß das Leben seinen Mittelpunkt, seinen Sinn und seine Fülle erreicht, wenn es verschenkt wird.
 
 
 
An diesem Punkt wird die Meditation zu Lobpreis und Dank und spornt uns gleichzeitig an, Jesus nachzuahmen und seinen Spuren zu folgen (vgl. 1 Petr 2, 21).
 
 
 
Auch wir sind aufgerufen, unser Leben für die Brüder hinzugeben und so den Sinn und die Bestimmung unseres Daseins in ihrer Wahrheitsfülle zu verwirklichen.
 
 
 
Wir können das fertigbringen, weil Du, o Herr, uns das Beispiel gegeben und uns die Kraft deines Geistes mitgeteilt hast. Wir können das fertigbringen, wenn wir jeden Tag mit Dir und wie Du, dem Vater gehorsam sind und seinen Willen tun.
 
 
 
Laß uns daher mit bereitem und selbstlosem Herzen jedes Wort hören, das aus dem Mund des Herrn kommt: so werden wir lernen, nicht nur das Leben des Menschen »nicht zu töten«, sondern es in Ehren zu halten, zu lieben und zu fördern.
 
  
 
== Weblinks ==
 
== Weblinks ==
 
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*[http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite]
[http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae_ge.html Originaltext in deutscher Sprache]
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*[http://www.kathtube.com/player.php?id=35988 Die deutsche Enzyklika Evangelium vitae als Worddokument] bei [[Kathtube]]
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* [http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/la/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html Die lateinische Fassung auf der Vatikanseite]
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*[http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/en/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html Die englische Fassung auf der Vatikanseite]
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* {{Kathtube|Die Enzyklika Evangelium vitae|18215|Autor=erklärt von [[Andreas Laun]] und [[Karl Wallner]]|Datum=20. November 2010|size=26:02 Min.}}
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*[http://www.kath.net/news/41320 Rom: Konferenz über ‚Evangelium vitae’] [[Kath.net]] am 16. Mai 2013
  
 
[[Kategorie:Lehramtstexte]]
 
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[[Kategorie:Lehramtstexte (Johannes Paul II.)]]

Aktuelle Version vom 21. Juni 2019, 08:10 Uhr

Evangelium vitae ist eine Enzyklika von Papst Johannes Paul II., die sich vor allem mit der Frage des Lebensrechtes befasst. Das Schreiben wurde am 25. März 1995 veröffentlicht.

Entstehungsgeschichte

Die Enzyklika wurde beim außerordentliche Konsistorium der Kardinäle, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat, angeregt. Die Kardinäle haben damals den Papst einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen. Zu Pfingsten 1991 wurde ein persönliches Schreiben an alle Bischöfe gerichtet mit der Bitte, hier Vorschläge einzubringen. In dem Brief hat der Papst auch einen Bezug zur Sozial-Enzyklika Rerum novarum hergestellt und betont: "Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein."

Inhalt

Einführung

Die Enzyklika besteht aus einer Einführung und vier Teilen. In der Einführung verweist der Papst darauf, dass das "Evangelium vom Leben" den Menschen als Frohe Botschaft verkündet werden soll. Diese Frohbotschaft beginnt mit der Geburt des Jesus-Kindes. Dann stellt der Papst unter Bezugnahme auf das Johannes-Evangelium (Kapitel 10,10, Leben in Fülle) einen Brücke zum ewigen Leben her und erklärt dann den unvergleichliche Wert der menschlichen Person.

Weiter betont Johannes Paul, dass dieses "Evangelium vom Leben" im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet und kommt dann zum eigentlichen Thema der Enzyklika: die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens, die für die Verkündigung besonders dringend sind. "Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben." Der Papst nennt hier wörtlich folgende Bedrohungen: Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der (freiwillige) Selbstmord.

Johannes Paul II. sagt im Vorwort auch gleich, dass die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht nur nicht zu bestrafen sondern ihnen sogar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen. Er bezeichnet dies ein "besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall." Entscheidungen, "die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet."

Dann kommt der Papst zum Hauptthema der Enzyklika und betont, dass das fundamentale Recht auf Leben heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten wird. Die Enzyklika versteht sich als Appell: "Achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!"

I. KAPITEL - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS

Der erste Teil beginnt mit dem bekannten Bibelzitat aus Genesis 4,8: "Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn." Dieser erste Mord ist für den Papst "eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird". Johannes Paul nimmt den Brudermord aus dem Alten Testament her um zu erklären, dass "bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet wird. "Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der "Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12)."

In weiterer Folge zeigt der Papst auf, wie Gott zwar Kain bestraft, aber er auch gleichzeitig der Barmherzige ist. Er bekommt ein Zeichen. Dadurch wird gesagt, dass nicht einmal der Mörder seine Personwürde verliert. Die Frage Gottes "Was hast du getan?" ist auch an die heutigen Menschen gerichtet. In Evangelium vitae, Kap. 11 (=EV 11), kommt dann der Papst auf die Abtreibung und auf die Euthanasie zu sprechen, auf die er seine Aufmerksamkeit lenken möchte, weil diese "Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, dass sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so dass eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird."

Das zusätzlich Problematische bei Abtreibung und Euthanasie ist, dass hier die Opfer völlig wehrlos sind und dass diese Angriffe großteils in der Familie passieren. Das Ganze ist für den Papst ein "Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen" und sozusagen eine "Verschwörung gegen das Leben"

Auf den Mythos, dass durch die von der Kirche abgelehnten Verhütung weniger Abtreibungen verursacht würden, geht der Papst ein und sagt, dass dieser Einwand "trügerisch" ist. "Denn es mag sein, dass viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der »Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines unerwünschten Lebens." Johannes Paul II. stellt fest, dass sich die Abtreibungskultur gerade dort besonders entwickelt hat, wo die Lehre der Kirche über Verhütung abgelehnt wird. Er bezeichnet Abtreibung und Verhütung als "Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger Beziehung zueinander". In EV 14 wird wir die Anwendung verschiedener Techniken künstlicher Fortpflanzung kritisiert und die vorgeburtliche Diagnose kritisiert. Auch die Euthanasie ist für den Papst ein wichtiges Thema. "Sie wird mit einem angeblichen Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien."

Zum Bevölkerungswachstum meint er in EV 16, dass heutzutage viele Mächtige die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum empfinden und befürchten, dass die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. "Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht." Das ganze ist für den Papst "ein wahrhaft alarmierendes Schauspiel". Johannes Paul II. spricht auch in diesem Zusammenhang von "falschen Propheten und Lehrer" und einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben«, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen. Kritik wird an den Massenmedien geübt, die häufig zu Komplizen dieser Verschwörung werden.

Die Wurzeln für das Übel sind in dem falschen Umgang mit der Freiheit zu sehen. "Die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedes Mal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches Interesse und seine Laune. Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse, abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Joh 8, 34)."

Der Papst spricht weiter vom Kampf zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« und von einer perversen Freiheitsvorstellung sowie einer Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen. Johannes Paul II. spricht dann auch davon, dass die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen unvermeidlich zum praktischen Materialismus führt, in dem der Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. "Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt."

In EV 27 geht der Papst dann auf die Pro-Life-Gruppen ein und betont: "Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit eine breitere Bewusstmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in die Praxis um."

Zentrale Aussagen

Zitat: (EV 13.) Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht.

Deutung: Unter dem Begriff "solche Praktiken" versteht die Enzyklika die Empfängnisverhütung und die Abtreibung, mit der der Mensch meint, die Weitergabe des menschlichen Lebens beeinflussen zu können. Der Wille Gottes wird dabei allerdings nicht "voll und ganz" befolgt.

II. KAPITEL - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN

Im II. Kapitel von EV ermutigt der Papst, angesichts dieser Ohnmacht, dass der Blick auf Christus, "das Wort des Lebens" gerichtet werden soll. "Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person Jesu selber besteht." Johannes Paul II. sagt in dem Kapitel klar, dass das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein beschränkt. "Das Leben, das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh 1, 4), beruht darauf, dass es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12-13)."

Die christliche Wahrheit über das Leben erreicht ihren Höhepunkt in der Erkenntnis, dass die Würde dieses Lebens nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm abhängt. Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht. Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben.

In EV 42 betont der Papst, dass das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben eine Aufgabe ist, die Gott jedem Menschen aufträgt. In EV 47 stellt Johannes Paul II. nochmals klar, dass kein Mensch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden darf, denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Apg 17, 28). In EV 50 erinnert er unter Berufung auf die dunklen Stunden am Karfreitag, dass auch wir uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens« befinden. "Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens."

III. KAPITEL - DU SOLLST NICHT TÖTEN: DAS HEILIGE GESETZ GOTTES

Das dritte Kapitel ist eine Auslegung des Gottesgebotes „Du sollst nicht töten“ im Kontext unserer Zeit. Wie steht das Tötungsverbot im Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft? Der Papst zeigt einen zweifachen geschichtlichen Radius des Textes auf. Zunächst ist das fünfte Gebot Bestandteil des Sinaibundes und damit auch präsent im Evangelium, bereits im Noach-Bund gegeben und verbunden mit der Vernunftwahrheit.

1. Das fünfte Gebot ist Bestandteil des Sinaibundes: Es gehört zum Bund dazu. Es ist Ausdruck der Zuwendung Gottes zum Menschen, dem der Weg des Lebens gezeigt wird. Diese Herzmitte des AT - die Wegweisung ins rechte Menschsein hinein – bleibt auch im NT gültig. Auf die Frage nach dem Leben sagt der Herr als erstes zu dem reichen Jüngling: „Du sollst nicht töten“, dazu dann die anderen Gebote der zweiten Gesetzestafel mit den Geboten vier bis zehn. - Gottes Gebot ist Ausdruck seiner Liebe zum Menschen (Nr. 52,2). - Der Mensch ist als Abbild Gottes auch Teilnehmer an der Königsherrschaft Gottes (Nr. 52,3).

2. Der Sinai weist aber nicht nur voraus auf das Evangelium, er weist auch zurück in die älteste Geschichte der Menschheit: Die Unantastbarkeit und die Sakralität des menschlichen Lebens ist der Kern des noachitischen Bundes (Nr. 53, 2-3), das ist ein universaler Bund, der die ganze Menschheit umgreift (Gen 9,5-6) mit dem Regenbogen als Bundeszeichen. Zur Klarstellung: Der Bund mit Noach ist tatsächlich wie der Papst in Nr. 53,2 sagt, „der allererste Bund“. Aber er weist zugleich auf das Paradies hin, da hier schon die erste Offenbarung an die Menschen erfolgte. Man sieht beim Lesen von Gen 9,1 ff sofort: hier wird bezüglich der Aufgaben und Gebote alles wiederholt, was Gott am Anfang den Menschen im Paradies sagte: Siehe Gen 1,26 ff. Obwohl der Noach-Bund der erste Bund war, erfolgte im Paradies die erste Offenbarung. Der Noach-Bund führt das weiter, was im Paradies schon grundgelegt war.

3. Das fünfte Gebot gehört zu den von der Vernunft erkennbaren Wahrheiten Das Wissen um die Heiligkeit des menschlichen Lebens, das für uns nicht verfügbar ist, sondern als treu zu hütende Gabe geschenkt ist, gehört zum moralischen Erbe der Menschheit. Dieses Wissen ist nicht überall in gleicher Reinheit und Größe gegenwärtig, aber in seinem Kern nirgendwo ganz verloren. Wir stehen hier vor dem, was Gott in jedes Menschen Herz hineingeschrieben hat. Glaubensethik und Vernunftethik decken sich in diesem Punkt. Der Glaube weckt nur die schlafende oder müde gewordene Vernunft wieder auf. Ihr wird an dieser Stelle nichts Fremdes von außen zugeführt, sondern sie wird einfach zu sich selbst gebracht. Diese Gedanken nimmt der Papst am Schluss des 3. Kapitels wieder auf (Nr. 75). Er kommt nochmals auf die wesentliche Vernünftigkeit des Gebotes zurück und zeigt zugleich, wie Vernunft und Glaube hier fortschreiten können.

Die Gültigkeit des 5. Gebotes und seine konkreten ethischen Imperative

1. Um es kurz vorweg zu nehmen: das fünfte Gebot gilt absolut, duldet also keine Ausnahmen (Nr. 53 - 54). Das menschliche Leben ist heilig und unantastbar, heißt die Überschrift zu Nr. 53 und 54. Zunächst gilt allgemein: Die negativen sittlichen Vorschriften haben einen absoluten Wert für die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie weisen darauf hin, dass die Wahl bestimmter Verhaltensweisen nicht nur mit der Liebe zu Gott, sondern auch mit der Würde des nach seinem Bild erschaffenen Menschen radikal unvereinbar ist. Sie können auch nicht aufgewogen werden durch eine gute Absicht oder durch gute Folgen. Der Papst zitiert Augustinus, wonach die erste Freiheit im Freisein von Verbrechen besteht: Nr. 75, 2. Von diesem Nein aus, in dem der Mensch Freiheit übt und frei wird, eröffnet sich dann ein unermessliches Feld des Ja, die weiten schöpferischen Möglichkeiten der Liebe, des Dienstes am Leben. Das Nein ist die Voraussetzung für das Ja. Das Nein gilt absolut, das Ja aber schließt unendliche Möglichkeiten der Liebe ein.

2. Wie steht es dann aber mit der Notwehr? - wie mit der Todesstrafe? Hat nicht die Kirche – und vorher schon das AT – immer die rechtmäßige Verteidigung für erlaubt gehalten, selbst wenn sie den Tod des anderen mit sich bringt? Sie hat sich der Todesstrafe nicht entgegengestellt. Was ist also mit dieser Ausnahmslosigkeit? Sind nicht Notwehr und Todesstrafe dann Ausnahmen des fünften Gebotes? Eine erste Präzisierung zu dieser Frage betrifft das Objekt des fünften Gebotes. Bei der Notwehr kollidiert anscheinend das Recht, das eigene Leben zu schützen mit der Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen (Nr. 55,1). „Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom AT verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Das Recht sich zu verteidigen bleibt. Darauf kann jemand nur kraft einer heroischen Liebe verzichten, „die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5,38-48) in die aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selbst ist".

3. Das Recht sich zu verteidigen kann sogar zur schwerwiegenden Pflicht werden für den, der für das Leben anderer oder das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist (KKK 2265). Es geschieht nun leider, dass der ungerechte Angreifer getötet wird. Diesen Tod muss man aber ihm selbst zur Last legen, denn er setzt sich dem Tod durch seinen Angriff selbst aus – und das gilt selbst dann, wenn „er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre“ (Nr. 55, Ende). Das bedeutet aber auch: Wer einen unschuldigen Menschen tötet, wird schuldig. Beim fünften Gebot ist das Objekt „der unschuldige Mensch“. Bei der Notwehr handelt es sich um ein anderes Objekt, hier ist das Objekt „der schuldige Mensch“. Diese Präzisierung ist insofern bereits im AT gegeben, als dort für das vom fünften Gebot ausgeschlossene Töten ein anderes Verb benutzt wird, als das an den Stellen, wo von der rechtmäßigen Verteidigung und von der Todesstrafe die Rede ist. Damit wird aber auch deutlich: es handelt sich nicht nur um ein anderes Objekt, sondern auch um eine andere Tat, eine andere Handlung, oder wie man auch sagt: es handelt sich um einen anderen Akt. Auch die Todesstrafe hat von diesem Grundgedanken der Verteidigung der Menschenwürde und des Menschenrechts gegen dessen Zertreten seine Rechtfertigung gefunden (Nr. 56). Der Papst schließt in der Enzyklika nicht aus, dass es diese Situation geben kann, in der die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des einzelnen nicht mehr auf andere Weise verteidigt werden können. Aber seine Vorbehalte gegen die Todesstrafe sind noch stärker als die schon im Katechismus dargelegten (KKK 2266 und 2267). Den dort geäußerten strengen Bedingungen fügt er noch zwei Hinweise dazu: In der Gesellschaft wie in der Kirche gebe es „eine Tendenz ..., die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert“. Diese Feststellung wird noch einmal aufgenommen, wenn der Papst etwas später sagt: „Solche Fälle sind jedoch heutzutage ... schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben“. Damit klingt allerdings auch an, dass die Todesstrafe eine andere Handlung ist als die direkte Tötung eines Unschuldigen. Das fünfte Gebot gilt unter Beachtung dieser Präzisierungen absolut. Oder anders und ausführlicher gesagt: Das vom Dekalog gemeinte Tötungsverbot setzt voraus: - den freien Willensakt und - die direkte Ausrichtung dieses Willensaktes auf das Töten, - und es bezieht sich auf den unschuldigen Menschen. In dieser Präzisierung, die dem Gebot wesentlich ist, gilt es unbedingt und ausnahmslos.

4. In der ersten und grundlegendsten der drei feierlichen Aussagen der Enzyklika heißt es darum (Nr. 57): „Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der Katholischen Kirche, dass die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist“. Mit dieser Aussage stellt der Papst nichts Neues fest. Er bekräftigt, was Schrift, Überlieferung und Lehramt sagen und was die Vernunft erkennen kann, weil dies jedem Menschenherzen eingeschrieben ist. Das Gesagte ist ebenso eine Glaubenswahrheit wie eine Vernunfteinsicht. Die Art der Formulierung dieser Forderung zeigt, dass es sich hier um eine Aussage höchster Lehrautorität handelt.

5. Mit dieser Aussage ist der Sinn und die unbedingte Geltung des Gebotes geklärt. In den Nummern 62 und 65 spricht der Papst nun in autoritativer Weise über zwei konkrete Anwendungsfälle des fünften Gebotes, die sehr aktuell sind: Abtreibung und Euthanasie. Er zeigt, dass in beiden Fällen keine neuen Lehren aufgestellt werden, sondern nur angewandt wird, was im fünften Gebot eindeutig enthalten ist.


Konkrete moralische Imperative

a) Die Abtreibung

Der Papst stützt sich nun wiederum auf Schrift, Überlieferung und Lehramt (Nr. 61) und – im Falle der Abtreibung – auf die große Umfrage bei allen Bischöfen der Welt, die er im Anschluss an das Konsistorium von 1991 hatte vornehmen lassen. Auch legt der Papst wiederum Wert darauf, dass hier die Forderung der Vernunft mit der des Glaubens zusammenfallen. Dann folgt in Nr. 62,3 die zweite autoritative Feststellung: „Mit der Autorität, die Christus Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen (...), dass die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen“. Nachdem der Papst bereits in der ersten Forderung das fünfte Gebot absolut setzte und die Tötung des Unschuldigen als schweres Unrecht einstufte, folgt nun das gleiche bezüglich der ungeborenen Menschen. Denn: niemand kann bezweifeln, dass das ungeborene Kind unter die Kategorie der Unschuldigen fällt. Es greift niemanden an und bedroht niemanden (Nr. 58,3). Nachdem er des weiteren in Nr. 58 erklärte, dass es darauf ankomme auch sprachlich nicht die Realität zu verwischen (etwa das Wort Abtreibung durch Schwangerschaftsabbruch zu ersetzen), kommt er auch auf Einwände, die heute gern gemacht werden, zurück. Da ist vor allem der Einwand, ob der embryonale Mensch im Mutterschoß im Vollsinn des Wortes als Mensch bezeichnet werden kann. Der Papst legt zu dieser Frage zwei Argumentationstypen vor, die eng zusammenhängen. Er erinnert zunächst an eine von der modernen Naturwissenschaft ermittelte Gewissheit: „In Wirklichkeit beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter ist" (Nr. 60,1). Dieser heute unbestrittenen Tatsache wird nun aber von manchen Kreisen entgegengehalten, der frühe Embryo habe zwar genetische, aber nicht multizellulare Individualität. So könnte man im ontogenetischen Sinn den frühen Embryo doch als prä-individuell einstufen. Anders gesagt: genetische Individualität und personale Individualität seien zu unterscheiden. Erst wenn ein durchgehender menschlicher Körper vorhanden sei, sei auch Person-Sein möglich. Das Dokument der Glaubenskongregation über die Gabe des Lebens vom 22. Februar 1987, das der Papst in seiner Enzyklika aufgreift, war durchaus im Bewusstsein solcher Spekulationen geschrieben worden. Es sah in dieser Argumentation die Vermischung von Naturwissenschaft und Philosophie, in der die Leib-Seele-Einheit des Menschen verkannt und eine letztlich arbiträre Spekulation über das Verhältnis von Leiblichkeit, Individuum und Person-Sein betrieben wird. Es hatte demgegenüber nicht seinerseits Spekulationen über das Verhältnis von Individuation und Personalisation versucht, sondern das Geheimnis ihres inneren Zusammenhangs und ihrer inneren Einheit in einer Frage formuliert: 'Sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?' (Nr. 60,1). Letztlich ist jede Trennung von Individuum und Person beim Menschen willkürlich, ein Spiel zwischen Naturwissenschaft und Philosophie ohne realen Erkenntniswert. Daran schließt das zweite Argument der Enzyklika an, in dem der Papst das Spiel der Hypothesen übersteigt mit der vernünftigerweise unbestreitbaren Feststellung, dass '... schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird' (60,2)".

In die gleiche Kategorie der verwerflichen Handlungen gehört somit auch (Nr. 63):

  • die Forschung mit menschlichen Embryonen, denn sie mache Menschen zum Versuchsobjekt,
  • die Verwendung der bei der In-Vitro-Befruchtung übrigbleibenden Embryonen als "biologisches Material",
  • entsprechende Einschränkungen gelten auch der „vorgeburtlichen Diagnostik“, die eine Eugenik-Mentalität fördert.

b) Die Euthanasie

In Bezug auf die Euthanasie macht der Papst deutlich, wie der heutige Mensch mit den modernen Mitteln, die ihm die Technik an die Hand gibt, immer stärker der Versuchung erliegt, „sich zum Herrn über Tod und Leben zu machen“, also der „Versuchung von Eden“ (Nr. 66) zu erliegen und eine „Kultur des Todes“ zu entwickeln. Denn, so sagt Ratzinger, „die Entwicklung der modernen Medizin droht ja zu einer fatalen Alternative zu führen: Entweder man entwürdigt das Menschenleben in einem Ausschöpfen aller technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung bis zum Absurden hin, oder man entscheidet, wann das Leben nicht mehr lebenswert ist und schaltet es dann einfach ab. Beide Male macht sich der Mensch zum Herrn über Leben und Tod. Indem er die Macht über Leben und Tod an sich zu reißen versucht, verfällt er der Versuchung von Eden: selber wie Gott werden (Nr. 66)". Auch hier beginnt der Papst mit sorgfältigen Unterscheidungen, um die moralisch unzulässige Euthanasie genau einzugrenzen:

„Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden“ (Nr. 65,1). Von der Euthanasie im eigentlichen Sinn ist zu unterscheiden

1. die Entscheidung, auf „therapeutischen Übereifer“ zu verzichten, also auf weitere Heilversuche, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, und die nur eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken. Es ist gerade dieser therapeutische Übereifer, dessen Schrecklichkeit zum Haupteinwand für die Euthanasie wird. Der Papst versteht unter „therapeutischen Übereifer“ bestimmte ärztliche Eingriffe, „die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind, weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen“ (Nr. 65). Aber dieses ärztliche Tun, das das Leben um jeden Preis verlängert, ist keineswegs eine moralische Verpflichtung. Der Verzicht darauf „ist nicht mit Selbstmord oder Euthanasie gleichzusetzen; er ist vielmehr Ausdruck dafür, dass die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird" (Nr. 65,2). Von der Euthanasie im eigentlichen Sinn sind auch zu unterscheiden

2. die „palliativen Behandlungsweisen, die das Leiden im Endstadium der Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine angemessene Begleitung gewährleisten“ (Nr. 65,3). Diese palliative Sterbebegleitung ist selbstverständlich erlaubt – „doch darf man Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner Bewußtseinsklarheit berauben". Etwas ganz anderes aber als der Verzicht auf extreme und sinnlose medizinische Aktionen ist die Selbstverfügung über den Zeitpunkt des Todes, die entweder Selbstmord – heute häufig in der Form der Beihilfe zum Selbstmord (Nr. 66) – oder schlichtweg Mord ist. Wo der Mensch aus Eigenem entscheidet, welches Menschenleben wert ist, gelebt zu werden, ist die vom fünften Gebot gezogene Grenze überschritten, die genau die Markierung zwischen Menschlichkeit und Barbarei darstellt. Die Freiheit des Tötens ist das Eingangstor der Unfreiheit, weil Aufhebung von Menschenwürde und Menschenrecht. Daher erfolgt als die dritte Forderung des Papstes: „Mit diesen Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem Lehramt meiner Vorgänger und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, dass die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet“ (Nr. 65,4). Dazu gehört auch: Weder darf man um die Tötung bitten – was Selbstmord wäre – noch darf man bei der „Beihilfe zum Selbstmord“ mitmachen (Nr. 66).

Moralische Imperative in Bezug auf das konkrete Verhalten

der Politiker und der Beteiligten

1. Staatliches Gesetz und Sittengesetz allgemein:

Wenn Abtreibung und Euthanasie vom Sittengesetz absolut verboten sind, welche Folgen hat das dann für den Rechtsstaat und für rechtsstaatliche Prinzipien? Der Papst setzt sich hier sorgsam mit der weitverbreiteten Meinung auseinander, „wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugung der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt“ (Nr. 69,1). Man sagt: Da Wahrheit nicht für alle als solche erkennbar sei (Nr. 68,3), bleibe dem Politiker gar kein anderer Maßstab als der Mehrheitsentscheid (Nr. 69,2). Nur ein solcher praktischer Relativismus garantiere Freiheit und Toleranz, während das Beharren auf objektiven moralischen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führe (Nr. 70,1). Der Papst zeigt nun (Siehe Nr. 70 ff.) in scharfsinnigen Erwägungen die innere Widersprüchlichkeit einer solchen Position, die zur Krise der Demokratie führen und sie als moralische Größe aufheben muss.

2. Aufmerksam gemacht wird von ihm auf den Widerspruch im Verständnis des Gewissens. Während die einzelnen Individuen volle moralische Autonomie für sich in Anspruch nehmen, wird dem Politiker auferlegt, seine eigene Gewissensüberzeugung beiseite zu lassen und sich dem Kanon der Mehrheitsmeinung zu unterwerfen (Nr. 69, letzte Sätze). Demokratische Rechtssetzung sinkt dann aber ab zu einem Mechanismus des Ausgleichs zwischen den entgegengesetzten Interessen, bei dem häufig das Recht des Stärkeren obsiegt (Nr. 70, Anfang und Ende).

3. Auch eine Demokratie kann theoretisch zur Tyrannei werden. Die Absolutsetzung des Mehrheitsprinzips kann – wenn ihr kein für alle verbindlicher Maßstab mehr zugrunde liegt – tyrannisch sein, wenn sich ihr Rechtssystem wie im Fall der Abtreibung gerade gegen die Schwächsten richtet. "...Tatsächlich darf die Demokratie nicht so lange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit ... gemacht wird. ... der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert". Diese grundlegenden Werte, die die Demokratie voraussetzen muss, um eine moralische Verfassung menschlicher Gesellschaft zu sein, sind: „Die Würde der menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen ... Rechte, sowie die Übernahme des Gemeinwohls als Ziel und als regelndes Kriterium für das politische Leben" (Nr. 70,4).

4. Es ist daher nötig die Grundzüge einer richtigen Beziehung zwischen staatlichem Gesetz und Sittengesetz zu beachten (Nr. 71,2). Die eben genannten grundlegenden Aussagen über die wesentlichen Bedingungen eines Rechtsstaates führen bereits zu einer praktischen Schlussfolgerung: Gesetze, die den zentralen moralischen Werten widersprechen, sind nicht Recht, sondern regulieren Unrecht. Sie haben daher keinen Rechtscharakter. Ihnen ist man keinen Gehorsam schuldig; man muss ihnen vielmehr den Einspruch aus Gewissensgründen entgegensetzen (Nr. 73). Daher spricht der Papst zwei Fälle konkret an: nämlich die Haltung der Politiker und der Beteiligten.

5. Praktische Konsequenzen für das Verhalten von Politikern im Konfliktfall:

Der erste Fall ist das vieldiskutierte Problem politischer Moral: Wie soll sich ein an den Normen des biblischen Glaubens und der von ihm herausgestellten menschlichen Grundwerten orientierter Abgeordneter verhalten, wenn sich eine Möglichkeit auftut, ein extrem ungerechtes Abtreibungsgesetz wesentlich zu verbessern, aber die Chance nicht besteht, eine Mehrheit für den totalen Ausschluss freiwilliger und direkter Tötung Ungeborener zu finden? Muss er um seiner Gewissensüberzeugung treu zu bleiben, das verbesserte Gesetz, das immer noch Unrecht zu Recht erhebt, ablehnen und sich so zum Komplizen derer machen, die das gewordene noch größere Unrecht weiterhin sanktionieren wollen? Aber kann man Kompromisse schließen, wo es um die Wahl zwischen gut und böse geht? Der Papst sagt dazu: Grundlegend ist, dass der Abgeordnete keinen Zweifel lässt an seinem persönlichen und absoluten Nein zur Abtreibung, und dass diese Haltung auch öffentlich unmissverständlich klargestellt wird. Unter dieser Voraussetzung kann der Parlamentarier Vorschlägen zustimmen, deren erklärtes Ziel Schadensbegrenzung und Verminderung der negativen Auswirkungen ist (Nr. 73,2). Nie kann er freilich dazu seine Stimme geben, dass Unrecht für Recht erklärt werde.

6. Praktisches Verhalten im Konfliktfall für die beteiligten Personen:

Hier spricht der Papst sehr klar: „Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht“ (Nr. 74,2). Des weiteren sagt der Papst: Der Staat muss, um wenigstens ein moralisches Minimum zu garantieren, „für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen Träger von Krankenhäusern ... die Möglichkeit sicherstellen, die Beteiligung an der Phase der Beratung, Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissengründen greift, muss nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene geschützt sein“ (Nr. 74). Am Ende des drittes Kapitels lehrt der Papst, dass alle diese Forderungen zugleich auch Forderungen der Vernunft sind. Und er zeigt es in Überlegungen über die Freiheit (Nr. 75).

IV. KAPITEL - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS

Das IV. Kapitel bietet einen abschließenden Ausblick. Zitat:

(Nr. 78) Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude und Heil empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom Vater gesandt wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk 4, 18). Sie hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die ganze Welt ausgesandt wurden (vgl. Mk 16, 15; Mt 28, 19-20). Die aus diesem Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums entstandene Kirche vernimmt in sich selbst jeden Tag das mahnende Wort des Apostels: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde« (1 Kor 9, 16). »Evangelisieren ist — schrieb Paul VI. — in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren«.

Literatur

  • Papst Johannes Paul II.: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. VAS 120.
  • Papst Johannes Paul II.: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens.Christiana Verlag (144 Seiten; 2. Auflage).

Der deutsche Text der Enzyklika

Evangelium vitae (Wortlaut)

Weblinks