Au cours de vos (Wortlaut)

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Schreiben
Au cours de vos

unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an Msgr. Jean-Pierre Ricard, Erzbischof von Bordeaux und
Vorsitzender der französischen Bischofskonferenz, und an alle Bischöfe Frankreichs
anlässlich der vor 100 Jahren erfolgten Trennung von Kirche und Staat in Frankreich
11. Februar 2005
(Offizieller französischer Text AAS 97 (2005/3) 306-313)

(Quelle: Das deutsche Schreiben auf der Vatikanseite)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


1. Eurer »Ad-limina«-Besuche habt Ihr, liebe Mitbrüder im Bischofsamt, mich an Euren Sorgen und Freuden als Hirten teilnehmen lassen und dabei auf die positiven Beziehungen hingewiesen, die Ihr zu den Verantwortlichen der Zivilgesellschaft unterhaltet, worüber ich mich nur freuen kann. Bei unseren Begegnungen hatte ich Gelegenheit, mit Euch die Frage des Verhältnisses zu den zivilen Autoritäten vor dem Hintergrund des 100. Jahrestages des Gesetzeserlasses über die Trennung von Kirche und Staat aufzugreifen. Im übrigen hatte ich das Problem des Laizismus in meiner Ansprache an die Bischöfe der Provinz Besançon am 27. Februar 2004 direkt angesprochen.

2. Das Gesetz von 1905 über die Trennung von Kirche und Staat, mit dem das Konkordat von 1804 aufgekündigt wurde, war ein schmerzhaftes und traumatisierendes Ereignis für die Kirche in Frankreich. Es regelte die Einhaltung des Laizitätsprinzips in Frankreich und erhielt in diesem Rahmen lediglich die freie Religionsausübung aufrecht, während es gleichzeitig die Religiosität in die Privatsphäre verbannte und dem religiösen Leben und der Kirche als Institution keinen Platz im Schoß der Gesellschaft einräumte. Die religiöse Einstellung des Menschen galt nur noch als ein bloßes religiöses Gefühl, womit die tiefe Natur des Menschen als eines in allen seinen Dimensionen zugleich personalen und sozialen und eines in seiner geistigen Dimension verstandenen Wesens verkannt wurde. Seit 1920 jedoch ist man der französischen Regierung dankbar dafür, dass sie den Platz des Religiösen im Leben der Gesellschaft, das persönliche und soziale religiöse Engagement und die hierarchische Verfassung der Kirche, die für ihre Einheit grundlegend ist, in gewisser Weise anerkannt hat. Der 100. Jahrestag des Erlasses dieses Gesetzes kann heute eine Gelegenheit dazu sein, uns mit der Geschichte der Kirche in Frankreich während des vergangenen Jahrhunderts zu befassen und dabei den Anstrengungen Rechnung zu tragen, die von den verschiedenen beteiligten Parteien unternommen wurden, um den Dialog aufrechtzuerhalten; Anstrengungen, die gekrönt wurden von der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und von dem 1924 besiegelten Einvernehmen, das von der Regierung der Republik unterzeichnet und dann in der Enzyklika Maximam gravissimamque meines Vorgängers Papst Pius XI. vom 18. Februar desselben Jahres beschrieben wurde. Schon 1921 wurden nach den schweren Jahren auf Initiative der französischen Regierung zwischen der Republik Frankreich und dem Apostolischen Stuhl bereits neue Beziehungen eingeleitet, die den Weg zu einem Prozeß der Verhandlungen und der Zusammenarbeit eröffneten. Dabei konnte unter Beachtung sowohl der staatlichen als auch der kirchlichen Rechtsordnung ein Befriedungsprozeß einsetzen. Dieser neue Geist gegenseitiger Verständigung ermöglichte es nun, eine Lösung für eine Reihe von Schwierigkeiten zu finden und alle Kräfte des Landes, jede in dem ihr eigenen Bereich, zum Gemeinwohl beitragen zu lassen. In gewisser Weise läßt sich sagen, dass man so bereits eine sich von Tag zu Tag weiterentwickelnde Verständigung erreicht hatte, die den Weg zu einer wirklich einvernehmlichen Einigung über die institutionellen Fragen eröffnete, die für das Leben der Kirche von fundamentaler Bedeutung sind. Dieser schrittweise erlangte Friede ist nunmehr zu einer Wirklichkeit geworden, an der das französische Volk beharrlich festhält. Er ermöglicht der Kirche in Frankreich, ihre Sendung mit Zuversicht und Gelassenheit zu erfüllen und unter Wahrung der Zuständigkeiten beider Seiten immer aktiver am Leben der Gesellschaft teilzunehmen.

3. Das Laizitätsprinzip, auf das Euer Land so großen Wert legt, gehört, wenn es richtig verstanden wird, auch zur Soziallehre der Kirche. Es weist auf die Notwendigkeit einer gerechten Gewaltenteilung hin (vgl. Compendium of the Social Doctrine of the Church, hrsg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Nr. 571–572), die ein Widerhall der Aufforderung Christi an seine Jünger ist: »Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört« (Lk 20,25). Die Neutralität des Staates in weltanschaulichen Fragen, die eine Nichteinmischung der Staatsgewalt in das Leben der Kirche und der verschiedenen Religionen sowie in den geistlich-religiösen Bereich bedeutet, erlaubt, dass alle Glieder der Gesellschaft gemeinsam im Dienst für alle und für die nationale Gemeinschaft arbeiten. Ebenso ist die Kirche – darauf hat das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich hingewiesen – nicht dazu berufen, die irdischen Bereiche zu verwalten, denn sie darf »in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden, noch ist sie auch an irgendein politisches System gebunden « (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 76 § 2; vgl. Nr. 42). Aber gleichzeitig kommt es darauf an, dass alle im Interesse der Allgemeinheit und für das Gemeinwohl arbeiten. Dies bringt auch das Konzil zum Ausdruck: »Die politische Gemeinschaft und die Kirche […] dienen beide, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller um so wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen« (ebd., Nr. 76 § 3).

4. Die Anwendung der Prinzipien der kirchlichen Soziallehre hat unter anderem neue Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Frankreich ermöglicht, bis man schließlich in den letzten Jahren dazu gekommen ist, einen Dialog auf höchster Ebene einzurichten, der einerseits den Weg eröffnet zur Regelung strittiger Fragen bzw. der Schwierigkeiten, die in verschiedenen Bereichen auftreten können, und andererseits zur Verwirklichung einer Reihe von Formen der Zusammenarbeit im sozialen Leben im Hinblick auf das Gemeinwohl. So können sich vertrauensvolle Beziehungen entwickeln, die es erlauben, die institutionellen Fragen bezüglich der Personen, der Aktivitäten und der Vermögensgüter in einem Geist der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respekts zu behandeln. Ich begrüße auch alle Formen harmonischer, vertrauensvoller Zusammenarbeit, die dank der Aufmerksamkeit der gewählten Vertreter, des Klerus, der Gläubigen und der Männer und Frauen guten Willens in den Gemeindeverwaltungen, in den örtlichen Verbänden und innerhalb der Regionen bestehen. Ich weiß um Eure Achtung gegenüber den Verantwortlichen der Nation und Eure Verbindungen zu ihnen, während Ihr immer bereit seid, an dem Reflexionsprozeß in den Bereichen mitzuwirken, die die Zukunft des Menschen und der Gesellschaft betreffen und bei denen es um eine größere Achtung der Personen und ihrer Würde geht. Mit Euch ermutige ich die Laien in ihrem Wunsch, ihren Brüdern und Schwestern durch eine immer aktivere Teilnahme am öffentlichen Leben zu dienen, denn, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt, »erfährt sich die Gemeinschaft der Christen mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden« (ebd., Nr. 1). Wegen ihrer Stellung als Staatsbürger haben die Katholiken Frankreichs wie ihre Mitbürger die Pflicht, entsprechend ihren Zuständigkeiten und unter Achtung ihrer Überzeugungen in den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens mitzuwirken.

5. Das Christentum spielte und spielt immer noch eine wichtige Rolle in der französischen Gesellschaft, was ganz besonders für die Bereiche der Politik, Philosophie, Kunst und Literatur zutrifft. Die Kirche in Frankreich hatte im 20. Jahrhundert in ihren Reihen auch große Bischöfe und große Theologen. Man darf wohl sagen, dass dies gerade für das gesellschaftliche Leben eine besonders fruchtbare Zeit war. Henri de Lubac, Yves Congar, Marie-Dominique Chenu, Jacques und Raïssa Maritain, Emmanuel Mounier, Robert Schuman, Edmond Michelet, Madeleine Delbrêl, Gabriel Rosset, Georges Bernanos, Paul Claudel, François Mauriac, Jean Lacroix, Jean Guitton, Jérôme Lejeune – alles Namen, die französisches Denken und Handeln geprägt haben und die als große Gestalten nicht nur der kirchlichen Gemeinschaft, sondern auch der Gemeinschaft der Nation anerkannt bleiben.

Diese Personen haben so wie zahlreiche andere Katholiken einen entscheidenden Einfluß auf das gesellschaftliche Leben in Eurem Land und einige von ihnen auch auf den Aufbau Europas gehabt; sie alle legten ihrem intellektuellen Aufbruch und ihrem Tun die Prinzipien des Evangeliums zugrunde. Da sie Christus liebten, liebten sie auch die Menschen und bemühten sich, ihnen zu dienen. Den Katholiken Eures Landes kommt es heute zu, den Weg ihrer Vorgänger einzuschlagen. Es darf auch nicht der wichtige Platz der christlichen Werte beim Aufbau Europas und im Leben der Völker des Kontinents vergessen werden. Das Christentum hat zu einem großen Teil das Gesicht Europas gestaltet, und es steht den heutigen Menschen zu, die europäische Gesellschaft auf den Werten aufzubauen, die ihr Entstehen bestimmt haben und die ihren Reichtum ausmachen.

Frankreich kann sich nur darüber freuen, in seiner Mitte Männer und Frauen zu haben, die aus dem Evangelium, aus ihrem geistlichen Weg und ihrem christlichen Leben Elemente und anthropologische Prinzipien schöpfen, die eine hohe Vorstellung vom Menschen fördern; Prinzipien, die ihnen helfen, ihren Auftrag als Staatsbürger in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen, um ihren Brüdern in Menschlichkeit zu dienen, um am Gemeinwohl teilzunehmen, um Eintracht, Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität und das gute Einvernehmen zwischen allen zu verbreiten, um schließlich voll Freude ihren Baustein zum Aufbau des gesellschaftlichen Gebäudes beizusteuern. Deshalb sollt Ihr heute dafür Sorge tragen, dass die Ausbildung der Gläubigen für die Soziallehre der Kirche und für eine ernsthafte philosophische Reflexion immer stärker gefördert wird, was im besonderen für die jungen Menschen gilt, die sich auf die Ausübung wichtiger Aufgaben in maßgeblichen Stellungen in der Gesellschaft vorbereiten; ihnen wird sehr daran gelegen sein, die evangelischen Werte und die sicheren anthropologischen Grundlagen in den verschiedenen Lebensbereichen der Gesellschaft erstrahlen zu lassen. So wird in Eurem Land die Kirche in die Geschichte eintreten. Die Christen sind sich dessen bewußt, dass sie einen Auftrag im Dienst ihrer Brüder zu erfüllen haben, wie wir in einem der ältesten Texte der christlichen Literatur lesen: »Die Stellung, die Gott ihnen zugewiesen hat, ist so ehrwürdig, dass ihnen nicht gestattet ist, sie zu verlassen« (Diognetbrief, VI, 10). Dieser Auftrag schließt auch für die Gläubigen ein persönliches Engagement ein, denn er setzt das Zeugnis durch das Wort und durch Taten voraus, indem sie die sittlichen und geistlichen Werte leben und sie unter Achtung der Freiheit jedes einzelnen ihren Mitbrüdern anbieten.

6. Die Wertekrise und die fehlende Hoffnung, die man in Frankreich und darüber hinaus überall in der ganzen westlichen Welt feststellen kann, sind Teil der Identitätskrise, die die modernen Gesellschaften erfaßt hat. Diese Gesellschaften haben sehr oft nur ein Leben zu bieten, das auf materiellen Wohlstand gegründet ist, der weder auf den Sinn des Daseins hinzuweisen noch die Grundwerte zu vermitteln vermag, um freie und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen – was Quelle für Freude und Glück wäre. Die Kirche stellt sich angesichts einer solchen Situation Fragen und wünscht, dass die religiösen, moralischen und geistigen Werte, die zum Erbe Frankreichs gehören, die seine Identität geformt und seit den ersten christlichen Jahrhunderten Generationen von Menschen geprägt haben, nicht in Vergessenheit geraten.

[Fortsetzung folgt]