Maria von Agreda: Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria: Buch 3+4

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Mystische Stadt Gottes

Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria

Maria von Agreda, verfasst 1655-1660

Quelle: MYSTISCHE STADT GOTTES, Wunder seiner Allmacht und Abgrund der Gnade: HEILIGE GESCHICHTE UND LEBEN der jungfräulichen Gottesmutter MARIA Unserer Königin und Herrin, Sühnerin der Schuld Evas und Mittlerin der Gnade, in diesen letzten Zeiten von derselben Königin geoffenbart ihrer Dienerin, DER SCHWESTER MARIA VON JESUS Äbtissin des Konventes der Unbefleckten Empfängnis in der Stadt Agreda, Provinz Burgos, von der regularen Observanz des hl. seraphischen Vaters Franziskus, zur Erleuchtung der Welt, zur Freude der Katholischen Kirche und zum Troste der Sterblichen. Aus dem Spanischen übersetzt von mehreren Priestern aus der Kongregation des allerheiligsten Erlösers, Immaculata Verlag CH-6015 Reussbühl/Luzern (je erste Auflage, Mit kirchlicher Druckerlaubnis, broschiert). Band 3: 1969 (259 Seiten), Band 4: 1970 (255 Seiten). Digitalisiert und ein wenig bearbeitet von Benutzer:Oswald.

Gesamtwerk: I. Teil: Buch 1+2, II. Teil: Buch 3+4, II. Teil: Buch 5+6, III. Teil: Buch 7+8.
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Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG ZUM ZWEITEN TEIL

1. Ich legte meine kleine Arbeit, nämlich den ersten Teil des heiligsten Lebens Mariä, der Mutter Gottes, Gott zur Prüfung vor, damit durch das göttliche Licht untersucht und verbessert werde, was ich mit seinem Beistand, jedoch nach meinem schwachen Vermögen niedergeschrieben hatte. Dabei wollte ich zugleich zu meinem Trost aufs neue erfahren, ob das Geschriebene dem Allerhöchsten wohlgefalle und ob er mir befehle, dieses Werk, welches meine Kräfte so weit übersteigt, fortzusetzen oder aufzugeben. Auf diese Frage antwortete mir der Herr: «Du hast gut geschrieben, und ich habe Wohlgefallen daran; aber wisse, dass du einer neuen und größeren Vorbereitung bedarfst, um die erhabenen Geheimnisse zu offenbaren, die im übrigen Leben meiner einzigen und geliebten Braut, der Mutter meines eingebornen Sohnes, enthalten sind. Ich will, dass du allem Unvollkommenen und Sichtbaren gänzlich absterbest und nach dem Geist lebest; dass du allen Handlungen und Gewohnheiten eines irdischen Geschöpfes entsagst und solche annehmest, welche den Engeln eigen sind und durch erhöhte Reinheit mehr übereinstimmen mit dem, was du schauen und beschreiben sollst».

2. Bei dieser Antwort des Allerhöchsten ward ich inne, wie Gott eine so neue Art, die Tugend zu üben, und eine so hohe Vollkommenheit des Lebens und der Sitten von mir verlangte, dass ich voll Misstrauen auf mich selbst ganz verwirrt und verzagt war, ein Werk zu unternehmen, welches für ein irdisches Geschöpf so schwierig und mühevoll ist. Ich fühlte in mir einen großen Streit zwischen dem Fleisch und dem Geist (Gal 5,17). Letzterer spornte mich durch eine innere Kraft an, jene Vollkommenheit zu erwerben, welche von mir verlangt wurde, und er machte als Gründe geltend das Wohlgefallen des Herrn und meine eigenen Vorteile. Das Gesetz der Sünde (Röm 7, 23) dagegen, welches ich in meinen Gliedern fühlte, widersetzte sich mir, widerstand dem göttlichen Licht und entmutigte mich durch die Furcht vor meiner Unbeständigkeit. Ich fühlte bei diesem Kampf einen starken Widerstand, der mich zurückhielt, und einen Kleinmut, der mich niederbeugte; und in dieser Verwirrung schenkte ich dem Gedanken immer mehr Glauben, dass ich nicht fähig sei, so erhabene Dinge zu behandeln, namentlich da sie dem Stande und den Beschäftigungen der Frauen so fern liegen.

3. Überwältigt durch diese Furcht und Schwierigkeit, beschloss ich, dieses Werk nicht fortzusetzen und zu diesem Zweck alle möglichen Mittel anzuwenden. Der böse Feind aber kannte meine Furcht und Kleinmütigkeit; und da er in seiner höchst grausamen Bosheit gegen die Schwachen und Furchtsamen ganz besonders wütet, so benützte er die Gelegenheit und fiel mich mit unglaublicher Wut an, in der Meinung, ich habe niemanden, der mich aus seinen Händen befreien könnte. Er wollte jedoch seine Bosheit verdecken und suchte sich darum in einen Engel des Lichtes umzugestalten; er stellte sich, als sei er eifrigst besorgt für meine Seele und die Sicherheit meines Heiles, und flüsterte mir unter diesem falschen Vorwand mit großer Hartnäckigkeit unaufhörlich Gedanken und Versuchungen ein, in welchen er die Gefahr meiner Verdammung übertrieb und mir eine Strafe ähnlich der des ersten Engels androhte, denn ich hätte - stellte er mir vor - aus Stolz etwas unternehmen wollen, was meine Kräfte übersteige und gegen Gott selbst sei.

4. Ferner hielt er mir vor, viele der Tugend beflissene Seelen seien getäuscht worden, weil sie einem geheimen Eigendünkel und den trügerischen Einflüsterungen der Schlange Raum gegeben hätten, und man könne die Geheimnisse der göttlichen Majestät nicht erforschen, wie ich tue, ohne großen Stolz und große Vermessenheit, und in diese Laster sei ich verstrickt. Mit Übertreibung betonte er, dass die gegenwärtigen Zeiten für solche Gegenstände ungünstig seien, und er bekräftigte dies durch verschiedene Beispiele bekannter Personen, bei welchen man Betrug und Täuschung gefunden; sodann durch die Beängstigungen, welchen andere verfielen, da sie ein geistliches Leben beginnen wollten; durch den Verlust des guten Namens, welchen der geringste Fehler mir zuziehen würde, sowie durch die schlimmen Folgen meines Unternehmens für Menschen von geringerer Frömmigkeit. Ich würde, versicherte er endlich, dies alles durch Erfahrung, aber zu meinem Schaden einsehen, wenn ich fortfahren wollte, über diesen Gegenstand zu schreiben. Wahrlich, alle Widersprüche, welche das geistliche Leben erfährt, und die geringe Aufnahme, welche die auf außerordentliche Wege sich erhebende Tugend findet, sind das Werk dieses Todfeindes; denn um die christliche Frömmigkeit und Tugend in vielen zu vernichten, trachtet er einzelne zu täuschen und sein Unkraut unter den Samen des Herrn zu säen (Mt 13, 25), um diesen zu ersticken. Auf diese Weise will er das richtige Urteil irreleiten, damit es um so schwieriger werde, die Finsternis von dem Licht zu unterscheiden. Die Schwierigkeit überrascht mich nicht; denn die Finsternis vom Licht zu unterscheiden, das ist Sache Gottes und derjenigen, die an der wahren Weisheit teilhaben und sich nicht einzig durch die irdische Weisheit leiten lassen.

5. Es ist nicht leicht, während dieses sterblichen Lebens zwischen der wahren und der falschen Klugheit zu unterscheiden; denn gar oft leitet selbst die gute Absicht und der Eifer das menschliche Urteil irre, wenn die Überlegung und das Licht von oben mangelt. Dies habe ich bei der Gelegenheit, die ich eben bespreche, selbst erfahren; denn mehrere mir bekannte fromme Personen, von denen die einen in ihrer Güte mich liebten und mein Bestes wünschten, die anderen gegen solche Dinge Geringschätzung und Abneigung hatten, suchten alle zu gleicher Zeit mich von dieser Beschäftigung und sogar von dem geistlichen Weg, den ich eingeschlagen, abzubringen, gleich als hätte ich denselben selbst gewählt. Der böse Feind verwirrte mich durch diese Personen nicht wenig; denn die Furcht vor Schande oder Verachtung, welche nicht bloß diejenigen, die mir Liebe bewiesen, sondern auch den Orden, meine Verwandten und insbesondere mein Kloster treffen konnte, verursachte ihnen Besorgnis, mir aber großes Leid. Die Sicherheit, welche man mir vorstellte, falls ich dem gewöhnlichen Weg der anderen Klosterfrauen folge, zog mich mächtig an, und ich gestehe auch, dass dieser Weg meinem Urteile und meinen natürlichen Neigungen und Wünschen mehr zusagte und noch viel mehr meinem Kleinmut und meinen großen Ängsten.

6. Während mein Herz zwischen diesen stürmischen Wogen hin- und herschwankte, suchte ich zum Hafen des Gehorsams zu gelangen, der mir Sicherheit bot in dem bitteren Meer meiner Verwirrung. Aber zu meinem größeren Leid sprach man gerade bei dieser Gelegenheit im Orden davon, meinen geistlichen Vater und Obern zu höheren Ämtern zu verwenden, ihn, der meine Seele während vieler Jahre geleitet, mein Inneres und meine Verfolgungen gekannt und mir auch befohlen hatte, das bereits Berichtete zu schreiben, und der mir durch seine Leitung glücklichen Ausgang, Ruhe und Trost versprach. Er musste, obwohl jener Plan nicht zur Ausführung kam, doch bei dieser Gelegenheit lange abwesend sein, und der höllische Drache benützte dies alles, um den rasenden Strom seiner Versuchungen gegen mich loszulassen (Offb 12, 15). In diesem, wie in mehreren anderen Fällen trachtete er mit größter Bosheit, mich vom Gehorsam und von den Weisungen meines Obern und Führers abzubringen; doch seine Mühe war vergeblich.

7. Zu all diesen Widersprüchen und Versuchungen und zu vielen anderen, die ich nicht beschreiben kann, fügte der Satan noch den Verlust meiner leiblichen Gesundheit hinzu. Er verursachte mir viele Krankheiten und Unpässlichkeiten und brachte mich ganz in Unordnung. Er erregte in mir eine unüberwindliche Traurigkeit, verwirrte mir den Kopf und wollte, so scheint es mir, meinen Verstand verfinstern, das Denken hemmen, den Willen schwächen und mich nach Leib und Seele gänzlich verkehren. Dies geschah auch, weil ich in meiner Verwirrung einige Fehler beging, die für mich ziemlich bedeutend waren. Freilich war es mehr aus menschlicher Gebrechlichkeit als aus Bosheit geschehen; doch die höllische Schlange benützte diese Fehler mehr als irgendein anderes Mittel, um mich zu verderben. Hatte sie mich vorher in meinen guten Werken verwirrt, um mich zum Fall zu bringen, so ließ sie nachher ihre Wut dadurch aus, dass sie mir wieder die Freiheit des Geistes ließ, damit ich die begangenen Fehler übertrieben hoch anschlüge. Um mich hierzu zu bringen, flüsterte mir der Satan allerhand böse, spitzfindige Gedanken ein, durch die er mich auf die Meinung bringen wollte, dass alles, was bei meiner Lebensweise mit mir vorgegangen war, auf Lug und Trug beruhe.

8. Weil diese Versuchung soviel Schein der Wahrheit für sich hatte, teils weil ich wirklich Fehler begangen hatte, teils weil ich beständig in Ängsten und Unruhen lebte, so widerstand ich ihr weniger als anderen. Und nur einer ganz besonderen Erbarmung des Herrn habe ich es zu verdanken, dass ich die Hoffnung und den Glauben an Hilfe nicht gänzlich verlor. Ich war aber dergestalt von der Verwirrung überwältigt und in Finsternis versenkt, dass ich sagen kann: « Es haben mich Todesschmerzen umgeben und des Frevels Ströme mich erschreckt (Ps 18, 5)». Ich glaubte endlich, mich in der äußersten Gefahr zu befinden und entschloss mich, die Papiere, in welchen ich den ersten Teil dieser göttlichen Geschichte beschrieben hatte, zu verbrennen und den zweiten nicht fortzusetzen. Nachdem der Satan mir diesen Entschluss eingeflößt, machte er noch den Vorschlag, alles aufzugeben, nicht mehr von den Wegen des geistlichen Lebens zu handeln, auf mein Inneres weder acht zu haben, noch es anderen zu eröffnen; denn auf diese Weise könnte ich Buße tun für meine Sünden und den Herrn versöhnen, der gegen mich aufgebracht sei. Ja, um seiner versteckten Bosheit den Sieg zu sichern, schlug er vor, ich solle das Gelübde machen, nicht mehr zu schreiben, weil dabei Gefahr sei, getäuscht zu werden und andere zu täuschen; ich solle vielmehr mein Leben bessern, meine Unvollkommenheiten ablegen und Buße tun.

9. Unter dieser Maske scheinbarer Tugend wollte der Drache seinen verdammten Ratschlägen Glauben verschaffen und sich mit dem Schaffell bedecken, da er doch ein gieriger, blutdürstiger Wolf ist. Er blieb hierin einige Zeit hartnäckig, und ich befand mich, besonders vierzehn Tage lang, in einer finsteren Nacht, ohne Ruhe und ohne jedweden göttlichen oder menschlichen Trost; ohne letzteren, weil mir der Rat und die Stütze des Gehorsams mangelte, ohne jenen, weil der Herr die Einflüsse seiner Gnaden und die Erleuchtung durch das sonst beständige innere Licht unterbrochen hatte. Ganz besonders aber beängstigte mich der Verlust meiner Gesundheit und die Überzeugung, dass der Tod herannahe und mit ihm die Gefahr, ewig verloren zu gehen. Alles dieses hatte der böse Feind angestiftet und mir eingeflüstert.

10. Da er aber so bittere Eindrücke zurücklässt, die stets in Verzweiflung auslaufen, so machte gerade diese Verwirrung, durch welche er alle meine Fähigkeiten und erworbenen Gewohnheiten aus dem Geleise gebracht hatte, dass ich vorsichtiger wurde und nichts von dem ausführte, wozu er mich antrieb oder ich mich entschlossen hatte. Zwar benützte er immer die Furcht, die mich quälte bei dem Zweifel, ob ich nicht Gott beleidige und seine Freundschaft verliere, wenn ich bei meiner Unwissenheit mich mit göttlichen Dingen beschäftige; so wollte er mich von diesen abschrecken. Doch gerade diese Furcht erregte in mir auch Zweifel über die Einflüsterungen des schlimmen Drachen, und dieser Zweifel hielt mich zurück, meine Einwilligung zu geben. Auch die Hochachtung für den Gehorsam hat mir viel geholfen; der Gehorsam hatte mir ja befohlen, zu schreiben und gerade das Gegenteil zu tun von dem, was ich bei solchen Einflüsterungen empfand und dachte; er hatte mir ja befohlen, denselben zu widerstehen und sie zu verfluchen. Ganz besonders aber war es der verborgene Schutz des Allerhöchsten, der mich verteidigte und nicht zuließ, dass eine Seele, welche inmitten solcher Trübsale, wenn auch unter Seufzen und Schluchzen, ihn verherrlichte, in die Gewalt der wilden Tiere gerate (Ps 74,19). Ich kann die Worte nicht finden, um die Versuchungen, Kämpfe, Trostlosigkeiten, Kümmernisse und Leiden zu schildern, welche ich während dieses Kampfes zu ertragen hatte; denn meines Erachtens war - was die innere Pein betrifft - zwischen meinem Zustand und dem der Verdammten kein anderer Unterschied, als dass es in der Hölle keine Erlösung gibt, während in jenem Zustand eine solche noch möglich ist.

11. Um ein wenig aufzuatmen, rief ich an einem dieser Tage aus der Tiefe meines Herzens: «Wehe mir, dass ich in einen solchen Zustand gekommen bin, und wehe der Seele, die in einen solchen kommen sollte ! Wohin soll ich gehen? Jeder Hafen des Heiles ist mir verschlossen !» Alsbald antwortete mir eine süße und starke Stimme in meinem Inneren: «Wohin willst du gehen, wenn nicht zu Gott?» Ich sah aus dieser Antwort, dass der Herr mir gnädig helfen wolle, und durch dieses Licht ermutigt, begann ich mich aufzuraffen von der Verwirrung und Niedergeschlagenheit, in welche ich versunken war; ich fühlte eine Kraft, die mich mit Eifer beseelte in meinem Verlangen und in den Akten des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Ich demütigte mich vor dem Allerhöchsten, und voll festen Vertrauens auf seine unendliche Güte beweinte ich meine Sünden mit bitterer Reue; ich beichtete sie mehrmals und suchte mit Seufzern aus dem Innersten meiner Seele das Licht und die Wahrheit der vergangenen Tage. Die göttliche Weisheit kommt aber dem Verlangen desjenigen, der sie ruft, zuvor; so kam sie auch mir alsbald mit freudigem Antlitz entgegen und erhellte die Nacht des Sturmes, der meine Seele mit Verwirrung und Schrecken erfüllt hatte.

12. Dann kam der klare Tag, den ich ersehnte; ich fand meine frühere Ruhe wieder, ich genoss die Süßigkeit der Liebe und der Anschauung meines Herrn und Gottes; dabei erkannte ich auch, wie sehr ich Grund habe, die Gunsterweise seines allmächtigen Armes, der in mir wirkte, als echt anzunehmen und hoch zu achten. Ich bezeigte ihm dafür meinen Dank nach Möglichkeit. Ich erkannte, was ich bin und was Gott ist; was das Geschöpf durch sich allein kann, nämlich nichts, denn ein Nichts ist die Sünde; aber auch, was das Geschöpf vermag, wenn es erhoben und unterstützt wird von der Rechten des Allmächtigen; und dies ist ohne Zweifel viel mehr, als unsere irdische Fassungskraft sich einbildet. Ich verdemütigte mich bei der Erkenntnis dieser Wahrheiten vor dem unzugänglichen Licht, welches groß, stark, ohne Trug und ohne Falschheit ist, und mein Herz ergoss sich in süße Anmutungen der Liebe, des Lobes und der Dankbarkeit; hatte ja dieses göttliche Licht mich so kräftig beschützt, damit meine Leuchte nicht erlosch (Spr 31,18) in der verwirrten Nacht meiner Versuchungen; in dieser Dankbarkeit beugte ich mich in den Staub und erniedrigte mich bis zur Erde.

13. Damit diese Wohltat in mir befestigt werde, erhielt ich eine innere Ermahnung, ohne jedoch klar zu erkennen, wer mir dieselbe gab; aber sie wies mich mit Strenge zurecht wegen meiner Treulosigkeit und meines schlechten Verhaltens. Sie ermahnte und erleuchtete mich zu gleicher Zeit mit liebenswürdigem Ernst, so dass ich zurechtgewiesen und zugleich belehrt wurde. Sie verlieh mir ein neues Verständnis über das Gute und das Böse, die Tugend und das Laster; über das, was sicher, nützlich und heilsam ist, und ebenso über das Gegenteil. Sie entdeckte mir den Weg der Ewigkeit, indem sie mich über Anfang, Mitte und Ende aller Dinge unterrichtete sowie über die Vorstellung, die man sich machen muss einerseits von dem Ewigen Leben, anderseits von dem wenig beachteten und doch äußerst beklagenswerten Unglück des endlosen Verderbens.

14. Ich gestehe, dass ich bei der tiefen Erkenntnis dieser beiden Gegenstände verstummte und beinahe ganz verwirrt wurde zwischen der entmutigenden Furcht vor meiner Gebrechlichkeit und dem Verlangen nach dem Gute, dessen ich nicht würdig war, da mir die Verdienste mangelten. Die Güte und Barmherzigkeit des Herrn ermutigte mich, aber die Furcht, ihn zu verlieren, beugte mich nieder. Ich betrachtete das zweifache, so sehr verschiedene Ende des Geschöpfes, nämlich die ewige Glorie und die ewige Pein; und um jene zu erwerben und dieser zu entgehen, schienen mir alle Pein und Qualen der Welt, des Fegfeuers und sogar der Hölle leicht. Freilich sah ich, dass das Geschöpf der göttlichen Gnade versichert ist, wenn es dieselbe benützen will; da ich aber in jenem Licht zugleich auch erkannte, dass Tod und Leben in unsern Händen sind (Sir 15,18), dass wir die Gnade durch unsere Schwachheit oder durch unsere Bosheit verlieren können und dass der Baum da bleiben wird, wohin er fällt (Koh 11, 3), in einer und derselben, nie endenden Ewigkeit, so ward mein Herz und meine Seele von so bitterem Schmerz durchdrungen, dass ich beinahe erlegen wäre.

15. Diese Betrübnis wurde aufs höchste gesteigert durch eine sehr strenge Antwort oder Frage des Herrn. Denn ganz vernichtet bei der Erkenntnis meiner Schwäche und meiner gefährlichen Lage sowie der Untreuen, wodurch ich die göttliche Gerechtigkeit erzürnt hatte, wagte ich nicht, meine Augen zu Gott zu erheben; ich richtete nur stillschweigend meine Seufzer an seine Barmherzigkeit. Darauf antwortete der Herr: «O Seele, was willst du? Was suchst du? Welchen dieser Wege willst du wählen? Was ist dein Entschluss?» Diese Frage war ein Pfeil, der mir das Herz durchbohrte. Freilich war ich sicher, dass der Herr mein Verlangen besser kenne als ich selbst; nichtsdestoweniger war die Zögerung zwischen der Frage und der Antwort für mich unglaublich peinlich; denn ich hätte gewünscht, dass der Herr womöglich meine Antwort als bekannt vorausgesetzt und sich nicht den Anschein gegeben hätte, als kenne er sie nicht. Doch von einer mächtigen Gewalt angetrieben, antwortete ich mit lauter Stimme und aus tiefstem Herzen: «Allmächtiger Herr und Gott, den Pfad der Tugend, den Weg des Ewigen Lebens will und wähle ich, damit du mich auf demselben leitest; und wenn ich dies nicht verdiene bei deiner Gerechtigkeit, so wende ich mich an deine Bamherzigkeit und bringe zu meinen Gunsten die unendlichen Verdienste Jesu Christi, deines heiligsten Sohnes und meines Erlösers, dar».

16. Ich sah nun, dass dieser höchste Richter sich des Wortes erinnerte, das er seiner Kirche gegeben, alles zu gewähren, um was man ihn im Namen seines eingeborenen Sohnes bitten werde, und dass er meine Bitte in und durch Jesus erhörte, nach meinem armen Verlangen, jedoch unter gewissen Bedingungen, die eine geistige Stimme mir erklärte, indem sie innerlich also sprach: «Seele, erschaffen durch die Hand des allmächtigen Gottes, willst du als Auserwählte den Weg des wahren Lichtes wandeln und die liebste Braut des Herrn werden, der dich gerufen hat, so musst du die Gesetze und Vorschriften der Liebe, die er dir gibt, befolgen. Das erste dieser Gebote ist, dass du in Wahrheit dir selber vollkommen entsagst sowie all deinen irdischen Neigungen und jeder, auch der geringsten Liebe zu den vergänglichen Dingen, also kein sichtbares Geschöpf liebst, noch dessen Liebe annehmest, so nützlich, schön und angenehm es dir auch scheinen möge; du musst allen Eindrücken, Schmeicheleien und Zuneigungen vor ihrer Seite die Türe weisen, und die Neigungen deines Willens dürfen sich auf kein Geschöpf richten, außer soweit es dir dein Herr und Bräutigam befiehlt zur Übung der wohlgeordneten Liebe oder soweit ein Geschöpf dir helfen kann, ihn allein zu lieben».

17. «Bist du durch diese vollkommene Verleugnung und Entsagung von allem Irdischen frei und losgeschält, dann will der Herr, dass du mit Taubenflügeln in leichtem Flug dich aufschwingst zu einem erhabenen Ort, an welchem seine göttliche Güte deine Seele versetzen will, damit du da lebest und verbleibst. Denn dieser große Gott ist ein sehr eifersüchtiger Bräutigam; seine Eifersucht und Liebe ist stark wie der Tod; darum will er dich schützen und an einen sicheren Ort versetzen, den du nicht verlassen darfst, um herabzusteigen zu einem andern, der dir keine Sicherheit bietet und für seine Liebesbeweise nicht geeignet ist. Er selbst will dir auch die Personen bezeichnen, mit welchen du ohne Furcht umgehen darfst; diese Vorschrift ist durchaus gerecht, und die Bräute eines so großen Königs müssen dieselbe beobachten, da selbst die Bräute in der Welt dies tun, um treu zu sein. Der Adel deines Bräutigams erfordert, dass dein Verhalten der Würde und dem Titel entspreche, welche du von ihm empfängst, und dass du auf nichts achtest, das deines Standes unwürdig wäre, und dich unfähig machen würde des Schmuckes, den er dir geben wird, damit du in sein Brautgemach eintretest».

18. «Zweitens verlangt der Herr von dir, dass du rasch deine elenden Kleider ablegest, die zerrissen sind durch deine Sünden und Unvollkommenheiten, beschmutzt durch die Folgen der Sünde und Abscheu erregend durch die Neigungen der verdorbenen Natur. Seine göttliche Majestät will deine Flecken abwaschen; sie will dich reinigen und erneuern durch ihre eigene Schönheit, aber unter der Bedingung, dass du niemals die ärmlichen, elenden Kleider, welche du abgelegt hast, aus dem Auge verlierest, damit durch das Andenken und die Erkenntlichkeit für diese Wohltat die Narde der Demut einen lieblichen Wohlgeruch zu diesem großen König emporsende und du niemals den Dank vergessest, welchen du dem Urheber deines Heiles schuldest, der mit dem kostbaren Balsam seines Blutes dich gereinigt, deine Wunden geheilt und dir sein Licht so reichlich verliehen hat».

19. «Außerdem», so fügte die Stimme bei, «will der Herr, dass du geziert werdest mit dem Brautschmuck, welchen er gnädigst für dich bereitet hat, damit ihm deine Schönheit gefalle, nachdem du alles Irdische vergessen. Ein Gewand soll dich bedecken, weißer als der Schnee, glänzender als der Diamant, leuchtender als die Sonne; doch so zart, dass du es leicht befleckest, wenn du dich auch nur im geringsten vernachlässigst - und dann wärest du deinem Bräutigam zum Abscheu. Bewahrst du aber dieses Gewand in der Reinheit, welche er verlangt, dann werden deine Schritte sehr schön sein, wie die der Fürstentochter (Hld 7, 1), und Seine göttliche Majestät wird deine Anmutungen und deine Werke mit Wohlgefallen betrachten. Als Gürtel dieses Gewandes wird er dir die Erkenntnis seiner göttlichen Macht und die heilige Furcht verleihen, damit du deine Neigungen umgürtest und dich in allem nach seinem Wohlgefallen richtest. Das Geschmeide und das Band, welches den Hals, das heißt deine demütige Unterwerfung, schmücken wird, sollen die reichen Perlen deines Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sein. Den empor gerichteten Haaren, das heißt deinen himmlischen Gedanken und Erkenntnissen, wird als Spange dienen die eingegossene Weisheit und Wissenschaft, welche der Herr dir verleiht; die Schönheit und der Reichtum der Tugenden werden die Stickereien sein, welche dein Gewand zieren. Die Sorgfalt, immer das Vollkommenste zu tun, wird dir als Fußbekleidung dienen und als deren Riemen die Zurückhaltung und die Fesseln der Liebe, welche dich vom Bösen fern halten. Die sieben Gaben des Heiligen Geistes werden die Fingerringe sein, welche deinen Händen Reiz verleihen. Der Glanz deines Angesichtes ist die Teilnahme an der Gottheit, welche dich durch die heilige Liebe erleuchten wird; und du wirst dazu fügen die Schamröte über die Sünden, durch welche du Gott beleidigt hast; in Zukunft wirst du dich schämen, dies wieder zu tun, und darum immer das grobe, beschmutzte Kleid, welches du abgelegt hast, mit dem so schönen Gewand vergleichen, das du jetzt empfängst».

20. «Weil du aber aus dir selbst zu elend und arm wärest für eine so edle Vermählung, darum will der Allerhöchste zur größeren Befestigung dieses Vertrages dir zur Mitgift die unendlichen Verdienste deines Bräutigams Jesu Christi anweisen, wie wenn sie dir allein gehörten. Er gibt dir auch Teil an all seinen Gütern und Schätzen, die alles enthalten, was Himmel und Erde in sich schließen. Alles gehört diesem höchster Herrn, und als seine Braut wirst du Herrin über alles sein, um es in ihm zu gebrauchen und um ihn immer mehr zu lieben. Wisse jedoch, o Seele, damit du eine so kostbare Gnade erlangst, will dein Herr und Bräutigam, dass du dich ganz in dich selbst zurückziehest, ohne je deine Sammlung zu verlieren; denn es ist Gefahr, diese Schönheit durch irgendeine, wenn auch noch so geringe Unvollkommenheit zu trüben. Solltest du aber, schwach wie du bist, eine solche begehen, so stehe alsbald auf mit Mut und beweine aus Dankbarkeit deinen kleinen Fehler, wie wenn es der schwerste wäre».

21. «Damit auch dein Aufenthaltsort deinem Stand entspreche, will dein Bräutigam dir eine weite Wohnung anweisen; es gefällt ihm, dass du immer in den unendlichen Räumen seiner Gottheit wohnest, in den unermesslichen Gefilden seiner Eigenschaften und Vollkommenheiten lustwandelst, wo der Gesichtskreis sich erweitert, ohne eine Schranke zu finden, wo der Wille sich ergötzt ohne Kummer und der Geschmack sich ersättigt ohne Bitterkeit. Dies ist das allzeit liebliche Paradies, wo die teuersten Bräute Jesu Christi sich erholen, wo sie die Blumen und die wohlriechende Myrrhe pflücken und wo man das unendliche All findet, weil man dem unvollkommenen Nichts entsagt hat. Dort findest du eine sichere Wohnung, und damit auch deine Gesellschaft und Unterhaltung ihr entspreche, will der Herr, dass du sie mit den Engeln pflegest, diese als Freunde und Genossen annehmest und durch den häufigen Umgang mit ihnen ihre Tugenden in dir ausprägst und nachahmst».

22. «Betrachte, o Seele», fuhr die Stimme fort, «wie groß diese Wohltat ist, da die Mutter deines Bräutigams und die Königin des Himmels dich aufs neue als ihre Tochter und Schülerin annimmt und deine Mutter und Lehrmeisterin sein will. Durch ihre Vermittlung bekommst du so viele außerordentliche Gnaden; doch diese alle werden dir dazu verliehen, damit du ihr heiligstes Leben schreibst; aus diesem Grunde hast du die Verzeihung erhalten, welche du nicht verdientest, und für diese Beschäftigung ist dir verliehen worden, was du ohne sie nicht erhalten hättest. Was wäre aus dir geworden, o Seele, wenn die Mutter der Barmherzigkeit dich nicht beschützt hätte? Ohne ihre Fürsprache wärest du bereits verloren, und deine Werke wären arm und unnütz gewesen, wenn du nicht durch die göttliche Güte erwählt worden wärest, um diese Geschichte zu schreiben. Aber im Hinblick auf dieses Ziel wählt dich der ewige Vater zu seiner Tochter und zur Braut seines einzigen Sohnes; der Sohn nimmt dich an, damit du an seinen zärtlichsten Liebesbeweisen teilhabest; der Heilige Geist endlich gibt dir seine Erleuchtungen. Dieser Vermählungsvertrag ist auf das weiße Papier der Reinheit der heiligsten Jungfrau geschrieben von dem mächtigen Finger des Allerhöchsten; die Tinte ist das Blut des Lammes; der ewige Vater ist der Vollstrecker und der Heilige Geist das Band, welches dich mit Jesus Christus vereinigt. Die Verdienste Jesu Christi und seiner Mutter dienen als Bürgschaft und Pfand, da du selbst ein armer Erdenwurm bist, nichts anbieten kannst und nur dein Wille verlangt wird».

23. Soweit die Stimme, welche mich belehrte. Ich dachte wohl, dass es die eines Engels sei, doch war ich damals hierin nicht so sicher, weil ich denselben nicht sah wie sonst; denn diese Gnaden geben sich kund oder verbergen sich, je nachdem die Seele für deren Empfang disponiert ist, wie dies bei den Jüngern von Emmaus geschah. Außer dem eben beschriebenen Vorfall hatte ich noch viele andere Erlebnisse, welche mir dazu dienen sollten, den Widerstand der Schlange gegen das Schreiben dieser Geschichte zu überwinden, doch es wäre zu weitläufig, dieselben zu berichten. Ich setzte mehrere Tage meine Gebete fort, stellte dem Herrn meine Unfähigkeit und Angst vor und flehte, er wolle mich leiten und lehren, damit ich nicht irre. Seine göttliche Majestät antwortete mir immer, dass ich mein Leben mit großer Reinheit und Vollkommenheit regeln und das Begonnene fortsetzen solle. Insbesondere gab mir die Königin des Himmels oftmals mit großer Sanftmut und Liebe ihren Willen kund; sie befahl mir, ihr als Tochter zu gehorchen und ihr Leben zu schreiben, wie ich begonnen hatte.

24. Ich wollte jedoch zu all dem noch die Sicherheit des Gehorsams haben; darum fragte ich meinen Obern und Beichtvater, was er mir in dieser Sache befehle, aber ohne ihm zu entdecken, was der Herr und seine heiligste Mutter mir zu erkennen gegeben. Er befahl mir, in Kraft des Gehorsams fortzufahren und diesen zweiten Teil zu schreiben. So durch den Herrn und den Gehorsam zugleich gezwungen, kehrte ich zur Gegenwart des Allerhöchsten zurück. Eines Tages wurde ich ihm vorgestellt während meines Gebetes. Da ich mein Elend und die Gefahr, zu irren, wohl kannte, machte ich mich los von jedem Eigenwillen, und, niedergeworfen vor Gottes Thron, sagte ich zu Seiner Majestät «Mein Herr, mein Herr, was willst du mit mir tun?» Auf diese Frage erhielt ich folgende Erleuchtung.

25. Die allerheiligste Dreifaltigkeit, so schien es mir, zeigte mir im göttlichen Lichte, dass ich arm und voller Fehler sei; sie wies mich darüber zurecht, mahnte mich strenge, mich zu bessern, und gab mir sehr erhabene und heilsame Lehren über das vollkommene Leben. Zu diesem Zweck wurde ich aufs neue gereinigt und erleuchtet. Ich sah auch, dass die Mutter der Gnade, die heiligste Jungfrau Maria, für mich Fürsprache einlegte vor dem Thron der Gottheit. Dieser Schutz belebte mein Vertrauen, und auf die Milde einer solchen Mutter zählend, sagte ich ihr nur diese Worte: «Meine Herrin, meine Zuflucht, schaue als wahre Mutter auf die Armut deiner Dienerin.» Es schien mir, dass sie meine Bitte erhörte und zum Allerhöchsten gewendet sagte: «Mein Herr, ich will dieses unnütze und arme Geschöpf aufs neue als meine Tochter annehmen.» Eine Handlungsweise, würdig der freigebigsten, mächtigen Königin! Doch der Allerhöchste antwortete ihr: «Meine Braut, was kann diese Seele ihrerseits aufweisen für eine so große Gunst? Sie verdient ja dieselbe nicht, sie ist ein armer, unnützer Wurm, undankbar für unsere Wohltaten.»

26. O unvergleichliche Kraft des göttlichen Wortes! Wie könnte ich die Wirkungen aussprechen, welche diese Antwort des Allmächtigen in mir hervorbrachte? Sie verdemütigte mich bis in mein Nichts; denn ich erkannte das Elend des Geschöpfes und meine Undankbarkeit gegen Gott; mein Herz schwankte hin und her zwischen dem Schmerz über meine Sünden und dem Verlangen nach dem großen, jedoch unverdienten Glück, Tochter dieser erhabenen Königin zu sein. Schüchtern erhob ich die Augen zum Thron des Allerhöchsten; Verwirrung und Hoffnung spiegelten sich abwechselnd in meinem Gesichte; so wandte ich mich an meine Fürsprecherin mit dem Wunsch, dass sie mich wenigstens als ihre Dienerin annehme, da ich den Namen einer Tochter nicht verdiene. Ich sprach dies aus der Tiefe meiner Seele, ohne Worte zu bilden. Da vernahm ich, wie die große Königin zum Allerhöchsten sprach:

27. «O mein König und mein Gott, freilich hat dieses arme Geschöpf aus sich selbst nichts, was es deiner Gerechtigkeit anbieten könnte; doch ich opfere für sie die Verdienste meines heiligsten Sohnes auf und sein Blut, das er für sie vergossen; ich opfere dir zugleich auf meine Würde als Mutter deines Sohnes, welche ich von deiner unaussprechlichen Güte erhalten habe; ebenso alles, was ich in seinem Dienste getan habe; dass ich ihn an meiner mütterlichen Brust genährt habe; endlich opfere ich dir deine eigene Gottheit und deine Güte auf und flehe dich an, du wollest genehmigen, dass ich dieses Geschöpf jetzt als meine Tochter und Schülerin annehme; ich bürge für sie; durch meine Lehren wird sie ihre Fehler verbessern und ihre Handlungen nach deinem Wohlgefallen vervollkommnen».

28. Der Allerhöchste gewährte diese Bitte - ewig sei er gepriesen, dass er diese große Königin erhört hat, welche für das geringste der Geschöpfe Fürbitte einlegte !-, und alsbald fühlte ich mit Jubel, wie in meiner Seele so Großes vor sich ging, dass es mir unmöglich ist, dies zu beschreiben. Da ich meinen Jubel nicht zurückhalten konnte, wendete ich mich aus ganzer Seele an alle Geschöpfe des Himmels und der Erde und lud sie ein, mit mir und für mich den Urheber der Gnade zu preisen. Mit lauter Stimme, so scheint mir, sprach ich zu ihnen: «O Bewohner und Fürsten des Himmels, alle ihr lebenden Geschöpfe, gebildet von der Hand des Allerhöchsten, schaut dieses Wunder seiner freigebigen Barmherzigkeit; preist und lobt ihn ewig dafür! Denn die Niedrigste des Weltalls hat er aus dem Staub erhöht, die Ärmste hat er bereichert, die Unwürdigste geehrt, als höchster Gott und allmächtiger König ! Und wenn ihr, Kinder Adams, seht, dass die verlassenste Waise Schutz, die größte Sünderin Verzeihung findet, hinweg dann mit eurer Unwissenheit; erhebt euch von eurer Niedergeschlagenheit; belebet eure Hoffnung. Hat der Allmächtige mir Huld erwiesen, mich gerufen und mir vergeben, dann könnt ihr alle euer Heil erhoffen. Und wollt ihr sicher sein, dasselbe zu erreichen, sucht, ja sucht den Schutz Mariä, der heiligsten Jungfrau; rufet ihre Fürsprache an, und ihr werdet erfahren, dass sie eine Mutter von unaussprechlicher Barmherzigkeit und Milde ist».

29. Ich wandte mich auch an diese erhabenste Königin und sagte zu ihr: «Wohlan denn, meine Herrin, nun werde ich nicht mehr Waise heißen, denn ich habe eine Mutter, und eine Mutter, welche Königin ist über alles Erschaffene ! Nun werde ich nicht mehr unwissend sein, außer durch meine eigene Schuld, denn die Lehrmeisterin der göttlichen Weisheit unterrichtet mich; ich werde nicht mehr arm sein, denn ich habe ja eine Herrin, die über alle Schätze des Himmels und der Erde verfügt. Jetzt habe ich eine Mutter, die mich beschützt; eine Lehrerin, die mich unterrichtet und zurechtweist; eine Königin, die mir gebietet und mich leitet. Gebenedeit bist du unter allen Frauen, erhaben über die Geschöpfe; bewunderungswürdig für den Himmel und für die Erde; alle mögen ewig deine Größe loben und preisen! Nicht leicht, ja unmöglich ist's für mich, dir den gebührenden Dank abzustatten; ich bin ja das geringste der Geschöpfe, der elendeste Erdenwurm. Empfange denn dieser Dank von der Rechten Gottes in der beseligenden Anschauung des Himmels, wo du während der ganzen Ewigkeit dich in Gott erfreust. Ich werde deine dankschuldige, erkenntliche Dienerin sein; mein Leben lang werde ich den Allmächtigen preisen, dessen freigebige Güte mich so begünstigt und mir dich, meine Königin, zur Mutter und Lehrmeisterin gegeben hat. Meine Anmutungen mögen stillschweigend dich loben; denn meine Zunge findet keine Worte und Ausdrücke, welche genügend wären, dies zu tun; alle sind zu schwach und zu beschränkt. »

30. Was die Seele bei solchen Geheimnissen und Wohltaten fühlt, ist nicht zu erklären. Die eben beschriebene Gnade brachte meiner Seele große Güter; denn zu gleicher Zeit wurde mir ein Leben von so erhabener Vollkommenheit vorgezeichnet, dass mir die Worte fehlen, dieselbe so, wie ich sie erkannte, zu beschreiben. Alles dieses aber wurde mir, wie der Allerhöchste mir versicherte, nur um der reinsten Jungfrau Maria willen verliehen und zu dem Zweck, dass ich ihr Leben beschreibe. Ich sah auch, dass zur Bestätigung dieser Wohltat der ewige Vater mich erwählte, die Geheimnisse seiner Tochter zu offenbaren; der Heilige Geist erkor mich, dass ich, von ihm erleuchtet und geleitet, die verborgenen Gaben seiner Braut erkläre; und der heiligste Sohn Gottes bestimmte mich, die Geheimnisse seiner reinsten Mutter Maria zu enthüllen. Ich sah, dass die allerheiligste Dreifaltigkeit, um mich zu diesem Werk zu befähigen, meinen Geist mit einem ganz besonderen göttlichen Licht erleuchtete und darin untertauchte; ich erkannte, wie die Kraft Gottes meine Seelenkräfte gleichsam mit einem Pinsel berührte und sie mit neuen Fähigkeiten ausrüstete, um diese Arbeit in vollkommener Weise auszuführen.

31. Der Allerhöchste befahl mir auch, soweit es in meinen schwachen Kräften stehe, alles, was ich über die heldenmütigen Tugenden und ganz heiligen Werke der Himmelskönigin erfahren und niederschreiben würde, mit allem Eifer nachzuahmen und mein Leben diesem Muster anzupassen. Da ich mich aber so ganz untauglich erkannte, wie ich es wirklich bin, um dieser Pflicht nachzukommen, bot die mildeste Königin mir aufs neue ihre Hilfe und Belehrung an für alle Befehle und Auf- , träge des Allerhöchsten. Dann bat ich die allerheiligste Dreifaltigkeit um ihren Segen zum Beginn des zweiten Teiles dieser göttlichen Geschichte, und ich erkannte, dass alle drei Personen mir denselben gaben. Nachdem ich aus dieser Vision zurückgekommen war, trachtete ich meine Seele durch die Sakramente und durch die Reue über meine Sünden zu reinigen; dann legte ich im Namen des Herrn und im Namen des Gehorsams die Hand ans Werk, zur Ehre des Allerhöchsten und seiner heiligsten Mutter, der allzeit unbefleckten Jungfrau Maria.

32. Dieser zweite Teil enthält das Leben der Königin der Engel von dem Geheimnis der Menschwerdung an bis zur Himmelfahrt Unseres Herrn Jesu Christi einschließlich; dies ist der größte und wichtigste Teil dieser Geschichte, denn er umfasst das ganze Leben und die Geheimnisse unseres Herrn, sein Leiden und seinen heiligsten Tod. Ich will hier nur bemerken, dass die Gnaden und Wohltaten, durch welche die reinste Jungfrau auf das Geheimnis der Menschwerdung vorbereitet werden sollte, vom Augenblick ihrer unbefleckten Empfängnis an zu strömen begannen; denn in dem Geist und dem Ratschluss Gottes war sie schon damals Mutter des ewigen Wortes. Aber diese Gaben und Gnaden nahmen zu, je näher die Vollziehung der Menschwerdung kam. Freilich scheinen sie alle von Anfang an derselben Art oder Gattung zu sein; doch nahmen sie zu und wurden immer größer, und ich finde keine neuen, besonderen Worte, um diese Zunahme und die Neuheit der Gnaden auszudrücken. Darum müssen wir uns in dieser ganzen Geschichte immer wieder an die unendliche Macht des Herrn erinnern, welcher, mag er auch noch so viel geben, immer noch unendlich viel behält, um aufs neue zu geben. Erinnern müssen wir uns, dass die Seele, und ganz besonders die Seele der Königin des Himmels, eine in gewissem Sinne unendliche Fassungskraft besitzt, so dass sie immer mehr und mehr empfangen kann. Dies war der Fall bei der heiligsten Jungfrau, sie empfing immer mehr, bis sie zu jenem Gipfel der Heiligkeit und der Teilnahme an der Gottheit gelangt war, den kein anderes bloßes Geschöpf je erreicht hat und den kein anderes in Ewigkeit erreichen wird. Der Herr wolle mich erleuchten, damit ich dieses Werk zu seinem göttlichen Wohlgefallen fortsetze. Amen.

ZWEITER TEIL DES LEBENS UND DER GEHEIMNISSE DER KÖNIGIN DES HIMMELS

Von der Menschwerdung des Sohnes Gottes bis zu dessen Himmelfahrt

DRITTES BUCH

Die heiligste Menschwerdung. Maria besucht Elisabeth. Rückkehr nach Nazareth

ERSTES HAUPTSTÜCK

Der Allerhöchste beginnt die seligste Jungfrau auf das Geheimnis der Menschwerdung, während der neun vorhergehenden Tage, vorzubereiten. Es wird erklärt, was am ersten Tage geschah.

1. Der Allerhöchste hatte unsere Königin und Herrin in ihren Wirkungskreis als Gemahlin des heiligen Joseph, und eben damit auch in die Lage, öfter mit den Menschen verkehren zu müssen, zu dem Zweck versetzt, damit ihr sündeloses Leben für alle das Musterbild erhabenster Heiligkeit werde. In diesem neuen Stand hegte Unsere Liebe Frau so hohe Gedanken und Entschließungen und regelte alle Handlungen ihres Lebens mit solcher Weisheit, dass sie einen wunderbaren Wetteifer in den Engeln hervorrief und ein nie gesehenes Beispiel den Menschen gab. Wenige nur kannten sie, und noch wenigere verkehrten mit ihr; aber diese Glücklichen erhielten von der himmlischen Königin so viele Gnadeneinflüsse, dass sie, von Bewunderung, Freude und Hochachtung hingerissen, mit lauter Stimme das heilige Feuer hätten verkünden wollen, welches ihre Herzen entflammte; denn sie wussten, dass es von der Gegenwart der reinsten Jungfrau herkam. Auch dieser weisesten Königin waren diese Wirkungen nicht verborgen, doch war es weder Zeit, noch ließ ihre tiefste Demut es zu, dass dieselben der Welt bekannt wurden. Sie bat vielmehr unaufhörlich den Herrn, er möge sie den Augen der Menschen verbergen; er möge alle Gnaden, welche sie erhielt, einzig zu seinem Lob lenken, sie selbst aber bei allen Menschen in Vergessenheit und Verachtung lassen, wofern nur seine unendliche Güte nicht beleidigt würde.

2. Der Herr erhörte zum großen Teil diese Bitten seiner Braut. Seine Vorsehung fügte es, dass dasselbe Licht, welches die Menschen geneigt machte, Maria zu loben, sie auch wieder verstummen machte. Von göttlicher Kraft bewogen, unterließen sie diesen Lobpreis und kehrten in ihr Inneres ein, um da den Herrn mit dem ihnen verliehenen Licht zu loben. Ihre Bewunderung in sich verschließend, entsagten sie ihrem Urteil. Sie vergaßen das Geschöpf und wendeten sich an den Schöpfer. Viele entsagten der Sünde allein schon deswegen, weil sie die seligste Jungfrau gesehen hatten; andere besserten ihr Leben, alle beobachteten große Sittsamkeit bei ihrem Anblick, denn sie empfingen von ihr himmlische Einflüsse in ihren Seelen. Doch sogleich vergaßen sie das Urbild, welches sich in ihrer Seele abgespiegelt hatte; denn hätten sie das Bild der seligsten Jungfrau bewahrt, so hätte niemand ihre Abwesenheit ertragen; alle hätten sie mit Ungestüm gesucht, wenn Gott dies nicht auf geheimnisvollem Weg verhindert hätte.

3. Unsere Königin, die Braut des heiligen Joseph, beschäftigte sich während der sechs Monate und siebzehn Tage zwischen ihrer Vermählung und der Menschwerdung des Sohnes Gottes mit Arbeiten, welche so herrliche Früchte brachten, und sie war bemüht, die Verdienste und Gnaden zu vermehren, von welchen alle Frucht herstammte. Es ist mir nicht möglich, im einzelnen zu berichten, welch heldenmütige innere und äußere Akte aller Tugenden, zum Beispiel der Liebe, der Demut, der Gottesverehrung, sie geübt, wie viele Almosen und Guttaten sie gespendet und wie viele andere Werke der Barmherzigkeit sie verrichtet hat. All dies lässt sich weder mit der Feder beschreiben, noch mit dem Verstand erfassen. Das Höchste, was sich darüber sagen lässt, ist, dass der Allerhöchste in der heiligsten Jungfrau die Fülle seines Wohlgefallens, die volle Befriedigung seiner Wünsche und alle Treue fand, die ein bloßes Geschöpf seinem Schöpfer schuldet. Durch diese Heiligkeit und diese Verdienste sah Gott sich, nach unseren Begriffen, gleichsam verpflichtet und gezwungen, seine Schritte zu beschleunigen und seinen allmächtigen Arm zu erheben für das größte Wunderwerk, das man je kannte und kennen wird, dass der Eingeborne des Vaters Mensch wurde im reinsten Schoß dieser erhabenen Jungfrau.

4. Um dieses Werk auf eine Weise auszuführen, wie sie Gottes würdig ist, bereitete der Herr die heiligste Jungfrau Maria besonders in jenen neun Tagen vor, welche der Vollziehung dieses großen Geheimnisses unmittelbar vorausgingen. Er ließ dem Strom der Gottheit freien Lauf, um diese Stadt Gottes durch seine Einflüsse zu überfluten, und erteilte ihr so viele Gaben, Gnaden und Auszeichnungen, dass ich bei der Erkenntnis, die ich über dieses Wunder erhalten habe, sprachlos werde; meiner Niedrigkeit wird bange vor der Erzählung dessen, was ich erkenne, denn die Zunge, die Feder, alle Fähigkeiten der Geschöpfe sind unzureichende Werkzeuge, um so hocherhabene Geheimnisse zu enthüllen. Man muss also wissen, alles, was ich hier berichten werde, ist nur ein Schatten vom kleinsten Teil dieses unerklärlichen Wunders, welches man nicht messen darf mit unseren beschränkten Ausdrücken, sondern mit der göttlichen Macht, die keine Schranken kennt.

5. Am ersten Tag dieser überaus seligen Novene geschah es, dass die heiligste Jungfrau Maria nach dem Beispiele ihres Vaters David (Ps 119, 62) sich nach kurzer Ruhe um Mitternacht erhob - es war dies ihre gewöhnliche, vom Herrn selbst ihr angewiesene Ordnung. Nachdem sie sich in der Gegenwart des Allerhöchsten auf ihr Angesicht niedergeworfen, begann sie ihre gewöhnlichen Gebete und heiligen Übungen. Da sprachen die heiligen Engel, welche ihr zur Seite waren, zu ihr die Worte: «Braut unseres Königs und Herrn, erhebe dich, denn Seine Majestät ruft dich !» Sie stand auf mit glühendem Eifer und antwortete: «Der Herr befiehlt, dass der Staub vom Staub sich erhebe». Dann wandte sie sich zum Angesicht des Herrn, der sie rief, und fuhr fort: «Mein höchster, allmächtiger Herr, was willst du mit mir tun?» Bei diesen Worten wurde ihre heiligste Seele geistigerweise zu einer neuen und höheren Wohnung erhoben, die mehr in der unmittelbaren Nähe des Herrn und allem Irdischen und Vergänglichen weiter entrückt war.

6. Sie fühlte alsbald, dass sie dort durch dieselben Erleuchtungen und Reinigungen, wie schon früher, zu einer höheren Vision der Gottheit vorbereitet wurde. Ich habe dieselben bereits im ersten Teil beschrieben, darum verweile ich hier nicht dabei. Darauf wurde ihr die Gottheit geoffenbart durch eine Vision, die zwar nicht intuitiv, sondern abstraktiv war, aber so klar und deutlich, dass die himmlische Königin dadurch von diesem unbegreiflichen Gute mehr erkannte als die Seligen des Himmels, die dasselbe durch Anschauung kennen und genießen. Diese Vision war viel erhabener und eindringender als die anderen der nämlichen Art; denn unsere hehre Königin wurde zu deren Empfang von Tag zu Tag mehr befähigt, und da sie jede Gnade in so vollkommener Weise benützte, so wurde eine jede für sie die Vorbereitung auf eine neue Gnade. Durch das wiederholte Erkennen und Schauen der Gottheit wurde sie gestärkt, um mit größerer Kraft vor diesem unendlichen Gute zu wirken.

7. Unsere Königin Maria erkannte in dieser Vision sehr hohe Geheimnisse über die Gottheit und deren Vollkommenheiten besonders über ihre Mitteilung nach außen durch das Werk der Schöpfung; sie schaute, dass dieses Werk von der Güte und Freigebigkeit Gottes ausging und dass er für sein göttliches Wesen und für seine unendliche Glorie der Geschöpfe nicht bedurfte, weil er ohne dieselben schon vor Erschaffung der Welt unendlich selig war in seiner unbegrenzten Ewigkeit. Viele Geheimnisse, die man aber nicht allen erklären kann und erklären darf, wurden Unserer Lieben Frau mitgeteilt; sie war ja die« Einzige», die «Auserwählte» für die Freuden des Höchsten Herrn und Königs alles Erschaffenen. Die hehre Königin erkannte jedoch in dieser Vision den Drang und das Verlangen der Gottheit, sich nach außen mitzuteilen, einen Drang, der da weit gewaltiger war als der Drang, mit welchem alle Elemente zusammen ihrem Mittelpunkt zustreben. Und da sie in die Feuersphäre der göttlichen Liebe so hoch erhoben war und von Liebe ganz glühte, so bat sie den ewigen Vater, seinen Eingebornen in die Welt zu senden, den Menschen ihr Heil zu geben und durch Ausführung seines Ratschlusses seinem eigenen göttlichen Wesen und seinen Vollkommenheiten menschlich geredet - die Befriedigung zu gewähren, nach der sie verlangten.

8. Überaus süß waren für den Herrn diese Worte seiner Braut; sie waren die «Purpurschnur» (Hld 4, 3) mit der sie seine Liebe band und anzog. Damit also ihr Verlangen erfüllt werde, wollte er den Tabernakel oder den Tempel bereiten, in welchen er vom Schoß seines ewigen Vaters niedersteigen wollte. Er beschloss darum, seiner künftigen geliebtesten Mutter die klare Erkenntnis all seiner Werke nach außen zu verleihen, wie seine Allmacht sie vollbracht hatte. In der Vision dieses Tages nun offenbarte ihr Gott alles, was er am ersten Tage der Erschaffung der Welt getan, wie dies in der Genesis erzählt ist (Gen 1,1-5). Die heiligste Jungfrau schaute all diese Werke deutlicher und durchdringender, als wenn dieselben ihren körperlichen Augen gegenwärtig gewesen wären, denn sie erkannte dieselben zuerst in Gott und darauf in ihnen selbst.

9. Sie schaute und erkannte also, wie Gott im Anfang den Himmel und die Erde schuf; auf welche Weise und in welchem Grad die Erde leer und wie Finsternis über dem Abgrund war; wie der Geist Gottes über den Wassern schwebte; wie das Licht durch das göttliche Gebot erschaffen wurde, und die Beschaffenheit des Lichtes. Sie sah, wie Gott die Finsternis vom Licht schied und die Finsternis Nacht, das Licht aber Tag nannte, und wie damit der erste Tag vorüberging. Sie erkannte die Größe der Erde, ihre Länge, Breite und Tiefe; ihre Abgründe, die Hölle, die Vorhölle, das Fegfeuer und deren Bewohner; die Gegenden, die Klimate, die Meridiane, die Einteilung in die vier Weltgegenden und alle, die darauf weilen und wohnen sollten. Sie erkannte mit derselben Klarheit die unteren Sphären und den empyrischen Himmel, sie sah, wie am ersten Tage die Engel erschaffen wurden, und sie schaute dabei auch deren Natur, deren Eigenschaften, Verschiedenheiten, Hierarchien, Ämter, Rangstufen und Tugenden. Auch die Empörung der bösen Engel, ihr Fall samt dessen Ursachen und Anlässen wurden der heiligsten Jungfrau enthüllt. Doch verbarg ihr der Herr immer das, was sie selbst betraf. Sie schaute die Strafe und die Wirkungen der Sünde in den bösen Geistern und erkannte dabei, was sie in sich selbst sind. Zum Schluss offenbarte ihr der Herr aufs neue, wie sie von dem niedrigsten Stoff der Erde gebildet sei und von der Natur derer, die in den Staub zurückkehren. Gott sagte ihr zwar nicht, dass auch sie in denselben verwandelt werde, aber er gab ihr eine so tiefe Erkenntnis ihres irdischen Wesens, dass die große Königin sich bis in den Abgrund des Nichts verdemütigte und, obwohl unschuldig, sich tiefer erniedrigte als alle Kinder Adams zusammen, die doch voll Elend sind.

10. Diese ganze Vision mit ihren Wirkungen hatte nach dem Willen des Allerhöchsten den Zweck, in dem Herzen Mariä die tiefen Fundamente zu graben, wie sie für das Gebäude erforderlich waren, das er in ihr errichten wollte, ein Gebäude, welches hinaufreichen sollte bis zu der wesenhaften und persönlichen Vereinigung mit der Gottheit. Da nun die Würde der Mutter Gottes ohne Grenzen und gewissermaßen unendlich ist, so musste sich dieselbe auf eine Demut gründen, die keine Schranken hatte, jedoch die Grenze der Vernunft nicht überschritt. So hat denn die Gebenedeite unter allen Frauen, am Gipfelpunkt der Tugend angelangt, sich so tief verdemütigt, dass die allerheiligste Dreifaltigkeit befriedigt und, nach unserer Weise zu denken, verbunden war, sie zu der Würde zu erheben, welche unter den bloßen Geschöpfen die höchste ist und der Gottheit am unmittelbar nächsten steht. Darum sprach der Allerhöchste mit Wohlgefallen zu ihr:

11. «Meine Braut, meine Taube, groß ist mein Verlangen, die Menschen von der Sünde zu erlösen, und meine unendliche Barmherzigkeit leidet sozusagen Gewalt, so lange ich nicht niedersteige, um die Welt wiederherzustellen. Bitte mich darum während dieser Tage ohne Aufhören und mit großer Inbrunst um Ausführung dieses Verlangens und, vor mir niedergeworfen, rufe und flehe ohne Unterlass, dass der Eingeborne des Vaters herabsteige, um sich mit der menschlichen Natur zu vereinigen.»

Die himmlische Königin antwortete auf diesen Befehl: «Ewiger Herr und Gott, alle Macht und Weisheit gehört dir; niemand kann deinem Willen widerstehen; wer steht deiner Allmacht im Wege? Wer hemmt den gewaltigen Strom deiner Gottheit, so dass du nicht ausführst, was du zugunsten des Menschengeschlechts verlangst? Stehe vielleicht ich, mein Vielgeliebter, einer so unermesslichen Wohltat hindernd im Wege, o so lass mich lieber sterben, als deinem Willen widerstehen! Kein Geschöpf kann diese Gnade verdienen; o warte doch nicht, mein Herr und Gott, bis wir uns derselben noch unwürdiger machen. Die Menschen vervielfältigen ja ihre Sünden und vergrößern ihre Beleidigungen immerfort; wie können wir also das Gut verdienen, dessen wir uns täglich unwürdiger machen? In dir selbst, o Herr, ist der Grund und der Antrieb, uns zu helfen; deine unendliche Güte, deine zahllosen Erbarmungen bewegen dich dazu. Die Seufzer der Propheten und der Väter deines Volkes bestürmen dich; die Heiligen verlangen dich; die Sünder erwarten dich; alle zusammen rufen dich, und wenn ich armseliger Erdenwurm deiner Güte nicht unwürdig bin wegen meiner Undankbarkeit, so flehe ich zu dir aus der Tiefe meiner Seele: Beschleunige deine Schritte, komm und rette uns zu deiner eigenen Glorie !»

12. Nach diesem Gebet kehrte die Himmelskönigin in ihren gewöhnlichen, mehr natürlichen Zustand zurück; aber gemäß dem Gebot, das sie vom Herrn erhalten hatte, setzte sie während dieses ganzen Tages die Gebete um die Menschwerdung des Wortes fort. Wiederholt warf sie sich in tiefster Demut zur Erde nieder und betete in Kreuzesform ; denn der Heilige Geist, der sie leitete, hatte sie diese Haltung gelehrt, an welcher die allerheiligste Dreifaltigkeit so großes Wohlgefallen finden sollte; ja, wie wenn sie von ihrem königlichen Throne die Person Jesu Christi im Leib seiner künftigen Mutter als gekreuzigt erblickt hätte, so nahm sie dieses Morgenopfer der reinsten Jungfrau an, welches dem Opfer ihres heiligsten Sohnes voraneilte.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin gab

13. Meine Tochter, die Menschen sind nicht imstande, die unaussprechlichen Werke zu verstehen, welche der Allmächtige in mir vollbracht hat, da er mich auf die Menschwerdung des ewigen Wortes vorbereitete; besonders aber wurde mein Geist während jener neun Tage, welche diesem unbegreiflichen Geheimnis unmittelbar vorangingen, erhoben und mit dem unveränderlichen Wesen der Gottheit vereinigt; er wurde derart in diesen Ozean der unendlichen Vollkommenheiten versenkt und erhielt von denselben so erhabene, göttliche Einflüsse, dass sie in keines Menschen Herz kommen können. Gott verlieh mir eine Kenntnis der Geschöpfe, die ihr Innerstes durchdrang, eine Kenntnis, die weit klarer und vortrefflicher war als die aller englischen Geister, welche doch von allem Geschaffenen eine so wunderbare Kenntnis besitzen, seitdem sie Gott anschauen. Die Vorstellungen aber von allem, was ich geschaut hatte, blieben meinem Geist eingeprägt, damit ich mich derselben in der Folge nach Belieben bedienen könnte.

14. Was ich jetzt von dir verlange, dass du dasjenige, was ich mit Hilfe dieser Kenntnis getan habe, aufmerksam betrachtest und mir nach Kräften nachfolgest mit Hilfe des eingegossenen Lichtes, welches du hierzu erhalten hast. Ziehe Nutzen aus der Kenntnis der Geschöpfe und mache aus denselben eine Leiter, die dich zu deinem Schöpfer emporträgt, so dass du in allen den Ursprung suchst, von dem sie herkommen, und das Ziel, zu dem sie bestimmt sind. Bediene dich ihrer wie eines Spiegels, der dir die Gottheit des Schöpfers vor Augen stellt, um dich an seine Allmacht zu erinnern und mit dieser heiligen Liebe zu entflammen, welche er von dir verlangt. Bewundere und lobe die Größe und die Herrlichkeit des Schöpfers; demütige dich in seiner Gegenwart tief in den Staub und tue und leide gerne alles, um sanftmütig und demütig von Herzen zu werden. Betrachte, meine Teuerste, dass diese Tugend der Demut das festeste Fundament all der Wunder war, welche der Allerhöchste in mir gewirkt hat. Und damit du diese Tugend hochschätzst, so wisse, wie sie kostbar ist vor allen andern, so ist sie auch sehr zart und vielen Gefahren ausgesetzt; wenn du sie aber in einem Stück verlierst und nicht in allen Dingen ohne Unterschied demütig bist, so wirst du dies in keinem einzigen in Wahrheit sein. Erkenne dein irdisches und vergängliches Wesen und vergiss nicht, wie der Allerhöchste mit großer Weisheit den Menschen derart geschaffen hat, dass schon seine Entstehung und Erschaffung eine ebenso eindringliche, deutliche und andauernde als wichtige Lehre der Demut für ihn ist. Und damit ihm diese Unterweisung niemals mangle, so hat er den Menschen nicht aus edlerem Stoff gebildet und hat überdies in sein Inneres das «Gewicht des Heiligtums» (Ex 30, 24) gelegt, damit er in die eine Waagschale das unendliche und ewige Wesen des Herrn, in die andere aber seinen allerniedrigsten Stoff lege und so Gott gebe, was Gottes ist, sich selbst aber, was ihm gebührt.

15. Ich habe diesen Unterschied auf vollkommene Weise gemacht zum Beispiel und zur Belehrung der Menschen; und ich will, dass du mir hierin nachfolgst und alle deine Sorgen darauf richtest, demütig zu werden; denn durch dieses Mittel wirst du dem Allerhöchsten und mir wohlgefallen. Ich will, dass du die wahre Vollkommenheit erreichest und dass sie gegründet sei auf das tiefste Fundament der Erkenntnis deiner selbst. Je tiefer du dieses Fundament graben wirst, desto höher wird sich das Gebäude deiner Tugend erheben und desto inniger wird dein Wille vereinigt sein mit dem Willen des Herrn; denn von der Höhe seines Thrones sieht er herab auf die Demütigen der Erde.

ZWEITES HAUPTSTÜCK: Zweiter Tag der Vorbereitung

Am zweiten Tag fährt der Herr fort, die heiligste Jungfrau Maria durch seine Gnaden auf die Menschwerdung des Wortes vorzubereiten.

16. Im ersten Teil dieser göttlichen Geschichte (Erster Teil, Nr. 218) habe ich gesagt, wie der reinste Leib der seligsten Jungfrau Maria empfangen und in dem Zeitraum von sieben Tagen ganz vollkommen gebildet wurde. Der Allerhöchste wirkte dieses Wunder, damit ihre heiligste Seele nicht die gewöhnliche Zeit der anderen Kinder abwarten müsste, sondern früher erschaffen und eingegossen würde. Dies geschah in der Tat, damit so die gebührende Übereinstimmung herrsche zwischen diesem Beginn der Wiederherstellung der Welt und dem ihrer Schöpfung. Die Harmonie dieser beiden Werke wurde erneuert unmittelbar vor der Herabkunft des Erlösers der Welt, damit, nachdem Jesus Christus, der neue Adam, gebildet wäre und Gott der Herr alle Kräfte seiner Allmacht zur Hervorbringung des größten seiner Wunderwerke aufgeboten haben würde, er «ausruhe» und der süße Sabbat all seiner Wonne in dieser Ruhe gefeiert würde. Für diese Wunder sollte aber die Mutter des göttlichen Wortes ins Mittel treten; sie sollte ihm die menschliche und sichtbare Gestalt geben. Darum war es auch notwendig, dass sie bezüglich der Vermittlung zwischen Gott und den Menschen diese beiden Extreme berühre, und demnach an Würde niemanden nachstehe als allein Gott dem Herrn, alles andere aber, was nicht Gott ist, an Würde übertreffe. Zu dieser Würde gehörte aber auch eine entsprechende Wissenschaft und Erkenntnis sowohl des allerhöchsten, göttlichen Wesens, als auch aller ihr untergeordneten Geschöpfe.

17. Um diesen Plan auszuführen, setzte der Herr die Gnadenerweise fort, durch welche er die heiligste Jungfrau Maria während der neun Tage, welche der Menschwerdung unmittelbar vorangingen und welche ich eben beschreiben will, vorbereitete. Als der zweite Tag gekommen war, wurde unsere erhabene Königin zur Stunde der Mitternacht und in der Weise heimgesucht, wie ich im vorhergehenden Hauptstück gesagt habe. Die göttliche Macht verlieh ihr jene Dispositionen, Eigenschaften und Erleuchtungen, welche sie auf die Visionen der Gottheit vorbereiteten. Gott offenbarte sich ihr auch an diesem Tag, wie am ersten, durch eine abstraktive Vision; und sie sah die Werke, welche dem zweiten Tag der Weltschöpfung angehörten. Sie erkannte, in welcher Zeit und auf welche Weise Gott die Gewässer voneinander absonderte (Gen 1, 6 u. 7), die einen über, die anderen unter dem Firmament, indem er in der Mitte das Firmament bildete, und wie er von den Gewässern über dem Firmament den Kristallhimmel bildete, den man auch Wasserhimmel nennt. Sie durchschaute die Größe, die Ordnung, die Beschaffenheit, die Bewegungen und alle Verhältnisse der Himmel.

18. Diese Erkenntnis war in der reinsten Jungfrau nicht untätig und unfruchtbar; denn weil sie dieselbe beinahe unmittelbar aus dem klarsten Licht der Gottheit empfing, so wurde sie dadurch ganz entzündet und entflammt in Bewunderung, Lobpreis und Liebe der göttlichen Güte und Macht. Ganz umgestaltet in Gott, erweckte sie heldenmütige Akte aller Tugenden, zum höchsten und vollkommensten Wohlgefallen der göttlichen Majestät. Und gleichwie der Herr am ersten Tag, das heißt am Tag zuvor, der allerseligsten Jungfrau die Teilnahme an seiner göttlichen Weisheit verliehen hatte, so verlieh er ihr an diesem zweiten Tag eine gewisse Teilnahme an seiner Allmacht; er gab ihr nämlich Macht über die Einflüsse des Himmels, der Planeten und der Elemente und gebot allen, ihr zu gehorchen. So erhielt diese große Königin Macht und Herrschaft über das Meer, die Erde, die Elemente, die Himmelskreise und über alle Geschöpfe, welche sich in denselben befinden.

19. Diese Herrschaft und Macht gehörten gleichfalls zur Würde der heiligsten Jungfrau Maria, aus dem oben angeführten Grunde und überdies noch aus zwei besonderen Gründen, fürs erste war diese hehre Frau eine bevorrechtete Königin und ausgenommen von dem allgemeinen Gesetz der Erbsünde und deren Folgen; darum durfte sie nicht eingeschlossen sein in die allgemeine Masse der törichten Kinder Adams, gegen welche der Allmächtige seine Geschöpfe waffnete (Weish 5,18), um die ihm zugefügten Widrigkeiten zu rächen und die Torheit der Menschen zu strafen. Wären nämlich diese ihrem Schöpfer nicht ungehorsam geworden, so hätten auch die Elemente und die andern Geschöpfe sich nicht gegen sie empört, sie nicht belästigt und die Härte und Strenge ihrer Tätigkeit nicht gegen sie gekehrt. War aber dieses Verhältnis der Geschöpfe eine Strafe der Sünde, so durfte es sich nicht ausdehnen auf Maria, die heiligste, unbefleckte und unschuldige; sie durfte auch hinsichtlich dieses Vorrechtes nicht unter den Engeln stehen, über welche die Strafe der Sünde sich nicht erstreckt und die Kraft der Elemente keine Macht hat. Freilich war die allerheiligste Jungfrau von körperlicher und irdischer Natur, aber sie erhielt den höher zu schätzenden, weil selteneren und kostbareren Vorzug, über alle irdischen und geistigen Geschöpfe sich zu erheben und durch ihre Verdienste die würdige Königin und Herrin alles Erschaffenen zu werden; sicher musste aber die Königin mehr Vorrechte haben als die Untertanen, die Herrin mehr als die Diener.

20. Der zweite Grund war, weil Jesus Christus dieser glorreichen Königin als seiner Mutter gehorchen sollte. Da er aber der Schöpfer der Elemente und aller Dinge ist, so war es gerecht, dass diese alle derjenigen gehorchen, welcher er, der Schöpfer selbst, Gehorsam leisten wollte, und dass sie über alle gebot; musste ja die Person Christi, seiner Menschheit nach, seiner Mutter untertänig sein gemäß einer Verpflichtung und einem Gesetz der Natur. Dieses Vorrecht war übrigens auch sehr geeignet, die Tugenden und Verdienste der heiligsten Jungfrau zu erhöhen; denn was bei uns unvermeidlich und gewöhnlich gegen unsern Willen ist, war bei ihr freiwillig und verdienstlich. Diese weiseste Königin bediente sich nämlich dieser Herrschaft über die Elemente und die übrigen Geschöpfe nicht unterschiedslos und zu ihrer eigenen Befriedigung und Erleichterung; vielmehr gebot sie allen, an ihr dasjenige auszuüben, was ihr natürlicherweise lästig und peinlich sein konnte; denn sie sollte auch hierin ihrem heiligsten Sohn ähnlich sein und leiden wie er. Die Liebe und die Demut dieser großen Herrin hätten nicht zugelassen, dass die Geschöpfe ihr gegenüber ihre Strenge aufgehoben und sie so der Verdienste des Leidens beraubt hätten, welches, wie sie wusste, so kostbar ist in den Augen des Herrn.

21. Nur bei einigen Gelegenheiten, wo sie sah, dass es sich nicht um ihren Dienst, sondern um den ihres Sohnes und Schöpfers handle, gebot die milde Mutter der Kraft und den Wirkungen der Elemente, wie wir in der Folge sehen werden, so bei ihrer Reise nach Ägypten (Unten Nr.543, 590, 663) und bei anderen Gelegenheiten (Unten Nr. 185, 485. 636 und 3. Teil. Nr. 471), bei welchen sie dieses Verhalten für gut fand, damit die Geschöpfe ihren Schöpfer erkennen, ihm Ehrfurcht beweisen und ihm in Not Schutz und Dienst leisteten. Wo ist ein Sterblicher, der angesichts eines so unerhörten Wunders nicht von Erstaunen ergriffen würde? Ein bloßes, irdisches Geschöpf, eine Frau, hat unumschränkte Herrschaft über alles Geschaffene, und sie hält sich für die unwürdigste und niedrigste von allen. Und in dieser Überzeugung gebietet sie der Wut der Winde und deren rauer Wirkung, sich gegen sie zu kehren, und diese vollstrecken den Befehl aus Gehorsam ! Freilich tun sie es einer solchen Herrin gegenüber, um mich so auszudrücken, mit Zagen und Höflichkeit, und mehr deswegen, um ihr ihre Unterwürfigkeit zu bezeigen, als um an ihr, wie an den übrigen Adamskindern, ihren Schöpfer zu rächen.

22. Angesichts einer solchen Demut unserer unüberwindlichen Königin können wir Sterbliche nicht umhin, unsere so grundlose Anmaßung, um nicht zu sagen, Verwegenheit, einzugestehen; denn während wir verdienten, dass alle Elemente und alle angreifenden Kräfte des Weltalls sich gegen unsere Torheiten empören, beklagen wir uns über ihre Härte, als ob sie uns großes Unrecht täten, indem sie uns belästigen. Wir sprechen das Urteil über die strenge Kälte; wir wollen nicht leiden, dass die Hitze uns belästige; wir verabscheuen alles, was peinlich ist, und all unser Trachten geht nur dahin, diese Diener der göttlichen Gerechtigkeit zu tadeln und für unsere Sinne eine Freistätte der Bequemlichkeiten und Vergnügungen zu suchen, gleich als ob wir eine solche für beständig zu beanspruchen hätten und als ob es nicht gewiss wäre, dass, falls wir aus derselben herausgezogen würden, wir einer nur um so härteren Züchtigung unserer Sünden verfielen.

23. Wenn man diese Gaben der Erkenntnis und der Macht erwägt, welche die Königin des Himmels erhielt, sowie die übrigen, welche sie vorbereiteten, um die würdige Mutter des einzigen Sohnes des ewigen Vaters zu werden, dann wird man die Erhabenheit dieser hehren Königin verstehen, in ihr eine Art Unendlichkeit entdecken oder eine Erkenntnis, die teilnimmt an der göttlichen und derjenigen gleicht, welche in der Folge die heiligste Seele Jesu Christi hatte(Der heilige Kirchenlehrer Alphons von Liguori behauptet mit dem heiligen Bernhard von Siena, dass die allerseligste Jungfrau Maria, um würdige Mutter Gottes zu werden, «durch eine sozusagen unendliche Fülle von Vollkommenheiten zu einer gewissen Ähnlichkeit mit Gott erhoben werden musste». Die vom heiligen Alphons kurz angezogene Stelle des heiligen Bernhardin lautet wörtlich also: «Quod femina conciperet et pareret Deum, est et fuit miraculum miraculorum. Oportuit enim, ut sic dicam, feminam elevari ad quandam requalitatem divinam per quandam quasi infinitatem perfectionum et gratiarum». [Pro fest. B. V. s. 5. c. 12.] Vgl. «Herrlichkeiten Mariä» vom heiligen Alphons, Abhandlung über die Verkündigung Mariä. Der Herausgeber).; denn nicht nur erkannte sie alle Geschöpfe in Gott, sondern sie begriff sie dermaßen, dass sie dieselben in ihrer geistigen Fassungskraft einschloss, und diese Fassungskraft hätte sich auf viele andere ausdehnen können, wenn es noch solche zu erkennen gegeben hätte. Ich nenne dies Unendlichkeit, weil es mir etwas von dem unendlichen Wissen zu haben scheint und weil die heiligste Jungfrau zugleich und ohne Zeitfolge die Zahl der Himmel schaute und erkannte, ihre Breite, Tiefe, Ordnung, ihre Bewegungen und Eigenschaften, ihren Stoff und ihre Form; die Elemente mit allen ihren wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften, dies alles erkannte sie wie mit einem Blick. Nur eines war dieser weisesten Jungfrau unbekannt, nämlich das nächste Ziel all dieser Gunstbezeigungen; und dies blieb ihr unbekannt, bis die Stunde ihrer Einwilligung und der unaussprechlichen Barmherzigkeit Gottes erschien. Während dieser Tage aber setzte sie ihre glühenden Gebete um die Ankunft des Messias fort; denn der Herr hatte ihr dies befohlen und ihr zu erkennen gegeben, dass er nicht zögern werde, weil der bestimmte Zeitpunkt nahe.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin gab

24. Meine Tochter, aus dem, was du über die hohen Gnadenauszeichnungen, die mich zur Würde der Mutter des Allerhöchsten vorbereiteten, inne wirst, musst du die wunderbare Ordnung der Weisheit Gottes in der Erschaffung des Menschen erkennen. Betrachte, wie der Mensch von seinem Schöpfer aus nichts gemacht ist, nicht damit er der Diener, sondern der Herr und König aller Dinge sei und sich derselben als Gebieter und Herr bediene. Zugleich soll sich aber der Mensch auch als ein Geschöpf und als das Ebenbild seines Schöpfers betrachten und soll darum eben diesem Schöpfer mehr untertänig und auf seinen Willen mehr achtsam sein, als es die übrigen Geschöpfe auf den Willen des Menschen sind; denn so fordert es die Ordnung der Vernunft. Damit es aber dem Menschen nicht am Licht fehle, seinen Schöpfer zu erkennen und die Mittel einzusehen, welche geeignet sind, dessen Willen zu erfahren und zu vollziehen, so hat ihm der Herr außer dem natürlichen Licht der Vernunft noch ein anderes, größeres Licht gegeben, welches schneller, leichter und müheloser erworben wird und zugleich sicherer und allen Menschen mehr zugänglich ist, nämlich das Licht des göttlichen Glaubens, mit dessen Hilfe der Mensch Gottes Weisheit und Eigenschaften und zugleich auch Gottes Werke erkennen sollte. Durch diese Erkenntnis und durch die vorhin genannte Herrschaft war der Mensch wohlgeordnet, geehrt und bereichert, so dass er keine Entschuldigung hat, wenn er sich nicht ganz dem göttlichen Willen hingibt.

25. Doch die Torheit der Menschen verkehrt diese ganze Ordnung und vernichtet diese göttliche Harmonie; derjenige, der geschaffen war, um Herr und König der Geschöpfe zu sein, macht sich zu ihrem niedrigen Diener und unterwirft sich ihrer Knechtschaft; er entehrt so seine Würde und gebraucht die sichtbaren Dinge nicht wie ein kluger Herr, sondern wie ein unwürdiger Untergebener, und erkennt sich nicht mehr als Herrn, da er sich tief unter das niedrigste der Geschöpfe erniedrigt. All diese Verkehrtheit kommt daher, weil man die sichtbaren Dinge nicht mittelst des Glaubens auf den Schöpfer bezieht und sie so für seinen Dienst gebraucht, sondern weil man von allen einen schlechten Gebrauch macht, nur um die Leidenschaften und die Sinne zu befriedigen durch das Vergnügen, welches die Geschöpfe bieten; und darum verabscheut man so sehr alles, was kein Vergnügen bietet.

26. Du, meine teuerste Tochter, betrachte deinen Schöpfer und Herrn mit den Augen des Glaubens und strebe, das Bild seiner göttlichen Vollkommenheiten in deiner Seele auszuprägen; bewahre die Herrschaft über die Geschöpfe, auf dass keines Herr werde über deine Freiheit. Ich will im Gegenteil, dass du über alle triumphierest und nichts sich zwischen Gott und deine Seele stelle. Du darfst dich den Lockungen der Geschöpfe nicht unterwerfen, denn dadurch würde dein Verstand verdunkelt und dein Wille geschwächt. Du musst vielmehr dich mit Liebe dem unterwerfen, was sie Lästiges, Peinliches und Widerwärtiges an sich haben; dies musst du mit freudigem Willen ertragen, da auch ich es getan habe, um meinem heiligsten Sohn nachzufolgen, obwohl es in meiner Macht stand, die Ruhe zu wählen, und obwohl ich keine Sünde abzubüßen hatte.

DRITTES HAUPTSTÜCK: Dritter Tag

Von den Gnaden, welche der Allerhöchste der heiligsten Jungfrau Maria am dritten der neun Tage vor der Menschwerdung verliehen hat

27. Die Hand des allmächtigen Gottes, welche der heiligsten Jungfrau Maria freien Zutritt zu seiner Gottheit eröffnete, fuhr fort, mit Aufbietung der unendlichen göttlichen Vollkommenheiten den reinsten Geist und den jungfräulichen Leib Mariä, den sich der Herr zum Tabernakel, zum Tempel und zur heiligen Stadt seiner Wohnung auserwählt hatte, zu bereichern und auszuschmücken. In den Ozean der Gottheit versenkt, erhob sich die himmlische Königin von Tag zu Tag mehr über das, was sie Irdisches an sich hatte, und gestaltete sich in ein himmlisches Wesen, um neue Geheimnisse zu entdecken, die der Allerhöchste ihr offenbarte; denn da er ein unendliches Gut ist und nach seinem Wohlgefallen sich gibt, so wird zwar das Verlangen des Geschöpfes durch das, was es empfängt, gesättigt, allein immer bleibt noch mehr zu wünschen und zu erkennen übrig. Kein bloßes Geschöpf ist jemals so weit als die heiligste Jungfrau eingedrungen, noch wird je eines so weit vordringen in die Kenntnis Gottes und der Geschöpfe sowie in die erhabensten Geheimnisse. Selbst alle Hierarchien der Engel und alle Menschen zusammen werden diese Himmelskönigin nie erreichen, wenigstens nicht in dem, was sie erhielt, um Mutter des Schöpfers zu werden.

28. Am dritten der neun Tage, die ich eben erkläre, wurde die seligste Jungfrau auf die im ersten Hauptstück beschriebene Weise wiederum vorbereitet, worauf sich ihr die Gottheit, wie an den beiden vorausgehenden Tagen, in abstrakter Vision offenbarte. Unsere Fassungskraft ist aber zu langsam und zu gering, als dass wir die Vermehrungen der Gaben und Gnaden begreifen könnten, welche der Allerhöchste in der erhabenen Jungfrau vereinigte. Auch finde ich keine neuen Worte, um auch nur etwas von dem, was mir hierüber offenbar wurde, zu erklären. Ich sage nur: Die göttliche Weisheit und Macht hat diejenige, welche die Mutter des Herrn werden sollte, entsprechend ausgerüstet, damit sie die gebührende Ähnlichkeit mit den göttlichen Personen erreiche, soweit dies einem bloßen Geschöpf möglich ist. Wer den Abstand zwischen diesen beiden Gegensätzen, zwischen dem unendlichen Gott und dem beschränkten, menschlichen Geschöpfe besser ergründet, kann auch besser urteilen, welche Mittel erfordert sind, um zwischen beiden Verbindung und Verhältnis herzustellen.

29. Immer mehr und mehr wurde die Himmelskönigin der Abglanz des göttlichen Urbildes; immer neue Abbilder der unendlichen Vollkommenheiten und Schönheiten Gottes prägten sich in ihr aus; immer höher stieg ihre Schönheit, je mehr der Pinsel der göttlichen Weisheit durch den Glanz lichtvoller Farben sein Werk vollendete. - An diesem Tag wurden ihr die Werke des dritten Schöpfungstages geoffenbart. Sie schaute, wann und wie das Wasser auf Gottes Gebot unter dem Himmel sich an einen Ort sammelte, wie Gott den Ort, welchen es verlassen, Erde nannte, und die Sammlungen der Wasser Meer. Sie schaute, wie die Erde das frische Gras hervorbrachte, welches grünt und Samen bringt sowie alle Gattungen von Pflanzen und Fruchtbäumen mit ihrem Samen je nach ihrer Art. Sie erkannte und durchschaute die Größe des Meeres, seine Tiefe, seine Abteilungen und seinen Zusammenhang mit den Flüssen und Quellen, die aus ihm kommen und zu ihm zurückströmen, die Arten der Pflanzen, Kräuter und Blumen, der Bäume, Wurzeln, Früchte und Samen, und wie sie alle dem Menschen zu etwas dienen. Unsere Königin kannte dies alles auf viel klarere und ausgedehntere Weise als Adam und Salomon. Im Vergleich zu ihr waren alle Ärzte der Welt unwissend trotz langjähriger Studien und Erfahrungen(Der Fürst der deutschen Theologen, der heilige Albert der Große, steIlt hinsichtlich des Wissens der seligsten Jungfrau den Grundsatz auf: «Potestas imperialis est super omnem potestatem ministerialem. Sed potestas Virginis est imperialis, omnium autem angelorum potestas est ministerialis, ergo potestas ejus est supra omnem potestatem angelorum. Sed in perfecte ordinatis ad majorem potentiam sequitur major scientia et ad majorem scientiam major operatio; ergo et haec in B. Virgine fuerunt in summo» [Mariale cap. 149]. Dies gilt dem heiligen Albert und dem heiligen Antoninus auch von der «scientia rerum naturalium». Die Gründe hierfür fasst Suarez also zusammen: «Suaderi potest primo, quia Adam habuit has scientias infusas; secundo quia hae scientiae sunt necessariae primum ad perfectionem scientioo theologieae, in qua diximus B. Virginem fuisse instructissimam, deinde ad exactam Scriptuarum intelligentiam, denique ad scientiam morum et prudentiam, quam supra diximus habuisse Virginem ab initio infusam», [De Incarn./I. disp. 19. s. 5.] Wie später gesagt wird, war diese Kenntnis der Natur für die Königin der Welt nicht unnütz; sie nahm zum Beispiel davon Anlass, Gott für alle erkannten Wohltaten der Schöpfung im Namen der ganzen Menschheit den schuldigen Dank darzubringen. - Bezüglich der Art und Weise, wie Maria von Agreda diese Kenntnis beschreibt, beachte man, dass Gott Privatoffenbarungen nicht bestimmt, um Aufschlüsse über Fragen der Physik, Physiologie usw. zu geben. Es kann daher auch nicht befremden, wenn er die ehrwürdige Schwester über solche Fragen nach den Anschauungen ihrer Zeit sprechen lässt. [Vgl. Bened. XIV., de Beatif. I. III. cap. ult. n. 17.] Der Herausgeber).. Die reinste Jungfrau erlernte, wie das Buch der Weisheit (Weish 7, 21) sagt, alles, was unsichtbar ist, und gleichwie sie dies ohne Falsch erlernte, so teilte sie es auch mit ohne Neid (Weish 13). Alles, was Salomon an dieser Stelle gesagt hat, ging in unvergleichlich hohem Grad an ihr in Erfüllung.

30. Zwar benützte unsere Königin diese Kenntnis nur einige Male, um die Liebe gegen Arme und Hilfsbedürftige zu üben, wie ich in der Folge (Nr. 668, 867. f. 3. Teil, Nr. 159, 423) sagen werde; aber sie hatte sie dergestalt zu ihrer Verfügung, und es war ihr so leicht, dieselbe zu gebrauchen, wie es dem gewandtesten Musiker leicht sein kann, sich seines Instrumentes zu bedienen. Dasselbe gilt von allen anderen Kenntnissen, wenn es ihr gefiel oder nötig war, sie zum Dienst des Allerhöchsten anzuwenden; denn sie konnte sie gebrauchen wie eine Meisterin, und alle fanden sich bei ihr in höherer Vollkommenheit als je bei einem Menschen, der eine besondere Kunst oder Wissenschaft innehatte. Sie besaß auch volle Macht über alle Kräfte, Eigenschaften und Wirkungen der Steine, der Kräuter und der Pflanzen; und was Jesus Christus, unser Herr, seinen Aposteln und den ersten Gläubigen versprach, dass, wenn sie sogar Gift tränken, dies ihnen nicht schaden werde (Mk 16,18), dieses Vorrecht besaß unsere hehre Königin in dem Grad, dass weder Gift noch etwas anderes ihr schaden oder ein Leid antun konnte ohne ihren Willen.

31. Die weiseste Jungfrau und Herrin hielt diese Vorrechte und Auszeichnungen allzeit verborgen, und nie gebrauchte sie dieselben, wie gesagt, für sich selbst; denn sie wollte sich dem Leiden, das ihr heiligster Sohn wählen sollte, nicht entziehen. Schon ehe sie ihn empfing und seine Mutter wurde, war sie hierin durch das göttliche Licht geleitet sowie durch ihre Kenntnis von der Lebensfähigkeit, welche das fleischgewordene Wort empfangen sollte. Als sie aber seine Mutter geworden und dies in Wirklichkeit an ihrem eigenen Sohn und Herrn sah und erfuhr, gab sie den Geschöpfen mehr Freiheit, oder besser gesagt, sie gab ihnen Befehl, durch ihre Kräfte und Einwirkungen sie zu quälen, wie sie dies auch an ihrem Schöpfer selbst taten. Der Allerhöchste wollte jedoch nicht, dass seine Braut, die Einzig-Erwählte, immer von den Geschöpfen belästigt werde; darum hielt er letztere mehrmals ab oder hinderte sie, damit die Himmelskönigin wenigstens während einiger Pausen die Freude des höchsten Königs genieße.

32. Die heiligste Jungfrau erhielt in dieser Vision der Gottheit am dritten Tag noch ein anderes Vorrecht zugunsten der Menschen. Gott offenbarte ihr nämlich auf besondere Weise, wie sehr die göttliche Liebe verlange, den Menschen zu helfen und sie aus ihrem Elend zu erheben. Zugleich mit der Erkenntnis dieser unendlichen Barmherzigkeit und dessen, was Gott auf deren Antrieb tun sollte, verlieh der Allerhöchste der reinster Jungfrau Maria eine gewisse, noch höhere Teilnahme an seiner Vollkommenheiten, damit sie von da an als Mutter und Fürsprecherin der Sünder für letztere sich verwende. Diese göttliche Einwirkung, durch welche die heiligste Jungfrau Maria an der Liebe Gottes zu den Menschen und an seinem Verlangen, ihnen zu helfen, teilnahm, war so übermenschlich, so mächtig, dass hätte nicht die Kraft des Herrn ihr von da an Beistand und Stärke verliehen, sie den gewaltigen Liebesdrang, allen Sündern Hilfe und Rettung zu verschaffen, nicht hätte ertragen können. In dieser feurigen Liebe hätte sie sich unendlich oft den Flammen, dem Schwerte, den ausgesuchtesten Qualen, ja dem Tod preisgegeben, wäre dies nötig oder zulässig gewesen. Alle Martern und Pein, alle Trübsale, Schmerzen und Krankheiten hätte sie, weit entfernt, sie abzuweisen, gerne, ja voll Freude gelitten für das Heil der Menschen. Ja alles, was die Menschen seit Anfang der Welt bis auf diese Stunde gelitten haben, und alles, was sie bis zum Weitende leiden werden, wäre wenig gewesen für die Liebe dieser barmherzigsten Mutter. Mögen darum die Sterblichen und sündigen Menschen wohl bedenken, was sie der heiligsten Jungfrau Maria schuldig sind.

33. Von diesem Tag an, kann man sagen, war unsere himmlische Königin die Mutter der Güte und Barmherzigkeit und zwar großer Barmherzigkeit; und dies aus zwei Gründen. Fürs erste fühlte sie von da an einen ganz besonderen Liebesdrang, die Schätze der Gnade, die sie erkannt und empfangen hatte, ohne Rückhalt mitzuteilen. Die göttliche Güte hatte ihr in dieser Vision eine so wunderbare Milde, ein so liebevolles Herz mitgeteilt, dass sie dies Herz gerne allen gegeben und gerne alle darin eingeschlossen hätte, damit alle der göttlichen Liebe teilhaftig würden, welche darin brannte. Der zweite Grund ist, weil dieser Liebeseifer der reinsten Jungfrau für das Heil der Menschen eine der hauptsächlichsten Dispositionen war, welche sie würdig vorbereiteten, das ewige Wort in ihrerT jungfräulichen Schoß zu empfangen. Sicherlich war es höchst geziemend, dass diejenige ganz Barmherzigkeit, Güte, Milde und Mitleid war, die allein das ewige Wort empfangen und gebären sollte, das in seiner Barmherzigkeit, Güte und Liebe sich bis zu unserer Natur erniedrigen und von Maria leidensfähig geboren werden wollte zum Heil der Menschen. Man sagt ja, dass die Kinder ihrer Mutter gleichen (partus sequitur ventrem), weil sie deren Eigenschaften annehmen wie das Wasser die der Mineralien, durch welche es fließt. So hat auch der Sohn Mariä, obwohl mit den Vorzügen der Gottheit ausgerüstet, doch auch die Neigungen seiner Mutter angenommen, soweit dies möglich war, und sie wäre nicht gebührend ausgestattet gewesen, um mit dem Heiligen Geist mitzuwirken zu dieser Empfängnis, der einzigen, die ohne Vater stattfand, wenn sie nicht zu ihrem Sohn hinsichtlich der Eigenschaften seiner Menschheit im gebührenden Verhältnis gestanden wäre.(P. W. Faber bemerkt zu dieser Stelle: «Die Schwester Maria von Agreda sagt von der Mutter Gottes sehr schön, dass eine große Liebe zu den Menschen eine der Hauptgnaden war, die sie als Vorbereitung auf die Menschwerdung empfing, damit unser Herr als Mensch diese Eigenschaft von ihr als Erbteil empfangen möchte, als eine der überlieferten Gemütsstimmungen seiner Mutter. - In dem ganzen Gebiee der Marianischen Theologie habe ich keinen tieferen oder lieblicheren Gedanken getroffen als diesen». [Bethlehem, Kap. 8.] Der heilige Albertus Magnus drückt den gleichen Gedanken aus, in dem er Maria die «Königin der Barmherzigkeit» nennt und als Grund dafür angibt: «quia ab ipsa fuit origo regni misericordiae; et ab ipsa est potestas prima misericordiae et gratiae». [Super Missus est c. 109.] Der Herausgeber).

34. Nachdem die heiligste Jungfrau aus dieser Vision zurückgekehrt war, verwendete sie den übrigen Teil des Tages zu den Andachtsübungen und Bittgebeten, welche der Herr ihr vorgeschrieben hatte. Immer mehr wuchs ihre Inbrunst; aber auch das Herz ihres göttlichen Bräutigams wurde mehr und mehr von Liebe zu ihr verwundet, so dass er, menschlich geredet, mit Sehnsucht dem Tag und der Stunde entgegensah, da er sich in den Armen und am Herzen seiner lieben Mutter befinden sollte.

LEHRE, welche mir die heiligste Königin gab

35. Meine liebste Tochter, der Arm des Allmächtigen hat Großes an mir getan bei den Visionen seiner Gottheit während dieser Tage, die seiner Empfängnis in meinem Schoß vorausgingen. Zwar wurde mir die Gottheit nicht unmittelbar und unverhüllt geoffenbart, aber doch in erhabenster Weise und mit Wirkungen, die seiner Weisheit vorbehalten sind. So oft ich mir das Geschaute durch die Vorstellungen, die mir davon geblieben waren, in das Gedächtnis zurückrief und, im Geist mich erhebend, erkannte, was Gott für die Menschen ist und was diese für die göttliche Majestät sind, da entbrannte mein Herz in Liebe und brach vor Schmerz, denn ich erkannte die unendliche Größe der Liebe Gottes zu den Menschen und zugleich auf Seiten der Menschen die undankbarste Vergessenheit für eine so unaussprechliche Güte. Gar oft wäre ich bei dieser Erwägung gestorben, hätte Gott mich nicht gestärkt und erhalten. Die göttliche Majestät aber nahm dieses Opfer ihrer Magd mit größerem Wohlgefallen an als alle Opfer des Alten Bundes; denn der Herr sah auf meine Demut, die ihm sehr wohlgefiel, und wenn ich mich in diesen Akten übte, erwies er mir große Erbarmungen, sowohl für mich selbst, als für mein Volk.

36. Meine teure Tochter, ich offenbare dir diese Geheimnisse, damit du dich entschließest, soweit es deine Kräfte mit dem Beistand der Gnade zulassen, mir nachzufolgen, indem du meine Werke, die du erkannt, als Muster und Vorbild betrachtest. Erwäge oft und aufmerksam in deinem Geist, sowohl im Licht des Glaubens, als im Licht der Vernunft, welchen Dank die Menschen Gott schulden für seine unermessliche Güte und für sein Verlangen, ihnen zu helfen; und im Zusammenhalt mit dieser Wahrheit betrachte dann den Stumpfsinn und die Herzenshärte der Kinder Adams. Dann soll sich, das ist mein Wille, dein Herz ergießen und auflösen in die Gefühle der Dankbarkeit gegen den Herrn und des Mitleidens mit diesem unglückseligen Zustand der Menschen. Ich versichere dich, meine Tochter, dass am Tag der allgemeinen Rechenschaft der gerechte Richter gerade darüber am allermeisten zürnen wird, dass die höchst undankbaren Menschen diese Wahrheit vergessen haben. Und dieser Zorn wird so gewaltig und die Vorwürfe des Richters werden für die Menschen an jenem Tag so beschämend sein, dass sich die Menschen vor Scham selbst in den Abgrund der Pein stürzen würden, wenn nicht die Diener der göttlichen Gerechtigkeit bereit stünden, dies zu tun.

37. Willst du eine so hässliche Sünde vermeiden und einer so schrecklichen Strafe entgehen, so erneuere in dir oft das Andenken an die Wohltaten, welche du von dieser unendlichen Liebe und Güte empfangen hast, und beachte, dass sie dich vor vielen Nationen bevorzugt hat. Glaube nicht, so viele besondere Gaben und Geschenke seien für dich allein bestimmt gewesen; sie sind dir auch für deine Brüder gegeben, denn die göttliche Barmherzigkeit dehnt sich auf alle aus. Darum bist du auch dem Herrn Dank schuldig in erster Linie für dich selbst, in zweiter für sie. Weil du jedoch arm bist, so opfere das Leben und die Verdienste meines allerheiligsten Sohnes auf und in Vereinigung damit all das, was ich durch die Gewalt der Liebe gelitten habe, damit du auf diese Weise dich dankbar erzeigest gegen Gott und einigen Ersatz leistest für die Undankbarkeit der Menschen; dies musst du öfters tun, indem du dich an die Gefühle erinnerst, welche mich bei eben diesen Übungen und Akten beseelten.

VIERTES HAUPTSTÜCK: Vierter Tag

Fortsetzung. Gnaden, welche der Allerhöchste der heiligsten Jungfrau Maria am vierten Tage verliehen hat

38. Der Allerhöchste fuhr fort, unsere Königin und Herrin mit Gnaden auszuzeichnen und die erhabenen Geheimnisse in ihr zu wirken, durch welche sein allmächtiger Arm sie auf die Würde der göttlichen Mutterschaft, die ihr in Bälde zuteil werden sollte, mehr und mehr vorbereitete. Der vierte Tag dieser Vorbereitungszeit brach an. Ähnlich wie an den vorausgehenden Tagen und zur gleichen Stunde wurde die allerseligste Jungfrau zur Anschauung Gottes erhoben, und zwar in der bereits oben beschriebenen Weise der abstrakten Vision; allein die Wirkungen, welche in diesem reinsten Geist hervorgebracht wurden, waren neu, und die Erleuchtungen, die ihm zuteil wurden, waren höher. Gibt es ja in der Macht Gottes und in seiner Weisheit weder Schranke noch Grenze; nur unser Wille setzte ihnen eine solche, teils durch seine Werke, teils durch die geringe Empfänglichkeit, die er als beschränktes Geschöpf hat. In der heiligsten Jungfrau aber fand die göttliche Allmacht kein Hindernis von Seiten ihrer Werke, denn sie tat alles mit vollkommener Heiligkeit und zum vollen Wohlgefallen des Herrn, so dass sie ihn dadurch gewann und, wie er selbst sagt (Hld 4, 9), sein Herz mit Liebe verwundete. Nur darin konnte der Arm Gottes eine Schranke finden, dass die seligste Jungfrau ein bloßes Geschöpf war; allein, soweit dies innerhalb der Sphäre eines bloßen Geschöpfes möglich ist, wirkte der Arm Gottes in ihr ohne Grenze, ohne Schranke, ohne Maß, indem er ihr die Gewässer der Weisheit in der Weise mitteilte, dass sie dieselben an der Quelle der Gottheit ganz rein und kristallhell trinken konnte.

39. In dieser Vision offenbarte sich ihr der Herr mit einem ganz besonderen Licht: Er erklärte ihr das neue Gesetz der Gnade, welches der Erlöser der Welt einführen sollte; die Sakramente, welche es enthalten, den Zweck, wozu er diese einsetzen und in der Kirche des neuen Evangeliums hinterlassen würde; die Hilfen, Gaben und Gnaden, welche er den Menschen bereitete, voll Verlangen, dass alle selig werden und die Frucht der Erlösung sich zunutze machen möchten. Die heiligste Jungfrau Maria, belehrt durch den höchsten Lehrmeister, durch den «Leiter der Weisen» (Weish 7, 15), erhielt in diesen Visionen eine so große Weisheit, dass, wenn ein Mensch oder ein Engel dies aufzeichnen könnte - was freilich nicht möglich ist -, mit dieser Kenntnis Mariä allein mehr Bücher angefüllt werden könnten, als über alle Künste, Wissenschaften und Erfindungen Bücher in der ganzen Welt geschrieben worden sind. Es ist dies auch kein Wunder, wiewohl es übrigens das größte aller Wunder ist, die an einem bloßen Geschöpf sich finden; denn in das Herz und in den Geist unserer Königin ergoss und erschöpfte sich der Ozean der Gottheit, den die Sünden und die geringe Empfänglichkeit der Menschen aufgehalten und in sich selbst zurückgedrängt hatten. Nur eines blieb der seligsten Jungfrau bis zur geeigneten Zeit immer verborgen, nämlich, dass sie diejenige sei, welche erwählt war zur Mutter des Eingebornen vom Vater.

40. Bei den süßen Tröstungen dieser göttlichen Wissenschaft empfand unsere Königin an diesem Tag auch einen liebevollen, aber tiefen Schmerz, den eben diese Wissenschaft in ihr erneuerte. Sie erkannte nämlich auf Seiten des Allerhöchsten die unaussprechlichen Schätze von Gnaden und Gaben, welche er für die Sterblichen bereit hielt, und das mächtige Verlangen Gottes, dass alle Menschen seiner ewigen Seligkeit teilhaftig werden möchten. Zu gleicher Zeit sah und erkannte sie aber auch den üblen Zustand der Welt und die große Verblendung, womit die Menschen sich dieser Teilnahme an der Gottheit unwürdig machten und derselben sich beraubten. Diese Erkenntnis verursachte in ihr eine neue Art von Martyrium, teils wegen ihres übergroßen Schmerzes über den Untergang der Menschen, teils wegen ihres heftigen Verlangens, einem so bejammernswerten Übel zu steuern. Sie verrichtete zu diesem Zweck die inbrünstigsten Gebete, Bitten, Aufopferungen, Selbstverdemütigungen und heldenmütige Akte der Liebe zu Gott und den Menschen, damit doch womöglich kein einziger in Zukunft verloren gehe, sondern alle ihren Schöpfer und Erlöser erkennen, bekennen, anbeten und lieben möchten. Dies alles geschah in derselben Vision der Gottheit. Die Gebete aber fanden in der nämlichen Weise statt wie die früher schon genannten, weswegen ich sie hier nicht ausführlich beschreibe.

41. Der Herr offenbarte der seligsten Jungfrau bei diesem Anlass die Schöpfungswerke des vierten Tages (Gen1,14-17). Unsere himmlische Herrin schaute, wann und wie die Lichter des Himmels am Firmament gebildet wurden, damit sie den Tag von der Nacht scheiden und die Zeiten, Tage und Jahre angeben. Zu diesem Zweck wurde das große Himmelslicht, die Sonne, geschaffen, um dem Tag vorzustehen; zugleich mit ihr wurde der Mond gebildet, das kleinere Licht, welches die Finsternis der Nacht erleuchtet. Die seligste Jungfrau sah ferner, wie die Sterne im achten Himmel (Die Verfasserin bedient sich hier der bei den Scholastikern vielfach angenommenen Einteilungsweise für die verschiedenen Himmel. Der Herausgeber) gebildet wurden, damit sie durch ihr funkelndes Licht die Nacht erheitern und sowohl der Nacht als dem Tag durch ihre verschiedenen Einflüsse vorstehen. Sie schaute den Stoff dieser Lichtkörper, ihre Gestalt, ihre Eigenschaften, ihre Größe, ihre verschiedenen Bewegungen und die regelmäßige Ungleichheit der Planeten. Sie kannte auch die Zahl der Sterne, alle ihre Einflüsse, die sie auf die Erde und die belebten und unbelebten Wesen auf ihr ausüben; die Wirkungen, welche sie in diesen hervorbringen, und in welcher Weise sie dieselben verändern und bewegen.

42. Das eben Gesagte ist nicht im Widerspruch mit dem 146. Psalm (Vers 4), in welchem der Prophet uns lehrt, dass Gott die Zahl der Sterne kennt und sie bei ihren Namen nennt; denn David leugnet keineswegs, dass dieser höchste Herr durch seine Allmacht und aus Gnade auch einem Geschöpf etwas verleihen könne, was er von Natur aus hat. Da er aber diese Kenntnis mitteilen konnte und diese Mitteilung zu größerer Auszeichnung der hehren Jungfrau beitrug, so ist klar, dass Gott ihr diese Gunst nicht verweigerte; hatte er ihr ja andere, viel größere Gaben verliehen und sie zur Königin und Herrin nicht nur der Sterne, sondern auch aller anderen Geschöpfe gemacht. Diese Gnade war ja gleichsam eine notwendige Folge der Herrschaft und Gewalt, welche ihr der Herr über die Kräfte, die Einflüsse und Wirkungen aller Himmelskörper verliehen hatte, indem er allen diesen Geschöpfen befahl, Maria, als ihrer Königin und Herrin, zu gehorchen.

43. Dadurch, dass der Herr den Himmelskörpern, um mich so auszudrücken, dieses Gebot erteilte, der heiligsten Jungfrau Maria aber die Herrschaft über dieselben verlieh, erhielt die Himmelskönigin eine so große Macht, dass, wenn sie den Sternen befehlen würde, ihre Stelle am Himmel zu verlassen, sie augenblicklich gehorchen und sich dahin begeben würden, wohin diese Herrin sie schickte. Dasselbe würde die Sonne tun sowie die Planeten; sie alle würden ihren Lauf und ihre Bewegung einstellen, ihre Einflüsse aufheben und ihre Wirkungen aufgeben, wenn Maria dies befehlen würde.

Die Himmelskönigin machte, wie ich bereits oben gesagt habe (oben Nr. 21), von dieser Herrschaft und Gewalt zuweilen Gebrauch; so gab sie zum Beispiel, wie wir später sehen werden, in Ägypten, wo die Hitze übermäßig groß ist, einige Male der Sonne den Befehl, ihre gewaltige Hitze zu mäßigen, damit sie mit ihren Strahlen dem göttlichen Kind, ihrem Herrn, nicht solche Pein und Beschwerde verursache. Und die Sonne gehorchte diesem Befehl, indem sie wohl der heiligsten Jungfrau Pein und Beschwerde verursachte, weil diese es so wollte, dagegen die «Sonne der Gerechtigkeit», die Maria auf den Armen trug, ehrfurchtsvoll verschonte. Ähnliches geschah auch mit andern Himmelskörpern, und zuweilen kam es auch vor dass die heiligste Jungfrau die Sonne in ihrem Lauf aufhielt, wie ich am betreffenden Ort sagen werde.

44. Noch viele andere sehr verborgene Geheimnisse eröffnete der Allerhöchste unserer großen Königin in dieser Vision; allein soviel ich auch über alle gesagt habe und noch sagen werde, so bleibt doch immer noch mein Herz unbefriedigt und wie gepeinigt, weil ich nur wenig von dem, was ich erkenne, sagen kann; und zudem erkenne ich auch, wie ich wohl weiß, bei weitem nicht alles, was der Himmelskönigin zuteil geworden ist. Auch sind viele sie betreffende Geheimnisse noch vorbehalten, welche erst am Tag des allgemeinen Gerichtes von ihrem allerheiligsten Sohn werden geoffenbart werden, weil wir jetzt noch nicht fähig sind, sie alle zu fassen.

Die heiligste Jungfrau Maria kehrte aus dieser Vision zurück, noch mehr entflammt und noch mehr umgestaltet in das unendliche Gut und dessen Vollkommenheiten, die sie geschaut. Je weiter Gott in seinen Gnadenauszeichnungen ging, um so weiter schritt sie in den Tugenden voran, um so mehr vervielfältigte sie ihre Bitten, ihre Seufzer, ihre Inbrunst und ihre Verdienste, durch die sie die Menschwerdung des ewigen Wortes und unsere Erlösung beschleunigte.

LEHRE, welche die Himmelskönigin mir gab

45. Meine liebe Tochter, ich will, dass du mit großer Aufmerksamkeit erwägst und hochschätzst, was du verstanden hast von dem, was ich tat und litt, als der Herr mir eine solche Erkenntnis verlieh, einerseits über seine Güte, welche unendlich verlangt, die Menschen zu bereichern, und anderseits über ihre geringe Erkenntlichkeit, ja ihren schwarzen Undank. Als ich von der Betrachtung dieser freigebigsten Güte niederstieg, um die unverständige Härte der Sünder ernstlich zu erwägen, wurde mein Herz durchbohrt durch einen Pfeil von tödlicher Bitterkeit, der mein ganzes Leben lang mich schmerzte. Ich will dir auch ein anderes Geheimnis mitteilen: Um die Betrübnis und Traurigkeit, welche mein Herz in diesem Schmerz fühlte, zu lindern, antwortete der Allerhöchste mir oftmals: «Empfange, meine teure Braut, was die unwissende und blinde Welt verachtet, da sie unwürdig ist, es zu kennen und zu erhalten.» Bei dieser Antwort ließ dann der Herr dem Strom seiner Schätze freien Lauf, und diese trösteten meine Seele mehr, als der menschliche Verstand fassen und eine Zunge aussprechen kann.

46. Ich will nun, meine liebe Freundin, dass du meine Genossin seist in diesem Schmerz, den ich für die Lebenden litt und auf welchen diese so wenig achthaben. Um mich aber hierin und in den Wirkungen, welche eine so gerechte Pein in dir hervorbringen wird, nachzuahmen, musst du gänzlich dir selbst entsagen, dich in allem vergessen und dein Herz mit Dornen und Schmerzen krönen, ganz anders als die Sterblichen tun. Weine über das, worüber sie lachen und sich erfreuen zu ihrer ewigen Verdammung; denn dies ist die gerechteste Beschäftigung der wahren Bräute meines heiligsten Sohnes, sie dürfen sich nur erfreuen in den Tränen, die sie vergießen über ihre Sünden und über die Sünden der verblendeten Welt. Bereite dein Herz durch diese Gesinnung vor, damit der Herr dir seine Schätze mitteile; aber tue dies nicht so sehr deshalb, um reich zu werden, als vielmehr, damit die göttliche Majestät ihre freigebige Liebe an dir erfüllen könne, welche dir ihre Schätze mitteilen und die Seelen retten will. Folge mir in allem nach, was ich dich lehre; denn du weißt, dass ich dies von dir verlange.

FÜNFTES HAUPTSTÜCK: Fünfter Tag

Der Allerhöchste offenbart der heiligsten Jungfrau Maria neue Geheimnisse mit den Werken des fünften Schöpfungstages. Maria erneuert ihre Bitten um die Menschwerdung des Wortes.

47. Es kam der fünfte Tag der Novene, welche die heiligste Dreifaltigkeit in ihrem Tempel, das ist in der allerseligsten Jungfrau Maria, feierte, als Vorbereitung auf den Tag, an welchem das ewige Wort in ihrem Schoß die menschliche Natur annehmen sollte. Immer mehr lüftete sich der Schleier der tiefen Geheimnisse der unendlichen Weisheit; neue Geheimnisse wurden ihr an diesem Tage geoffenbart, indem sie der Herr, wie an den vorausgehenden Tagen, zu der abstrakten Vision der Gottheit erhob, und zwar in der bereits beschriebenen Weise. Doch brachten die sich wiederholenden Vorbereitungen und vorausgehenden Erleuchtungen eine immer größere Fülle von Licht und Charismen (Gaben) mit sich, die aus den Schatzkammern der unendlichen Güte über die heiligste Seele Mariä und deren Kräfte herabströmten. Durch die Wirksamkeit dieser Gnaden wurde die Himmelskönigin immer mehr mit der Wesenheit Gottes vereinigt, ihr gleichgestaltet und in sie umgewandelt bis sie dahin kam, würdige Mutter Gottes zu sein.

48. In dieser Vision redete der Allerhöchste zur himmlischer Königin, um ihr neue Geheimnisse zu offenbaren. Er zeigte sich ihr mit unaussprechlichem Wohlwollen und sprach: « Meine Braut, meine Taube, du hast in dem Verborgenen meines Herzens die unermessliche Freigebigkeit gesehen, zu welcher mich die Liebe zum Menschengeschlecht treibt, sowie die verborgenen Schätze, die ich für ihre Seligkeit bereit halte; diese Liebe ist so mächtig über mich, dass ich ihnen meinen eingebornen Sohn geben will, damit dieser sie unterrichte und erlöse. Du hast auch in etwa gesehen, wie schlecht die Menschen mir vergelten und wie sie meine Güte und Liebe mit schwärzestem Undank und mit Verachtung erwidern. Aber obwohl ich dir einen Teil ihrer Bosheit gezeigt habe, will ich doch, meine teure Freundin, dass du in meinem Wesen aufs neue schaust, wie klein die Zahl derjenigen ist, die mich erkennen und lieben werden als meine Auserwählten, und wie groß dagegen die Zahl der Undankbaren und Verworfenen ist. Diese zahllosen Sünden und die Gräuel so vieler befleckter und in Finsternis versunkener Menschen, welche ich in meiner Allwissenheit voraussehe, halten den mächtigen Drang meiner Barmherzigkeit zurück; sie haben die Kanäle, durch welche die Schätze meiner Gottheit sich ergießen sollen, mit einem starken Damm verschlossen und machen die Welt unwürdig, diese Schätze zu empfangen».

49. Unsere Königin Maria erkannte bei diesen Worten des Allerhöchsten große Geheimnisse über die Zahl der Auserwählten und der Verworfenen; sie sah auch, wie alle Sünden der Menschen miteinander im Geist Gottes ein Hindernis bildeten und gleichsam Widerspruch erhoben, dass das ewige Wort Mensch werde und in die Welt komme. Beim Schauen der unendlichen Güte und Gerechtigkeit des Schöpfers einerseits und der unermesslichen Ungerechtigkeit und Bosheit der Menschen anderseits wurde die weiseste Jungfrau von Staunen ergriffen. Ganz entflammt vom Feuer der göttlichen Liebe, sprach sie zu Seiner Majestät:

50. «Mein Herr, unendlicher Gott von unbegreiflicher Weisheit und Heiligkeit, o mein einziges Gut, was ist dies für ein Geheimnis, das du mir eben geoffenbart hast? Die Missetaten der Menschen haben kein Maß und kein Ziel; deine Weisheit allein begreift sie; aber all diese Missetaten und noch viele andere und größere, können sie wohl deine Güte und Liebe auslöschen oder mit ihr sich messen? Nein, mein Herr und Gebieter, dem soll nicht so sein; die Bosheit der Sterblichen darf deine Barmherzigkeit nicht zurückhalten. Ich bin die unnützeste aus dem ganzen Menschengeschlecht, aber ich stelle in seinem Namen eine Frage betreffs deiner Treue. Unfehlbare Wahrheit ist es, dass Himmel und Erde eher vergehen als die Wahrheit deiner Worte (Jes 51, 6), und ebenso ist es Wahrheit, dass du der Welt mehrmals durch den Mund deiner heiligen Propheten und diesen selbst durch deinen eigenen Mund das Wort gegeben, ihnen ihren Erlöser und unser Heil zu senden. Wie sollten nun, mein Gott, diese Verheißungen sich nicht erfüllen; sie sind ja beglaubigt von deiner unendlichen Weisheit, können also nicht irre gehen; und beglaubigt von deiner Güte, können also die Menschen nicht täuschen. Um ihnen dieses Versprechen zu geben und ihnen die ewige Seligkeit durch dein menschgewordenes Wort anzubieten, dafür fehlte von Seiten der Sterblichen jedes Verdienst, und kein Geschöpf konnte dich, o Herr, dazu verpflichten. Wenn man dieses Gut verdienen könnte, dann würde deine unendlich freigebige Güte nicht so sehr verherrlicht werden; nur durch dich selbst hast du dazu verpflichtet werden können, denn in Gott allein kann sich der Grund finden, der ihn bewegt, Mensch zu werden; in dir allein liegt der Grund und das Motiv, dass du uns erschaffen hast und nach dem Fall wieder erlösen willst. O mein Gott und höchster König, suche keine Verdienste, noch andere Gründe für die Menschwerdung als deine Barmherzigkeit und die Erhöhung deiner Glorie».

51. Der Allerhöchste antwortete: « Meine Braut, freilich hat meine unermessliche Güte mich bewogen, den Menschen zu versprechen, dass ich mich mit ihrer Natur bekleiden und unter ihnen wohnen werde, ein Versprechen, welches niemand von mir verdienen konnte; aber das höchst undankbare Benehmen der Menschen, welches meiner Gerechtigkeit und meinem Angesicht ganz verhasst ist, verdient, dass die Verheißung nicht zur Ausführung komme. Denn während ich als Erwiderung meiner Liebe nichts anderes verlange als das Interesse ihrer eigenen ewigen Seligkeit, sehe und finde ich bei ihnen nur Hartherzigkeit, womit sie die Schätze meiner Gnade und meiner Glorie vergeuden und verachten werden. Ich weiß, ihr Dank wird darin bestehen, dass sie mir Dornen geben anstatt der Frucht, grobe Beleidigungen für die Wohltaten und schändlichen Undank für meine reichlichen und freigebigen Erbarmungen; das Ende aber all dieser Bosheiten wird für sie kein anderes sein als der Verlust meiner Anschauung in den ewigen Qualen. Meine Freundin, betrachte diese Wahrheiten, die geschrieben stehen in dem Innersten meiner Weisheit, und erwäge diese großen Geheimnisse, denn dir ist mein Herz geöffnet, und du siehst darin den Grund für das Verfahren meiner Gerechtigkeit».

52. Es ist unmöglich, die Geheimnisse zu erklären, welche die heiligste Jungfrau in Gott dem Herrn erkannte, denn sie sah in Ihm alle gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Geschöpfe; die Ordnung, in welcher alle Seelen aufeinander folgen; die guten und bösen Werke, welche sie verrichten, und das Ende, welches sie alle nehmen werden. Wäre Unsere Liebe Frau nicht durch die göttliche Kraft gestärkt worden, sie hätte das Leben nicht bewahren können bei den Empfindungen und Wirkungen, welche das Schauen und Erkennen so tiefer Geheimnisse in ihr hervorrief. Doch Gott hatte bei diesen großen Wundern und Wohltaten erhabene Ziele im Auge; darum war er nicht sparsam, sondern höchst freigebig gegen diejenige, die er liebte und zu seiner Mutter erkoren hatte. Da unsere Königin diese Erkenntnis aus dem Herzen Gottes selbst schöpfte, erhielt sie damit auch das Feuer der ewigen Liebe, welches sie mit Liebe zu Gott und dem Nächsten entflammte; sie setzte darum ihre Gebete fort und sprach:

53. «Ewiger, unsichtbarer, unsterblicher Gott und Herr, ich bekenne deine Gerechtigkeit, ich preise deine Werke, ich bete deine unendliche Größe an und verehre deine Gerichte. Mein Herz ergießt sich in liebevollen Anmutungen, da ich deine unbegrenzte Güte für die Menschen und ihre schwere Undankbarkeit und Gefühllosigkeit gegen dich erkenne. Du, o Gott, willst, dass alle zum Ewigen Leben gelangen; aber wenige werden es sein, welche für diese unschätzbare Wohltat danken, und viele werden sie durch ihre Bosheit verlieren. Wenn du, o höchstes Gut, darum zürnst, so sind wir Menschen verloren; doch wenn du in deiner Allwissenheit die Schuld und Bosheit der Menschen vorhersiehst, die dich so sehr beleidigen, so siehst du in derselben Allwissenheit auch deinen eingebornen, menschgewordenen Sohn und seine Werke, die vor dir von unendlichem Werte sind, und diese sind noch überfließender und ohne Vergleich größer als die Sünden. Durch diesen Gottmenschen muss deine Gerechtigkeit sich befriedigen lassen, und um seinetwillen musst du ihn uns ohne Verzug geben. Um dies nochmals im Namen des Menschengeschlechtes zu erflehen, bekleide ich mich mit dem Geist des Wortes, das vor deinem Wissen bereits Mensch geworden ist, und bitte um die Ausführung dieses Geheimnisses und um das ewige Leben durch seine Vermittlung für alle Menschen.»

54. Bei dieser Bitte der reinsten Jungfrau Maria stellte sich, menschlich gesprochen, der ewige Vater vor, wie sein Eingeborner in den jungfräulichen Schoß dieser großen Königin niedersteigen werde; und ihre liebevollen und demütigen Bitten überwanden ihn. Wenn er sich ihr noch immer unentschlossen zeigte, so war dies ein Kunstgriff seiner zärtlichen Liebe, damit er so öfter die Stimme seiner Geliebten höre und damit ihre süßen Lippen noch länger «den lieblichsten Honig träufeln» und ihre Worte wie die« Früchte eines Paradiesgartens» seien (Hld 4,11.13). Um diesen zärtlichen Streit zu verlängern, antwortete ihr der Herr: «Meine süßeste Braut, meine auserwählte Taube, viel ist das, was du von mir verlangst, und gar wenig ist, was die Menschen mir zuliebe tun; wie soll ich denn Unwürdigen eine so große Wohltat erweisen? Lass mich, meine Freundin, damit ich sie behandle, wie ihr Undank es verdient!» Unsere mächtige und mitleidsvolle Fürsprecherin erwiderte: «Nein, mein Herr, ich werde von dir nicht lassen mit meiner Zudringlichkeit. Ist es auch viel, um was ich bitte, so bitte ich ja doch dich, der du reich bist an Erbarmungen, mächtig in den Werken und wahrhaftig in den Worten. Mein Vater David hat von dir und dem ewigen Worte gesagt: Der Herr hat geschworen, und es wird ihn nicht gereuen, geschworen zu haben: Du bist Priester nach der Ordnung Melchisedechs (Ps 110, 4). O so möge denn dieser Priester kommen, der zugleich das Opfer für unsere Erlösung sein soll. Er möge kommen; dein Versprechen kann dich nicht reuen, denn du weißt ja, was du versprichst. Meine süße Liebe, ich bin bekleidet mit der Kraft dieses Gottmenschen, und ich werde von meiner Zudringlichkeit nicht lassen, bis du mich gesegnet hast wie meinen Vater Jakob (Gen 32, 26)».

55. Wie einstens der Patriarch Jakob, so wurde auch unsere Königin und Herrin in diesem Wettstreit mit Gott gefragt, welches ihr Name sei; sie antwortete: «Eine Tochter Adams bin ich, gebildet durch deine Hand aus dem niedrigen Stoff des Staubes». Da erwiderte der Allerhöchste: «In Zukunft wird dein Name sein: Auserwählte zur Mutter des Eingebornen ». Aber die letzten Worte wurden nur von den himmlischen Geistern verstanden; der seligsten Jungfrau blieben sie verborgen bis zur bestimmten Zeit, da sie nur das Wort «Auserwählte» vernahm. Nachdem dieser Wettstreit der Liebe so lange gedauert, als die göttliche Weisheit bestimmt hatte und als hinreichend war, um das feurige Herz der «Auserwählten» ganz zu entflammen, gab die ganze heiligste Dreifaltigkeit der reinsten Jungfrau Maria, unserer Gebieterin, ihr königliches Wort, in kurzer Frist der Welt das ewige Wort zu senden, damit es Mensch werde. Auf dieses Fiat («Es geschehe») bat die seligste Jungfrau, voll von Freude und unaussprechlichem Jubel, um den Segen, und der Allerhöchste gab ihr denselben. So ging diese starke Frau aus dem Streite mit Gott hervor, siegreicher als einst Jakob; denn sie war reich, stark und mit Beute beladen, er aber war verwundet; ja, menschlich gesprochen, Gott selbst war kraftlos geworden, überwunden durch die Liebe dieser Herrin; nun war er gewillt, in dem Brautgemach ihres heiligen Schoßes sich mit der menschlichen Schwachheit zu bekleiden, unser leidensfähiges Fleisch anzunehmen und unter diesem die Stärke seiner Gottheit zu verdecken und zu verbergen, um als Besiegter zu siegen und das Leben uns zu geben durch seinen Tod. Da mögen die Sterblichen sehen und erkennen, wie nächst ihrem gebenedeitesten Sohn die heiligste Jungfrau Maria die Ursache ihres Heiles ist!

56. Dann wurden unserer großen Königin in dieser Vision die Werke des fünften Schöpfungstages geoffenbart, gerade wie dieselben geschehen waren. Sie erkannte, wie durch die Kraft des göttlichen Wortes von den Gewässern unterhalb des Firmamentes die unvollkommenen Reptilien hervorgebracht wurden, die auf der Erde kriechen; die Vögel, die durch die Luft fliegen, und die Fische, welche die Gewässer bewohnen und durchziehen. Sie erkannte all dieser Geschöpfe Anfang, Stoff, Form und Gestalt; die Gattung und alle Arten der wilden Tiere, deren Eigenschaften, Nutzen und Harmonie; die Vögel des Himmels (das heißt der Luft) mit der Verschiedenheit und Form jeder Art, deren Schmuck, Federn und Leichtigkeit; die unzähligen Fische des Meeres und der Flüsse; die verschiedenen Arten der großen Seetiere, ihren Bau, ihre Eigenschaften, ihren Aufenthalt und die Nahrung, welche das Meer ihnen bietet; die Zwecke, wozu sie dienen, ihre Form und den Nutzen, den sie alle der Welt bringen. Der Herr gab diesem ganzen Heer von Geschöpfen den besonderen Befehl, die heiligste Jungfrau als ihre Herrin anzuerkennen und ihr zu gehorchen; er gab dieser die Macht, allen zu befehlen und sich derselben zu bedienen, wie dies bei mehreren Gelegenheiten geschah, deren ich einige seinerzeit nennen werde. Dann trat sie aus der Vision dieses Tages und verwendete den übrigen Teil desselben zu den Übungen und Gebeten, welche der Herr ihr geboten hatte.

LEHRE, welche mir die himmlische Herrin gab

57. Meine Tochter, die vollkommenere Erkenntnis der Wunderwerke, welche der Arm des Allmächtigen an mir getan, um mich durch die abstrakten Visionen der Gottheit zur Würde seiner Mutter zu erheben, ist den Auserwählten vorbehalten, welche dies in dem himmlischen Jerusalem schauen. Dort werden sie es in Gott selbst sehen und verstehen mit besonderer Freude und Bewunderung, wie die Engel solche fühlten, als der Allerhöchste ihnen dies offenbarte, wofür sie ihn lobten und verherrlichten. Weil aber die göttliche Majestät hinsichtlich dieser Gnade dich vor allen Geschlechtern ausgezeichnet und dir durch Verleihung der Erkenntnis und des Lichtes, das du über diese hohen Geheimnisse empfängst, ihre freigebige Liebe in besonderer Weise erzeigt hat, so verlange ich auch von dir, meine Freundin, dass du vor allen Geschöpfen dich auszeichnest in Lobpreisung seines heiligen Namens für das, was die Macht seines Armes an mir getan.

58. Sodann musst du mit aller Sorgfalt trachten, mir in den Werken nachzufolgen, welche ich mit jenen großen und wunderbaren Gnaden verrichtete. Bitte und rufe zum Herrn, dass deine Brüder zum ewigen Heil gelangen und dass der Name meines Sohnes von der ganzen Welt erkannt und von allen Menschen gepriesen werde. Diesen Bitten sollst du mit beharrlichem Eifer obliegen, gegründet in lebendigem Glauben und mit festem Vertrauen, aber ohne dein Elend aus dem Auge zu verlieren, mit tiefer Demut und Selbsterniedrigung. So vorbereitet musst du mit der göttlichen Liebe ringen für das Wohl deines Volkes, fest überzeugt, dass die herrlichsten Siege der Liebe Gottes darin bestehen, dass sie sich besiegen lässt von den Demütigen, welche mit aufrichtigem Herzen ihn lieben. Erhebe dich über dich selbst und danke Gott für die Wohltaten, die er dir im besonderen und die er dem ganzen Menschengeschlecht erwiesen hat. Zu dieser göttlichen Liebe gewendet, wirst du neue Gnaden erlangen sowohl für dich als auch für deine Brüder; endlich bitte den Herrn jedes Mal um seinen Segen, so oft du dich in seiner göttlichen Gegenwart befindest.

SECHSTES HAUPTSTÜCK: Sechster Tag

Der Allerhöchste offenbart unserer Königin Maria andere Geheimnisse, nebst den Werken des sechsten Schöpfungstages

59. Der Herr fuhr fort, unserer Königin die nächste Vorbereitung zu geben, damit sie das ewige Wort in ihrem jungfräulichen Schoß empfange; die heiligste Jungfrau aber setzte ununterbrochen ihre glühenden Affekte und Gebete fort, damit der Erlöser doch in die Welt komme. Als nun die Nacht des sechsten der Tage, die ich hier erkläre, gekommen war, wurde sie durch die nämliche Stimme und die nämliche Kraft wie früher gerufen und im Geist erhoben; und nachdem sie durch noch erhabenere Erleuchtungen vorbereitet worden war, offenbarte sich ihr die Gottheit durch eine abstrakte Vision in derselben Weise, wie dies früher schon geschehen war, doch immer mit göttlicheren Wirkungen und mit einer tieferen Erkenntnis der Vollkommenheiten Gottes. Sie brachte neun Stunden in diesem Gebet zu und beendete es um die Stunde der Terz (9 Uhr). Aber obwohl dann diese erhabene Vision des Wesens Gottes aufhörte, verlor doch die heiligste Jungfrau darum Gott nicht aus dem Auge noch unterbrach sie das Gebet; vielmehr blieb sie in einem anderen Gebetszustand, welcher, wenn auch tiefer stehend als der vorhergehende, doch in sich selbst sehr erhaben war und vollkommener als das erhabenste Gebet aller Heiligen und Gerechten. Alle diese Gaben und Gnaden waren in den letzten der Menschwerdung unmittelbar vorangehenden Tagen mehr vergöttlicht; jedoch wurde Unsere Liebe Frau dadurch in den äußeren Beschäftigungen ihres Standes nicht gehindert; hier konnte Martha nicht klagen, dass Mariä sie in ihren Arbeiten allein lasse (Lk 10, 40).

60. Nachdem die seligste Jungfrau in dieser Vision die Gottheit beschaut hatte, wurden ihr die Werke des sechsten Tages der Erschaffung der Welt geoffenbart. Wie wenn sie dabei gegenwärtig gewesen wäre, schaute sie in dem Herrn, wie die Erde auf sein göttliches Wort hin «lebende Wesen nach ihrer Art» hervorbrachte, wie Mose (Gen 1, 24) sich ausdrückt, der unter diesem Namen die Tiere der Erde versteht, welche, weil vollkommener in den Tätigkeiten und in dem tierischen Leben als die Fische und die Vögel, nach ihrem vorzüglicheren Bestandteile «lebende Wesen» genannt werden. Sie erkannte und durchschaute alle Gattungen und Arten der Tiere, welche am sechsten Tage erschaffen wurden, und wie die einen zahme Tier hießen, weil sie den Menschen dienen und helfen; andere mehr wilde Tiere oder Waldtiere; noch andere Reptilien, weil sie sich wenig oder gar nicht von der Erde erheben; und sie verstand deutlich und je im besonderen ihre Eigenschaften, ihre Wildheit, ihre Kraft, ihre Tätigkeit, ihre Bestimmung und ihre ganze Lage. Über alle diese Tiere wurde ihr Herrschaft und Macht verliehen und denselben befohlen, ihr zu gehorchen. So hätte sie ohne Furcht die Nattern und Basilisken mit Füßen treten können; alle hätten sich ihr zu Füßen gelegt. Einige Tiere haben dies in der Tat mehrmals getan, so bei der Geburt ihres heiligsten Sohnes; da warfen sich der Ochse und der Esel vor dem göttlichen Kinde nieder und erwärmten es mit ihrem Atem, weil die göttliche Mutter ihnen dies geboten hatte.

61. In der Fülle dieser Wissenschaft erkannte und verstand unsere himmlische Königin aufs vollkommenste, wie Gott alles, was er erschaffen, auf verborgene Weise zum Dienst und zum Wohl des Menschengeschlechtes hinleitete und wie sehr auf der anderen Seite die Menschen verpflichtet sind, ihrem Schöpfer dafür zu danken. Und es war sehr gut, dass die heiligste Jungfrau Maria diese Art von Weisheit und Erkenntnis besaß, damit sie nämlich die Dankesschuld, welche solchen Wohltaten entspricht, abstatte, da weder Menschen noch Engel dies taten, indem sie entweder die schuldige Danksagung ganz versäumten oder zur vollen Abstattung, die sie als Geschöpfe schuldig wären, es nicht brachten. Die Königin aller Geschöpfe hat alle diese Lücken ausgefüllt und Genugtuung geleistet für das, was wir nicht leisten konnten oder nicht leisten wollten. Durch den Dank, den sie abstattete, befriedigte sie sozusagen die göttliche Gerechtigkeit, indem sie zwischen dieser und den Geschöpfen ins Mittel trat. - Durch ihre Unschuld und Dankbarkeit war sie Gott wohlgefälliger als diese insgesamt; der Allerhöchste war durch die heiligste Jungfrau allein mehr befriedigt als durch alle übrigen Geschöpfe. Auf diese geheimnisvolle Weise bereitete sich das Erscheinen Gottes in der Welt immer mehr vor, da das entgegenstehende Hindernis durch die Heiligkeit seiner künftigen Mutter entfernt wurde.

62. Nächst der Erschaffung aller vernunftlosen Geschöpfe sah die heiligste Jungfrau noch in der nämlichen Vision die Erschaffung des Menschen. Sie sah, wie die heiligste Dreifaltigkeit, um der Welt ihre Vollendung und Vervollkommnung zu geben, also sprach: «Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis (Gen 1, 26)», und wie kraft dieses göttlichen Beschlusses der erste Mensch aus Erde gebildet wurde als Stammvater der andern. Sie erkannte vollkommen die Harmonie des menschlichen Körpers, die Seele, deren Fähigkeiten, Erschaffung, Eingießung in den Leib und ihre Vereinigung mit diesem zu einem Ganzen. Im Bau des menschlichen Körpers erkannte sie im einzelnen alle seine Teile, die Zahl der Knochen, der Adern, Arterien und Nerven. Sie erkannte, wie durch das Zusammenwirken der vier Säfte ein passendes Temperament sich bildet; desgleichen die Fähigkeit, sich zu erhalten, zu verändern, zu nähren und von der Stelle zu bewegen; wie durch die Veränderung und Störung dieser ganzen Harmonie die Krankheiten verursacht werden und wie diese wieder geheilt werden. Dies alles verstand und erkannte die weiseste Jungfrau ohne Irrtum, besser als alle Philosophen der Welt, ja besser als die Engel.

63. Der Herr offenbarte ihr auch den glücklichen Stand der ursprünglichen Gerechtigkeit, in welchen er unsere ersten Eltern Adam und Eva versetzt hatte. Sie erkannte die Eigenschaften, die Schönheit und Vollkommenheit der Unschuld und der Gnade, und welch kurze Zeit jene darin verharrten. Sie sah, auf welche Weise dieselben versucht und durch die Arglist der Schlange besiegt wurden; sie sah die Wirkungen der Sünde sowie die Wut und den Hass der bösen Geister gegen das Menschengeschlecht. Beim Schauen all dieser Dinge erweckte unsere Königin große, heroische Tugendakte, die dem Herrn im höchsten Grade wohlgefielen; sie bekannte, dass sie die Tochter dieser Stammeltern sei und von einem seinem Schöpfer so undankbaren Geschlecht abstamme. In dieser Erkenntnis demütigte sie sich in der Gegenwart Gottes so, dass sie dessen Herz verwundete und ihn bewog, sie über alles Erschaffene zu erheben. Sie nahm es auf sich, diese erste Schuld und alle anderen, die aus derselben folgten, zu beweinen, wie wenn sie selbst diese alle begangen hätte. Aus diesem Grund konnte man schon damals die Schuld eine «glückliche» nennen (felix culpa), welche würdig war, durch Tränen beweint zu werden, die in den Augen des Herrn so kostbar waren, dass sie die erste Bürgschaft und ein sicheres Unterpfand unserer Erlösung bildeten.

64. Die seligste Jungfrau brachte dem Schöpfer den würdigen Dank dar für das wundervolle Werk der Erschaffung des Menschen. Sie betrachtete aufmerksam dessen Ungehorsam und die Verführung und Täuschung Evas und entschloss sich in ihrem Geist zu dem immerwährenden Gehorsam, welchen die ersten Eltern ihrem Gott und Herrn verweigert hatten. Diese Unterwürfigkeit war Gott so wohlgefällig, dass er anordnete, an diesem Tag müsse sich in Gegenwart des himmlischen Hofes die Wahrheit erfüllen und vollziehen, welche vorgebildet war in der Geschichte des Königs Assuerus, der die Königin Vasthi verstieß und wegen ihres Ungehorsams der königlichen Würde beraubte und anstatt ihrer die demütige und anmutsvolle Esther zur Königin erhob (Est 1 u. 2).

65. Diese Geheimnisse stehen aber in jeder Hinsicht in einem merkwürdigen Zusammenhang miteinander. Auch der höchste und wahre König hatte, um die Größe seiner Macht und die Schätze seiner Gottheit zu zeigen, ein großes Gastmahl veranstaltet, indem er die Welt erschuf. Er bereitete die Tafel, indem er alle Geschöpfe zur Verfügung stellte, und dann berief er, unsere Stammeltern erschaffend, das Menschengeschlecht zum Mahl. Vasthi war ungehorsam, das heißt, unsere Mutter Eva hat das göttliche Gebot übertreten; da befahl der wahre Assuerus an jenem Tag, unter der Zustimmung und dem wunderbaren Lobpreise der Engel, dass die demütigste Esther, die heiligste Jungfrau Maria, voll der Gnade und Schönheit, zur Würde der Königin alles Erschaffenen erhoben werde, sie, die unter allen Töchtern Adams auserwählt war, Wiederherstellerin des Menschengeschlechtes und Mutter ihres Schöpfers zu sein.

66. Damit aber das genannte Vorbild vollständig erfüllt würde, flößte der Allerhöchste in dieser Vision dem Herzen unserer Königin neuen Hass gegen Satan ein, wie Esther solchen gegen Aman hegte; und so geschah es, dass sie denselben von seiner Stelle verdrängte, das heißt ihn der Macht und Herrschaft beraubte, die er in der Welt innehatte, den Kopf seines Hochmuts zertrat und ihn bis zum Kreuzesholz führte, wo er den Gottmenschen besiegen und vernichten wollte, aber selbst besiegt und gezüchtigt wurde. Denn die heiligste Jungfrau hat bei all dem mitgewirkt, wie wir an seiner Stelle sagen werden (unten Nr. 1364). Der Neid dieses großen Drachens (Offb 12, 3.4) gegen die Frau, das er im Himmel mit der Sonne bekleidet gesehen hatte und welches, wie wir sagten, unsere himmlische Königin war (Erster Teil, Nr. 95), hatte schon im Himmel seinen Anfang genommen, und der Kampf dauerte fort, bis der Satan durch eben diese Frau aus seiner tyrannischen Herrschaft verdrängt war. Und gleichwie statt des stolzen Aman der treue Mardochäus zu Ehren erhoben wurde (Est 6,10), so wurde auch der keuscheste und treueste Joseph erhöht. Dieser trug Sorge für das Wohl unserer himmlischen Esther und bat sie unablässig, dass sie um die Befreiung ihres Volkes flehe; dies war nämlich der beständige Gegenstand der Gespräche zwischen dem heiligen Joseph und seiner reinsten Braut. Durch sie wurde er zu der Größe der Heiligkeit erhoben, die er erreichte, und zu einer so ausgezeichneten Würde, dass der höchste Gott ihm seinen Siegelring gab (Est 8, 2), damit er kraft dieser Vollmacht dem menschgewordenen Gott gebiete, welcher ihm auch untertan war, wie das Evangelium sagt (Lk 2, 51). - Hierauf trat unsere Königin aus der Vision.

LEHRE, welche mir die himmlische Frau gegeben

67. Meine Tochter, wunderbar war die Gabe der Demut welche der Allerhöchste mir bei dem Ereignis verlieh, das du eben beschrieben hast. Und weil Seine Majestät denjenigen nicht zurückstößt, der zu ihm ruft, und weil er seine Gunst demjenigen nicht verweigert, welcher sich bereitet, dieselbe zu empfangen, so will ich, dass du in der Übung dieser Tugend mir nachfolgst und meine Gefährtin seist. Ich hatte keinen Anteil an der Schuld Adams, da ich von seinem Ungehorsam ausgeschlossen war; weil ich aber teil hatte an seiner Natur und in dieser Hinsicht, aber nur in dieser, seine Tochter war, so demütigte ich mich in meinen Augen bis in den Abgrund des Nichts. Wie tief muss sich dann nach diesem Beispiel derjenige demütigen, der nicht allein an der ersten Schuld teil hatte, sondern nachher noch andere ohne Zahl begangen hat? Der Beweggrund und Zweck dieser demütigen Erkenntnis muss aber nicht sowohl der sein, der Strafe dieser Sünden zu entgehen, als vielmehr, die Ehre wiederherzustellen und zu ersetzen, welche man dadurch dem Schöpfer und Herrn aller Dinge geraubt und verweigert hat.

68. Wenn einer deiner Brüder deinen leiblichen Vater schwer beleidigt hätte, so wärest du keine dankbare und treue Tochter deines Vaters noch eine wahre Schwester deines Bruders, wenn du nicht über die Beleidigung des ersteren dich betrübtest und des letzteren Fehler wie deine eigenen beweintst; denn dem Vater schuldest du alle Ehrfurcht, und den Bruder musst du lieben wie dich selbst. Erwäge nun, liebste Tochter, und prüfe mit dem Licht der Wahrheit, wie groß der Abstand ist zwischen deinem leiblichen Vater und deinem Vater, der im Himmel ist, und dass ihr alle dessen Kinder seid, vereinigt durch enge Bande als Brüder und als Diener des einen wahren Herrn. Wie du also dich demütigen und mit großer Beschämung weinen würdest, falls deine leiblichen Brüder einen schändlichen Fehler begingen, so will ich, dass du auch tust für die Sünden, welche die Sterblichen gegen Gott begehen, dass du nämlich sie mit Beschämung beklagst, wie wenn du sie dir selbst zuzuschreiben hättest. Dies habe ich getan, als ich den Ungehorsam Adams und Evas und dessen unglückliche Folgen für das Menschengeschlecht erkannte, und der Allerhöchste hatte Wohlgefallen an meiner Dankbarkeit und Liebe; denn sehr wohlgefällig ist seinen Augen, wer jene Sünden beweint, welche vergessen werden von dem, der sie begeht.

69. Beachte zugleich, dass, so groß und erhaben auch die Gnaden sind, welche du vom Allerhöchsten erhältst, du darum die Gefahr nicht übersehen und ebenso wenig es vernachlässigen darfst, zu den Werken der Pflicht und der Liebe dich herabzulassen. Du wirst auf diese Weise keineswegs Gott verlassen; denn der Glaube lehrt dich, und die Vernunft leitet dich an, ihn zu jeder Beschäftigung und an jeden Ort mit dir zu nehmen; nur dich selbst musst du verlassen und deinen Willen, um den deines Herrn und Bräutigams zu erfüllen. Lasse dich bei deinen Affekten nicht leiten durch den Zug deiner Neigungen, noch durch die gute Meinung und innerliche Tröstung; denn diese sind gar oft der Mantel, unter welchem eine große Gefahr sich verbirgt. In Fällen, wo du zweifelst und nicht weißt, was zu tun ist, soll dir als Schiedsrichter und Lehrmeister immer der heilige Gehorsam dienen. Durch ihn wirst du ganz gewiss bei deinen Handlungen das Rechte treffen und bist du jeder anderen Untersuchung überhoben. Denn große Siege und große Fortschritte in den Verdiensten sind an die wahre Unterwürfigkeit und an die Unterwerfung unseres eigenen Urteils unter das Urteil anderer geknüpft. Niemals darfst du ein Wollen oder Nichtwollen haben; dann wirst du von Siegen reden und deine Feinde überwinden.

SIEBTES HAUPTSTÜCK: Siebter Tag. Maria erhält den himmlischen Namen Brautschmuck

Der Allerhöchste feiert mit der Königin des Himmels eine neue Verlobung, um sie zur Feier der Vermählung, das heißt zur Menschwerdung, vorzubereiten. Der Brautschmuck, den sie erhält.

70. Groß sind die Werke des Allerhöchsten, denn er tat und tut alle mit der Fülle der Weisheit und Güte, in Gerechtigkeit, «nach Maß und Gewicht» (Weish 11, 21). Keines ist mangelhaft, unnütz oder unvollkommen, keines ist überflüssig, keines ist zwecklos; alle sind «ausgesucht» (Ps 111, 2) und großartig, so wie der Herr nach der Richtschnur seines Wohlgefallens sie schaffen und erhalten wollte. Er wollte sie aber so, wie sie sein mussten, damit er in ihnen erkannt und verherrlicht werde.

Wiewohl nun aber alle Werke Gottes nach außen so groß, so staunenswert, so bewunderungswürdig sind und mehr bewundert als begriffen werden können, so sind sie doch - abgesehen vom Geheimnis der Menschwerdung - insgesamt nichts als ein kleiner Funke aus dem unermesslichen Abgrund der Gottheit. Nur dieses große Geheimnis, dass Gott leidensfähiger, sterblicher Mensch geworden ist, dieses ist das große Werk der ganzen, unendlichen Macht und Weisheit Gottes, ein Werk, welches alle übrigen Werke und Großtaten seines allmächtigen Armes ohne Vergleich übertrifft. Denn in diesem Geheimnis ist nicht bloß ein Fünklein der Gottheit, sondern der ganze Vulkan jenes unendlichen Feuermeeres, welches Gott ist, herabgekommen, um sich den Menschen mitzuteilen, indem Gott durch das Band einer unauflöslichen, ewigen Vereinigung sich mit unserer irdischen, menschlichen Natur vereinigt hat.

71. Wenn nun dieses wunderbare «Geheimnis des Königs» nach der Größe des letzteren bemessen werden muss, so ist folgerichtig auch zu bekennen, dass die Frau, aus dessen Schoß Gott Menschengestalt annehmen wollte, so vollkommen und mit allen seinen Reichtümern derart ausgerüstet sein musste, dass keine nur mögliche Gabe und Gnade ihr mangelte. Und alle diese Gaben mussten so vollkommen sein, dass an keiner derselben ein Mangel oder Abgang zu finden war. Da nun dieses der Vernunft gemäß und der Größe des Allmächtigen geziemend war, so hat es der Herr an der heiligsten Jungfrau Maria auch wirklich ausgeführt, und zwar vollkommener, als der König Assuerus an der anmutsvollen Esther getan, da er sie auf den Thron seiner Majestät erheben wollte (Est 2, 9). Der Allerhöchste überhäufte unsere Königin mit solchen Gnadenauszeichnungen, Vorrechten und Gaben, dass sie die Fassungskraft der Geschöpfe übersteigen und dass, als Maria vor dem Hofstaat dieses großen, unsterblichen Königs der Weltzeiten (1 Tim 1,17) erschien, alle Bewohner des Himmels die göttliche Allmacht anerkannten und den Herrn lobpriesen, dass er, nachdem er sich eine Frau zu seiner Mutter erwählt, auch die Macht und Weisheit besaß, sie zu einer würdigen Mutter Gottes zu machen.

72. Es kam der siebte Tag der Novene, und die Zeit des «großen Geheimnisses» kam immer näher; da wurde die himmlische Herrin zur gleichen Stunde wie an den vorausgehenden Tagen gerufen und im Geist erhoben, doch mit dem Unterschiede, dass sie an diesem Tage auch körperlich durch den Dienst der Engel in den empirischen Himmel erhoben wurde, während ein Engel an ihrer Stelle blieb und sie in einem Scheinleib vertrat. Dort, im höchsten Himmel, schaute sie die Gottheit in abstrakter Vision wie die anderen Male, erkannte jedoch mit immer neuem, größerem Licht immer tiefere Geheimnisse, welche Gott zu verbergen und zu offenbaren weiß und vermag, wie er will. Dann hörte sie eine Stimme, welche vom Throne Gottes ausging und zu ihr sprach: «Braut, auserwählte Taube, komme, du Schöne, du Vielgeliebte, du hast Gnade gefunden in unseren Augen, du bist auserwählt unter Tausenden, und aufs neue wollen wir dich als unsere einzige Braut annehmen. Darum wollen wir dir den Schmuck und die Schönheit verleihen, die unseres Verlangens würdig sind».

73. Bei diesen Worten erniedrigte, ja vernichtete sich die Demütigste der Demütigen in der Gegenwart des Allerhöchsten mehr, als der menschliche Verstand fassen kann, und gänzlich dem Wohlgefallen Gottes sich hingebend, sagte sie mit liebenswürdiger Schüchternheit: «Siehe hier, o Herr, den Staub; siehe hier den elenden Erdenwurm; siehe hier deine arme Dienerin, damit dein größeres Wohlgefallen an ihr sich erfülle. Bediene dich, mein höchstes Gut, dieses niedrigen Werkzeuges nach deinem Willen und leite es mit deiner Rechten». Da befahl der Allerhöchste zweien der Seraphim, die seinem Throne am nächsten stehen und an Würde ausgezeichnet sind, dieser himmlischen Frau zur Seite zu stehen; von andern begleitet, stellten sich diese in sichtbarer Gestalt am Fuße des Thrones Gottes auf, wo sich die heiligste Jungfrau Maria befand, die vom Feuer der göttlichen Liebe mehr entflammt war als sie alle.

74. Es war ein Schauspiel, welches außerordentliches Staunen und Frohlocken unter allen englischen Geistern hervorrief, in dieser himmlischen Wohnung, die niemals ein anderer menschlicher Fuß betreten, diese demütige Jungfrau zu sehen, geweiht zur Königin der Engel und Gott zunächst stehend unter allen Geschöpfen; im Himmel diese Frau so hochgeachtet zu sehen, welche auf Erden unbekannt und darum gering geschätzt war; zu sehen, wie der menschlichen Natur die Unterpfänder und die ersten Anfänge der Ehre verliehen wurden, über die Chöre der Engel erhoben zu werden, und wie sie jetzt schon in ihre Mitte gestellt war. O welch heiligen, gerechten Wetteifer musste dieses große Wunder hervorrufen in den alten Bewohnern des himmlischen Jeruslem! O welches Lob sangen sie dem Urheber dieses Wunders! O welche Gefühle der Demut erweckten sie immer wieder, indem sie ihren hehren Verstand dem Willen und der Anordnung Gottes unterwarfen ! Sie anerkannten, es sei gerecht und heilig, dass er die Demütigen erhöhe, dass er die Demut der Menschen bevorzuge und sie über die der Engel erhebe.

75. Während die Bewohner des Himmels sich dieser lobwürdigen Bewunderung hingaben, erwog - nach unserer niedrigen Weise zu denken und zu sprechen - die heiligste Dreifaltigkeit in sich selbst, wie wohlgefällig ihr die heiligste Jungfrau Maria war, wie sie mit den ihr anvertrauten Gnaden und Wohltaten so vollkommen und vollständig mitgewirkt, wie sie mit denselben dem Herrn eine immer größere, entsprechendere Glorie gegeben hatte und dass in ihr weder ein Fehler noch ein Mangel noch ein Hindernis sich fand für die Würde einer Mutter des Wortes, zu welcher sie bestimmt war. So beschlossen denn die drei göttlichen Personen, dieses Geschöpf zum höchsten Grade der Gnade und Freundschaft Gottes zu erheben, welchen kein anderes bloßes Geschöpf erreicht hat, noch je erreichen wird; und in demselben Augenblick verliehen sie ihr allein mehr, als alle Geschöpfe zusammen besaßen. Nach diesem Beschluss schaute die heiligste Dreifaltigkeit mit Wohlgefallen auf die höchste Heiligkeit Mariä, wie sie im Geist Gottes entworfen und gleichsam empfangen war.

76. Nun wollte aber der Herr diese Heiligkeit verwirklichen und ihr einen entsprechenden Ausdruck verleihen, zugleich aber auch das Wohlwollen an den Tag legen, mit dem er der heiligsten Jungfrau neue Gnadenströme aus seiner göttlichen Natur mitteilte. Darum gab er die Anordnung und den Befehl, dass die seligste Jungfrau Maria mit einem geheimnisvollen Gewand und Geschmeide in sichtbarer Weise ausgestattet werde, durch welches die inneren Gaben der Gnaden und Vorrechte, die ihr, als einer Königin und Braut, verliehen wurden, angedeutet werden sollten. Allerdings ward ihr eine solche Ausstattung und Verlobung, wie oben gesagt wurde (Teil 1, Nr. 434), schon früher einmal zuteil, nämlich bei ihrer Darstellung im Tempel; allein diesmal geschah dieselbe auf eine neue, ausgezeichnetere und wunderbarere Weise, weil sie zur allernächsten Vorbereitung auf das Wunder der Menschwerdung diente.

77. Nun bekleideten die beiden Seraphim auf Befehl des Herrn die heiligste Jungfrau Maria mit einer Tunika, das heißt mit einem weiten Gewand, welches das Sinnbild ihrer Reinheit und Gnadenfülle und darum so prächtig, von so wunderbarem Weiß und so strahlender Schönheit war, dass, wenn ein einziger der Lichtstrahlen, die ohne Zahl von ihm ausgingen, in der Welt erschiene, er allein der Welt größere Klarheit bringen würde als alle Sterne zusammen, wären sie auch ebenso viele Sonnen; denn alles Licht, das wir wahrnehmen, würde im Vergleich damit als Finsternis erscheinen. Während die Seraphim die seligste Jungfrau kleideten, gab ihr der Allerhöchste zu gleicher Zeit eine tiefe Erkenntnis der Verpflichtung, welche die Wohltat ihr auferlegte, nämlich der göttlichen Majestät dafür dankbar zu sein durch treueste Liebe und durch eine ganz erhabene und ausgezeichnete Weise zu wirken, die sie auch aufs vollkommenste erkannte. Aber immer noch verbarg ihr der Herr das Ziel, welches er im Auge hatte, nämlich Fleisch anzunehmen in ihrem jungfräulichen Schoß. Alles andere wusste unsere große Königin, und für alles demütigte sie sich mit unaussprechlicher Klugheit. Auch bat sie um den göttlichen Beistand, um einer so großen Gnade und Auszeichnung zu entsprechen.

78. Über das Gewand legten ihr die beiden Seraphim einen Gürtel, als Sinnbild der heiligen Furcht, die ihr eingeflößt wurde. Dieser Gürtel war sehr kostbar und wie mit mannigfachen Edelsteinen besetzt, welche im höchsten Glanz schimmerten und die Anmut und Schönheit Mariä um vieles erhöhten. Zu gleicher Zeit wurde die Himmelskönigin von dem Quell des Lichts, in dessen unmittelbarer Nähe sie sich befand, mit Licht und Klarheit erfüllt, damit sie die Gründe, um derentwillen Gott von jeglicher Kreatur gefürchtet werden muss, aufs tiefste erkenne und verstünde. Ganz passend wurde sie mit dieser Gabe der Furcht des Herrn umgürtet; denn so geziemte es sich für ein bloßes Geschöpf, welches mit dem Schöpfer - als dessen wahre Mutter - in so vertrautem Umgang und Verkehr treten sollte.

79. Dann sah sie, wie man sie mit sehr schönen, langen Haaren schmückte, die durch ein reiches Band zusammengehalten wurden. Dieselben waren glänzender als lauteres, funkelndes Gold. Die seligste Jungfrau sah, wie durch diesen Schmuck ihr die Gnade verliehen wurde, dass alle ihre Gedanken ihr ganzes Leben lang erhaben, himmlisch und von der glühendsten Liebe entflammt seien, die durch das Gold angedeutet war. Damit wurde ihr zugleich neue Weisheit und die klarste Erkenntnis eingegossen, damit diese Haare auf abwechselnde, schöne Weise zusammengehalten würden in einer unaussprechlichen Teilnahme an der Erkenntnis und Weisheit Gottes. Auch Sandalen wurden ihr als Fußbekleidung gegeben: Diese bedeuteten die Gnade, dass alle ihre Schritte und Bewegungen «sehr schön» (Hld 7, 1) und allezeit auf die höchsten und heiligsten Zwecke der Ehre des Allerhöchsten gerichtet seien. Diese Fußbekleidung wurde geschnürt, das heißt, es wurde ihr die Gnade ganz besonderer Aufmerksamkeit und Sorgfalt im guter Handeln sowohl Gott als dem Nächsten gegenüber verliehen. Dies zeigte sich, als sie «mit Eile» ging, um die heilige Elisabeth und den heiligen Johannes zu besuchen (Lk 1, 39). So waren die Schritte dieser « Fürstentochter» überaus schön (Hld 7, 1).

80. Die Hände wurden ihr mit Armringen geschmückt; sie empfing dabei durch Teilnahme an der Großmut Gottes die Gnade neuer Hochherzigkeit zur Übernahme schwieriger Werke; darum legte sie «ihre Hand immer an große Dinge» (Spr 31,19). Ihre Finger wurden gleichfalls durch Ringe geziert, damit sie mit neuen Gaben des Heiligen Geistes auch die unbedeutenderen, ja die geringsten Dinge mit Auszeichnung verrichte, sowohl was die edle Weise, als was die Meinung und Umstände betrifft, und damit so all ihre Werke groß und wunderbar würden. Dazu kam noch ein Halsband voll unschätzbarer, funkelnder Edelsteine; daran hing eine aus den drei kostbarsten Edelsteinen gebildete Geheimschrift, welche auf die drei Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe deutete und zugleich auch die drei göttlichen Personen versinnbildete. Bei dieser Ausstattung wurden diese höchst erhabenen Tugenden in Maria erhöht, damit sie dieselben bei Vollziehung der Geheimnisse der Menschwerdung und Erlösung in der erforderlichen Weise üben könnte.

81. An die Ohren wurden ihr goldene Ohrringe gelegt, mit Silber bunt besetzt (Hld 1, 10). Durch diesen Schmuck wurden ihre Ohren vorbereitet für die Botschaft, welche sie in Bälde vom heiligen Erzengel Gabriel vernehmen sollte. Dabei erhielt sie auch eine besondere Weisheit, um jene Botschaft mit Aufmerksamkeit anzuhören und mit Umsicht darauf zu antworten in den weisesten und gottgefälligsten Worten; namentlich aber dazu, damit von dem klangvollen, lautern Silbermetall ihre Unschuld in die Ohren des Herrn klingen und seinem Herzen eingeprägt bleiben mögen jene ersehnten, hochheiligen Worte: Fiat mihi secundum verbum tuum - es geschehe mir nach deinem Worte (Lk 1, 38) !»

82. Dann wurde das Gewand der heiligsten Jungfrau mit Inschriften besetzt, welche gleichsam als Verzierung und Einfassung dienten und in den feinsten Farben, mit Gold untermischt, spielten. Einzelne derselben lauteten: «Maria, Mutter Gottes»; andere: «Maria, Jungfrau und Mutter». Diese geheimnisvollen Inschriften wurden aber damals ihr selbst nicht erklärt und entziffert, sondern bloß den heiligen Engeln. Die verschiedenen Farben deuteten auf alle die außerordentlichen Tugenden, die ihr im höchsten Grad eingegossen wurden, und auf die diesen Tugenden entsprechenden Akte, welche die höchsten Tugendakte aller übrigen vernunftbegabten Geschöpfe weit übertrafen.

Zur Vervollständigung dieser ganzen Ausschmückung wurden ihr - gleichsam als Wasser für das Angesicht - viele Erleuchtungen zuteil, welche sich aus der unendlichen Wesenheit und den zahllosen Vollkommenheiten Gottes über diese himmlische Herrin aus unmittelbarer Nähe ergossen. Denn um ihn wirklich und wahrhaft in ihrem jungfräulichen Schoß zu empfangen, musste sie ihn zuvor durch die Gnade empfangen haben, und zwar durch die höchstmögliche Gnade, die einem bloßen Geschöpf mitgeteilt werden kann.

83. Durch diese Ausstattung und Ausschmückung war Maria, unsere Königin, so schön und anmutig geworden, dass der allerhöchste König nach ihr verlangen konnte (Ps 45, 12). Weil ich jedoch von ihren Tugenden bereits anderswo (Erster Teil, Nr. 225-234 und 480-608) gesprochen habe und im ganzen Verlauf dieser heiligen Geschichte darauf zurückkommen muss, so will ich mich nicht länger bei Erklärung dieses Schmuckes aufhalten, welcher in neuen Vollkommenheiten und göttlicheren Wirkungen bestand. Dies alles gehört in den Bereich der göttlichen Allmacht und in das unermessliche Gebiet der Vollkommenheit und Heiligkeit Gottes, wo es immer noch vieles beizufügen und zu verstehen gibt über das hinaus, was wir begreifen können. Die reinste Jungfrau Maria gleicht in ihrer Größe einem unermesslichen Meer, von dessen Ufern wir uns nie weit zu entfernen vermögen. Und mein Geist ist durch das, was ich geschaut habe, immer ganz voll von Ideen und gleichsam vergewaltigt, weil ich nicht imstande bin, sie auszudrücken.

Nach all dem wurde die heilige Jungfrau durch die Engel wieder auf die Erde zurückgebracht.

LEHRE, welche mir Maria, die heiligste Himmelskönigin, gab

84. Meine Tochter, die geheimen Werkstätten und Schatzkammern des Allerhöchsten sind dieses göttlichen Königs und allmächtigen Herrn würdig; darum finden sich darin die reichsten Geschmeide ohne Maß und Zahl, welche den Schmuck seiner Bräute und Auserwählten bilden. Und wie er meine Seele reich geschmückt hat, so könnte er es mit unzählbaren andern tun, und immer würde ihm unendlich viel übrig bleiben. Freilich wird seine freigebige Hand keinem anderen Geschöpf soviel mitteilen, wie sie mir gegeben, jedoch nicht deshalb, weil Gott dies nicht könnte oder nicht wollte, sondern weil niemand auf die Gnade sich vorbereitet, wie ich es getan. Aber gegen viele ist der Allmächtige sehr freigebig und bereichert sie in hohem Grade, weil dieselben ihm weniger Hindernisse entgegenstellten und sich besser vorbereiten als andere.

85. Ich verlange, meine Teuerste, dass du der Liebe Gottes zu dir kein Hindernis entgegensetzest, vielmehr dich bereitest, um die Gaben zu empfangen, mit welchen er dich ausrüsten will, damit du seine würdige Braut werdest. Beachte, dass alle gerechten Seelen diesen Schmuck aus seiner Hand empfangen, aber jede in dem Grad der Freundschaft und Gnade, dessen sie sich fähig macht. Willst du also zu den höchsten Graden der Vollkommenheit gelangen und der Gegenwart deines Herrn und Bräutigams würdig sein, so trachte in seiner Liebe zuzunehmen und stark zu werden; diese aber nimmt zu mit der Selbstverleugnung und Abtötung. Du musst daher allem Irdischen entsagen und es vergessen; alle Liebe zu dir selbst und zum Sichtbaren musst du in dir vernichten; nur in der Liebe zu Gott musst du wachsen und fortschreiten. Wasche und reinige dich in dem Blut deines Erlösers Jesus Christus und wende es dir oft zu, indem du wiederholt die Liebesreue über deine Sünden erweckst. So wirst du Gnade finden in seinen Augen; er wird nach deiner Schönheit verlangen (Ps 45,12) und dein Schmuck wird ganz rein und vollkommen sein.

86. Da der Herr dich durch solche Gnaden so sehr begünstigt und ausgezeichnet hat, so ist es gerecht, dass du dankbarer seist als viele andere und ihn mit unaufhörlichem Lob preisest für das, was er an dir zu tun sich gewürdigt hat. Schon bei den Geschöpfen, die weniger Dank schuldig sind, ist das Laster der Undankbarkeit so schändlich und verwerflich, wenn sie irdisch gesinnt und gefühllos die Wohltaten des Herrn gering achten und vergessen; wie viel größer wird dann die Schuld eines so niedrigen Benehmens bei deinen Verpflichtungen sein ! Täusche dich nicht mit dem Vorwand, dich zu demütigen; denn es ist ein großer Unterschied zwischen der dankbaren Demut und der demütig scheinenden Undankbarkeit. Wisse, dass der Herr gar oft auch den Unwürdigen große Gnaden erweist, um seine Güte und seine Größe zu offenbaren, und damit niemand wegen solcher Gnaden sich erhebe, sondern jeder seine Unwürdigkeit erkenne. Dieser Gedanke muss jedem als Gegengewicht und als Verwahrungsmittel gegen das Gift des Stolzes dienen. Hiermit verträgt sich jedoch die Dankbarkeit allezeit sehr wohl, indem man nämlich erkennt, dass jede vollkommene Gabe vom Vater der Lichter kommt (Jak 1,17) und das Geschöpf durch sich selbst dieselbe niemals verdienen konnte, dass ihm dieselbe vielmehr aus reiner Güte gegeben wird. Bei diesem Gedanken aber muss das Geschöpf in Demut anerkennen, dass es durch die Pflicht der Dankbarkeit gebunden ist.

ACHTES HAUPTSTÜCK: Achter Tag. Maria bittet um den Vollzug der Menschwerdung. Gott gewährt diese Bitte

Unsere große Königin fleht in der Gegenwart des Herrn um die Ausführung der Menschwerdung und Erlösung; die göttliche Majestät gewährt diese Bitte.

87. Die heiligste Jungfrau Maria war nun so voll der Gnade und Schönheit, und das Herz Gottes war durch ihre zarten Anmutungen und Begierden so verwundet (Hld 4, 9), dass dieselben ihn nunmehr drängten, vom Schoß des ewigen Vaters in das Brautgemach ihres jungfräulichen Schoßes niederzueilen und der langen Verzögerung, die seine Ankunft mehr als fünftausend Jahre hinausgeschoben hatte, ein Ende zu machen. Da aber dieses großartige Wunder mit vollkommenster Weisheit und Gerechtigkeit ausgeführt werden musste, so ordnete es der Herr in der Weise an, dass die Königin des Himmels nicht bloß würdige Mutter des menschgewordenen Wortes, sondern zugleich auch wirksame Mittlerin seiner Ankunft wurde, und zwar in weit höherem Grad, als Esther die Mittlerin der Befreiung für ihr Volk gewesen war (Est 7 u. 8). Das Herz der heiligsten Jungfrau glühte von dem Feuer, welches Gott selbst in demselben entzündet hatte, und sie flehte unaufhörlich zu ihm um das Heil des Menschengeschlechts. Doch war die demütigste Herrin gewissermaßen noch zurückhaltend, weil sie wusste, dass wegen der Sünde Adams das Urteil des Todes und der ewigen Beraubung der Anschauung Gottes über die Menschen ausgesprochen war (Gen 3,19).

88. So waren im reinsten Herzen Mariä die Liebe und die Demut in heiligem Streit, und mit diesen Gefühlen der Liebe und Demut wiederholte sie oftmals: «O wer wird wohl mächtig genug sein, um das Heilmittel für meine Brüder zu erlangen ! Wer wird den Eingebornen herabziehen aus dem Schoß seines Vaters und ihn zu uns sterblichen Menschen herab bringen ! Wer wird ihn bewegen, unserer Natur jenen Kuss seines Mundes zu geben, um welchen die Braut ihn gebeten hat (Hld 1,1) ! Doch wie können wir dies erflehen, wir Kinder und Abkömmlinge des Übeltäters, der die Sünde begangen hat? Wie könnten wir denjenigen zu uns ziehen, den unsere Väter so sehr zurückgestoßen haben (Jes 65, 2) ? O meine Liebe, dass ich dich doch sehen könnte an der Brust deiner Mutter, der menschlichen Natur (Hld 8,1) ! O Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, dass du doch deinen Himmel neigtest (Ps 144, 5), herabstiegst und Licht brächtest denen, die wohnen in der Finsternis (Jes 9, 2) ! Dass du deinen Vater besänftigen möchtest! Möchte, o Vater, dein göttlicher Arm, das ist dein Eingeborner, den stolzen Aman, den Satan, unseren Feind, stürzen (Est 14,13) ! Wo wird die Mittlerin sein, die vom himmlischen Altare wie mit einer goldenen Zange jene glühende Kohle der Gottheit nimmt, um die Welt damit zu reinigen, gleich wie der Seraph, von dem dein Prophet spricht (Jes 6, 6), das Feuer genommen hat!»

89. Dieses Gebet wiederholte die heiligste Jungfrau am achten der Tage, die wir hier beschreiben. Da wurde sie um Mitternacht zu Gott erhoben und hörte, dass Seine Majestät ihr antwortete: «Komme, meine Braut, meine Taube, meine Auserwählte! Denn das allgemeine Gesetz hat für dich keine Geltung; du bist ausgenommen von der Sünde und frei von deren Wirkungen seit dem Augenblick deiner Empfängnis. Als ich dir das Dasein gab, habe ich das Zepter meiner Gerechtigkeit von dir abgewendet und das meiner großen Milde auf deinen Hals gelegt (Est 15,13.15), damit das allgemeine Gesetz der Sünde sich nicht auf dich erstrecke. Komme zu mir und sei nicht zaghaft in deiner Demut und der Erkenntnis deiner Natur; ich erhebe die Demütigungen. Ich überhäufe die Armen mit Reichtümern. Du hast mich auf deiner Seite, und meine freigebige Barmherzigkeit wird dir gewogen sein».

90. Unsere Königin hörte diese Worte auf geistige Weise und gewahrte dann, dass sie durch den Dienst der heiligen Engel körperlich in den Himmel erhoben wurde wie tags zuvor und dass einer dieser himmlischen Beschützer an ihrer Stelle auf Erden blieb. Sie stieg aufs neue zum Angesicht Gottes empor, so reich an Gaben und Schätzen seiner Gnade, so herrlich und schön, dass bei dieser Gelegenheit die himmlischen Geister, mehr als je von Staunen ergriffen, zum Lob des Herrn einander zuriefen: «Wer ist diese, die aus der Wüste emporsteigt, überfließend von Wonne (Hld 8, 5) ? Wer ist diese, die auf ihren Geliebten gelehnt, ihn überwindet und mit sich nimmt zur irdischen Wohnung? Wer ist sie, die sich erhebt wie die Morgenröte, schöner als der Mond, auserwählt wie die Sonne (Hld 6, 9) ? Wie steigt sie so strahlend empor von der mit Finsternis bedeckten Erde? Wie ist sie in einer so gebrechlichen Natur so stark und kräftig? Wie ist sie so mächtig, dass sie den Allmächtigen überwinden will? Und wie kann, da der Himmel den Kindern Adams verschlossen ist, der Eintritt dieser einen Frau offen stehen, die doch diesem Geschlecht angehört?»

91. Der Allerhöchste empfing die heiligste Jungfrau Maria, seine auserwählte und einzige Braut, in seiner Gegenwart. Es geschah dies zwar nicht durch eine intuitive Anschauung der Gottheit, sondern nur durch eine abstrakte; allein diese war mit so unaussprechlichen Gaben göttlicher Erleuchtung und Reinigung verbunden, wie sie ihr der Herr bis auf diesen Tag noch nie verliehen hatte. Diese Gnaden waren so über alles Irdische erhaben, dass Gott selbst, der sie bewirkte, - menschlich geredet - darüber verwundert war. Er lobte dieses Werk seines allmächtigen Armes, und gleichsam von Liebe zu ihm hingezogen, sprach er zu Maria: «Revertere, revertere, Sulamitis, ut intueamur te (Hld 6,12). Meine Braut, vollkommenste Taube, meine Freundin, die meinen Augen wohlgefällt, kehre um und wende dich zu mir, damit ich dich sehe und über deine Schönheit mich erfreue. Es gereut mich nicht, den Menschen erschaffen zu haben; nein, es freut mich, weil du von ihm geboren bist. Meine himmlischen Geister sollen sehen, dass ich mit Recht dich zu meiner Braut und zur Königin all meiner Geschöpfe erwählen wollte und erwählen will ! Sie sollen erkennen, dass ich mit Recht über dein Herz mich erfreue, wo mein eingeborner Sohn am meisten verherrlicht sein wird, nach der Glorie, die er in mir findet. Alle sollen sehen, dass, wenn ich Eva, die erste Königin der Erde, wegen ihres Ungehorsams gerechterweise verstieß, ich nun dich zur höchsten Würde erhebe und mich groß und mächtig zeige gegenüber deiner reinsten Demut und Selbstverachtung !»

92. Dieser Tag brachte den Engeln den größten Jubel und die höchste akzidentelle Freude, die sie seit ihrer Erschaffung genossen hatten. Als die heiligste Dreifaltigkeit ihre Braut, die Mutter des Wortes, als Königin und Herrin der Geschöpfe erwählte und erklärte, da erkannten die Engel und alle himmlischen Geister sie als ihre Königin und Gebieterin an, sangen ihr süße Loblieder und priesen den Schöpfer. Maria aber, die Himmelskönigin, war bei diesen wunderbaren Geheimnissen in den Abgrund der Gottheit und in das Licht seiner unendlichen Vollkommenheiten versenkt, so dass sie durch Gottes Fügung in ihrer Bewunderung nicht alles beachtete, was geschah. So blieb ihr das Geheimnis ihrer Auserwählung zur Mutter des Eingebornen bis zu dessen Verwirklichung verborgen. Niemals hat der Herr solche Dinge an einer Nation getan (Ps 148, 20), noch hat er an irgendeinem anderen Geschöpf sich so groß und mächtig erwiesen wie an diesem Tag an der heiligsten Jungfrau Maria.

93. Der Allerhöchste tat noch mehr und sprach mit höchster Güte zu ihr: «Meine Braut, meine Auserwählte, da du Gnade gefunden hast in meinen Augen, so verlange von mir ohne Zagen, was du begehrst; als getreuester Gott und mächtiger König versichere ich dir, dass ich deine Bitten nicht verwerfen und dir nicht verweigern werde, was du begehrst». Unsere große Königin demütigte sich tief; doch, auf das königliche Wort des Herrn gestützt, erhob sie sich mit sicherem Vertrauen und sprach: « Mein Herr und höchster Gott, habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, so will ich, obwohl Staub und Asche, in deiner königlichen Gegenwart sprechen und mein Herz ausgießen (Gen 18, 3.27; Ps 62, 9)». Gott gab ihr nochmals die Versicherung und den Befehl, alles, was sie wolle, in Gegenwart des ganzen himmlischen Hofes zu verlangen, wäre es auch ein Teil seines Reiches (Est 5, 3). Die reinste Jungfrau Maria antwortete: «Nicht bloß um einen Teil deines Reiches bitte ich dich, und nicht bloß für mich, sondern um dein ganzes Reich bitte ich, und zwar für alle Menschen, denn sie sind meine Brüder. Ich bitte, o höchster und mächtigster König, sende uns nach deiner unermesslichen Güte deinen eingebornen Sohn, unsern Erlöser, damit er Genugtuung leiste für alle Sünden der Welt und dein Volk die Freiheit erlange, nach welcher es sich sehnt. Möge deiner Gerechtigkeit Genugtuung geleistet und der Friede verkündet werden für die Menschen auf Erden; möge ihnen der Eintritt zum Himmel eröffnet werden, der durch ihre Sünden verschlossen ist. Möge nun alles Fleisch dein Heil sehen (Jes 52,10; 40, 5). Mögen der Friede und die Gerechtigkeit sich innig umarmen und küssen, wie David es verlangte (Ps 85,11), und wir Menschen einen Meister und Führer, ein Haupt und einen Erlöser erhalten (Jes 30, 20; 55, 4; Bar 3, 38), welcher mit uns lebe und verkehre. O mein Gott, dass doch jetzt der Tag deiner Verheißungen erscheinen, deine Worte sich erfüllen und unser Messias kommen möge, den so viele Jahrhunderte ersehnt haben! Dies ist mein flehentliches Begehren, darauf zielen meine Bitten mit Zulassung deiner unendlichen Güte».

94. Der höchste Herr, welcher selbst die Bitten seiner geliebten Braut angeregt und ihr eingegeben hatte, um sich dadurch bewegen zu lassen, neigte sich gnädig zu ihr und antwortete ihr mit größter Güte: «Deine Bitten sind mir wohlgefällig, und angenehm sind mir deine Wünsche; es geschehe, wie du verlangst. Ich will, meine Tochter und Braut, was du begehrst; und zur Beglaubigung dieser Wahrheit gebe ich dir mein Wort und Versprechen, dass mein eingeborner Sohn in kürzester Frist auf die Erde hinabsteigen wird, um sich mit der menschlichen Natur zu bekleiden und zu vereinigen. So werden deine mir wohlgefälligen Bitten erfüllt und ausgeführt werden».

95. Bei dieser Zusicherung durch göttliches Wort fühlte unsere große Königin in ihrem Innern neues Licht und volle Zuversicht, dass nun das Ende der langen Nacht der Sünde und der alten Gesetze bevorstehe und der neue, klare Tag der Erlösung nahe. Da die Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit, welche sich schon näherte, um aus dem Schoß Mariä geboren zu werden, in solcher Nähe und Fülle auf sie fielen, war sie gleich der schönsten glühenden Morgenröte, im Lichtglanz der Gottheit schimmernd und wie in diese umgewandelt; sie pries in ihrem und aller Menschen Namen den Herrn unaufhörlich, voll Liebe und Dankbarkeit für die Wohltat der nahen Erlösung. Sie verwandte hierzu den ganzen Tag, nachdem sie durch die Engel auf die Erde zurückgebracht worden war.

Meine Unwissenheit und Unfähigkeit, so erhabene Geheimnisse zu beschreiben, schmerzt mich immer; denn wenn gelehrte und wissenschaftlich gebildete Männer dies nicht in entsprechender Weise zu tun vermögen, wie sollte dies dann einer armen, elenden Frau möglich sein? Möge das Licht der christlichen Frömmigkeit meine Unwissenheit ersetzen und der Gehorsam meine Kühnheit entschuldigen !

LEHRE, welche die heiligste Jungfrau Maria mir gegeben hat

96. Meine liebste Tochter, wie weit sind doch die wunderbaren Werke, welche der Allmächtige in diesen Geheimnissen der Menschwerdung des ewigen Wortes an mir vollbracht hat, von der Weisheit der Welt entfernt ! Weder Fleisch, noch Blut, noch die Engel und die erhabensten Seraphim können durch sich allein diese Geheimnisse erforschen, die so verborgen und über die Gnadenordnung der übrigen Geschöpfe so weit erhaben sind. Du aber, meine Freundin, sollst um ihretwillen den Herrn lobpreisen in beständiger Liebe und Dankbarkeit; sei nun nicht mehr so langsam an Fassungskraft, um die Größe seiner göttlichen Liebe und die Menge der Gnaden zu erkennen, die er seinen Freunden und liebsten Kindern erweist, da er sie vom Staub erheben und auf verschiedene Weise bereichern will. Wenn du in diese Wahrheit eindringst, so wird sie dich zur Dankbarkeit zwingen und dich bewegen, große Dinge zu tun als seine treue Tochter und Braut.

97. Damit du dies mit desto größerem Eifer tust, mache ich dich aufmerksam, dass der Herr oft an seine Auserwählten diese Worte richtet: Revertere, revertere, ut intueamur te; weil er so großes Wohlgefallen an ihren Werken hat. Ein Vater ergötzt sich an seinem einzigen, schönen und gar anmutigen Sohn und betrachtet denselben oft unter Liebkosungen; ein Künstler hat Freude am Meisterwerk seiner Hände, ein König an der reichen Stadt, welche er erobert hat, ein Freund an seinem vielgeliebten Freunde; aber unvergleichlich mehr als diese alle erfreut und ergötzt sich Gott an den Seelen, welche er zu seiner Wonne erwählt; und in demselben Maß, als diese sich für seine Gnaden befähigen und vorwärts schreiten in der Vollkommenheit, vermehren sich auch seine Gunstbeweise und sein Wohlgefallen. Wenn die Gläubigen diese Wahrheit wohl verstünden, sie würden allein schon um dieses Wohlgefallens willen nicht nur die Sünde meiden, sondern auch Großes tun und selbst in den Tod gehen, um demjenigen ihren Gehorsam und ihre Liebe zu bezeigen, der so freigebig ist im Belohnen und so geneigt zum Geben und Helfen.

98. Als an diesem achten Tage, welchen du beschrieben hast, der Herr im Himmel zu mir sprach: Revertere, revertere, das heißt, dass ich ihn anschauen solle, damit die himmlischen Geister mich sehen, war, wie ich erkannte, das Wohlgefallen Seiner göttlichen Majestät,so groß, dass es allein alle Freude und Wonne übertraf, welche alle heiligen Seelen auf dem Gipfel ihrer Heiligkeit ihm bereitet haben. Seine Güte fand an mir größeres Wohlgefallen als an allen Aposteln, Märtyrern, Bekennern, Jungfrauen und allen übrigen Heiligen. Aus diesem Wohlgefallen des Allerhöchsten ergossen sich in meine Seele so reiche Gnaden und eine solche Teilnahme an der Gottheit, dass du es weder verstehen noch erklären kannst, solange du im sterblichen Fleisch bist. Ich teile dir aber dieses große Geheimnis mit, damit du den Urheber es lobst und dich immer mehr zu befähigen suchst, während deiner Verbannung vom Vaterland an meiner Statt und in meinem Namen deine Hand an große Werke zu legen und dem Herrn das Wohlgefallen zu bereiten, welches er von dir begehrt. Bemühe dich allezeit um dieses Wohlgefallen, mache Gebrauch von seinen Gnaden und erflehe solche in vollkommener Liebe nicht nur für dich, sondern auch für deine Mitmenschen.

NEUNTES HAUPTSTÜCK: Neunter Tag

Der Allerhöchste verleiht der heiligsten Jungfrau Maria neue Gnaden und Auszeichnungen. Er überträgt ihr nochmals den Besitz der königlichen Gewalt über alles Erschaffene als letzte Vorbereitung auf die Menschwerdung.

99. Am neunten und letzten dieser Tage, während deren der Allerhöchste seinen Tabernakel unmittelbar bereitete, um ihn dann durch seine Ankunft zu heiligen (Ps 46, 5). beschloss er, seine Wunder zu erneuern und zu vermehren, indem er alle Gnaden wiederholte, welche er bis auf diesen Tag der heiligsten Jungfrau mitgeteilt hatte. Er wirkte aber auf solche Weise in ihr, dass, während er Altes aus seinen unendlichen Schätzen nahm (Mt 13, 52), er immer viel Neues beifügte. Alle diese Stufen und Wunder der Gnade sind aber darin beschlossen, dass ein Gott sich so weit erniedrigt, dass er Mensch wird und dass er eine Frau so hoch erhebt, dass sie seine Mutter wird. Dass Gott bis auf die unterste Stufe sich erniedrigte und Mensch wurde, dazu war es weder nötig noch möglich, dass er sich selbst änderte; denn er konnte unsere Natur mit seiner Person vereinigen und dabei doch in sich selbst unveränderlich bleiben. Sollte aber eine Frau mit irdischem Leib ihre eigene Substanz hingeben können, damit Gott mit ihr sich vereinige und Mensch werde, so schien es notwendig, dass sie eine unendliche Kluft überschreite und über alle andern Kreaturen sich in dem Maß erhebe, als sie der Gottheit sich näherte.

100. Der Tag erschien, an welchem die heiligste Jungfrau Maria die letzte Stufe der Vorbereitung erreichen und in solche Nähe zu Gott treten sollte, dass sie seine Mutter werden konnte. Sie wurde um die Stunde des größten Stillschweigens, um Mitternacht, von Gott dem Herrn gerufen wie an den vorhergehenden Tagen. Die demütige und weise Königin antwortete: «Mein Herz ist bereit, o allerhöchster Herr und König, dass dein göttliches Wohlgefallen an mir sich vollziehe». Dann wurde sie mit Leib und Seele, wie an den vorhergehenden Tagen, durch den Dienst ihrer Engel in den empirischen Himmel getragen und vor den königlichen Thron des Allerhöchsten gesteilt. Der Allmächtige erhob sie und wies ihr an seiner Seite ihren Sitz und Platz an, den sie immer in seiner Gegenwart einnehmen sollte; dies war der erhabenste und Gott unmittelbar nächste nach demjenigen, welcher für die Menschheit des Wortes vorbehalten war; denn er war über die Throne der übrigen Seligen, und zwar aller insgesamt, ohne Vergleich erhaben.

101. Von diesem Thron aus sah die seligste Jungfrau die Gottheit in einer abstrakten Vision wie an den vorausgehenden Tagen. Der Herr offenbarte ihr so hohe und neue Geheimnisse, dass ich dieselben ihrer Tiefe und meiner Unwissenheit wegen nicht beschreiben kann; ihre Würde als Mutter Gottes blieb ihr aber immer noch verborgen. Sie schaute in der Gottheit aufs neue alle erschaffenen Dinge und viele andere, die nur möglich oder zukünftig waren. Die körperlichen Dinge offenbarte ihr Gott in ihrer eigenen Wesenheit, so dass sie sie durch körperliche und sinnliche Erkenntnisbilder schaute, wie wenn sie sie alle für ihre äußeren Sinne gegenwärtig gehabt und innerhalb des Gesichtskreises mit leiblichen Augen wahrgenommen hätte. Sie sah das ganze Gebäude des Weltalls zugleich, während sie bisher nur dessen Teile geschaut hatte, ebenso sah sie die darin befindlichen Geschöpfe, und zwar so deutlich, als ob sie sie in einem Gemälde vor sich gehabt hätte; sie sah deren ganze Harmonie und Ordnung, ihren gegenseitigen Zusammenhang und ihre Abhängigkeit voneinander; sie sah wie alle insgesamt abhängen vom Willen Gottes, der sie, jedes an seinem Ort und in seinem Wesen, erschafft, regiert und erhält. Sie sah aufs neue alle Himmel, alle Sterne, die Elemente, deren Bewohner, das Fegfeuer, die Vorhölle und die Hölle mit all denjenigen, die in diesen Räumen leben. Gleichwie der Ort, an welchem die Königin der Geschöpfe sich befand, über alle erhaben war und nur unter Gott stand, so war auch ihre Erkenntnis erhaben: dieselbe stand nur unter der Erkenntnis Gottes, dagegen höher als die aller Geschöpfe.

102. Die Himmelskönigin war ganz versenkt in die Bewunderung der Dinge, welche der Allerhöchste ihr offenbarte, und erwiderte alles mit dem einem so großen Herrn schuldigen Lob und Preis. Da sprach Seine Majestät zu ihr: «Meine Auserwählte, meine Taube, einzig aus Liebe zu den Menschen habe ich alle die sichtbaren Geschöpfe, welche du schaust, erschaffen und bewahre ich sie durch meine Vorsehung in solcher Mannigfaltigkeit und Schönheit. Von allen Seelen, welche ich bis jetzt erschaffen habe und welche ich bis zum Ende zu erschaffen beschlossen habe, will ich eine Versammlung von Gläubigen erwählen und aussuchen, damit sie abgesondert werden und gewaschen im Blut des Lammes, welches die Sünden der Welt hinweg nehmen wird. Diese werden die besondere Frucht der Erlösung sein, welche das Lamm zu vollbringen hat. Sie werden die Früchte der Erlösung genießen durch die Vermittlung des neuen Gesetzes der Gnade und durch die Sakramente, welche ihr Erlöser ihnen in diesem Gesetz geben wird; diejenigen sodann, welche ausharren, werden zur Teilnahme an meiner ewigen Glorie und Freundschaft gelangen. Für diese Auserwählten habe ich in erster Linie so viele wunderbare Werke geschaffen; und wenn alle mir dienen, mich anbeten und meinen Namen erkennen wollten, so würde ich meinerseits für sie alle und für jeden einzelnen im besondern ebenso große Schätze erschaffen und sie jedem einzelnen zum Besitz geben ».

103. «Ja, wenn ich nur ein einziges dieser Geschöpfe, die meiner Gnade und Glorie fähig sind, erschaffen hätte, ich würde es allein zum Herrn der ganzen Schöpfung machen; denn dies alles ist etwas Geringeres als die Teilnahme an meiner Freundschaft und meiner Glückseligkeit, die ich jedem verleihen will. Du, meine Braut, du bist meine Auserwählte und hast Gnade gefunden in meinem Herzen; darum mache ich dich zur Herrin all dieser Güter. Ich gebe dir den Besitz und die Herrschaft über alle, damit, wenn du dich, wie ich es von dir verlange, als treue Braut erweisest, du sie an diejenigen austeilst, welche mich durch deine Vermittlung darum bitten; denn hierzu lege ich sie in deine Hände nieder.» Dabei setzte die heiligste Dreifaltigkeit unserer Herrin eine Krone aufs Haupt und weihte sie so zur höchsten Königin alles Erschaffenen. Diese Krone war mit Buchstaben beschrieben und geziert, welche besagten: «Mutter Gottes». Doch verstand die seligste Jungfrau es damals noch nicht; nur die himmlischen Geister verstanden sie und waren voll Verwunderung, dass Gott so Großes getan an dieser glückseligsten Jungfrau, die da gebenedeit ist unter den Frauen. Sie erwiesen ihr ihre Ehrfurcht und Huldigung als ihrer und der ganzen Schöpfung rechtmäßigen Königin und Herrin.

104. Der Allerhöchste wirkte alle diese Wunder seines Armes mit der geziemenden Ordnung seiner unendlichen Weisheit; denn ehe er niederstieg, um in dem jungfräulichen Schoß Mariä die menschliche Natur anzunehmen, geziemte es sich, dass der ganze Hof dieses großen Königs seine Mutter als Königin und Herrin anerkannte und ihr darum die schuldige Ehrfurcht bewies. Ja, es war gerecht und der guten Ordnung entsprechend, dass Gott sie zuerst zur Königin und dann zur Mutter des Fürsten der Ewigkeiten erhob; denn diejenige, die den Fürsten gebären sollte, musste notwendigerweise Königin sein und als solche von ihren Untertanen anerkannt werden. Dass aber die Engel sie als solche kannten, hatte nichts Unpassendes an sich, und es war nicht nötig, ihnen dies zu verbergen; vielmehr war der Allerhöchste der Majestät seiner Gottheit es sozusagen schuldig, dass der Tabernakel, den er sich zur Wohnung erwählt, mit allen Auszeichnungen an Würde, Vollkommenheit, Größe und Herrlichkeit ausgerüstet und geadelt werde, und zwar mit allen möglichen, ohne eine einzige zu verweigern. So haben die Engel sie als ihre Königin und Herrin aufgenommen, anerkannt und geehrt.

105. Um die letzte Hand an dieses Wunderwerk, die heiligste Jungfrau Maria, zu legen, streckte der Herr seinen allmächtigen Arm aus und erneuerte in eigener Person den Geist und die Seelenkräfte dieser großen Königin, indem er ihr neue Erleuchtungen, Fähigkeiten und Vollkommenheiten verlieh, deren Größe und Beschaffenheit durch irdische Ausdrücke nicht wiedergegeben werden können. Dies war sozusagen der letzte Pinselstrich an diesem lebendigen Abbild Gottes, in welchem und aus welchem der Leib gebildet werden sollte, mit dem sich das ewige Wort das wesenhafte Abbild des ewigen Vaters und der Abglanz seiner Wesenheit (2 Kor 4, 4; Hebr 1, 3), bekleiden wollte. So war die heiligste Jungfrau Maria ein lebendiger Tempel, vorzüglicher als der des Salomon, von innen und außen mit dem reinsten Gold der Gottheit ganz überkleidet, ohne dass man irgendwo an ihr auch nur die kleinste Spur einer irdischen Tochter Adams entdecken konnte. Sie war ganz Gott ähnlich durch die Auszeichnungen der Gottheit; denn das ewige Wort, welches vom Schoß seines ewigen Vaters in den Schoß Mariä niedersteigen wollte, hat sie dergestalt vorbereitet, dass es in ihr die größtmögliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Vater vorfand.

106. Mir fehlen die Worte, um, wie ich wünschte, die Wirkungen zu schildern, welche alle diese Gnaden im Herzen unserer großen Königin und Herrin hervorbrachten. Menschlicher Verstand kann sie nicht fassen; wie sollten also Worte sie auszudrücken vermögen? Was mich jedoch kraft des Lichtes, welches mir über diese so erhabenen Geheimnisse verliehen wurde, am meisten in Staunen versetzt, das ist die Demut dieser himmlischen Königin und der Wettstreit zwischen ihr und der Macht Gottes. Ein außerordentliches Wunder der Demut ist es zu sehen, wie diese zarte, heiligste Jungfrau Maria, die da erhöht ist zur höchsten Würde und Heiligkeit nach der Heiligkeit Gottes, sich in selben Augenblick vernichtigt und erniedrigt bis auf die unterste Stufe aller Geschöpfe und wie kraft dieser Demut auch nicht ein Gedanke in ihr aufsteigt, dass sie die Mutter des Messias sein könnte; und nicht nur dies, sondern dass sie überhaupt nichts Großes, nichts Wunderbares von sich dachte. Weder ihr Herz noch ihre Augen erhoben sich (Ps 131,1); im Gegenteil, je höher der Allmächtige sie erhob, desto niedriger dachte sie von sich selbst. In der Tat, es war gerecht, dass Gott der Allmächtige auf ihre Demut niedersah und dass um dieser Demut willen sie glücklich und selig preisen alle Geschlechter (Lk 1, 48).

LEHRE der Königin des Himmels, unserer Herrin

107. Meine Tochter, wer eine eigennützige und knechtische Liebe hegt, ist keine würdige Braut des Allerhöchsten; denn die Braut darf nicht lieben oder fürchten wie eine Dienerin, und ebenso wenig darf sie um den Taglohn bitten. Aber obwohl ihre Liebe kindlich sein muss und edelmütig wegen des hohen Ranges und der unermesslichen Güte ihres Bräutigams, so muss sie sich doch auch ihm gegenüber für höchst verpflichtet halten, weil er so reich und freigebig ist und den Seelen zuliebe die sichtbaren Güter in solcher Mannigfaltigkeit erschaffen hat, damit sie alle denjenigen dienen, welche Seiner Majestät dienen; vor allem aber wegen der verborgenen Schätze, welche er mit übergroßer Milde für denjenigen bereit hält, die als Kinder dieser Wahrheit ihn fürchten. Ich will also, dass du dich als höchst verpflichtet erachtest gegen deinen Herrn und Vater, deinen Bräutigam und Freund, da du weißt, wie reich die Seelen sind, welche durch die Gnade das Glück haben, seine Töchter und Lieblinge zu sein, und wie dieser mächtige Vater so große und mannigfaltige Güter bereit hält für seine Kinder und selbst alle diese Güter jedem einzelnen geben würde, wenn es nötig wäre. Wahrlich, die Lieblosigkeit der Menschen lässt sich nicht rechtfertigen inmitten so vieler Beweggründe und Antriebe zur Liebe, und ihre Undankbarkeit findet keine Entschuldigung angesichts so großer Wohltaten, welche sie ohne Maß empfangen.

108. Beachte sodann, meine Teuerste, dass du im Haus des Herrn, das heißt in seiner heiligen Kirche, keine Fremde bist, sondern Hausgenossin und Braut Christi unter den Heiligen, genährt mit seinen Gunstbezeigungen und Brautgeschenken. Weil nun alle Schätze und Reichtümer, welche der Bräutigam besitzt, auch der rechtmäßigen Braut gehören, so erwäge, wie zahllos die Güter sind, an denen er dich teilnehmen lässt und über die er dich zur Herrin gesetzt hat. Benütze denn alle als Hausgenossin; eifere für seine Ehre als so bevorzugte Tochter und Braut und sei dankbar für alle seine Werke und Wohltaten, als hätte sie dein Herr für dich allein geschaffen. Liebe und ehre ihn in deinem Namen sowie im Namen deiner Mitmenschen, gegen die er auch so freigebig gewesen ist. In all dem ahme mit deinen schwachen Krähen nach, was du über mein Verhalten erkannt hast, und wisse, meine Tochter, dass es mir sehr wohlgefällig ist, wenn du mit großer Inbrunst dem Allmächtigen dankst und ihn preisest für die über alle menschliche Vorstellung erhabenen Gnaden und Schätze, welche seine Rechte während dieser Novene mir verliehen hat.

ZEHNTES HAUPTSTÜCK: Die Botschaft des heiligen Erzengels Gabriel

Die allerheiligste Dreifaltigkeit sendet den heiligen Erzengel Gabriel ab, der seligsten Jungfrau zu verkünden und die frohe Botschaft zu bringen, dass sie zur Mutter Gottes erwählt sei.

109. Seit unendlichen Jahrhunderten war (obwohl verborgen im Schoß der ewigen Weisheit) die geeignete Zeit und Stunde festgesetzt, da auf passende Weise sich im Fleisch offenbaren sollte «das große Geheimnis der Erbarmung, gerechtfertigt im Geist, den Menschen verkündet, den Engeln bekannt gegeben und in der Welt geglaubt» (1 Tim 3,16). Da kam die Fülle dieser Zeit, die bis dahin, obwohl voll von Weissagungen und Verheißungen, doch äußerst leer gewesen, weil ihr die Fülle der heiligsten Jungfrau Maria gefehlt hatte, durch deren Willen und Zustimmung alle Jahrhunderte ihr Vollendung erhalten mussten, nämlich das ewige Wort als Erlöser in leidensfähiger Menschheit. Dieses Geheimnis war vorherbestimmt worden vor Anbeginn der Weltzeiten (1 Kor 2, 7), damit es in denselben sich vollziehe, und zwar durch Vermittlung der zarten, himmlischen Jungfrau. Da nun Maria auf Erden war, durfte die Erlösung der Menschen und die Ankunft des Eingebornen vom Vater nicht mehr aufgeschoben werden; denn jetzt brauchte der Herr nicht mehr in Zelten oder fremden Hütten gleichsam mietweise zu wohnen (2 Sam 7, 6); er sollte jetzt seine Wohnung aufschlagen in seinem Tempel und in seinem eigenen Haus, das er sich erbaut und auf seine eigenen Kosten zum voraus ausgestattet hatte, und zwar herrlicher, als Salomon auf Kosten seines Vaters David den Tempel ausgestattet hatte (1 Chr 22, 5).

110. In dieser Fülle der vorausbestimmten Zeit nun beschloss Gott, seinen eingebornen Sohn der Welt zu senden. Er verglich - nach unserer Weise zu denken und zu sprechen seine ewigen Ratschlüsse mit den Prophezeiungen und Zeugnissen, welche er den Menschen seit Beginn der Welt gegeben hatte, und all dies mit der Heiligkeit, zu welcher er die seligste Jungfrau Maria erhoben hatte, und urteilte nun, dass dies alles für die Erhöhung seines heiligen Namens passend sei und dass die Ausführung seines ewigen Willens und Beschlusses den Engeln geoffenbart und durch diese begonnen werden solle. Der Allerhöchste sprach also zum heiligen Erzengel Gabriel mit der Stimme oder der Rede, die den Engeln seinen Willen kundgibt. Und wiewohl Gott seine himmlischen Geister gewöhnlich in der Ordnung erleuchtet, dass er bei den höheren beginnt und diese dann die niedrigeren der Ordnung nach bis zu den letzten reinigen und erleuchten, indem die einen den andern mitteilen, was Gott den ersten geoffenbart hat, so war es doch bei diesem Anlass nicht so. Denn der heilige Erzengel erhielt seine Botschaft unmittelbar vom Herrn selbst.

111. Sobald der Herr seinen Willen kundgab, stand der heilige Gabriel bereit, sozusagen an den Stufen des Thrones Gottes, aufmerksam auf das unveränderliche Wesen das Allerhöchsten. Seine Majestät selbst übergab und erklärte ihm die Botschaft, welche er der heiligsten Jungfrau zu bringen hatte, und auch die Worte, mit welchen er sie begrüßen und anreden musste, so dass Gott selbst deren erster Urheber war. Er hat sie in seinem göttlichen Geist gebildet; von ihm gelangten sie an den heiligen Erzengel und von diesem an die reinste Jungfrau Maria. Der Herr offenbarte dem Himmelsfürsten Gabriel mit diesen Worten zugleich viele tiefe Geheimnisse über die Menschwerdung. Dann gebot ihm die heiligste Dreifaltigkeit, sich zur heiligen Jungfrau zu begeben und ihr zu verkünden, dass sie von Gott erwählt sei, die Mutter des ewigen Wortes zu werden und es in ihrem jungfräulichen Schoß durch die Wirkung des Heiligen Geistes zu empfangen, wobei sie jedoch immer Jungfrau bleiben werde; und alles übrige, was der himmlische Botschafter seiner großen Königin und Herrin mitzuteilen hatte.

112. Darauf erklärte Gott allen übrigen Engeln, dass die Zeit der Erlösung der Menschen gekommen und er bereit sei, ohne Verzug auf die Welt niederzusteigen; er habe Maria, die heiligste Jungfrau, bereits als seine Mutter vorbereitet und geziert, wie es in ihrer Gegenwart geschehen sei, ihr habe er diese höchste Würde verliehen. Die himmlischen Geister vernahmen die Stimme ihres Schöpfers; mit unaussprechlicher Wonne und Danksagung für die Erfüllung seines ewigen und vollkommenen Willens sangen sie neue Loblieder, in welchen sie immer den Hymnus Sions wiederholten: «Heilig, Heilig, Heilig, bist du, Gott und Herr der Heerscharen! Gerecht und mächtig bist du, Herr, unser Gott, der du in der Höhe wohnest und auf die Demütigen der Erde schauest. Wunderbar, o Allerhöchster, sind alle deine Werke; erhaben bist du in deinen Gedanken!»

113. Gabriel, der erhabene Himmelsfürst, gehorchte mit besonderer Freude dem göttlichen Befehl und stieg vom höchsten Himmel nieder, begleitet von vielen Tausenden der schönsten Engel, die ihm in sichtbarer Gestalt folgten. Dieser große Fürst und Botschafter selbst hatte die Gestalt eines anmutigen Jünglings von wunderbarer Schönheit; sein Antlitz war leuchtend und strömte zahlreiche Lichtstrahlen aus; seine Miene war ernst und majestätisch, seine Schritte waren gemessen, seine Haltung würdevoll, seine Worte voll Gewicht und Kraft. Seine ganze Person, voll Ernst und zugleich voll Güte, repräsentierte die Gottheit in vollkommenerer Weise als irgendein anderer Engel, den die Himmelskönigin bis dahin in ähnlicher Gestalt gesehen hatte. Er trug ein Diadem von außerordentlichem Glanz, und seine Prachtgewande schimmerten in den verschiedensten Farben, die alle aufs hellste leuchteten. Auf der Brust trug er ein sehr schönes, wie in Gold eingefasstes Kreuz, das Geheimnis der Menschwerdung andeutend, auf welche seine Botschaft abzielte. Alle diese Umstände erweckten die Aufmerksamkeit und die Gefühle der weisesten Königin in noch höherem Grad.

114. Diese ganze himmlische Heerschar mit ihrem Führer und Fürsten, dem heiligen Gabriel, richtete ihren Flug nach Nazareth, einer Stadt des Landes Galiläa, und zur Wohnung der heiligsten Jungfrau Maria. Diese Wohnung war ein armes Häuschen und ihre Kammer ein enges Zimmer, entblößt von all den Zierden, welche die Welt gebraucht, um ihre Niedrigkeit und ihre Armut an höheren Gütern zu verbergen. Die seligste Jungfrau war nun vierzehn Jahre, sechs Monate und siebzehn Tage alt; denn sie hatte vierzehn Jahre erreicht am achten September, und sechs Monate und siebzehn Tage waren von da an verflossen bis zu diesem Tage, an welchem sich das größte aller Geheimnis vollzog, welche Gott in der Weit vollbracht hat.

115. Die Himmelskönigin war wohlgebaut und größer, als gewöhnlich die Jungfrauen in diesem Alter sind. Ihr Äußeres war sehr anmutig, von höchstem Ebenmaß und größter Vollkommenheit. Ihr Angesicht war mehr lang als rund, aber schön und weder mager noch zu voll; ihre Farbe hell, ein wenig gebräunt; die Stirne breit, jedoch mit Ebenmaß; die Augenbrauen waren ganz vollkommen und gewölbt; die Augen groß, ernst, von unglaublicher, unaussprechlicher Schönheit und von unschuldiger Anmut; deren Farbe spielte zwischen Schwarz und Dunkelgrün; die Nase war gerade und vollkommen; der Mund klein, die Lippen rot, weder zu dünn noch zu dick. Ihre ganze Person, ausgestattet mit solchen Gaben der Natur, war so ebenmäßig und schön gebaut, dass kein menschliches Geschöpf ihr je gleichkam. Ihr Anblick verursachte zu gleicher Zeit Freude und Ehrfurcht, Liebe und ehrerbietige Scheu. Sie zog das Herz an und hielt es zugleich in sanfter Verehrung zurück. Ihre Würde und ihre zahlreichen Vorzüge und Vollkommenheiten regten zu ihrem Lob an und geboten zugleich Stillschweigen; in allen welche sie sahen, brachte ihr Anblick himmlische Wirkungen hervor, die sich nicht leicht beschreiben lassen; sie erfüllte das Herz mit himmlischen Einflüssen und Regungen, die zu Gott hinführten.

116. Ihre Kleidung war demütig, einfach, arm und reinlich, dunkelsilberfarben oder gräulich wie Asche, anständig, jedoch nicht geziert, sondern höchst bescheiden und sittsam. Als die Gesandtschaft des Himmels sich der heiligsten Jungfrau - ohne dass sie es wusste - näherte, war sie in höchster Beschauung über die Geheimnisse, welche der Herr mit so reichlichen Gnaden an ihr während der neun vorhergehenden Tage erneuert hatte. Da der Herr selber, wie oben gesagt wurde, ihr versichert hatte, dass sein Eingeborner in Bälde herabsteigen werde, um Menschengestalt anzunehmen, war die große Königin voll Eifer und Freude im Glauben an dieses Versprechen, und mit demütigen und glühenden Affekten sprach sie in ihrem Herzen: « Ist es möglich, dass die so glückliche Zeit genaht ist, in der das Wort des ewigen Vaters herabsteigen, geboren werden und mit den Menschen umgehen wird? Ist es möglich, dass die Welt ihn besitzen soll, dass die Menschen mit leiblichen Augen ihn schauen sollen, dass dieses unzugängliche Licht erscheinen soll, um diejenigen zu erleuchten, die von Finsternissen umringt sind? O wer wird so glücklich sein, ihn zu sehen und von Angesicht zu kennen? O wer wird die Erde küssen, worauf er seine göttliche Füße setzen wird?»

117. «Es freue sich der Himmel und frohlocke die Erde; alle mögen ihn ewig loben und preisen; denn jetzt ist ihr ewiges Heil nahe. O Kinder Adams, die ihr durch die Schuld niedergebeugt, aber doch Geschöpfe meines einzigen Gutes seid, gar bald werdet ihr das Haupt erheben und das Joch eurer alten Gefangenschaft abschütteln. Schon naht eure Erlösung, schon kommt euer Heil. O Altväter, Propheten und alle Gerechten, die ihr im Schoß Abrahams harret und in der Vorhölle zurückgehalten seid, bald wird euer Trost kommen; der ersehnte und verheißene Erlöser wird nicht mehr zögern! Wir alle wollen ihn preisen und ihm Loblieder singen! O wer mag die Dienerin seiner Dienerinnen sein? Wer mag wohl die Dienerin derjenigen sein, welche Jesaja als seine Mutter bezeichnet hat? O Emanuel, Gott und wahrer Mensch! O Schlüssel Davids, der den Himmel öffnen wird ! O ewige Weisheit ! O Gesetzgeber der neuen Kirche, komme, komme zu uns, o Herr; befreie dein Volk von der Gefangenschaft; alles Fleisch sehe dein Heil!»

118. In solchen Gebeten und Akten und in vielen anderen, welche meine Zunge nicht aussprechen kann, war die heilige Jungfrau begriffen, als der heilige Erzengel Gabriel ankam. Sie war höchst rein der Seele, höchst vollkommen dem Leib nach; höchst edel in ihren Gedanken, ganz erhaben an Heiligkeit; sie war voll der Gnaden und in jeder Hinsicht Gott so ähnlich und Gott so wohlgefällig, dass sie seine würdige Mutter sein konnte und ein wirksames Werkzeug, um ihn aus dem Schoß des Vaters in ihren jungfräulichen Schoß herabzuziehen. Sie war das mächtige Mittel unserer Erlösung; ihr verdanken wir sie aus vielen Gründen, und darum verdient sie, dass alle Nationen und Geschlechter sie ewig loben und preisen.

Was beim Eintritt des himmlischen Abgesandten geschah, werde ich im folgenden Hauptstück sagen.

119. Hier bemerke ich nur eine Sache, welche Verwunderung erregt, dass nämlich Gott die seligste Jungfrau beim Empfang der Botschaft des Engels und bei Vollziehung des so erhabenen Geheimnisses der Menschwerdung in dem gewöhnlichen Zustand der Tugenden ließ, den ich im ersten Teil beschrieben habe (Nr. 674-714). Der Allerhöchste ordnete dies an, weil jenes Geheimnis sich als ein Mysterium des Glaubens vollziehen musste, wobei die Tugend des Glaubens mit denen der Hoffnung und der Liebe geübt werden sollte. Darum ließ Gott die heilige Jungfrau in diesen Tugenden, damit sie an die Worte Gottes glaube und auf dieselben hoffe. Auf diese Akte hin folgte dann, was ich alsbald sagen werde, obwohl meine beschränkten Worte nicht ausreichen und ich durch die Größe dieser Geheimnisse noch unfähiger werde, dieselben auszudrücken.

LEHRE DER KÖNIGIN DES HIMMELS

120. Meine Tochter, ich eröffne dir jetzt mit besonderer Zuneigung meinen Willen und mein Verlangen, dass du dich des innigen, vertrauten Umganges mit Gott würdig machst und dich dazu mit großer Sorgfalt vorbereitest, indem du deine Sünden beweinst und auf alles Sichtbare vergissest und verzichtest, so dass du an nichts anderes mehr denkest als an Gott. Zu diesem Zweck sollst du alle Lehren in Ausführung bringen, welche ich dir bis jetzt gegeben habe und noch geben werde bei den weiteren Aufschreibungen, welche dir obliegen. Ich werde dir Weisung und Anleitung geben, wie du in diesem vertrauten Umgang mit Gott dich benehmen und mit den Gaben handeln musst, welche du von seiner Güte erhalten wirst, indem du ihn in deinem Herzen empfängst durch den Glauben, durch das Licht und die Gnade, welche ich dir geben werde. Wenn du aber nicht zuerst dieser Mahnung zufolge dich vorbereitest, so wirst du nicht zur Erfüllung deiner Wünsche gelangen und ich werde die Frucht meiner Lehre, welche ich dir als deine Lehrmeisterin gebe, nicht sehen.

121. Da du, ohne es zu verdienen, den verborgenen Schatz und die kostbare Perle meiner Unterweisung und Lehre gefunden hast, so verachte alles, was du haben kannst, um allein dieses unschätzbare Kleinod dir zu eigen zu machen; denn mit ihm wirst du zugleich alle Güter erhalten und dich der innigsten Freundschaft des Herrn und seines ewigen Verbleibens in deinem Herzen würdig machen. Als Gegenleistung für dieses große Glück verlange ich, dass du allem Irdischen absterbst, deinen Willen in der Glut dankbarer Liebe aufopferst und nach meinem Beispiel in der Demut so weit gehst, zu glauben und anzuerkennen, dass du nichts taugst, nichts könnst, nichts verdienst und nicht würdig seist, als Dienerin der Dienerinnen Christi angenommen zu werden.

122. Beachte, dass es fern von mir war, an die Würde der Mutter Gottes, zu welcher der Allerhöchste mich bestimmt hatte, auch nur zu denken; und dies selbst dann noch, als er mir bereits verheißen hatte, dass seine Ankunft in dieser Welt in Bälde erfolgen werde, und als Er mir auferlegte, sie mit solcher Liebesglut zu verlangen, dass ich am Tag vor diesem wunderbaren Geheimnis zu sterben glaubte, da mein Herz in diesen Liebesängsten gebrochen wäre, wenn die göttliche Vorsehung mich nicht gestärkt hätte. Freilich erweiterte sich mein Herz bei der Gewissheit, dass der Eingeborne des ewigen Vaters bald vom Himmel niedersteigen werde; anderseits aber flößte die Demut mir den Gedanken ein, ob nicht seine Ankunft sich verzögere, weil ich auf der Welt sei. Erwäge also, Teuerste, dieses Geheimnis meines Herzens und welches Beispiel dies ist für dich und für alle Menschen ! Weil es jedoch schwer ist, eine so hohe Weisheit zu erreichen und niederzuschreiben, so beschaue mich in dem Herrn; da wirst du in seinem göttlichen Licht meine ganz vollkommenen Handlungen betrachten und verstehen; folge mir dann, indem du dieselben nachahmest, und tritt in meine Fußstapfen.

ELFTES HAUPTSTÜCK: Das Geheimnis der heiligsten Menschwerdung

Die heiligste Jungfrau vernimmt die Botschaft des heiligen Engels; das Geheimnis der Menschwerdung vollzieht sich indem sie das ewige Wort in ihrem jungfräulichen Schoß empfängt.

123. Ich will bekennen vor Himmel und Erde, vor ihren Bewohnern und vor dem Schöpfer des Weltalls, dem ewigen Gott; da ich die Feder ergreife, um das unergründliche Geheimnis der Menschwerdung zu beschreiben, schwinden meine schwachen Kräfte, meine Zunge verstummt, meine Worte erstarren, meine Seelenkräfte werden machtlos und mein Verstand ist wie gehemmt und betäubt, wenn ich ihn auf das göttliche Licht richte, welches mich leitet und unterweist. Man erkennt in ihm alles ohne Täuschung, man versteht ohne Umschweife, und ich sehe darin, wie unfähig ich bin, wie leer die Worte sind und wie unzulänglich die Ausdrücke, um die Gedanken über ein Geheimnis vollständig wiederzugeben, welches Gott selbst und das größte Wunderwerk seiner Allmacht wie in einem kurzen Inbegriff in sich schließt. Ich sehe in diesem Geheimnis die göttliche, wunderbare Harmonie der unendlichen Vorsehung und Weisheit, mit welcher Gott es von Ewigkeit her angeordnet und vorbereitet und seit Erschaffung der Welt es im Auge gehabt hat, auf dass alle seine Werke und Geschöpfe ein passendes Mittel werden für dieses erhabenste Ziel, dass Gott auf die Erde niedersteige und Mensch werde.

124. Ich sehe, wie das ewige Wort, um vom Schoß seines Vaters niederzusteigen, als passendste Zeit und Stunde die stille Mitternacht der Unwissenheit der Menschen wählte und abwartete, als die ganze Nachkommenschaft Adams im Schlaf der Vergessenheit und Unkenntnis des wahren Gottes begraben und versunken war und niemand den Mund öffnete, um Gott zu bekennen und zu preisen, ausgenommen einige wenige seines Volkes. In der ganzen Welt herrschte Stillschweigen und dichte Finsternis während einer langen Nacht von ungefähr fünftausend und zweihundert Jahren; ein Jahrhundert und ein Geschlecht folgte dem andern, jedes in der Zeit, die von der ewigen Weisheit vorausbestimmt war, damit alle ihren Schöpfer erkennen und gleichsam mit Händen greifen könnten; hatten sie ihn ja so nahe, dass er in sich selbst ihnen Leben, Sein und Bewegung gab (Apg 17, 27.28). Da jedoch der klare Tag des unzugänglichen Lichtes nicht erschien, wandelten die meisten Sterblichen wie Blinde, sahen und fühlten zwar die Geschöpfe, fanden und erkannten aber nicht die Gottheit, sondern gaben sich den sinnlichen und verächtlichsten Dingen der Erde hin.

125. Da kam der glückliche Tag, an welchem der Allerhöchste, über die langen Jahrhunderte der so tiefen Unwissenheit hinwegsehend, beschloss, sich den Menschen zu offenbaren und die Erlösung des Menschengeschlechtes zu beginnen, indem er dessen Natur annahm im Schoß der heiligsten Jungfrau, welche in der beschriebenen Weise auf dieses Geheimnis vorbereitet war. Um jedoch besser zu erklären, was mir darüber geoffenbart wurde, muss ich zuvor von einigen Geheimnissen sprechen, die sich vollzogen, als der Eingeborne vom Schoß seines ewigen Vaters herabkam. Ich setze voraus, dass unter den drei göttlichen Personen zwar, wie der Glaube lehrt, der Unterschied der Personen besteht, aber durchaus keine Ungleichheit betreffs der Weisheit, der Allmacht und der übrigen Vollkommenheiten, ebenso wenig als eine solche im Wesen der göttlichen Natur stattfinden kann. Und wie sie sich gleich sind in Würde und unendlicher Vollkommenheit, so sind sie dies auch in den Wirkungen, die man «Werke nach außen» nennt, weil sie aus Gott heraustreten, um ein Geschöpf oder etwas Zeitliches hervorzubringen. Diese Tätigkeiten sind ungeteilt zwischen den drei göttlichen Personen; denn nicht eine einzige, sondern alle drei vollbringen sie diese, sofern sie ein und derselbe Gott sind und eine Weisheit, einen Verstand und einen Willen haben. Wie also der Sohn weiß, will und wirkt, was der Vater weiß und will, ebenso weiß, will und wirkt auch der Heilige Geist das nämliche wie der Vater und der Sohn.

126. Alle drei Personen führten also das Werk der Menschwerdung mit dieser Ungeteiltheit aus und wirkten es in ein und derselben Tätigkeit, obwohl nur die Person des Wortes allein die menschliche Natur annahm, indem sie dieselbe hypostatisch mit sich vereinigte. Darum sagen wir, dass der Sohn gesandt worden ist vom ewigen Vater, von dessen Verstand er hervorgeht, und dass sein Vater ihn gesandt hat durch die Wirkung des Heiligen Geistes, welcher bei dieser Sendung mittätig war. Da also die Person des Sohnes auf die Welt kommen wollte, um Mensch zu werden, so brachte er, ehe er vom Himmel niederstieg - ohne den Schoß seines Vaters zu verlassen -, in diesem göttlichen Rat im Namen eben dieser Menschheit, welche er annehmen sollte, einen Vorschlag und eine Bitte vor. Der Sohn stellte nämlich seine vorhergesehenen Verdienste vor(Der Sohn Gottes wies also auf seine künftigen Verdienste hin, und dieses Hinweisen kann als «intelpellatio pro nobis» bezeichnet werden, ähnlich wie der heilige Thomas zu den Worten: «ad interpellandum pro nobis» (Hebr 7) bemerkt: «Ipsa repraesentatio sui ex natura humana quam in coelum intulit, est quaedam interpellatio pro nobis». [Ill. q. 57. a. 6.] Der Herausgeber)., damit in Ansicht derer dem ganzen Menschengeschlecht die Erlösung gewährt werde und die Verzeihung der Sünden, für welche er der göttlichen Gerechtigkeit genugtun sollte. Er bat um das Fiat (= Es geschehe) des heiligsten Willens des Vaters, der ihn sandte, damit derselbe die Erlösung annehme mittelst seiner Werke, seines heiligsten Leidens und der Geheimnisse, welche er in der neuen Kirche und dem Gesetze der Gnade vollbringen wollte.

127. Der ewige Vater nahm diese Bitte und die vorhergesehenen Verdienste des Wortes an und gewährte ihm alles, was es für die Menschen vorgeschlagen und erbeten hatte. Er selbst empfahl ihm seine Auserwählten als sein Erbe; darum sagt unser Heiland durch den heiligen Johannes, dass er diejenigen, welche sein Vater ihm gegeben, nicht verloren habe und dass sie nicht verloren gehen; denn er hat sie alle bewahrt, ausgenommen Judas, den Sohn des Verderbens (Joh 18, 9; 17,12). Ein anderes Mal sagte er, dass niemand eines seiner Schäflein seiner Hand oder der des Vaters entreißen werde (Joh 10, 28.29). Dies würde für alle Menschen gelten, wenn sie sich bemühen würden, dass die Erlösung, wie sie für alle ausreichend ist, so auch für alle und in allen wirksam würde, denn niemand ist von der göttlichen Barmherzigkeit ausgeschlossen, wenn nur alle dieselbe von ihrem Erlöser annehmen wollten.

128. Dies alles ging - nach unserer Vorstellung - im Himmel auf dem Thron der allerheiligsten Dreifaltigkeit vor sich, ehe das Fiat der seligsten Jungfrau, von dem ich sogleich reden werde, gesprochen wurde. Im Augenblick, da der Eingeborne des Vaters in ihren jungfräulichen Schoß niederstieg, bewegten sich die Himmel und alle Geschöpfe. Weil alle drei göttlichen Personen untrennbar vereinigt sind, so kamen sie alle mit der Person des Wortes herab, während dieses allein Fleisch annehmen sollte. Mit dem Herrn und Gott der Heerscharen stieg das ganze himmlische Heer nieder, voll Glanz und unüberwindlicher Stärke. Freilich war es nicht nötig, den Weg zu bahnen, weil die Gottheit alles erfüllt, an jedem Ort gegenwärtig ist und weil nichts sie hemmen kann; aber die materiellen Himmel huldigten ihrem Schöpfer und bewiesen ihm Ehrfurcht: alle elf öffneten und teilten sich mit den niederen Elementen; die Sterne strahlten in neuem Licht, die Sonne, der Mond und die anderen Planeten beschleunigten ihren Lauf im Dienste ihres Schöpfers, um bei dessen größtem Wunderwerke gegenwärtig zu sein.

129. Die Menschen wurden dieser ungewohnten Bewegung aller Geschöpfe nicht gewahr, teils weil dieselbe in der Nacht stattfand, teils weil der Herr wollte, dass sie allein den Engeln bekannt werde, welche ihn beim Schauen so tiefer und ehrwürdiger Geheimnisse mit neuer Bewunderung priesen; verborgen für die Menschen, welche diesen Wundern fern blieben, waren sie staunenswert selbst für die englischen Geister, und diesen allein war es nun überlassen, ihrem Schöpfer dafür Lob, Preis und Ehre darzubringen. Nur dem Herzen einiger Gerechten flößte Gott in dieser Stunde eine ungewohnte Bewegung und außerordentliche Freude ein; alle beachteten sie und wurden dadurch zum Nachdenken angeregt, zu neuen und großen Gedanken über den Herrn. Einige vermuteten infolge göttlicher Eingebung, dass diese ungewöhnliche Empfindung durch die Ankunft des Messias zur Erlösung der Welt verursacht sei. Alle aber schwiegen, weil durch göttliche Fügung ein jeder glaubte, diese außerordentlichen Empfindungen und Gedanken allein gehabt zu haben.

130. Auch die übrigen Geschöpfe erfuhren diese Erneuerung und Änderung. Die Vögel erhoben sich mit Gesang und außerordentlicher Freude; der Pflanzen und Bäume Wohlgeruch und Früchte wurden vortrefflicher; und so fühlten oder empfingen auch andere Geschöpfe in ihrer Art eine geheime Belebung und Änderung. In höherem Grad jedoch war dies bei den Vätern und den Heiligen, welche in der Vorhölle waren, der Fall. Der heilige Engel Michael wurde dahin gesandt, ihnen diese frohe Botschaft zu bringen. Sie wurden dadurch mit Trost erfüllt und lobten voll Jubel den Herrn. Nur in der Hölle war neuer Schmerz und neues Weh; denn als das ewige Wort aus der Höhe niederstieg, fühlten die bösen Geister eine gewaltige Kraft der göttlichen Allmacht, welche gleich den Wogen des Meeres über sie hereinbrach und sie alle in die unterste Tiefe jener finstern Abgründe warf, ohne dass sie widerstehen oder sich erheben konnten. Nachher kamen sie mit Gottes Zulassung wieder herauf auf die Welt, liefen überall umher und forschten nach, ob ein neues Ereignis stattgefunden habe, dem die Wirkung, die sie an sich selbst erfahren, zuzuschreiben wäre. Aber sie konnten die Ursache nicht entdecken, obwohl sie hierüber einige Beratungen hielten. Denn wie wir in der Folge sehen werden, verbarg ihnen der Allmächtige das Geheimnis der Menschwerdung und die Weise, wie die heiligste Jungfrau den Gottmenschen empfing; erst bei dessen Tod und bei dem Kreuz erfuhren sie, dass Christus wahrer Gott und Mensch sei, wie wir seinerzeit mitteilen werden.

131. Da nun der Allerhöchste dieses Geheimnis ausführen wollte, trat der heilige Erzengel Gabriel in der Gestalt, die wir im vorausgehenden Hauptstück beschrieben, in die Kammer, wo die heiligste Jungfrau betete. Er war begleitet von unzählbaren Engeln in sichtbarer, menschlicher Gestalt, welche alle, je nach ihrem Rang, in wunderbarer Schönheit strahlten. Es war Donnerstag, sieben Uhr abends; das Dunkel der Nacht begann sich zu verbreiten. Die Himmelskönigin blickte den heiligen Erzengel mit höchster Bescheidenheit und Zurückhaltung an und nur so viel, als hinreichte, um ihn als einen Engel des Herrn zu erkennen. Sobald sie ihn erkannt hatte, wollte sie sich in ihrer gewohnten Demut vor ihm verneigen; allein der heilige Himmelsfürst ließ es nicht zu; vielmehr machte er selbst eine tiefe Verbeugung vor ihr als seiner Königin und Herrin, in welcher er die göttlichen Geheimnisse seines Schöpfers anbetete. Dadurch anerkannte er zugleich, dass von diesem Tag an die alte Zeit und Gewohnheit sich ändere, nach welcher die Menschen vor den Engeln sich verneigten, wie Abraham getan hat. Indem nämlich die menschliche Natur in der Person des Wortes zur Würde Gottes erhoben wurde, wurden die Menschen als Kinder Gottes und als Genossen oder Brüder der Engel angenommen, wie der Engel dem heiligen Evangelisten Johannes beteuerte, als er dessen Anbetung zurückwies.

132. Dann grüßte der heilige Erzengel unsere und seine Königin und sprach: «Ave gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus - Gegrüßt seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen». Beim Vernehmen dieses neuen, englischen Grußes erschrak die demütigste der Kreaturen, ohne jedoch verwirrt zu werden. Dieses Erschrecken hatte bei ihr zwei Ursachen: Die eine war ihre tiefste Demut, in der sich Maria als die geringste von allen Menschen betrachtete; denn während sie so gering von sich dachte, hörte sie sich als die Gebenedeite unter allen Frauen begrüßen; darüber geriet sie in Erstaunen.(«Non turbata fuit in visione angeli, sed in admiratione eorum quae ei ab angelo dicebantur, quia de se tam magnifica non cogitabat». S. Thomas [Ill. q. 30. a. 3.]. Der Herausgeber). Die zweite Ursache war diese: Während sie diesen Gruß hörte und in ihrem Herzen erwog, gab ihr Gott der Herr zu erkennen, dass er sie zu seiner Mutter erwähle; und darüber erschrak sie noch mehr wegen der geringen Meinung, die sie von sich hatte. Darum sprach der Engel, den Willen des Herrn erklärend, also weiter: «Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott ! Siehe, du wirst einen Sohn in deinem Schoß empfangen und gebären und du wirst ihm den Namen Jesus geben; er wird groß sein und der Sohn des Allerhöchsten genannt werden», worauf die übrigen Worte des heiligen Erzengels folgten.

133. Unsere weiseste und demütigste Königin war allein unter allen bloßen Geschöpfen fähig, ein so großes und ganz einziges Geheimnis nach Gebühr zu würdigen und hoch zu schätzen; und da sie dessen Größe erkannte, so war sie in entsprechender Weise erstaunt und betroffen. Doch sie wandte ihr demütiges Herz zum Herrn, welcher ihre Bitten nicht abschlagen konnte, und flehte in ihrem Innern um neues Licht und neuen Beistand, um sich in einer so schwierigen Angelegenheit zu entscheiden; denn der Allerhöchste ließ sie, wie ich im vorausgehenden Hauptstück sagte, bei Vollziehung dieses Geheimnisses in dem gewöhnlichen Zustand des Glaubens,(Es kann nicht auffallen, dass die seligste Jungfrau erst nach reiflicher Überlegung und langem Gebete ihr «Fiat» sprach. Sie überlegte [cogitabat sagt die Heilige Schrift]; sie betete; der Engel stellte ihr auf menschliche Weise die Prophezeiungen vor Augen und harrte mit Ehrfurcht auf die Entscheidung seiner Königin. Schon da es sich um die Vermählung mit dem heiligen Joseph handelte, überlegte und betete die weiseste Jungfrau neun Tage lang, ehe sie sich entschied. Der Herausgeber). der Hoffnung und der Liebe, indem er die anderen Gaben und inneren, höheren Erleuchtungen aufhob, welche sie sonst häufig oder beinahe beständig erhielt. In dieser Verfassung antwortete sie dem heiligen Erzengel Gabriel, wie der heilige Lukas berichtet: «Wie soll dies sein, dass ich empfange und einen Sohn gebäre, da ich keinen Mann erkenne?» Zu gleicher Zeit stellte sie dem Herrn innerlich das Gelübde der Keuschheit vor, welches sie abgelegt, und die Verlobung, welche Seine Majestät mit ihr gefeiert hatte.

134. Der Himmelsfürst antwortete ihr: «Königin, für Gottes Allmacht ist es leicht zu bewirken, dass du Mutter werdest, ohne einen Mann zu erkennen. Der Heilige Geist wird mit seiner Gegenwart kommen und in wunderbarer Weise mit dir sein, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten, damit von dir geboren werden könne der Heilige der Heiligen, welcher Sohn Gottes heißen wird. Und siehe, auch deine Base Elisabeth hat in ihrem unfruchtbaren Alter einen Sohn empfangen, und dies ist schon der sechste Monat seit ihrer Empfängnis. Denn nichts ist unmöglich bei Gott, und derjenige, welcher bewirkt, dass eine Unfruchtbare empfange und gebäre, kann auch bewirken, o Königin, dass du seine Mutter werdest und zugleich allzeit Jungfrau bleibst und dass deine große Reinheit noch größere Weihe empfange. Dem Sohn, welchen du gebären wirst, wird Gott den Thron seines Vaters David geben, und sein Reich wird ewig sein im Haus Jakobs. Du kennst wohl, o Königin, die Weissagung des Jesaja, dass eine Jungfrau empfangen und einen Sohn gebären werde, welcher Emanuel, das ist "Gott mit uns", heißen soll. Diese Weissagung ist untrüglich, und sie muss sich in deiner Person erfüllen. Auch kennst du das große Geheimnis des Dornbusches, welchen Moses brennen sah, ohne dass das Feuer ihn verletzte; dies bedeutete die zwei Naturen: die göttliche und die menschliche in ihrer Vereinigung, ohne dass die letztere durch jene verzehrt wird; sowie dass die Mutter des Messias empfangen und gebären werde ohne Verletzung ihrer jungfräulichen Reinheit. Erinnere dich auch, o Herrin, an die Verheißung, welche unser ewiger Gott dem Patriarchen Abraham gegeben hat, dass seine Nachkommen nach ihrer Knechtschaft in Ägypten im vierten Geschlecht in dieses Land zurückkehren werden; das Geheimnis dieser Verheißung war, dass der menschgewordene Gott in diesem vierten Geschlecht durch deine Vermittlung das ganze Menschengeschlecht aus der Sklaverei des Satan erlösen werde. Jene Leiter endlich, welche Jakob im Schlafe sah, war ein deutliches Vorbild des königlichen Weges, welchen das Wort Gottes in menschlichem Fleisch eröffnen soll, damit die Menschen zum Himmel empor- und die Engel zur Erde niedersteigen, wie auch der Eingeborne des Vaters auf die Erde herabkommen soll, um auf ihr mit den Menschen zu verkehren und ihnen die Schätze seiner Gottheit mitzuteilen, indem er sie an den Tugenden und Vollkommenheiten seines unveränderlichen, ewigen Wesens teilnehmen lässt».

135. Mit diesen und vielen anderen Gründen belehrte der himmlische Bote die heiligste Jungfrau, damit sie die Furcht wegen seiner Botschaft durch die Erinnerung an die alten Verheißungen und Weissagungen der Heiligen Schrift und durch den Glauben an sie und an die unendliche Macht des Allerhöchsten ablege. Da jedoch unsere Königin die Engel selbst an Weisheit, Klugheit und aller Heiligkeit übertraf, so hielt sie mit ihrer Antwort noch zurück, um dieselbe mit jener Überlegung zu geben, mit welcher sie dies wirklich getan hat; denn dieselbe war so, wie sie dem größten Geheimniss der göttlichen Allmacht gebührte. Die große Herrin erwog, dass von ihrer Antwort nichts Geringeres abhänge als das Worthalten der Heiligsten Dreifaltigkeit, die Erfüllung der göttlichen Verheißungen und Prophezeiungen, das wohlgefälligste und würdigste aller Opfer, die jemals dargebracht worden waren, das Eröffnen der Pforten des Paradieses, der Sieg und Triumph über die Hölle, die Erlösung des ganzen Menschengeschlechtes, die Genugtuung und Ersatzleistung an die göttliche Gerechtigkeit, die Gründung des neuen Gesetzes der Gnade, die Beseligung der Menschen, die Freude der Engel, kurz alles das, was eingeschlossen ist in dem großen Geheimnisse, dass der Eingeborne vom Vater Mensch werden und Knechtsgestalt annehmen sollte in ihrem jungfräulichen Schoß.

136. Gewiss ein großes, staunenswertes Wunder, dass der Allerhöchste alle diese Geheimnisse und alles, was darin eingeschlossen ist, in die Hände einer demütigen Jungfrau legte und dass alles dies von ihrem «Fiat - Es geschehe» abhing. Doch alles dies hat der Herr mit Würde und Sicherheit der Weisheit und dem Starkmut dieser starken Frau überlassen können, da sie bei ihren so hochherzigen und erhabenen Gesinnungen sein Vertrauen nicht täuschen konnte. Die Tätigkeiten, die im Inneren Gottes bleiben, bedürfen der Mitwirkung der Geschöpfe nicht; diese können daran nicht teilnehmen, noch kann Gott dies erwarten, um nach innen (ad intra) zu wirken. Anders ist's mit den kontingenten Werken nach außen (ad extra). deren größtes und ausgezeichnetstes die Menschwerdung war. Diese wollte Gott nicht vollziehen ohne die Mitwirkung und freie Zustimmung der heiligsten Jungfrau. Mit ihr und durch sie wollte er allen seinen Werken nach außen diese Vollendung geben, und wir sollten diese Wohltat der Mutter der Weisheit, unserer Wiederherstellerin Maria, verdanken.(Der heilige Irenäus schreibt: «Quid est, quod sine Mariae consensu non perficitur mysterium Incarnationis? Quia nempe vult iIIam Deus omnium bonorum esse principium» [I. 3. c. Valent. c. 33.]. Der Gedanke, dass von dem Fiat der allerseligsten Jungfrau das Heil der Welt abhängig gewesen sei, wird überhaupt von den Heiligen vielfach ausgeführt. Man sehe: S. Bernard. Super Missus [homo 4. n. 8.] S. Thom. a Vil/anova [De annunciat. conc. 1.] etc.)

137. Diese große Königin betrachtete und durchschaute das so weite Feld (Spr 31,16-18) der Würde einer Mutter Gottes, das sie mit einem «Fiat» erkaufen sollte. Sie bekleidete sich mit übermenschlicher Stärke, «sie fühlte und sah, wie gut dieses Geschäft» und dieser Tausch mit Gott war; sie «achtete auf die Wege» (Spr 5, 27) seiner verborgenen Wohltaten und schmückte sich mit «Kraft und Anmut» (Spr 5, 25). Nachdem sie bei sich selbst sowie mit dem himmlischen Boten Gabriel die Größe dieser so erhabenen, göttlichen Geheimnisse erwogen und das volle Verständnis der erhaltenen Botschaft erlangt hatte, wurde ihr reinster Geist ganz versenkt in Bewunderung, Ehrfurcht und höchste, feurigste Liebe zu Gott. Durch die Gewalt dieser hocherhabenen Anmutungen und Gemütsbewegungen wurde wie in natürlicher Folge das reinste Herz Mariä gleichsam gepresst und so stark zusammengedrückt, dass drei Tropfen seines reinsten Blutes aus ihm träufelten. Aus diesen drei Tropfen wurde im reinsten Schoß Mariä der Leib Unseres Herrn Jesus Christi durch die Kraft des Heiligen Geistes gebildet. So hat also das Herz der reinsten Jungfrau Maria wahrhaft und wirklich durch die Macht seiner Liebe den Stoff dargeboten, aus welchem die heiligste Menschheit des Wortes zu unserer Erlösung gebildet wurde.Dass der Leib Christi aus dem reinsten Blut Mariä [mittelbar] gebildet worden, ist von der Theologie anerkannt. «Ex purissimo Vilginis matris sanguine Christi corpus formatum credimus» sagt der römische Katechismus. [P. I. q. 4.] Der Herausgeber). Zu gleicher Zeit sprach Maria mit unbeschreiblicher Demut, das Haupt ein wenig geneigt und die Hände gefaltet, jene Worte, welche der Anfang unserer Erlösung waren: «Ecce ancilla Domini, fiat mihi secundum verbum tuum - Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, es geschehe mir nach deinem Wort».

138. Beim Aussprechen dieses «Fiat», das für Gott so lieblich zu hören und für uns so heilbringend war, geschahen in einem Augenblick vier Dinge: Erstens wurde der heiligste Leib Unseres Herrn Jesu Christi gebildet. Zweitens wurde die heiligste Seele Unseres Herrn erschaffen, und zwar ebenso wie die anderen Seelen. Drittens wurden diese Seele und dieser Leib vereinigt, um seine vollkommenste Menschheit zu bilden. Viertens vereinigte sich die Gottheit in der Person des Wortes mit der Menschheit; durch diese persönliche (hypostatische) Vereinigung der Menschheit mit der Gottheit vollzog sich die Menschwerdung in einem Suppositum (Träger) (Vgl. S. Thomas Summa theologica 3. q. 2. art. 3), und so war Jesus Christus, der wahre Gott-Mensch, unser Herr und Erlöser, gebildet. Dies geschah freitags, den 25. März, «Conceptum Christum in aequinoctio verno, 25. Martii, natum in solstitio hiemali, 25. Decembris, antiqua et constans Ecclesiae est traditio ». Tirinus, Chronicon c. 48. Die auf die Septuaginta sich stützende Zeitrechnung des Martyrologiums wird auch von der Wissenschaft als die richtigeIe betrachtet. siehe Der Katholik, 1885.1. S. 571, und andere dort zitierte Werke. Der Herausgeber). beim Anbruch der Morgendämmerung, zur nämlichen Stunde, wo unser erster Vater Adam erschaffen worden war im Jahre 5199 nach Erschaffung der Welt, wie die römische Kirche, vom Heiligen Geiste geleitet, im Martyrologium zählt. Diese Zeitrechnung ist die wahre und sichere, wie mir dies erklärt wurde, nachdem ich im Gehorsam darüber gefragt hatte. Demgemäß wurde die Welt erschaffen im Monate März, welcher dem Beginne der Schöpfung entspricht; und weil alle Werke des Allerhöchsten vollkommen und vollendet sind, so gingen die Pflanzen und die Bäume aus der Hand Gottes mit Früchten hervor, und sie hätten, wenn die Sünde nicht in die ganze Natur eine Veränderung gebracht hätte, dieselben niemals verloren, wie ich es, wenn es Gottes Wille ist, in einer andern Abhandlung erklären will, nicht aber jetzt, weil es nicht hierher gehört.

139. In demselben Augenblick, als der Allmächtige die Festfeier der persönlichen Vereinigung des ewigen Wortes mit der menschlichen Natur im reinsten Schoß der heiligsten Jungfrau beging, wurde diese himmlische Königin zur beseligenden Anschauung erhoben; sie erhielt eine intuitive und klare Vision Gottes. Sie erkannte in ihm die erhabensten Geheimnisse, von denen ich im folgenden Hauptstück sprechen werde. Namentlich wurden ihr die geheimnisvollen Zeichen klar, die sich auf dem ihr angelegten Schmuck befanden, wovon wir im siebten Hauptstücke sprachen, desgleichen auch diejenigen, welche ihre Engel trugen.

Das göttliche Kind wuchs natürlicherweise im Mutterschoß mit der Nahrung, Substanz und dem Blut seiner heiligsten Mutter wie die anderen Kinder; doch war es frei von den Unvollkommenheiten, welche die übrigen Adamskinder in jenem Zustand und an jener Stätte zu leiden haben; denn die Königin des Himmels war von den Schwächen, die nicht zum Wesen der Lebensmitteilung gehören, sondern eine Folge der Sünde sind, ganz und gar frei; auch manches andere fand sich bei ihr nicht, was unvollkommen und überflüssig, jedoch natürlich und gewöhnlich ist bei Frauen, in deren Schoß Kinder sich nähren, erhalten und wachsen. Denn was die anderen Töchter Evas von ihrer unvollkommenen Natur mitteilen, das teilte die heiligste Jungfrau mit durch Übung heroischer Akte der Tugenden, besonders der Liebe. Und da die feurigen Akte der Seele und die Liebesaffekte natürlicherweise die Säfte und das Blut in Bewegung bringen, so verwendete die göttliche Vorsehung dieses reinste Blut zur Nahrung und zum Wachstum des göttlichen Kindes. So wurde die Menschheit unseres Erlösers auf natürliche Weise genährt und zugleich die Gottheit durch die heroischen Tugenden seiner Mutter erfreut. Auf diese Weise bot die seligste Jungfrau dem Heiligen Geist zur Bildung des Leibes Jesu reines, lauteres Blut, weil es ohne Sünde empfangen und frei war von den Folgen der Sünde; und während die anderen Mütter ihren Kindern für deren Wachstum nur unvollkommenes, unreines Blut geben können, gab die Königin des Himmels das reinste, wesenhafteste und zarteste, weil sie es mitteilte in Kraft der Affekte der Liebe und anderer Tugenden. Ebenso verhielt es sich mit der Substanz dessen, was sie genoss. Sie wusste, dass sie Speise nahm, um dem Sohn Gottes und ihrem Sohn Nahrung zu geben; und darum genoss sie die Nahrung immer unter so heroischen Akten, dass die himmlischen Geister staunten, wie in so gewöhnlichen menschlichen Handlungen so große Verdienste und für den Herrn so hohes Wohlgefallen sich finden konnte.

140. Mit der Würde einer Mutter Gottes erhielt Maria so große Privilegien, dass alles, was ich bisher gesagt habe oder noch sagen werde, deren Erhabenheit nicht im geringsten wiedergibt; meine Zunge kann dieselben nicht aussprechen, denn weder der Verstand kann sie auf gebührende Weise erfassen, noch werden die gelehrtesten und weisesten Männer passende Worte finden, um sie auszudrücken. Die Demütigen jedoch, welche die Kunst verstehen, Gott zu lieben, werden dies durch das eingegossene Licht erkennen und durch den inneren Geschmack, womit solche Geheimnisse erfasst werden. Nicht nur war die heiligste Jungfrau, der Himmel, der Tempel und die Wohnung der Heiligsten Dreifaltigkeit ganz umgestaltet, erhoben und Gott ähnlich geworden durch die besondere und neue Gegenwart der Gottheit in ihrem reinsten Schoß, sondern auch ihr armes Häuschen und ihr Betkämmerchen waren zu einem neuen Heiligtum des Herrn geweiht worden. Die himmlischen Geister aber, welche Zeugen dieses Wunders waren, priesen den Herrn mit neuen Lobliedern und mit unnennbarem Jubel und lobten ihn im Verein mit der seligsten Jungfrau sowohl in ihrem eigenen Namen als im Namen des Menschengeschlechtes, welches die größte seiner Wohltaten und Erbarmungen noch gar nicht kannte.

LEHRE DER HEILIGSTEN KÖNIGIN MARIA

141. Meine Tochter, du bist, wie ich sehe, erstaunt, und mit Recht, da du in neuem Licht das Geheimnis erkannt hast, in welchem die Gottheit so tief sich erniedrigt hat, dass sie im Schoß einer armen Jungfrau, wie ich war, mit der menschlichen Natur sich vereinigte. Ich will nun, meine Teuerste, dass du mit größter Aufmerksamkeit erwägst, wie Gott sich so tief gedemütigt hat, nicht für mich allein. sondern für dich ebenso gut wie für mich. Des Herrn Barmherzigkeit ist ja unendlich, und seine Liebe kennt keine Grenzen; und jede Seele, die ihn aufnimmt, bewacht und beschützt er in solcher Weise und erfreut sich über sie, als ob er sie allein erschaffen hätte und Mensch geworden wäre für sie allein. Darum musst du dich betrachten, als ob du allein in der Welt wärst, um ihm von ganzem Herzen für seine Ankunft in dieser Welt zu danken, und dann wirst du ihm auch Dank sagen, dass er zugleich für alle anderen gekommen ist. Wenn du mit lebendigem Glauben erfassest und bekennst, dass derselbe Gott, der unendlich ist in seinen Vollkommenheiten und ewig in seiner Majestät, der herabgekommen ist, um menschliches Fleisch in meinem Schoß anzunehmen, dass dieser nämliche Gott dich sucht, dich ruft, dich pflegt, dich liebt und sich ganz dir hingibt, als ob du sein einziges Geschöpf wärest: dann erwäge auch und beherzige wohl, wozu solch wunderbare Herablassung dich verpflichtet, und gehe von dieser Bewunderung über zu lebhaften Akten des Glaubens und der Liebe. Denn alles dies bist du einem solchen König und Herrn schuldig, der sich gewürdigt hat, zu dir zu kommen, da du ihn nicht suchen und nicht zu ihm gelangen konntest.

142. Alles, was der Herr dir geben kann außer sich selbst, wird dir groß scheinen, wenn du es nur mit dem Licht der Vernunft und mit menschlichen Gefühlen betrachtest, auch wenn du nicht höher hinaufblickst. Und es ist wahr, jede Gabe aus der Hand eines so großen und erhabenen Königs verdient hochgeschätzt zu werden. Wenn du aber auf Gott selbst schaust, ihn mit göttlichem Licht erkennst und bedenkst, dass er dich fähig gemacht hat, an seiner Gottheit teilzunehmen, dann wirst du einsehen, dass, wenn Gott sich dir nicht mitteilte und nicht zu dir käme, alles Erschaffene für dich verächtlich, ja nichts wäre; und du wirst Ruhe und Frieden nur in dem Bewusstsein finden, dass du einen so großen, so liebevollen, so liebenswürdigen, so mächtigen, milden und reichen Gott hast, einen Gott, welcher, obwohl so unendlich groß, sich gewürdigt hat, zu deiner Niedrigkeit herabzusteigen, um dich aus dem Staub zu erheben, deine Armut zu bereichern und sich gegen dich als Hirten, Vater, Bräutigam und treuesten Freund zu erweisen.

143. Achte denn, meine Tochter, in deinem Inneren auf die Wirkungen dieser Wahrheit. Erwäge wohl die zärtliche Liebe, welche dieser große König dir beweist durch seine beständige Sorgfalt, durch seine Geschenke und Liebkosungen, durch die Gnaden, welche du empfängst, durch die Arbeiten, welche er dir anvertraut, durch das Licht, welches seine göttliche Weisheit in deinem Innern angezündet hat, damit du gründlich erkennst, wie unendlich groß sein Wesen, wie wunderbar seine Werke, wie tief seine Geheimnisse sind, wie er die Wahrheit ist in allem, die sichtbaren Dinge aber nichts sind. Diese Erkenntnis ist der Beginn, die Grundlage und das Fundament der Lehre, welche ich dir gegeben, damit du verstehst, mit welcher Ehrfurcht und Hochschätzung du die Gnaden und Wohltaten dieses Herrn und Gottes empfangen musst, welcher dein wahres Gut, dein Schatz, dein Licht und dein Führer ist. Betrachte ihn als den unendlichen, liebevollen und schrecklichen Gott. Höre, meine Teuerste, auf meine Worte und auf meine Lehre; sie gibt Frieden deinem Herzen und Licht deinen Augen.

ZWÖLFTES HAUPTSTÜCK: Die heiligste Seele Jesu im ersten Augenblick seiner Empfängnis

'Die Akte der heiligsten Seele unseres Herrn Jesu Christi im ersten Augenblick seiner Empfängnis und was damals seine reinste Mutter getan.

144. Um die ersten Akte der heiligsten Seele unseres Herrn Jesu Christi besser zu verstehen, muss man sich an das im vorhergehenden Hauptstück (Nr. 138) Gesagte erinnern, dass nämlich alles, was zum Wesen dieses göttlichen Geheimnisses gehört: die Bildung des Leibes, die Erschaffung und Eingießung der Seele und die Vereinigung der ungeteilten Menschheit mit der Person des Wortes, in einem Augenblick vor sich ging, so dass wir nicht sagen können, Jesus Christus, unser Heiland, sei einen Augenblick lang bloßer Mensch gewesen. Denn allzeit ist er wahrer Mensch und wahrer Gott gewesen, und sobald seiner Menschheit der Name Mensch zukam, war er auch schon Gott, und darum war Christus nicht bloßer Mensch zu nennen, selbst nicht einen Augenblick, sondern Gott-Mensch oder Mensch-Gott. Weil aber der natürlichen Wesenheit, die einer Tätigkeit fähig ist, sogleich die Wirksamkeit ihrer Kräfte folgen kann, so wurde die heiligste Seele unseres Herrn Jesu Christi in demselben Augenblick, in welchem die Menschwerdung sich vollzog, mit der beseligenden Anschauung und Liebe Gottes begabt, indem - nach unserer Vorstellungsweise - sogleich die Kräfte ihres Verstandes und Willens mit der Gottheit sich vereinten, mit welcher ihr natürliches Wesen sich verbunden hatte. Die Seele wurde nämlich durch ihre Substanz und die Kräfte wurden durch ihre vollkommensten Akte mit dem Wesen Gottes vereinigt, so dass im Wesen und im Wirken alles vergöttlicht war.

145. Das große Wunder dieses Geheimnisses ist, dass eine so große Glorie und sogar die ganze Größe der unermesslichen Gottheit in einem so kleinen Körper zusammengefasst war, in einem Körper, der nicht größer war als eine Biene oder eine kleine Mandel; denn nicht größer als diese war der Umfang des heiligen Leibes Unseres Herrn Jesu Christi im Augenblick der Empfängnis und hypostatischen Einigung. Und dies so kleine Wesen war zugleich im Zustand der höchsten Glorie und der Leidensfähigkeit; denn seine Menschheit war zugleich glorreich und leidensfähig, im Besitz des Himmels und noch auf dem Weg zum Himmel (comprehensor et viator). Aber Gott, dessen Macht und Weisheit unendlich ist. konnte seine allzeit unendliche Gottheit wohl derart einschließen, dass sie, obwohl unendlich groß bleibend, doch auf neue und wunderbare Weise in dem beschränkten Umfang eines so winzigen Leibes sich befand. Gott bewirkte auch durch seine Allmacht, dass die heiligste Seele Jesu Christi, unseres Herrn, in dem höheren Teile ihrer edelsten Tätigkeiten im Besitz der Glorie und der Anschauung Gottes war, dass jedoch all diese unermessliche Glorie in den höheren Teil seiner Seele zurückgedrängt blieb und die Wirkungen und Gaben, welche sie in natürlicher Folge dem Leib hätte mitteilen müssen, gehemmt wurden. Denn unser Herr wollte auch leidensfähig und im Stand der Pilgerschaft sein, und dies einzig darum, damit unsere Erlösung statthabe durch sein Kreuz, sein Leiden und seinen Tod.

146. Damit die heiligste Menschheit unseres Herrn zu all diesen und den übrigen Tätigkeiten, welche ihr oblagen, fähig sei, wurden ihr in demselben Augenblick der Empfängnis alle Fertigkeiten eingegossen, welche ihren Fähigkeiten entsprachen und nötig waren für die Handlungen und Tätigkeiten sowohl seines glorreichen als seines leidensfähigen Standes. So hatte sie die beseligende und die eingegossene Wissenschaft, die heiligmachende Gnade und die Gaben des Heiligen Geistes, welcher, wie Jesaja sagt, auf Christus ruhte. Sie hatte alle Tugenden, ausgenommen den Glauben und die Hoffnung, welche sich nicht vertrugen mit der beseligenden Anschauung und dem Besitze Gottes. Und wenn es eine andere Tugend gibt, die irgendeine Unvollkommenheit in ihrem Besitzer voraussetzt, so konnte eine solche sich nicht bei dem Heiligen der Heiligen finden, welcher keine Sünde begehen konnte und in dessen Mund sich kein Trug fand. Die Erhabenheit und Vortrefflichkeit der Wissenschaft, der Gnade, der Tugenden und Vollkommenheiten unseres Herrn Jesu Christi hier näher zu besprechen, ist nicht nötig, da die heiligen Lehrer und die Gottesgelehrten hierüber reichlichen Aufschluss geben. Mir genügt es zu wissen, dass alles so vollkommen war, wie Gottes Allmacht es geben konnte, was die menschliche Fassungskraft weit übersteigt. Die Gottheit selbst war ja die Quelle, an welcher die heiligste Seele Jesu Christi ohne Grenze und Maß trinken konnte, wie David sagte. Darum besaß er die Fülle aller Tugenden und Vollkommenheiten.

147. Da die heiligste Seele unseres Herrn Jesu Christi vergöttlicht und mit der Gottheit und ihren Gaben geschmückt war, so hielt sie in ihren Tätigkeiten folgende Ordnung ein: Erstens sah und erkannte sie die Gottheit in klarer Weise, wie sie in sich selbst ist und wie sie mit ihrer heiligsten Menschheit vereinigt war. Zweitens liebte sie Gott mit der höchsten, beseligenden Liebe. Drittens erkannte sie das Wesen der Menschheit als unter dem Wesen Gottes stehend, demütigte sich darum aufs tiefste und dankte zugleich bei dieser Demütigung dem unveränderlichen Gott, dass er sie erschaffen und ihr die Wohltat der hypostatischen Einigung verliehen, wodurch sie, die Mensch blieb, zum Sein Gottes erhoben wurde. Sie erkannte auch die Leidensfähigkeit der heiligsten Menschheit und das Ziel und Ende der Erlösung. Bei dieser Erkenntnis opferte sich Jesus Christus zum wohlgefälligen Opfer auf, um der Erlöser des Menschengeschlechts zu sein, und, indem er diese Leidensfähigkeit annahm, dankte er dem ewigen Vater dafür in seinem und der Menschen Namen. Er erkannte die Zusammensetzung seiner heiligsten Menschheit, den Stoff, von welchem sie gebildet worden, und dass die reinste Jungfrau Maria ihm diese durch die Kraft der Liebe und durch die Übung heroischer Tugenden gegeben habe. Dann nahm er Besitz von diesem heiligen Tabernakel und Wohnort, mit höchstem Wohlgefallen an dessen unübertrefflicher Schönheit, und er nahm sich die Seele des vollkommensten und reinsten Geschöpfes als Eigentum auf ewig. Er pries den ewigen Vater, dass er die seligste Jungfrau mit so ausgezeichnetem Glanze der Gnaden und Gaben geschaffen und, obwohl sie eine Tochter Adams war, sie doch befreit und ausgenommen hatte von dem allgemeinen Gesetz der Sünde, welchem alle Nachkommen Adams verfallen waren. Endlich betete er für die reinste Jungfrau und für den heiligen Joseph und erbat für sie das ewige Heil. Alle diese Akte und noch andere, die unser Herr verrichtete, waren höchst erhaben, da sie von einem Menschen ausgingen, der wahrhaft Gott war; und, die Akte der beseligenden Anschauung und Liebe Gottes ausgenommen, erwarb er mit allen und mit jedem einzelnen so große Verdienste, dass ihr Wert zur Erlösung unendlich vieler Welten, wenn solche möglich wären, hingereicht hätte.

148. Ja, unsere Erlösung wäre überfließend gewesen schon in Kraft des einen Aktes des Gehorsams, welchen die mit dem Wort vereinigte heiligste Menschheit vollbrachte, indem sie einwilligte, dass sie leidensfähig sei und dass die Glorie ihrer Seele nicht auf den Leib überströme. Aber obwohl dies zu unserer Rettung mehr als genug war, so sättigte es doch nicht seine unermessliche Liebe zu den Menschen. Diese wurde nur dadurch befriedigt, dass er uns mit wirksamem Willen liebte bis zum Ende der Liebe, welches eben das Ende seines Lebens war, indem er dieses für uns hingab mit Beweisen größerer und zärtlicherer Liebe, als der Verstand der Menschen und Engel sich vorstellen kann. Hat er uns nun schon im ersten Augenblick seines Eintrittes in diese Welt in solchem Grad bereichert, welch reiche Schätze von Verdiensten wird er uns bei seinem Scheiden aus der Welt hinterlassen haben durch sein Leiden und seinen Tod am Kreuz, nach dreiunddreißig Jahren so göttlicher Arbeiten und Tätigkeiten? O unermessliche Liebe ! O Liebe ohne Grenzen ! O Barmherzigkeit ohne Maß ! O freigebigste Güte ! Und auf Seiten der Menschen, o Undankbarkeit, o schändliches Vergessen gegenüber einer so unerhörten, hochwichtigen Wohltat ! Was wäre ohne diese aus uns geworden? Und wie hätten wir uns gegen unsern Herrn und Erlöser verhalten, falls er weniger für uns getan hätte, da unser Herz ungerührt und unerkenntlich bleibt, nachdem er für uns alles getan hat, was nur möglich war? Wenn wir ihm nicht dankbar sind als unserm Erlöser, der uns Ewigen Leben und ewige Freiheit gegeben, hören wir ihn wenigstens als unsern Lehrer, folgen wir ihm als unserem Haupt, Licht und Führer, der uns den Weg zur wahren Glückseligkeit lehren wird.

149. Unser göttlicher Herr und Meister war nicht für sich selbst tätig, er verdiente nicht den Lohn für seine heiligste Seele noch auch die Vermehrung der Gnade, sondern er verdiente alles für uns; denn er selbst war einer Vermehrung der Gnade und Glorie weder fähig noch bedürftig, weil er nicht bloß Mensch, sondern auch «Eingeborner vom Vater» und darum, wie der Evangelist sagt, «voll Gnade und Wahrheit» war (Joh 1,14; Vgl. S. Thomas. P. 3. q. 7. a. 12). Hierin stand ihm niemand gleich und kann niemand ihm gleich stehen; denn alle Heiligen und bloßen Geschöpfe haben für sich selbst verdient, und sie arbeiteten mit Hinsicht auf Belohnung; nur die Liebe Jesu Christi war ohne Eigennutz und ausschließlich zu unserem Vorteil. Wenn er lernte und in der Schule der Erfahrung Fortschritte machte (Lk 2, 52), so tat er auch dies, um uns zu belehren und zu beglücken durch die Übung des Gehorsams, durch die unendlichen Verdienste, die er erwarb, und durch das Beispiel, welches er uns gab (Hebr 5, 8; 1 Petr 2, 21), damit auch wir gelehrt und weise seien in der Kunst der Liebe. Denn diese kann man durch bloße Anmutungen und Begierden niemals vollkommen erlernen, wenn man sie nicht durch Werke und in der Tat zur Ausübung bringt.

Über die Geheimnisse des heiligsten Lebens Unseres Herrn Jesu Christi verbreite ich mich nicht, da ich hierzu nicht fähig bin, sondern verweise auf die Evangelisten. Nur das werde ich herausheben, was für diese heilige Geschichte seiner Mutter und Unserer Lieben Frau nötig ist; denn da das Leben dieses heiligsten Sohnes mit dem der heiligsten Mutter so eng verbunden und verschlungen ist, so konnte ich nicht umhin, einiges aus den Evangelisten zu entnehmen und anderes beizufügen, was diese nicht gesagt haben, weil es für ihre Geschichte und für die ersten Zeiten der katholischen Kirche nicht nötig war.

150. Nachdem Christus, unser Herr, im Augenblick seiner Empfängnis alle diese Akte vollbracht hatte, erfolgte im nächsten Natur-Augenblick die beseligende Anschauung Gottes, deren seine heiligste Mutter gewürdigt wurde und von der wir im vorausgehenden Hauptstück, Nr. 139, erwähnt haben; es können nämlich innerhalb eines Zeit-Augenblicks eine Menge Natur-Augenblick stattfinden (Vgl. Billuart, de angelis, dissert. 4. art. 7). Die Himmelskönigin erkannte in dieser Vision klar und deutlich das Geheimnis der hypostatischen Einigung der göttlichen und menschlichen Natur in der Person des ewigen Wortes. Die allerheiligste Dreifaltigkeit bestätigte sie in dem Rang, dem Namen und dem Rechte einer Mutter Gottes, wie sie dies in aller Wahrheit und im strengsten Sinne war, da sie die leibliche Mutter eines Sohnes geworden, welcher ebenso gewiss und wahr ewiger Gott wie Mensch war. Freilich wirkte diese große Königin nicht unmittelbar zur Vereinigung der Gottheit mit der Menschheit mit. Deswegen verlor sie aber keineswegs das Recht einer wahrhaften Mutter Gottes; denn sie trug dadurch zur Menschwerdung bei, dass sie die Materie darbot und mit ihren Fähigkeiten in allem mitwirkte, was sie als Mutter betraf. Ja, sie war in höherer Weise Mutter, als es sonst eine Mutter ist, denn sie trug allein, ohne Zutun eines Mannes, zu dieser Empfängnis bei. Bei jeder anderen Empfängnis heißen ja auch jene Personen Vater und Mutter, welche dazu auf natürliche Weise beitragen, obwohl sie weder zur Erschaffung der Seele noch zur Eingießung in den Leib des Kindes unmittelbar mitwirken. Ebenso und mit noch mehr Recht nennt man die heiligste Jungfrau Mutter Gottes und muss man sie so nennen; denn bei der Empfängnis Jesu Christi, der wahrhaft Gott und Mensch ist, wirkte sie allein als Mutter mit, mit Ausschluss jeder andern natürlichen Ursache, und infolge dieser Mitwirkung und Empfängnis wurde Jesus Christus als Gott-Mensch geboren.

151. Die jungfräuliche Gottes-Mutter erkannte ferner in derselben Vision alle künftigen Geheimnisse des Lebens und des Todes ihres süßesten Sohnes, der Erlösung des Menschengeschlechtes und des neuen Gesetzes des Evangeliums, das mit der Erlösung begründet wurde, sowie andere erhabene Geheimnisse, die keinem Heiligen je geoffenbart worden sind. Als die weiseste Königin sich in der klaren Gegenwart der Gottheit sah, mit der Fülle der Wissenschaft und der Gaben, welche ihr, als der Mutter des Wortes, verliehen waren, da demütigte sie sich vor dem Thron der unermesslichen Majestät, und ganz in Demut und Liebe versenkt, betete sie den Herrn an in seinem unermesslichen Wesen und dann in seiner Vereinigung mit der heiligsten Menschheit. Sie dankte ihm für die Würde der Mutter Gottes, welche er ihr verliehen, und für die Wohltat, welche Seine Majestät dem ganzen Menschengeschlecht erwiesen hatte. Sie brachte ihm Lob und Preis dar im Namen aller Menschen. Sodann bot sie sich als williges Opfer an, um ihrem süßesten Sohn zu dienen, ihn zu pflegen und zu nähren und ihm, soweit es ihrerseits möglich wäre, im Werk der Erlösung beizustehen und mitzuwirken. Die Heiligste Dreifaltigkeit nahm dies mit Wohlgefallen an und bestimmte sie zur Gehilfin ihres Sohnes in diesem Geheimnis.(Auch der heilige Albertus Magnus nennt Maria die «Gehilfin Christi im Werke der Erlösung». Die Wahrheit, welche dieser Bezeichnung zugrunde liegt, findet sich entwickelt in den «Herrlichkeiten Mariä» vom heiligen Alphonsus [Hauptstück 5, § 2] sowie in dem Büchlein «Maria und das Priestertum» des Van den Berghe. Der Herausgeber). Darauf bat die heiligste Jungfrau um neue Gnade und um himmlisches Licht für diese Aufgabe, damit sie ihrer Würde und ihrem Amt als Mutter des menschgewordenen Wortes entsprechen und ihren Sohn mit der Gott gebührenden Hochachtung und Ehrfurcht behandeln könnte. Endlich opferte sie ihrem heiligsten Sohn alle künftigen Kinder Adams samt den Altvätern in der Vorhölle auf, und in dieser aller sowie in ihrem eigenen Namen verrichtete sie viele heroische Tugendakte und eifrige Gebete. Diese will ich aber nicht näher beschreiben, da ich von ähnlichen bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen habe, aus denen man schließen kann, was die himmlische Königin getan haben wird bei diesem Ereignis, welches alles bis auf diesen glückseligen Tag Geschehene weit übertrifft.

152. Die heilige Jungfrau flehte besonders dringend und inbrünstig zum Herrn, als sie ihn um die Gnade bat, das Amt der Mutter des Eingebornen vom Vater würdig zu bekleiden; denn hierzu bewog sie ihr demütiges Herz, und der Grund zur Bangigkeit lag hier näher. Darum verlangte sie, bei allen Handlungen ihres Mutteramtes vom Herrn geleitet zu werden. Der Allmächtige antwortete ihr: «Meine Taube, fürchte dich nicht, denn ich werde dir beistehen und dich leiten, indem ich dir alles befehlen werde, was du für meinen eingebornen Sohn tun sollst». Mit diesem Versprechen trat Unsere Liebe Frau aus der Verzückung, in welcher all das Gesagte stattgefunden hatte und welche unter allen bisherigen die wunderbarste war. Das erste, was sie, ihren Sinnen zurückgegeben, tat, war, dass sie sich auf die Erde niederwarf und ihren heiligsten Sohn anbetete, den Gott-Menschen, den sie in ihrem jungfräulichen Schoß empfangen hatte. Denn sie hatte ihm diese Anbetung noch nicht mit den körperlichen und äußeren Sinnen und Fähigkeiten erwiesen, und die weiseste Mutter wollte nichts unterlassen, was sie im Dienst ihres Schöpfers tun konnte. Von diesem Augenblick an gewahrte und empfand sie in ihrer heiligsten Seele und in all ihren inneren und äußeren Fähigkeiten neue Wirkungen der göttlichen Gnade. Und war sie auch während ihres ganzen Lebens ihrer Seele wie ihrem heiligen Leib nach in einem sehr erhabenen Stand gewesen, so wurde sie doch seit diesem Tag der Menschwerdung des Wortes durch neue, noch höhere Gnaden und durch unaussprechliche Gaben noch mehr vergeistigt und noch mehr gottähnlich.

153. Indes denke niemand, dass die reinste Mutter all diese Gnaden und diese innige Verbindung mit der Gottheit und Menschheit ihres heiligsten Sohnes erhalten habe, damit sie immer in geistlicher Wonne lebe, in Freud und ohne Leid. Dem war nicht so; denn ihrem süßesten Sohn nach Möglichkeit nachfolgend, lebte Unsere Liebe Frau in Freud und Leid zugleich. Das Werkzeug aber, welches ihr Herz durchbohrte, war die ihr verliehene tiefe Erkenntnis aller Leiden und des Todes ihres heiligsten Sohnes und das Andenken daran. Ihr Schmerz bemaß sich nach ihrer Erkenntnis und nach der Liebe, welche eine solche Mutter einem solchen Sohn schenken musste und wirklich schenkte; auch wurde derselbe häufig erneuert durch die Gegenwart Jesu und durch den Umgang mit ihm. Freilich war das ganze Leben Jesu Christi und seiner heiligsten Mutter ein ununterbrochenes Martertum, ein beständiges Kreuztragen unter Pein und Mühen ohne Ende; doch im unschuldigsten und liebevollsten Herzen der heiligsten Jungfrau fand sich eine ganz besondere Art von Leiden, dass sie nämlich das Leiden, die Pein, die Schmach und den Tod ihres Sohnes allezeit gegenwärtig vor sich hatte. Mit diesem dreiunddreißig Jahre andauernden Schmerze hielt sie sozusagen die Vorfeier, und zwar eine gar lange Vorfeier unserer Erlösung. Indes blieb dieses Geheimnis des Leidens im Herzen Mariä verborgen; kein Geschöpf teilte dasselbe, kein Geschöpf erleichterte es.

154. Mit so schmerzreicher Liebe, voll bitterer Süßigkeit, wandte sie sich oft an ihren heiligsten Sohn und richtete sowohl vor als nach dessen Geburt im Innersten ihres Herzens wiederholt die Worte an ihn: « Herr und Gebieter meiner Seele! Süßeste Frucht meines Leibes ! Warum hast du mir verliehen, deine Mutter zu sein, mit der so schmerzvollen Bedingung, dass ich dich wieder verliere und wie eine Verwaiste deines so süßen Umganges beraubt sein soll? Kaum hast du einen Leib angenommen und in ihm zu leben begonnen, und schon kennst du den Urteilsspruch deines schmerzvollen Todes für die Erlösung der Menschen! Das erste deiner Werke wäre von überfließendem Wert und gäbe vollkommene Genugtuung für alle Sünden. O möchte doch die Gerechtigkeit des Vaters dadurch befriedigt sein, und möchten Tod und Qualen sich an mir vollziehen ! Von meinem Blut und von meinem Wesen hast du den Leib angenommen, ohne welchen du nicht leiden könntest, da du Gott bist, unfähig zu leiden und zu sterben. Bin also ich es, welche dir das Werkzeug und die Möglichkeit zum Leiden gegeben hat, o so lass auch mich teilnehmen an deinem Tod ! O unmenschliche Schuld, wie konntest du trotz deiner Grausamkeit und trotz der zahllosen Übel, die du gebracht, dennoch des hohen Glückes gewürdigt werden, durch denjenigen wieder gutgemacht zu werden, welcher das höchste Gut und darum imstande ist, dich zu einer glücklichen zu machen! O süßester Sohn, o meine Liebe, wer wird dich beschützen, wer dich verteidigen gegen deine Feinde? O wäre es doch der Wille des Vaters, dass ich dich behüten und vor dem Tod bewahren oder dass ich wenigstens mit dir sterben dürfe, um nie von dir getrennt zu werden ! Doch diesmal wird nicht geschehen, was dem Patriarchen Abraham gewährt wurde; denn was beschlossen ist, wird vollzogen werden. Es geschehe der Wille des Herrn !» Solche Liebesseufzer erweckte unsere Königin sehr häufig, wie ich in der Folge sagen werde; der ewige Vater aber nahm sie als liebliches Opfer wohlgefällig an; auch ihrem heiligsten Sohn bereiteten dieselben süße Freude.

LEHRE, welche mir unsere Königin gab

155. Meine liebe Tochter, da du durch den Glauben und durch himmlische Erleuchtung die Größe Gottes erkannt hast und die unaussprechliche Güte, womit er für dich und für alle Menschen vom Himmel herabgestiegen ist, so lasse diese Wohltaten für dich nicht unnütz und fruchtlos sein. Bete Gott mit tiefer Ehrfurcht an und preise ihn für seine Güte, soweit du sie erkannt hast. Empfange das Licht und die Gnade nicht umsonst, und lasse dir zum Muster und zum Ansporn dienen, was mein heiligster Sohn getan hat und was auch ich nach seinem Beispiel tat, wie du gesehen hast. Denn obwohl er wahrer Gott ist und ich seine Mutter bin - er ist ja auch Mensch und seine heiligste Menschheit erschaffen -, so haben wir doch unser menschliches Wesen anerkannt und uns tiefer gedemütigt und die göttliche Majestät mehr verherrlicht, als ein Geschöpf begreifen kann. Auch du musst Gott diese Ehrfurcht und diesen Kult zu jeder Zeit und an jedem Ort darbringen, ganz besonders aber dann, wenn du den Herrn im allerheiligsten Sakrament empfängst. In diesem wunderbaren Sakramente kommt ja auf unbegreifliche Weise zu dir und ist in dir die Gottheit und Menschheit meines heiligsten Sohnes, und da offenbart sich die ganze Größe seiner Güte, einer Güte, welche die Menschen zu wenig kennen und achten, als dass sie dieselbe dankbar erwiderten.

156. Deine Dankbarkeit muss sodann von so tiefer Demut, Ehrfurcht und Andacht begleitet sein, als deine Kräfte und Fähigkeiten nur immer zulassen; denn soweit sie auch reichen, es wird immer weniger sein, als du schuldig bist und als Gott verdient. Um nun soviel als möglich deine Unzulänglichkeit zu ersetzen, sollst du aufopfern, was mein heiligster Sohn und ich getan haben; auch sollst du deinen Geist und dein Herz mit dem der triumphierenden und streitenden Kirche vereinigen und mit derselben, indem du hierfür dein Leben aufopferst, flehen, dass alle Nationen ihren wahren Gott, der für alle Mensch geworden ist, erkennen, bekennen und anbeten mögen. Sage Dank für die Wohltaten, welche er allen Menschen erwiesen hat und noch erweist, sei es, dass sie ihn kennen oder nicht, dass sie ihn bekennen oder leugnen. Vor allem aber, meine Teuerste, verlange ich von dir - und dies wird dem Herrn sehr wohlgefällig und mir sehr angenehm sein -, dass du trauerst und mit süßer Rührung klagst über die Gefühllosigkeit, Unwissenheit und Saumseligkeit der Menschen und über ihre Gefahr, verloren zu gehen; über die Undankbarkeit der gläubigen Kinder der heiligen Kirche, welche das Licht des göttlichen Glaubens empfangen haben und dennoch innerlich in einer solchen Vergessenheit dieser Wohltaten der Menschwerdung, ja Gottes selbst dahinleben, dass sie sich von den Ungläubigen nur durch einige Zeremonien und äußere gottesdienstliche Akte zu unterscheiden scheinen; aber auch diese verrichten sie ohne Geist und ohne Teilnahme des Herzens, und gar oft beleidigen und erzürnen sie dabei die göttliche Gerechtigkeit, welche sie besänftigen sollten.

157. Diese ihre Unwissenheit und Gefühllosigkeit kommt daher, weil sie es an der nötigen Vorbereitung zum Erwerb und Empfang der wahren Erkenntnis des Allerhöchsten fehlen lassen. So verdienen sie, dass das göttliche Licht sich von ihnen entferne und sie mitten in ihrer dichten Finsternis lasse. Auf diese Weise werden sie unwürdiger als selbst die Ungläubigen, und ihre Strafe wird ohne Vergleich größer sein als die der letzteren. Trauere über ein so großes Unglück deiner Mitmenschen und bitte aus dem Grund deines Herzens um Abhilfe. Damit du dich aber selbst von einer so schrecklichen Gefahr weiter entfernst, darfst du die Gnaden und Wohltaten, welche du empfängst, nicht leugnen noch sie unter dem Schein der Demut geringschätzen oder vergessen. Erinnere dich und erwäge in deinem Herzen, welch weiten Weg die Gnade des Allerhöchsten gemacht hat, um dich zu rufen. Erwäge, wie er dich erwartet und getröstet hat, wie er dir in deinen Zweifeln Sicherheit, in deinen Ängsten den Frieden gegeben, wie er deine Fehler, als sähe er sie nicht, ertragen und verziehen und wie er seine Gnaden, seine Liebesbeweise, seine Wohltaten vervielfältigt hat. Ich versichere dir, meine Tochter, du musst von Herzen bekennen, dass der Allerhöchste an keinem anderen Geschöpf so viel getan hat, während du nichts taugtest und nichts vermochtest, vielmehr ärmer und unnützer warst als die andern. Darum sei auch deine Dankbarkeit größer als die aller Geschöpfe!

DREIZEHNTES HAUPTSTÜCK: Stand der Heiligkeit, in welc�hem sich Maria von der Menschwerdung an befand

Erklärung des Standes, in welchem sich die heiligste Jungfrau Maria nach der Menschwerdung des ewigen Wortes in ihrem jungfräulichen Schoß befand.

158. Je mehr ich die göttlichen Wirkungen und Dispositionen entdeckte, welche die Empfängnis des Wortes in der Himmelskönigin hervorbrachte, desto mehr Schwierigkeiten finde ich, dieses Werk fortzusetzen; denn ich bin in hohe, erhabene Geheimnisse versenkt, meine Worte und Ausdrücke aber sind unzureichend, das wiederzugeben, was ich davon verstehe. Gleichwohl fühlt meine Seele einen so süßen Trost in dieser meiner Unfähigkeit, dass ich es nicht bereuen kann, begonnen zu haben; und der Gehorsam ermutigt, ja zwingt mich, die Hindernisse zu überwinden, welche bei dem schwachen Mut einer Frau unübersteiglich schienen, gäbe die Stütze des Gehorsams mir nicht Sicherheit und Stärke, mich auszusprechen. Dies gilt ganz besonders von diesem Hauptstück, in welchem ich von den Gaben der Glorie sprechen soll, welche die Seligen im Himmel genießen. An ihrem Beispiel werde ich erklären, was ich erkannt habe über den Stand der heiligsten Jungfrau, nachdem sie Mutter Gottes geworden war.

159. Ich fasse für meinen Zweck zwei Dinge an den Seligen ins Auge: das eine ist auf ihrer Seite, das andere auf Seiten Gottes. Auf Seiten des Herrn ist es die Gottheit, welche mit all ihren Eigenschaften und Vollkommenheiten klar und deutlich sich enthüllt; diese wird der beseligende Gegenstand genannt oder auch objektive Glorie und Seligkeit und letztes Ziel, zu welchem alle Geschöpfe hinstreben, um da ihre Ruhe zu finden. Auf Seiten der Heiligen finden sich die beseligenden Tätigkeiten der Anschauung, der Liebe und andere, welche diesen folgen in jenem glückseligsten Stand, den kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, und den keines Menschen Verstand erfassen kann (Jes 64, 4; 1 Kor 2, 9). Unter den Gaben und Wirkungen dieser Glorie werden einige « Mitgift» (dotes) genannt; wie die Mitgift der Braut, so werden sie den Seligen verliehen für den Stand der geistlichen Vermählung, welche sie in der Wonne der ewigen Glückseligkeit feiern werden. Wie nun eine irdische Braut Herrin und Eigentümerin der Mitgift wird, die Nutznießung aber ihr und dem Gemahl gemeinsam zusteht, so wird auch jene himmlische Mitgift in der Glorie den Heiligen als ihr Eigentum verliehen, die Nutznießung aber ist gemeinschaftlich zwischen Gott, sofern er sich in seinen Heiligen verherrlicht, und den Seligen, sofern sie dieser unaussprechlichen Gaben sich erfreuen, welche mehr oder weniger ausgezeichnet sind je nach den Verdiensten und der Würde eines jeden. Diese Mitgift erhalten jedoch nur jene Seligen, welche die nämliche Natur wie der Bräutigam, Christus, unser Herr, haben, das heißt die Menschen und nicht die Engel.(Auch der englische Lehrer sagt, die so genannten «Gaben» [dotes - Mitgift] seien nur den Menschen, nicht den Engeln eigen: «Dotis ratio non tarn proprie angelis, quam hominibus convenit» [Suppl. q. 95. a. 4.]. Der Herausgeber). Denn der Gott-Mensch ist mit den Engeln jene Vermählung nicht eingegangen, die er mit der menschlichen Natur gefeiert hat, indem er sich mit ihr vereinigte in jenem Geheimnisse, welches, wie der Apostel sagt groß ist in Christus und in der Kirche (Eph 5, 32). Da aber der Bräutigam Jesus Christus als Mensch Leib und Seele hat wie die übriger Menschen und in seiner Gegenwart alles verklärt werden muss, darum kommen auch die Gaben der Glorie sowohl dem Leibe als der Seele zu. Die Seele erhält drei Gaben, welche Anschauung, Besitz und Genuss heißen; dem Leib werden vier zuteil nämlich die Klarheit die Leidensunfähigkeit die Feinheit und die Behendigkeit. Diese letzteren sind aber eigentlich Wirkungen der Glorie, welche die Seele besitzt.

160. An all diesen Gaben der Verklärten hatte unsere Königin Maria schon während dieses Lebens in gewisser Weise teil, insbesondere seit der Menschwerdung des ewigen Wortes in ihrem jungfräulichen Schoß. Allerdings werden jene Gaben sonst nur den Seligen als solchen, die das ewige Leben schon erworben haben (comprehensores), verliehen zum Unterpfand der Unverlierbarkeit der ewigen Glückseligkeit und gleichsam zur Bekräftigung, dass jener selige Zustand sich niemals ändern wird, weswegen sie den Erdenpilgern (viatores) nicht verliehen werden; allein der seligsten Jungfrau Maria wurden sie in gewisser Weise schon auf Erden verliehen, freilich nicht als einer Beseligten, sondern als einer Erdenpilgerin, und darum nicht für beständig, sondern zeitweilig und vorübergehend und mit einem gewissen Unterschiede, den ich bezeichnen werde. Um besser zu verstehen, wie diese außerordentliche Gnade der Himmelskönigin gebührte, beachte man, was wir im siebten Hauptstück und in den folgenden bis zur Menschwerdung gesagt haben. Wir haben dort über die Disposition und die Verlobung berichtet, durch welche der Allerhöchste seine heiligste Mutter vorbereitete, um sie zu dieser Würde zu erheben. An dem Tag, da das göttliche Wort in ihrem jungfräulichen Schoß einen menschlichen Leib annahm, kam diese geistliche Vermählung, was unsere himmlische Herrin betrifft, in gewisser Weise zur Vollendung, nämlich mit jener außerordentlichen und erhabenen beseligenden Anschauung, welche ihr, wie wir gesagt haben, an jenem Tag verliehen wurde. Für die Gesamtheit der übrigen Gläubigen aber war die Menschwerdung des Wortes gleichsam erst die Verlobung, welche dereinst im himmlischen Vaterland zur Vollendung gelangen wird.

161. Unsere große Königin und Herrin nahm diesen Privilegien gegenüber eine ganz andere Stellung ein als die übrigen Menschen; sie war frei von aller wirklichen Sünde wie von der Erbsünde. Sie war in der Gnade befestigt und unfähig, tatsächlich zu sündigen. Durch diese Eigenschaften aber war sie fähig, jene Vermählung im Namen der streitenden Kirche zu feiern und alle Glieder der Kirche darin einzuschließen, damit so in demselben Augenblick, da sie Mutter des Erlösers wurde, dessen vorhergesehene Verdienste in ihr die erste Frucht brächten(«Nec mirum, si redempturus mundum, operationem suam inchoavit a matre, ut per quam salus omnibus parabatur, eadem prima fructum salutis hauriret ex pignore.» S. Ambrosius [in Luc. ad verba: Ecce anc. Dom.]. Vgl. S. Thom. P.3. q. 30. a. 1 in corp.). und damit sie durch diese vorübergehende beseligende Anschauung der Gottheit gleichsam der Bürge würde dafür, dass die gleiche Belohnung auch allen übrigen Adamskindern zuteil werde, wenn sie nur mittelst der Gnade des Erlösers dieselbe verdienen wollen.

Das ewige Wort hatte auch das größte Wohlgefallen daran, dass seine glühendste Liebe und seine unendlichen Verdienste schon jetzt an derjenigen sich wirksam zeigten, welche zugleich seine Mutter, seine erste Braut und der Tempel der Gottheit war, und dass, wo kein Hindernis entgegenstand, das Verdienst schon von der Belohnung begleitet war. Durch diese Privilegien und Gnadenerweise, welche Christus, unser Herr, seiner heiligsten Mutter gab, befriedigte und stillte er teilweise die Liebe, welche er für sie und mit ihr für alle Menschen trug; denn für die göttliche Liebe war es zu lange, dreiunddreißig Jahre abzuwarten, um seine Gottheit seiner eigenen Mutter zu offenbaren. Er hatte ihr zwar, wie im ersten Teil gesagt worden ist, diese Gnade schon einige Mal verliehen, allein bei Gelegenheit der Menschwerdung geschah dies auf andere, ausgezeichnetere Weise, ähnlich und entsprechend der Gnade, welche die heiligste Seele ihres Sohnes erhielt. Nur wurde diese Gnade der göttlichen Mutter nicht für beständig, sondern bloß vorübergehend zuteil, soweit es ihr gewöhnlicher Stand der Pilgerschaft zuließ.

162. Demgemäß hat Gott an dem Tage, an welchem die heiligste Jungfrau Maria die Mutter des ewigen Wortes wurde, uns ein Anrecht auf unsere Erlösung in der Verlobung gegeben welche er damals mit unserer Natur feierte. Und indem er zum Vollzug dieser geistlichen Vermählung seiner heiligsten Mutter die Beseligung und die Gaben der Glorie verlieh, hat er uns das nämliche versprochen als Lohn für unsere Verdienste, in Kraft der Verdienste seines heiligsten Sohnes, unseres Erlösers. Indes hat der Herr seine Mutter durch die Gnadenauszeichnung, die er ihr an diesem Tag verlieh, so sehr über alle Glorie der Heiligen erhoben, dass alle Engel und Menschen selbst auf den höchsten Grad ihrer beseligenden Anschauung und Liebe Gottes den der Himmelskönigin nicht erreichen können. Das selbe gilt auch von den Gaben welche von der Glorie der Seele auf den Leib überströmen; denn bei Maria stand alles im Verhältnis zu ihrer Unschuld, zu ihrer Heiligkeit und zu ihren Verdiensten; diese letzteren aber entsprachen der höchsten Würde die sie unter den Geschöpfen bekleidete, nämlich der Würde Mutter ihres Schöpfers zu sein.

163. Um nun von diesen Gaben (dotes) im einzelnen zu sprechen, so ist der Lohn der Seele die beseligende, klare Anschauung Gottes (visio beatifica), welche der dunklen Erkenntnis des Glaubens während der Pilgerschaft auf Erden entspricht. Ich habe bereits gesagt und werde in der Folge noch sagen, in welchen Fällen und in welchen Graden der heiligsten Jungfrau Maria diese klare Anschauung gewährt wurde. Ebenso haben wir berichtet, dass sie außer dieser klaren Anschauung noch viele andere, abstrakte Visionen der Gottheit gehabt hat. Dieselben waren zwar alle nur vorübergehend, allein sie ließen in ihrem Verstand, wenn auch nicht immer in gleichem Grad, doch stets so erhabene Erkenntnisbilder zurück, dass sie mittelst derselben eine so klare Erkenntnis und Erleuchtung über die göttliche Wesenheit besaß, wie ich sie mit Worten nicht zu beschreiben vermag. Die heiligste Jungfrau war ja in dieser Hinsicht ganz einzig begnadigt unter allen Geschöpfen; und auf diese Weise blieb in ihr die Wirkung jener himmlischen Gaben vereinbar mit dem Stand der irdischen Pilgerschaft. Wenn jedoch der Herr sich ihr manchmal verbarg und den Gebrauch jener Erkenntnisbilder um anderer, hoher Zwecke willen aufhob, dann bediente sie sich allein des eingegossenen Glaubens, welcher in ihr im höchsten Grad ausgezeichnet und wirksam war. So verlor sie niemals das höchste Gut aus dem Gesicht, niemals wandte sie, auch nur für einen Augenblick, die Augen ihrer Seele von ihm ab. Doch während der neun Monate, da sie das menschgewordene Wort in ihrem Schoß trug, genoss sie das Schauen und die Wonnen der Gottheit in noch weit höherem Grad.

164. Die zweite Gabe ist der Besitz Gottes, das Gewinnen oder Festhalten Gottes (comprehensio).(«Comprehensio est una ex tribus dotibus animae quae respondet spei, sicut visio fidei, et fruitio charitathi». S. Thom. 1. q. 12. a. 7. ad 1. Dieses besteht darin, dass man das Ziel erreicht hat, welches der Hoffnung entspricht und welches wir durch die Hoffnung suchen, um zu dessen unverlierbarem Besitz zu gelangen. Dieser Besitz wurde der heiligsten Jungfrau auf eine Weise zuteil, wie sie den oben genannten Visionen entsprechend war; denn wie sie die Gottheit schaute, so besaß sie dieselbe auch. Und wenn sie sich im Zustand des bloßen, reinen Glaubens befand, so war ihre Hoffnung fester und zuversichtlicher, als sie, je in einem anderen bloßen Geschöpf war oder sein wird, gerade wie auch ihr Glaube größer war. Übrigens gründet sich die Festigkeit dieses Besitzes von Seiten des Geschöpfes großenteils darauf, dass es in der Heiligkeit befestigt ist und nicht sündigen kann. In dieser Hinsicht war aber unsere himmlische Königin derart bevorzugt, dass, während sie noch auf Erden weilte, ihre Festigkeit und Sicherheit im Besitz Gottes gewissermaßen wetteiferte mit der Beständigkeit und Sicherheit der Seligen des Himmels; denn vermöge ihrer unschuldsvollen und des Sündigens unfähigen Heiligkeit, besaß sie volle Sicherheit, Gott niemals verlieren zu können, obwohl die Ursache dieser Sicherheit bei ihr, als einer Erdenpilgerin, eine andere war als bei den Seligen des Himmels. Während jener Monate aber, da sie den Sohn Gottes unter ihrem Herzen trug, erfreute sie sich des Besitzes Gottes auf mannigfache Weise mittelst ganz besonderer, wunderbarer Gnaden, durch welche der Allerhöchste sich ihr offenbarte und sich mit ihrer reinsten Seele vereinigte.

165. Die dritte Gabe ist der Genuss. Dieser entspricht der Liebe, welche in der Seligkeit nicht aufhört (1 Kor 13, 8), sondern ihre Vollendung findet; denn der Genuss besteht eben darin, dass man das höchste Gut als ein solches liebt, das man tatsächlich besitzt. Das tut aber die Liebe im himmlischen Vaterland; denn gleichwie die Seele dort Gott erkennt und besitzt, wie er in sich selbst ist, so liebt sie ihn auch um seiner selbst willen. Und wiewohl wir auch jetzt, während unserer irdischen Pilgerschaft, Gott um seiner selbst willen lieben, so ist doch ein großer Unterschied; denn jetzt lieben wir ihn mit Verlangen, und wir erkennen ihn nicht, wie er in sich selbst ist, sondern wie er sich uns in erschaffenen Erkenntnisbildern oder «rätselhaft» (1 Kor 5,12) vorstellt. Auf diese Weise ist aber unsere Liebe noch nicht vollkommen; wir finden darin noch nicht die Ruhe und wir empfangen auch nicht die Fülle der Seligkeit, obwohl wir einen guten Teil davon erhalten, wenn wir Gott lieben. Dagegen bei der klaren Anschauung und dem Besitz Gottes werden wir ihn sehen, wie er in sich selbst ist (1 Joh 3, 2), und nicht in Rätseln, sondern durch ihn selbst; darum werden wir ihn dann lieben, wie er geliebt werden muss und soviel wir - ein jeder nach seiner Fähigkeit - ihn lieben können. Dann wird unsere Liebe vervollkommnet, und wir werden in seinem Genuss Ruhe finden, ohne dass uns noch etwas zu verlangen übrig bleibt.

166. Was diese Gabe betrifft, so besaß die seligste Jungfrau Maria dieselbe in gewisser Hinsicht in noch ausgezeichneterer Weise als alle übrigen zumal. Denn wenn wir auch zugeben, dass ihre höchst feurige Liebe in einer Beziehung hinter der Liebe der Seligen zurückstand, wenigstens in den Zeiten, da Maria der klaren Anschauung Gottes entbehrte, so war sie doch in vielen anderen Beziehungen ausgezeichneter und erhabener, und zwar auch dann, wenn Maria sich im gewöhnlichen Zustand befand. Niemand besaß solch himmlische Weisheit wie Maria. Vermöge dieser Weisheit erkannte sie, wie Gott um seiner selbst willen geliebt werden muss; und diese ihre Erkenntnis stützte sich auf die in ihrem Gedächtnis zurückgebliebenen Erkenntnisbilder von der Gottheit, die sie in weit höherem Grad geschaut und genossen hatte als die Engel. Da nun aber die Liebe Gottes sich nach der Erkenntnis Gottes bemisst, so folgt, dass Maria die Seligen des Himmels an Liebe übertraf und zwar in jeder Hinsicht, nur insofern nicht, als sie sich noch nicht im unmittelbaren Besitz Gottes befand und noch nicht am Ziel angelangt war, an dem die Liebe nicht mehr wachsen und zunehmen kann. Wenn aber der Herr ihrer tiefsten Demut wegen zuließ, dass sie während ihres irdischen Wandels eine ehrerbietige Furcht hegte und sich sorgsam bemühte, ihrem Geliebten nicht zu missfallen, so war doch diese mit Furcht verbundene Liebe im höchsten Grad vollkommen und ganz um Gottes willen; auch bereitete sie ihr eine Freude und Wonne, die unvergleichlich war wie ihre Liebe zu Gott.

167. Was die Gaben des Leibes betrifft, welche von der Glorie und den Gaben der Seele auf diesen überströmen und einen Teil der außerwesentlichen Glorie der Seligen ausmachen, so dienen sie dazu, die verklärten Leiber an ihren Sinnen und in ihrer Bewegung zu vervollkommnen, damit sie, soweit immer möglich, der Seele ähnlich werden und unbehindert durch ihre irdische Schwere geschickt seien, dem Willen der Heiligen zu gehorchen, welcher in jenem höchst glücklichen Stand nicht mehr unvollkommen, noch dem Willen Gottes entgegengesetzt sein kann. Für die Sinne sind zwei Gaben nötig: eine, welche sie geschickt macht, um die Bilder der sinnlich wahrnehmbaren Dinge aufzunehmen, und dies geschieht vollkommen durch die Gabe der Klarheit; eine andere ist nötig, damit der Leib keinen schädlichen und verderblichen Einwirkungen oder Schmerzen ausgesetzt sei; und hierzu dient die Leidensunfähigkeit. Andere Gaben sind für die Bewegung des Leibes notwendig; die eine, um den Widerstand und die Langsamkeit von Seiten seiner eigenen Schwere zu überwinden, und zu diesem Zwecke wird ihm die Gabe der Behendigkeit verliehen; eine andere ist erfordert, um den Widerstand der andern Körper zu überwinden, und hierzu dient die Gabe der Feinheit. Durch diese Gaben werden also die Körper der Seligen klar, unverweslich, behende und fein.

168. An allen diesen Gaben hatte unsere große Königin schon in diesem Leben Anteil. Die Gabe der Klarheit macht den verklärten Körper fähig, das Licht zu empfangen und zugleich selbst Licht auszustrahlen, indem sie ihm die trübe, undurchsichtige Dunkelheit benimmt und ihn durchsichtiger macht als den klarsten Kristall. Wenn nun die heiligste Jungfrau sich der klaren, beseligenden Anschauung Gottes erfreute, dann besaß ihr jungfräulicher Leib dieses Privileg in höherem Grad, als je eines Menschen Verstand erfassen kann. Aber auch nach diesen Visionen blieb ihr eine Art dieser Klarheit und Reinheit zurück, welche ein ganz außerordentliches Staunen erregt hätte, wenn sie für die Sinne wahrnehmbar gewesen wäre. Teilweise offenbarte sich sie in ihrem allerschönsten Antlitz, wie ich in der Folge, besonders im dritten Teile, berichten werde. Doch nicht alle, welche mit ihr umgingen, bemerkten und sahen sie; denn der Herr legte sozusagen einen Schleier oder eine Hülle darüber, damit sie nicht immer und nicht allen ohne Unterschied sich offenbare. Die seligste Jungfrau selbst fühlte jedoch durch viele Wirkungen dies ihr geschenkte Privileg, welches für andere gleichsam verdeckt und verborgen oder zeitweilig aufgehoben war; und die irdische Dunkelheit bereitete ihr nicht die Schwierigkeit, welche wir erfahren.

169. Die heilige Elisabeth gewahrte etwas von dieser Klarheit, als sie die heiligste Jungfrau erblickte und mit Bewunderung ausrief: «Woher geschieht mir dies, dass die Mutter meines Schöpfers zu mir kommt (Lk 1, 43) ?» Die Welt aber war nicht fähig, dieses «Geheimnis des Königs» zu kennen, und es war noch nicht die passende Zeit, ihr es zu offenbaren. Doch war das Antlitz Unserer Lieben Frau immer etwas klarer und leuchtender als bei anderen Menschen. Überhaupt war ihre ganze Körpergestaltung über alle natürliche Ordnung anderer Körper erhaben: ihr Körperbau war überaus zart und wie vergeistigt, ihr Leib wie ein lebendiger, lieblicher Kristall, der dem Tastsinn nicht die Rauheit des Fleisches darbietet, sondern das Geschmeidige der weichsten und feinsten Seide. Ich finde keine anderen Beispiele, um mich verständlich zu machen. Dies wird wohl bei der Mutter Gottes nicht auffallen; sie hat ja Gott in ihrem Schoß getragen und hat ihn so oftmals geschaut, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Auch das Angesicht des Mose glänzte, nachdem er mit Gott auf dem Berg geredet hatte - und doch war sein Verkehr mit dem Herrn bei weitem nicht so innig wie bei der seligsten Jungfrau Maria -, und es glänzte so sehr, dass, als Mose vom Berg herabstieg, die Israeliten ihm nicht ins Angesicht zu schauen und den von ihm ausgehenden Glanz nicht zu ertragen vermochten (Ex 34, 29 ff; 2 Kor 3, 7). Hätte der Herr nicht durch eine besondere Vorsehung die Klarheit, welche vom Antlitz und vom Leib seiner reinsten Mutter ausströmte, zurückgehalten und verborgen, dieselbe würde die Welt mehr als tausend Sonnen erleuchtet haben, und natürlicherweise hätte kein Mensch ihren Lichtglanz ertragen können; denn obwohl er verborgen und zurückgehalten war, drang er doch im himmlischen Antlitze Mariä hinreichend durch.

170. Die Leidensunfähigkeit gibt dem verklärten Leib die Eigenschaft, dass außer Gott keine Kraft, wäre sie auch noch so stark, denselben verändern oder nachteilig beeinflussen kann. An diesem Privileg hatte unsere Königin in doppelter Weise Anteil: einmal hinsichtlich des Temperamentes und der Säfte des Leibes; denn deren Maß und Gewicht war bei ihr so wohlgeordnet, dass sie sich keine Krankheit zuziehen, noch andere Gebrechlichkeiten erleiden konnte, welche aus der Ungleichheit der vier Säfte entstehen; und in dieser Hinsicht war sie gleichsam des Leidens unfähig. Sie besaß diese Gabe zweitens durch die Gewalt und Herrschaft, welche sie, wie oben bemerkt wurde, über alle Geschöpfe hatte, so dass keines ohne ihre Zustimmung und Einwilligung sie belästigen konnte. Wir können noch eine dritte Teilnahme an der Leidensunfähigkeit beifügen, nämlich den Schutz der Allmacht Gottes, welcher ihr in einem ihrer Heiligkeit entsprechenden Grad zuteil ward. Selbst unsere Stammeltern wären, falls sie die ursprüngliche Gerechtigkeit im Paradies bewahrt hätten, keineswegs der Gefahr eines gewaltsamen Todes ausgesetzt gewesen; auch sie hätten dieses Vorrecht genossen, allerdings nicht durch eine innerliche oder innewohnende Kraft - denn wenn eine Lanze sie verwundet hätte, hätten sie sterben können -, sondern durch die beistehende Kraft des Herrn, der sie vor Verwundung bewahrt hätte. Dieser Schutz gebührte aber mit mehr Recht der Unschuld Mariä; und sie genoss denselben als Herrin, während die ersten Eltern ihn als Diener und Untertanen erhielten und auch ihre Nachkommen ihn nur in dieser Eigenschaft erhalten hätten.[Vgl. Scheeben, Dogmatik [Bd.III, S. 575, 576]: «Maria war schon aufgrund ihrer Freiheit von aller Sünde, insbesondere ihrer Freiheit von der Erbsünde dem Tod nicht verfallen kraft eines debitum poenale ... Mit dieser Freiheit vom Tod war aber auch, wie bei Christus, verbunden die Freiheit von allen eigentlichen Krankheiten». - Man erinnere sich überhaupt bezüglich der hier angeführten Privilegien an das, was die Theologen über den status innocentiae unserer Stammeltern lehren, und an die zahlreichen ähnlichen Beispiele im Leben der Heiligen, des heiligen Antonius des Einsiedlers, des heiligen Franziskus von Assisi, des heiligen Antonius von Padua, des ehrwürdigen Joseph Anchieta usw. Der Herausgeber).

171. Unsere demütige Königin hat freilich von diesen Privilegien nicht Gebrauch gemacht; sie verzichtete darauf, um ihrem heiligsten Sohn nachzufolgen, um Verdienste zu sammeln und um mitzuwirken zu unserer Erlösung. Denn aus all diesen Gründen wollte sie leiden und hat sie mehr gelitten als selbst die Märtyrer. Kein menschlicher Verstand kann erfassen, wie groß ihre Leiden waren. Wir werden von denselben im ganzen Verlauf dieser Geschichte sprechen, allein das meiste davon übergehen, eben weil die gewöhnlichen Worte und Ausdrücke nicht ausreichen, um sie zu beschreiben. Doch mache ich auf zwei Dinge aufmerksam: Das erste ist, dass das Leiden unserer Königin keine Beziehung hatte auf etwaige eigene Sünden, da sie ja solche nicht auf sich hatte; sie litt darum ohne die Bitterkeit und ohne den Widerwillen, welche wir in den Leiden finden durch die Erinnerung und den Gedanken an unsere eigenen Sünden und als Personen, welche solche begangen haben. Das zweite ist, dass die heiligste Jungfrau Maria für ihre Leiden von Gott gestärkt wurde, und zwar im Verhältnis zu ihrer glühendsten Liebe; denn natürlicherweise konnte sie nicht soviel Leiden ertragen, als ihre Liebe verlangte und als Gott ihr eben dieser Liebe wegen beschied.

172. Die Feinheit ist eine Gabe, welche dem verklärten Leib die Dichtheit oder das von der körperlichen Ausdehnung herkommende Unvermögen benimmt, einen andern ähnlichen Körper zu durchdringen und mit diesem am nämlichen Ort zu sein. So hat der mit der Feinheit begabte Leib des Seligen die Eigenschaften des Geistes; denn er kann ohne Schwierigkeit einen andern stofflichen Körper durchdringen und, ohne ihn zu teilen oder zu entfernen, dieselbe Stelle mit ihm einnehmen. So war es mit dem Leib Unseres Herrn Jesu Christi, als er aus dem Grab hervorging und zu den Aposteln bei verschlossenen Türen eintrat, indem er die jene Orte verschließenden Körper durchdrang. Die seligste Jungfrau Maria hatte an dieser Gabe Anteil, nicht nur während sie die beseligende Anschauung genoss, sondern auch nachher stand es ihr frei, dieselbe oftmals zu benützen; und sie hat, wie wir in der Folge sagen werden, dies bei einigen Erscheinungen während ihres Lebens getan; denn sie machte hierbei Gebrauch von dieser Feinheit, indem sie andere Körper durchdrang.

173. Die Gabe der Behendigkeit endlich gibt dem Körper der Seligen solche Kraft, sich von einem Ort zum andern zu bewegen, dass er sich, unbehindert durch irdische Schwere, an verschiedene Orte nacheinander augenblicklich begeben kann, nach Art der Geister, die körperlos sind und sich durch ihren eigenen Willen bewegen. Die heiligste Jungfrau Maria besaß diese Behendigkeit auf wunderbare Weise und beständig, namentlich infolge ihrer göttlichen Visionen; denn sie fühlte in ihrem Körper keine irdische Schwere wie andere Menschen. Darum kannte sie auch beim Gehen keine Hemmung wie andere Menschen; und ohne Beschwerde hätte sie sich sehr schnell bewegen können, ohne Müdigkeit und Erschöpfung zu fühlen wie wir. Alles dieses war eine natürliche Folge der Feinheit und edlen Bildung ihres Leibes. Während der neun Monate aber, da sie gesegneten Leibes war, fühlte sei die Schwere des Körpers noch weniger, wiewohl sie übrigens, um zu leiden, was sich geziemte, den Beschwerden Raum gab, auf sie einzuwirken und sie zu ermüden.

Die Art und Weise, wie die seligste Jungfrau alle die genannten Gaben besaß und von ihnen Gebrauch machte, war so vollkommen, so wunderbar, dass mir die Worte fehlen, um das, was mir geoffenbart wurde, auszusprechen; denn was mir gezeigt wurde, geht weit über das hinaus, was ich gesagt habe und sagen kann.

174. O Königin des Himmels, meine Herrin, nachdem du dich gewürdigt, mich als Tochter anzunehmen, gabst du mir dein Wort zum Pfand, dass du meine Führerin und Lehrmeisterin sein werdest. Darauf vertrauend, erkühne ich mich dir einen Zweifel vorzutragen, in dem ich mich befinde: Meine Mutter und Herrin, wie kommt es, dass deine heiligste Seele, nachdem sie doch Gott so oft geschaut und genossen, als Seine Majestät dies wollte, nicht immer im Stand der Seligen verblieb? Warum sagen wir nicht, dass du allezeit in diesem Stand warst, da ihm doch keine Sünde, noch ein anderes Hindernis in dir entgegenstand, gemäß dem Licht, welches mit über deine erhabene Würde und Heiligkeit verliehen wurde?

ANTWORT UND LEHRE UNSERER KÖNIGIN UND HERRIN

175. Meine teuerste Tochter, du zweifelst, weil du mich liebst, und du fragst, weil du unwissend bist. So wisse denn: Die ununterbrochene Dauer ist eine der wesentlichen Eigenschaften der ewigen Seligkeit, welche den Heiligen des Himmels vorbehalten ist; denn diese Seligkeit muss in jeder Beziehung vollkommen sein, und wäre sie dies auch nur während eines Augenblickes nicht, so würde ihr die vollkommen entsprechende Vollendung fehlen, welche zur höchsten und vollkommenen Seligkeit notwendig ist. Überdies ist es nach den allgemeinen und gewöhnlichen Gesetzen unmöglich, dass ein Geschöpf - und wäre es auch sündelos - zu gleicher Zeit beseligt und dem Leiden unterworfen sei. Und wenn bei meinem heiligsten Sohn in dieser Hinsicht eine Ausnahme stattfand, so ist der Grund dieser: Er war Mensch und wahrer Gott zugleich, und darum durfte seine heiligste, mit der Gottheit persönlich vereinigte Seele der beseligenden Anschauung nicht entbehren; weil er aber zugleich Erlöser des Menschengeschlechtes war, so musste er leiden, um die Sündenschuld - das ist die Strafe - zu bezahlen. Dies hätte er aber nicht tun können, wenn er nicht einen leidensfähigen Leib gehabt hätte. Ich aber war ein bloßes Geschöpf, und darum war es nicht angemessen, dass ich beständig die Anschauung genoss, welche nur dem gebührte, der zugleich Gott war. Darum konnte man mich auch nicht «allzeit selig» nennen, denn ich war es nur vorübergehend. Auf diese Weise war ich in der Lage und Verfassung, zu Zeiten zu leiden und zu Zeiten mich zu erfreuen; anhaltender aber war das Leiden und Verdienen als die Freude, weil ich noch Erdenpilgerin und nicht im Besitze der ewigen Seligkeit war.

176. Der Allerhöchste hat durch ein gerechtes Gesetz festgestellt, dass man die Freuden des Ewigen Lebens nicht schon im sterblichen Leben genieße und dass man zur Unsterblichkeit nicht anders gelange als durch den leiblichen Tod, nachdem man im Stand des Leidens, das ist im gegenwärtigen menschlichen Leben, sich Verdienste gesammelt hat. Nun war aber der Tod für alle Kinder Adams der Sold und die Strafe der Sünde, und in dieser Hinsicht hatte ich keinen Anteil am Tod, noch an den übrigen Folgen und Strafen der Sünde; allein der Allerhöchste verordnete, dass auch ich, wie mein heiligster Sohn, mittelst des körperlichen Todes zum Ewigen Leben und zur Seligkeit eingehe. Hierin lag nichts Ungeziemendes für mich; vielmehr sprachen viele Gründe dafür, dass auch ich den gemeinsamen Weg alles Fleisches wandle, um auf diese Weise durch das Leiden und Sterben reiche Früchte an Verdiensten und an Glorie zu sammeln. Ein weiterer Grund lag auf Seiten der Menschen; sie sollten nämlich erkennen, wie wir, mein allerheiligster Sohn und ich, seine Mutter, von wahrer menschlicher Natur waren wie alle anderen, da wir ja sterblich waren wie sie. Infolge dieser Erkenntnis aber wurde das Beispiel, das wir den Menschen hinterließen, wirksamer, so dass sie leichter im leidensfähigen Fleisch die Werke nachahmen, die wir in demselben verrichteten; und alles dieses gereichte zur größeren Ehre und Verherrlichung meines Sohnes und Herrn und auch zur meinigen. Alle diese Vorurteile wären aber zum großen Teil weggefallen, wenn die Visionen der Gottheit bei mir ununterbrochen fortgedauert hätten. Später aber, nachdem ich das ewige Wort empfangen hatte, waren die Gnaden und Gunstbezeigungen, die ich erhielt, häufiger und größer, weil derjenige, von dem sie kamen, inniger mir angehörte und näher mit mir vereinigt war. Dies ist meine Antwort auf deine Zweifel. Soviel du aber auch verstanden und dich angestrengt hast, um die Privilegien zu offenbaren, welche ich im sterblichen Leben genoss, so wirst du doch unmöglich alles begreifen, was der mächtige Arm des Allerhöchsten an mir getan hat, und noch viel weniger wirst du mit menschlichen Worten ausdrücken können, was du verstehst.

177. Vernimm jetzt die Lehre, welche aus derjenigen, die ich dir in den vorhergehenden Hauptstücken erteilt habe, sich ergibt. Wenn ich das Vorbild bin, nach welchem du das Eingehen Gottes in die Seelen und in diese Welt mit der Gott gebührenden Ehrfurcht und Andacht, Demut, Dankbarkeit und Liebe feiern sollst, so musst du mich hierin nachahmen; und wenn du dies tust, so wird ganz gewiss der Allerhöchste zu dir kommen - und dasselbe gilt auch von jeder anderen Seele überhaupt -, um in dir ganz wunderbare Gnadenwirkungen hervorzubringen, ähnlich denjenigen, die er in mir hervorbrachte, wenn sie auch in dir und in anderen Seelen nicht so erhaben und wirksam sind wie in mir. Denn würde das Geschöpf schon vom Erwachen der Vernunft an, wie es seine Pflicht ist, sich zum Herrn wenden und seine Schritte auf die geraden Pfade des Heiles und des Lebens lenken, dann würde Seine allerhöchste Majestät, welche ihre Geschöpfe lieb hat, ihm entgegenkommen und ihm ihre Gnaden schon zum voraus mitteilen; denn eine allzulange Frist scheint es dem Herrn zu sein, das Ende der Pilgerschaft abzuwarten, um erst da seinen Freunden sich zu offenbaren.

178. Daher kommt es, dass die Seelen mittelst des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sowie durch den würdigen Empfang der heiligen Sakramente viele und wunderbare Gnadenwirkungen aus der gütigen Hand Gottes empfangen, die einen nach der gewöhnlichen Ordnung der Gnade, andere auf einem noch mehr übernatürlichen und wunderbaren Wege, ein jeder aber nach Maßgabe seiner größeren oder geringeren Disposition und nach den Absichten des Herrn, welche man aber nicht sogleich erkennt. Würden die Seelen ihrerseits kein Hindernis entgegensetzen, dann wäre die Liebe Gottes gegen sie ebenso freigebig, wie sie es gegen einige ist, welche sich dazu disponieren. Diesen gibt Gott größeres Licht und höhere Erkenntnis über sein unveränderliches Wesen; durch einen übernatürlichen und überaus lieblichen Gnadeneinfluss bildet er sie in sich selbst um und teilt ihnen oft einen Vorgeschmack der Seligkeit mit; denn er lässt sich festhalten und genießen durch jene geheime Umarmung, welche die Braut fühlte, als sie ihn gefunden hatte und sprach: «Ich halte ihn fest und werde ihn nicht lassen (Hld 3, 4)». Und Gott gibt diesen Seelen viele Unterpfänder und Beweise, dass er ihnen gegenwärtig ist und sie ihn besitzen, damit sie ihn, wie die Heiligen des Himmels, in ruhiger Liebe besitzen, wenn auch nur für kurze Zeit. So freigebig ist Gott unser Herr in Belohnung der Liebe und der Mühen, welche das Geschöpf auf sich nimmt, um ihm zu gefallen, ihn festzuhalten und nicht zu verlieren.

179. Durch die süße Gewalt der Liebe stirbt das Geschöpf allem Irdischen nach und nach ab, und darum ist gesagt, dass die Liebe stark sei wie der Tod (Hld 8, 6). Von diesem Tod erwacht es aber zu einem neuen, geistlichen Leben, wodurch es fähig wird zu neuer Teilnahme an der Seligkeit und ihren Gaben; denn es genießt dann häufiger den Schutz und die süßen Früchte des höchsten Gutes, welchem seine Liebe gehört. Aus diesen geheimnisvollen Wirkungen strömt sogar auf den niederen, animalischen Teil des Menschen eine Art Klarheit über, welche ihn von den Folgen der geistigen Finsternis reinigt, ihn stark und wie unempfindlich macht für das Leiden, um alles zu ertragen, was der fleischlichen Natur zuwider ist. Mit dem brennendsten Durst verlangt dann die Seele nach all den Mühsalen und der Gewalt, welche das Himmelreich erleidet. Sie wird behende und von der irdischen Schwere frei, so dass manchmal sogar der aus sich selbst schwerfällige Leib dieses Vorrecht fühlt und die Arbeiten leicht werden, die vorher schwer schienen. Meine Tochter, du kennst alle diese Wirkungen aus Erfahrung; ich habe dir dieselben erklärt und vor Augen gestellt, damit du dich noch mehr dazu bereitest und auf solche Weise dich bemühst und vorgehst, dass der Allerhöchste bei seinem mächtigen, göttlichen Wirken dich wohlzubereitet finde und nichts ihn hindere, in dir zu wirken, wie es ihm gefällt.

VIERZEHNTES HAUPTSTÜCK: Von der Ehrfurcht, mit welcher Maria gegen ihr göttliches Kind sich verhielt

Von der Sorgfalt und Aufmerksamkeit der heiligsten Mutter auf das göttliche Kind in ihrem Schoß und von einigen besonderen Gnaden, die ihr damals zuteil wurden.

180. Nachdem unsere Königin aus der Verzückung, in welche sie bei der Empfängnis des ewigen Wortes gekommen war, in den Zustand der gewöhnlichen Sinnestätigkeit zurückgekehrt war, warf sie sich zur Erde nieder und betete das göttliche Kind in ihrem Schoß an, wie wir im zwölften Hauptstück (Nr. 152) gesagt haben. Diese Art der Anbetung setzte sie ihr ganzes Leben hindurch fort. Täglich begann sie um Mitternacht, und bis zur folgenden Mitternacht pflegte sie dreihundert Kniebeugungen zu machen, ja noch mehr, wenn dies tunlich war. Hierin war sie noch eifriger während der neun Monate, da sie das göttliche Kind in ihrem Schoß trug.(Die Kniebeugung ist ein äußerer Akt der Gottesverehrung, den die Heiligen aller Zeiten stets eifrig geübt haben. Wir lesen vom heiligen Franz von Borgias, dass er täglich hundertmal die Knie beugte: centies quotidie de genu Deum adorabat (Brev.); vom heiligen Patrizius, dass er es dreihundertmal tat: tercenties per dies singulos flexis genibus Deum adorabat. Vom heiligen Apostel Jakobus lesen wir: Assiduitas orandi ita callum genibus obduxerat, ut duritie cameli pellern imitaretur. Die Königin der Apostel, die Königin der Heiligen, stand diesen auch in den äußeren Übungen der Religion nicht nach. Der Herausgeber). Ohne die Pflichten ihres Standes zu verletzen, wollte sie auch auf die vollkommenste Weise ihren neuen Verpflichtungen gegen das göttliche Kind genügen, welches der ewige Vater ihrem jungfräulichen Schoß anvertraut hatte; darum richtete sie all ihre Aufmerksamkeit darauf, viele und feurige Gebete zu verrichten, um die Gnade, den ihr anvertrauten Schatz des Himmels, zu bewahren. Sie weihte diesem Zweck aufs neue ihre heiligste Seele und alle ihre Kräfte und übte alle Tugendakte in so heldenmütigem und hohem Grad, dass sie die höchste Bewunderung der Engel erregte. Sie weihte auch alle körperlichen Handlungen dem Dienste und der Pflege dieses göttlichen Kindes; wenn sie aß oder schlief, arbeitete oder ruhte, so hatte sie dabei immer die Ernährung und Erhaltung ihres süßesten Sohnes im Auge, und bei allen diesen Handlungen entbrannte sie im Feuer der göttlichen Liebe.

181. Am Tage nach der Menschwerdung stellten die tausend Engel, welche die Begleitung der seligsten Jungfrau bildeten, in körperlicher Gestalt sich ihr vor und beteten ihren menschgewordenen König im Schoß seiner Mutter mit tiefer Demut an. Diese Mutter selbst aber erkannten sie aufs neue als ihre Königin und Herrin an, erwiesen ihr die schuldige Ehrfurcht und sprachen: «Jetzt, o Herrin, bist du die wahrhaftige Bundeslade, da du den Gesetzgeber selbst und das Gesetz einschließest und das himmlische Manna, unser wahres Brot, bewahrest. Empfange, o Königin, unsere Glückwünsche zu deiner Würde und deinem höchsten Glück; wir preisen darum den Allerhöchsten, denn mit Recht hat er dich zu seiner Mutter und zu seiner Wohnung erwählt. Wir bieten uns dir aufs neue zum Dienste an, um dir zu gehorchen als Untertanen und Diener des höchsten, allmächtigen Königs, dessen wahre Mutter du bist». Dieses Anerbieten und diese neue Ehrfurchtsbezeigung der heiligen Engel erweckte in der Mutter der Weisheit unaussprechliche Gefühle der Demut, Dankbarkeit und Liebe zu Gott. Denn in ihrem weisesten Herzen, wo sich das Gewicht des Heiligtums befand, um jedem Ding den gebührenden Wert und Preis beizulegen, achtete sie es sehr hoch, sich von den himmlischen Geistern als ihre Herrin und Königin anerkannt und verehrt zu sehen. Freilich war es etwas Größeres, die Mutter des Königs und Herrn der ganzen Schöpfung zu sein; aber gerade diese Auszeichnung und Würde zeigte sich ihr in hellerem Licht durch die Ehrenerweise und Dienste der heiligen Engel.

182. Die Engel leisteten diese Dienste als Vollzieher und Diener des Willens Gottes. Wenn sich ihre Königin, unsere Herrin, allein befand, dann standen sie ihr alle in körperlicher Gestalt zur Seite und dienten ihr bei ihren äußeren Handlungen und Beschäftigungen. Verrichtete sie Handarbeiten, so reichten ihr die Engel das Nötige dar. Wenn es sich traf, dass sie das eine oder andere Mal in Abwesenheit des heiligen Joseph allein zu Tische saß, so machten sie die Diener an dem armen Tisch mit den einfachen Gerichten. Überallhin gaben sie ihr das Ehrengeleite, und wenn sie den heiligen Joseph bediente, so halfen sie ihr dabei. Wiewohl ihr aber die Engel in solcher Weise Beistand und Hilfe leisteten, so vergaß dessen ungeachtet die himmlische Frau nicht, den Meister aller Meister für alle Handlungen und Arbeiten, die sie zu verrichten hatte, um seine Erlaubnis sowie um seine Leitung und Hilfe zu bitten. Darum waren auch alle Verrichtungen so geregelt und so vollkommen geordnet, dass nur der Herr selbst dies zu erkennen und zu würdigen vermag.

183. Außer dieser gewöhnlichen Leitung fühlte die seligste Jungfrau in jener Zeit, da sie den menschgewordenen Sohn Gottes in ihrem heiligsten Schoß trug, dessen göttliche Gegenwart auf verschiedene, allersüßeste und wunderbarste Weise. Bald offenbarte er sich ihr durch abstrakte Visionen, von denen ich oben gesprochen habe; bald schaute und erkannte sie ihn so, wie er sich im Heiligtum ihres jungfräulichen Schoßes befand, persönlich vereinigt mit der menschlichen Natur; ein anderes Mal zeigte sich ihr die heiligste Menschheit, wie wenn sie dieselbe durch eine kristallene Monstranz sehen würde, und diese letztere war ihr eigener, reinster Mutterschoß. Diese letztere Vision brachte der großen Königin besonderen Trost und Jubel. Wieder andere Male erkannte sie, dass die Gottheit in den Körper des göttlichen Kindes etwas von der Glorie seiner heiligsten Seele überströmen ließ und ihm so einige Eigenschaften der verklärten Körper der Seligen mitteilte. Besonders erkannte sie, wie durch eine unaussprechliche, göttliche Wirkung vom Leib des Sohnes Klarheit und Licht auf die Mutter überging. Eine solche Begnadigung wandelte sie ganz um, entflammte ihr Herz und brachte in ihrem ganzen Wesen so erhabene Wirkungen hervor, dass kein Geschöpf sie zu beschreiben imstande ist. Mag auch der schärfste Verstand der höchsten Seraphim all seine Kraft aufbieten, er wird von solcher Herrlichkeit erdrückt werden; denn diese himmlische Königin war ein geistiger, lebendiger Himmel, und in ihr allein war die ganze Größe und Herrlichkeit eingeschlossen, welche selbst die weiten Räume der Himmel nicht zu fassen und zu umschließen vermögen.(Es ist dies ein Gedanke, den die heiligen Väter mit Vorliebe behandeln und ausführen; wir finden ihn bei Methodius Athanasius, Epiphanius, Chrysostomus, Germanus, Cyprian, Johannes Damascenus, Anselmus, Bernardus, Bonaventura, Albert d. Gr. u. a. Ihnen ist Maria ein lebendiger Himmel, größer, reiner und heiliger als der höchste Lichthimmel, weil sie Denjenigen, den «die Himmel nicht zu fassen vermögen» (1 Kön 8, 27) seiner ganzen Größe nach, umfasst und weil sie eine würdige Wohnung Dessen ist, «vor dessen Angesicht die Himmel nicht rein genug sind» [Job 15, 15]. Der Herausgeber).

184. Solche und ähnliche Gedanken folgten bei den Beschäftigungen der göttlichen Mutter abwechselnd aufeinander, wie auch ihre Beschäftigungen mannigfacher Art waren; die einen waren nämlich geistig, andere waren äußerlich und körperlich; die einen zum Dienst ihres Bräutigams, die andern zum Wohl des Nebenmenschen. Alles dieses zusammen, geregelt durch die Weisheit einer zarten Jungfrau, bildete eine wunderbare, liebliche Harmonie in den Ohren des Herrn und einen Gegenstand der Bewunderung für alle himmlischen Geister, Wenn aber die Herrin der Welt - nach Gottes Anordnung bei dieser Mannigfaltigkeit ihrer Beschäftigungen sich mehr in ihrem natürlichen Zustand befand, dann litt sie eine Art Todesschwäche, welche durch die heftige Gewalt ihrer Liebe verursacht war; denn sie konnte in Wahrheit jene Worte gebrauchen, welche an ihrer Statt Salomon im Namen der Braut gesprochen hat: «Erquickt mich mit Blumen, denn ich bin krank vor Liebe (Hld 2, 5) !» Von dem scharfen, aber überaus süßen Pfeil der Liebe verwundet, kam sie zuweilen dem Tod nahe; aber alsbald stärkte sie wieder der mächtige Arm des Allerhöchsten auf übernatürliche Weise.

185. Zuweilen kam es auch vor, dass auf Befehl des Herrn zur Erquickung seiner heiligsten Mutter Scharen von kleinen Vögeln herbeiflogen, sie zu besuchen; und gleich, als hätten sie Verstand, grüßten sie Maria durch ihre Bewegungen, machten ihr chorweise eine wunderliebliche Musik und warteten dann auf ihren Segen, um wieder von ihr zu scheiden. Dies taten sie namentlich nach der Menschwerdung, wie um der göttlichen Mutter zu ihrer Würde Glück zu wünschen, nachdem die heiligen Engel dies getan hatten. Die Herrin aller Geschöpfe sprach mit ihnen und gab den verschiedenen Gattungen der Vögel, die bei ihr waren, den Befehl, ihrem Herrn zu huldigen und ihm zum Dank für das Leben und die Schönheit, die er ihnen gegeben, sowie für ihre Erhaltung Loblieder zu singen. Sogleich gehorchten sie ihr als ihrer Herrin, bildeten aufs neue Chöre und sangen mit gar süßer Harmonie, und sich bis auf den Boden niederbeugend, bezeigten sie ihrem Schöpfer und seiner heiligen Mutter ihre Ehrfurcht. Andere Male brachten sie Blumen in ihren Schnäbeln, legten diese in die Hände ihrer Königin nieder und warteten, bis sie ihnen ihren Willen und Befehl kundgab, sei es zum Singen, sei es zum Schweigen. Bei rauer Witterung kam es auch vor, dass einzelne Vöglein bei ihrer himmlischen Herrin Schutz suchten; diese aber nahm sie auf und nährte sie voll Freude über deren Unschuld und unter Lobpreis des Schöpfers der Welt.

186. Solche Wunder sollen unsere kleinliche Unwissenheit nicht befremden; denn geschahen dieselben auch in einer Sache, die man klein nennen könnte, so sind doch alle Werke des Allerhöchsten groß und ehrwürdig in ihrem Endziel; ebenso waren die Werke unserer weisesten Königin groß, um was immer es sich auch handeln mochte. Wer wäre unwissend oder verwegen genug, um nicht einzusehen, wie es sich für eine vernünftige Kreatur gar sehr geziemt, in allen Geschöpfen die Offenbarung der Wesenheit und der Vollkommenheiten Gottes zu erkennen, in allen ihn zu suchen und zu finden, in allen ihn zu lobpreisen und zu verherrlichen als den wunderbaren, allmächtigen, freigebigen und heiligen Gott! So hat seine heiligste Mutter getan; keinen Augenblick Zeit, keinen Ort, kein sichtbares Geschöpf gab es, das für sie wertlos gewesen wäre. Wie sollte da unsere undankbarste Vergesslichkeit nicht beschämt sein? Wie sollte unsere Härte nicht erweicht werden? Wie sollte unser laues Herz nicht entflammt werden, da selbst die vernunftlosen Geschöpfe uns belehren und zurechtweisen? Denn für die einzige Wohltat, die sie Gott verdanken, nämlich für ihr Dasein, loben sie Gott und beleidigen ihn nie; und die Menschen, welche das Bild und die Ähnlichkeit Gottes in sich tragen und fähig sind, ihn zu erkennen und ewig zu genießen, sie vergessen ihn und wollen ihn nicht erkennen; und wenn sie ihn erkennen, so loben sie ihn nicht, und weit entfernt, ihm dienen zu wollen, beleidigen sie ihn. Diese haben wahrhaftig kein Recht, sich höher zu stellen als die unvernünftigen Tiere, denn sie sind in der Tat schlechter als diese.

LEHRE DER HEILIGSTEN KÖNIGIN UND HERRIN

187. Meine Tochter, du bist bereits hinlänglich von mir unterrichtet, um nach der göttlichen Wissenschaft zu verlangen und zu trachten; ich wünsche, dass du sie mit Eifer erlernst, damit du durch sie gründlich erkennst und verstehst, mit welcher Ehrfurcht und Hochachtung du mit Gott verkehren musst. Ich mache dich aufs neue aufmerksam, dass diese Wissenschaft unter den Sterblichen nur schwer zu finden ist und dass nur wenige Verlangen danach haben, ihrer Unwissenheit wegen, aber zu ihrem großen Nachteile; denn daher kommt es, dass sie im Verkehr mit Gott, im Dienste und in der Verehrung Gottes keine rechte Hochachtung vor seiner unendlichen Größe haben und sich auch nicht von den düsteren Bildern und irdischen Geschäften losmachen. Dadurch aber werden sie niedrig und fleischlich gesinnt, unwürdig und ungeeignet für den erhabenen Verkehr mit der allerhöchsten Gottheit. Aus dieser rohen Gesinnung folgt eine andere Unordnung, dass sie nämlich im Umgang mit dem Nächsten ohne Ordnung, Maß und Schranken sich den sinnlichen Handlungen hingeben, das Andenken und die Aufmerksamkeit auf ihren Schöpfer vollständig verlieren und mit der ganzen Wut ihrer Leidenschaften sich ins Irdische versenken.

188. Ich will daher, liebste Tochter, dass du dich von dieser Gefahr fern hältst und jene Wissenschaft erlernst, deren Gegenstand die unveränderliche Wesenheit und die unendlichen Vollkommenheiten Gottes sind. Und zwar musst du auf solche Weise ihn kennen lernen und dich mit ihm vereinigen, dass sich kein Geschöpf zwischen deine Seele und das wahre und höchste Gut stelle. Zu jeder Zeit, an jedem Ort und bei jeder Beschäftigung musst du ihn im Auge haben und ihn niemals aus dieser innigen Umarmung deines Herzens loslassen. Zu diesem Zweck aber sage und befehle ich dir, dass du voll Hochachtung, mit gebührender Ehrfurcht und ganz durchdrungen von heiliger Scheu mit ihm umgehst. Was immer den Dienst Gottes betrifft, musst du mit aller Aufmerksamkeit und Hochachtung verrichten. Ganz besonders aber musst du, wenn du dich zur Betrachtung und zu den mündlichen Gebeten in Gottes Gegenwart begibst, alle Gedanken an sichtbare und irdische Dinge verabschieden. Weil jedoch die menschliche Gebrechlichkeit nicht ununterbrochen in der Kraft der Liebe verharren und ihre heftigen Antriebe ertragen kann, da der Mensch eben ein irdisches Wesen ist, darum gönne dir eine geziemende Erholung, solcherart, dass du auch in ihr Gott findest, indem du zum Beispiel Gott lobst in der Schönheit des Himmels und der Sterne, in der Mannigfaltigkeit der Pflanzen, in dem lieblichen Anblicke der Felder, in der Kraft der Elemente, ganz besonders aber in den Vorzügen der Engel und in der Glorie der Heiligen.

189. Für immer musst du dir aber gesagt sein lassen, und niemals darfst du die Mahnung vergessen, dass du in keiner Lage und in keiner Mühsal bei den Menschen Erleichterung oder Unterhaltung suchst oder annimmst, am allerwenigsten bei Männern; denn da du von Natur schwach und geneigt bist, niemanden zu betrüben, so kannst du Gefahr laufen, zu weit zu gehen und die Schranken des Erlaubten und Gerechten zu überschreiten, indem sich die natürliche Freude in einem höheren Grad einschleicht, als es geweihten Bräuten meines heiligsten Sohnes geziemt. Die Nachlässigkeit in dieser Sache ist bei allen Menschen gefährlich; denn lässt man der gebrechlichen Natur die Zügel schießen, so achtet sie nicht mehr auf die Vernunft noch auf das wahre Licht des Geistes, sondern alles vergessend folgt sie blindlings dem stürmischen Drang der Leidenschaften, und diese suchen ihr Vergnügen. Zum Schutz gegen diese allgemeine Gefahr wurde die Klausur und die Zurückgezogenheit der meinem Sohn und Herrn geweihten Seelen angeordnet, damit verderbliche und gefährliche Gelegenheiten, welche von einzelnen Ordensfrauen freiwillig gesucht und unterhalten würden, mit der Wurzel ausgerissen werden. Deine Erholungen, meine Tochter, und die deiner Schwestern dürfen nicht so voll Gefahr und tödlichen Giftes sein, sondern du musst immer diejenigen eigens aussuchen, welche du in dem Verborgenen deines Herzens und in dem Kämmerchen deines Bräutigams findest, der getreu ist, um die Traurigen zu trösten und den Betrübten beizustehen.

FÜNFZEHNTES HAUPTSTÜCK: Maria erhält die Weisung, ihre Base Elisabeth zu besuchen

Die heiligste Jungfrau erfährt, es sei Gottes Wille, dass sie die heilige Elisabeth besuche; sie bittet den heiligen Joseph um Erlaubnis. ohne ihm weiteres mitzuteilen.

190. Die heiligste Jungfrau hatte durch den Abgesandten des Himmels, den heiligen Erzengel Gabriel, erfahren, dass ihre Base Elisabeth, welche als unfruchtbar galt, einen Sohn empfangen hatte und bereits im sechsten Monate ihrer Schwangerschaft war. Später offenbarte ihr der Allerhöchste in einer intellektuellen Vision, dass dieses wunderbare Kind der heiligen Elisabeth groß sein werde vor dem Herrn, ein Prophet und der Vorläufer des menschgewordenen Wortes, das sie in ihrem jungfräulichen Schoß trug. Auch andere große Geheimnisse über die Heiligkeit und das Amt des heiligen Johannes offenbarte ihr der Herr. In dieser und in anderen Visionen erkannte die Himmelskönigin auch, wie es dem Herrn wohlgefallen würde, wenn sie ihre Base Elisabeth besuchte, damit diese sowie deren Kind im Mutterschoß durch die Gegenwart ihres Erlösers geheiligt würden; denn dieser wollte die ersten Wirkungen seiner Ankunft in der Welt und seiner Verdienste seinem Vorläufer zuwenden und ihm den Strom seiner göttlichen Gnade mitteilen, damit er gleichsam die Erstlingsfrucht der Erlösung würde.

191. Sobald die weiseste Jungfrau dieses Geheimnis erfahren hatte, sagte sie mit wunderbarem Herzensjubel dem Herrn dafür Dank, dass er der Seele seines künftigen Vorläufers und Propheten sowie dessen Mutter Elisabeth so große Gunst erweisen wolle. Sie bot sich an, den Willen Gottes zu erfüllen, indem sie zu ihm sprach: «Höchster Herr, Anfang und Ursache alles Guten, ewig werde dein Name verherrlicht, und von allen Nationen werde er erkannt und gepriesen ! Ich geringstes aller Geschöpfe bringe dir meinen demütigen Dank dar für die Barmherzigkeit, welche du so freigebig an deiner Dienerin Elisabeth und ihrem Sohn zeigen willst. Wenn es deiner Güte gefällt, mir mitzuteilen, wozu ich dir in diesem Werk dienen soll, sieh, ich bin bereit, o Herr, mit Schnelligkeit deinen göttlichen Befehlen zu gehorchen». Der Allerhöchste antwortete ihr: « Meine Taube und meine Freundin, Auserwählte unter den Geschöpfen, ich sage dir in Wahrheit, dass ich durch deine Fürsprache und aus Liebe zu dir als Vater und freigebigster Gott auf deine Base Elisabeth und auf den Sohn schaue, den sie gebären wird, indem ich diesen zu meinem Propheten und zum Vorläufer des in dir menschgewordenen Wortes erwähle. Ich betrachte beide als Personen, welche mit dir eng verbunden sind. Darum wünsche ich, dass mein und dein Eingeborner die Mutter besuche und ihren Sohn aus den Banden der ersten Sünde erlöse, damit die Stimme seiner Lobpreisung vor der sonst gewöhnlichen Zeit in meinen Ohren erklinge und damit durch die Heiligung seiner Seele ihnen die Geheimnisse der Menschwerdung und Erlösung geoffenbart werden. Darum will ich, meine Braut, dass du Elisabeth besuchst; denn wir drei göttliche Personen haben ihren Sohn zu großen Dingen erwählt».

192. Die gehorsamste Mutter erwiderte auf diesen Befehl des Herrn: «Du weißt wohl, o mein Herr und Gebieter, dass mein Herz und all mein Verlangen auf dein Wohlgefallen gerichtet sind und dass ich mit Sorgfalt vollbringen will, was du deiner niedrigen Magd gebietest. Gestatte mir, o höchstes Gut, dass ich meinen Bräutigam Joseph um Erlaubnis bitte und diese Reise mit seiner Zustimmung mache. Damit ich aber dabei nicht von deinem heiligen Willen abweiche, so leite all meine Handlungen und lenke meine Schritte zur größeren Ehre deines heiligen Namens; nimm zu diesem Zwecke das Opfer an, welches ich bringe, indem ich öffentlich erscheine und meine stille Einsamkeit verlasse. Auch ich möchte dir, o König und Gott meiner Seele, hierbei mehr als mein bloßes Verlangen aufopfern; ich wünsche dir zulieb alles zu leiden, was zu deinem Dienst und größerem Wohlgefallen gereicht, damit so die Sehnsucht meiner Seele nicht unbefriedigt bleibe».

193. Nachdem unsere große Königin aus dieser Vision gekommen war, rief sie ihre tausend Schutzengel. Diese erschienen in körperlicher Gestalt. Dann eröffnete sie ihnen den Befehl des Allerhöchsten, mit der Bitte, ihr auf dieser Reise beizustehen und sie mit größter Sorgfalt zu unterweisen, wie sie den Auftrag des Herrn zu seinem größeren Wohlgefallen vollziehen könne; auch bat sie um ihren Schutz und Beistand in Gefahren, damit sie in allem, was ihr bei dieser Reise begegne, mit Vollkommenheit handle. Die heiligen Himmelsfürsten boten sich mit wunderbarer Unterwürfigkeit an, ihr zu gehorchen und zu dienen. Die Lehrmeisterin aller Klugheit und Demut pflegte auch bei andern Gelegenheiten so zu handeln. Obwohl sie weiser und im Handeln vollkommener war als die Engel, rief sie doch, weil im Stand der Pilgerschaft und von niedrigerer Natur, die heiligen Engel zu Rat und zu Hilfe, um so allen ihren Werken die höchste Vollkommenheit zu geben. Und unter Leitung der Engel, die zwar an Heiligkeit unter ihr standen, ihr aber doch Schutz und Beistand gewährten, ordnete sie ihre Handlungen, die übrigens ohnedies allesamt durch die Leitung des Heiligen Geistes geregelt waren. Die himmlischen Geister gehorchten ihr mit einer Schnelligkeit und Pünktlichkeit, wie sie ihrer Natur eigen ist und wie sie ihrer Königin und Herrin gebührte; sie pflogen mit dieser die süßesten Unterredungen und sangen mit ihr chorweise Loblieder zu Ehren des Allerhöchsten. Andere Male sprach die heiligste Jungfrau mit ihnen über die erhabenen Geheimnisse des fleischgewordenen Wortes, über die hypostatische Einigung, über die Erlösung der Menschen, über die Triumphe, welche der Heiland erringen, und über die Früchte und Wohltaten, welcher die Menschen durch seine Werke erlangen würden. Es würde mich aber viel zu weit führen, wenn ich alles, was mir hierüber geoffenbart wurde, niederschreiben wollte.

194. Die demütige Braut beschloss nun, den heiligen Joseph um Erlaubnis zu bitten, damit sie den Befehl des Allerhöchsten vollbringen könnte. Ohne den erhaltenen Auftrag zu offenbaren - denn in allem war sie höchst weise -, sprach sie eines Tages zu ihm: « Mein Herr und Bräutigam, ich habe durch göttliche Erleuchtung erkannt, dass der Allerhöchste meiner Base Elisabeth, der Frau des Zacharias, sich gnädig erwiesen und ihr einen Sohn gegeben hat, wie sie darum gebeten hatte. Ich hoffe von seiner unermesslichen Güte, dass diese außerordentliche Wohltat, die er meiner Base, welche unfruchtbar gewesen, verlieh, zu seiner größeren Ehre gereichen wird. Mich dünkt, dass in einem solchen Falle die Schicklichkeit mich verpflichtet, Elisabeth zu besuchen und mit ihr einiges zu reden, was zu ihrem Trost und zum Heil ihrer Seele gereicht. Wenn du dies billigst, so werde ich es mit deiner Erlaubnis tun, da ich in allem deinem Willen und Befehle mich unterwerfe. Erwäge, was das Beste ist, und befiehl mir, was ich tun soll ».

195. Der Herr hatte großes Wohlgefallen an diesem klugen Schweigen der heiligsten Jungfrau Maria; es war ja voll der demütigsten Unterwerfung und zeigte, wie sehr sie geeignet und würdig war, dass die großen Geheimnisse des Königs ihrem Herzen anvertraut wurden. Aus diesem Grund und im Vertrauen auf die Treue dieser großen Königin lenkte Gott das reinste Herz des heiligen Joseph mit himmlischem Licht zu dem, was er nach dem Willen des Herrn tun sollte. Dies ist der Lohn des Demütigen, welcher um Rat bittet; er findet ihn sicher und gewiss. Ebenso ist es Sache des heiligen und klugen Eifers, solchen Rat mit Umsicht denen zu erteilen, die ihn verlangen. So antwortete denn der heilige Bräutigam, vom Himmel geleitet, unserer Königin: «Meine Herrin und Braut, du weißt, dass all mein Verlangen dahin zielt, dir mit aller Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu dienen; denn ich vertraue, wie ich es schuldig bin, auf deine hohe Tugend, dass dein gerechtester Wille zu nichts hinneigen wird, was nicht zum größeren Wohlgefallen und zur höheren Glorie des Allerhöchsten gereicht, und ich glaube, dass dies hinsichtlich dieser Reise der Fall ist. Damit man aber nicht mit Befremden sehe, dass du ohne Begleitung deines Bräutigams reisest, werde ich mit großer Freude mitgehen, um unterwegs dir zu dienen und für dich zu sorgen. Bestimme nur den Tag, an welchem wir miteinander hingehen werden».

196. Die heiligste Jungfrau Maria dankte ihrem klugen Bräutigam, dem heiligen Joseph, dass er so liebevoll für sie besorgt und so eifrig bedacht war, zur Vollziehung des göttlichen Willens in einer Sache mitzuwirken, von der er wusste, dass sie zum Dienst und zur Ehre Gottes gereiche. So beschlossen sie, miteinander sich in Bälde in die Heimat Elisabeths zu begeben und unverzüglich alles zur Reise Erforderliche herzurichten; dies bestand nur in einigen Früchten, etwas Brot und wenigen Fischlein, welche der heilige Joseph holte, sowie in einem ärmlichen Lasttier, welches er entlehnte, damit es außer dem Reisegeräte auch seine Braut, die Königin der ganzen Schöpfung, trage. Nach dieser Zurüstung traten sie die Reise von Nazareth nach Judäa an, deren weiteren Verlauf ich jedoch im nächstfolgenden Hauptstück beschreiben werde. Beim Herausgehen aus ihrem armen Häuschen warf sich die große Königin der Welt ihrem Bräutigam, dem heiligen Joseph, zu Füßen und bat ihn um seinen Segen, um die Reise im Namen des Herrn zu beginnen. Als der Heilige diese außerordentliche Demut seiner Braut, von der er sich doch durch so vielfache Erfahrung bereits überzeugt hatte, gewahr wurde, ward er verlegen und machte Anstand, ihr den Segen zu geben. Allein das sanfte und inständige Bitten der heiligsten Jungfrau überwand ihn, und er gab ihr den Segen im Namen des Herrn. Bei den ersten Schritten erhob Maria die Augen zum Himmel und das Herz zu Gott und weihte alles der Erfüllung des göttlichen Willens, indem sie ihren und des ewigen Vaters Eingebornen im jungfräulichen Schoß trug, um Johannes im Schoß seiner Mutter Elisabeth zu heiligen.

LEHRE, welche mir die himmlische Königin und Herrin gab

197. Meine liebste Tochter, ich offenbare dir oftmals die Liebe meines Herzens, weil ich gar sehr verlange, dass sie auch dein Herz entflamme und dass du Nutzen ziehst aus der Lehre, welche ich dir gebe. Glücklich die Seele, welcher Gott seinen heiligen und vollkommenen Willen offenbart; noch glücklicher und seliger aber jene, welche ihn ausführt, nachdem sie ihn erkannt hat. Gott zeigt den Menschen den Weg zum Ewigen Leben durch verschiedene Mittel: durch die Evangelien und die Heiligen Schriften überhaupt, durch die Sakramente und die Gebote der heiligen Kirche, durch fromme Bücher und durch die Vorbilder der Heiligen, insbesondere aber durch die Lehren und Anordnungen seiner Diener, von welchen er gesagt hat: «Wer euch höret, der höret mich (Lk 10,16)», denn ihnen gehorchen heißt dem Herrn selbst gehorchen. Hast du also auf einem dieser Wege den Willen Gottes erkannt, so verlange ich von dir, dass du mit den Flügeln der Demut und des Gehorsams in raschem Flug, ja mit Blitzesschnelle eilest, Gottes Willen und Wohlgefallen auszuführen.

198. Außer den genannten Mitteln der Belehrung hat der Allerhöchste noch andere, durch die er die Seelen leitet, indem er ihnen nämlich seinen vollkommenen Willen auf übernatürliche Weise zu erkennen gibt und ihnen zu diesem Zweck manche Geheimnisse offenbart. Diese Art der Unterweisung hat ihre Abstufungen, und zwar sehr verschiedene, und nicht alle sind gewöhnlich oder allen Seelen gemein: denn Gott teilt sein Licht «mit Maß und Gewicht» aus. Das eine Mal spricht er mit gebieterischer Macht zum Herzen und zu den inneren Sinnen; ein anderes Mal weist er zurecht, noch andere Male ermahnt und belehrt er. Bald bewegt er das Herz des Menschen, dass es zu ihm bete; bald stellt er selbst ihm klar vor Augen, was er verlangt, damit die Seele bewogen werde, dies zu tun; bald zeigt er in sich selbst, wie in einem klaren Spiegel, große Geheimnisse, damit der Verstand dieselben schaue und erkenne und der Wille sie liebe. Immer aber ist dieser große Gott, das höchste Gut, sehr sanft im Befehlen, mächtig, um Stärke zum Gehorsam zu verleihen, gerecht in seinen Anordnungen, schnell, um alles so einzurichten, dass man gehorcht, und wirksam, um die Hindernisse zu überwinden, damit sein heiligster Wille geschehe.

199. Ich will, meine Tochter, dass du sehr aufmerksam seist, um diese göttliche Erleuchtung aufzunehmen, und sehr behende und sorgfältig, um sie auszuführen. Um den Herrn zu hören und seine sanfte, geistige Stimme zu vernehmen, müssen die Seelenkräfte von allem, was sie Irdisches und Plumpes an sich haben, gereinigt sein; das Geschöpf muss ganz und gar nach dem Geiste leben, denn der tierisch gesinnte Mensch versteht die erhabenen, göttlichen Dinge nicht. Hab also acht auf dein Inneres und vergiss alles Äußerliche, und nachdem du allem Sichtbaren entsagt, höre, meine Tochter, und neige dein Ohr. Damit du aber sorgfältig seist, so liebe; denn die Liebe ist ein Feuer, welches ohne Zögern seine Wirkungen hervorbringt, wo es einen empfänglichen Stoff findet. So will ich, dass auch dein Herz allezeit bereit und empfänglich sei. Und wenn der Allerhöchste dir etwas sagt oder befiehlt, was das Wohl des Nächsten und insbesondere das Seelenheil desselben betrifft, so biete dich mit Unterwürfigkeit dazu an; denn die Seelen sind der kostbarste Preis des Blutes des Lammes Gottes und der göttlichen Liebe. Lass dich nicht zurückhalten durch deine Niedrigkeit und Zaghaftigkeit; besiege vielmehr die Furcht, welche dich entmutigt. Taugst du auch nicht viel und bist du zu allem unnütz, so ist doch der Allerhöchste reich, mächtig, groß, und alles hat er gemacht durch sich selbst. Deine Bereitwilligkeit und dein Eifer werden des Lohnes nicht entbehren, wiewohl ich verlange, dass das Wohlgefallen des Herrn der einzige Grund deines Handeins sei.

SECHZEHNTES HAUPTSTÜCK: Mariä Heimsuchung

Die Reise der heiligsten Jungfrau, um die heilige Elisabeth zu besuchen. Ihr Eintritt in das Haus des Zacharias.

200. Die heilige Schrift erzählt: « In jenen Tagen machte sich Maria auf und ging eilends auf das Gebirge, in eine Stadt des Stammes Juda (Lk 1, 39)». Dieses Sichaufmachen unserer himmlischen Königin bedeutet nicht bloß ihre äußere Zurüstung und ihre Abreise von Nazareth, sondern es bedeutet auch die Bewegung ihres Geistes und Willens, mit welcher sie auf Antrieb und Befehl Gottes sich innerlich von jenem niedrigen und demütigen Platz erhob, den sie in ihrer geringen Meinung von sich selbst eingenommen hatte. Sie erhob sich von dort, wie von den Füßen des Allerhöchsten, auf dessen Willen und Befehl sie gewartet hatte, um ihn zu vollbringen, gleichwie nach den Worten Davids (Ps 123, 2) die niedrigste Dienerin ihre Augen auf die Hände ihrer Herrin gerichtet hält und wartet, bis diese ihr gebietet. So erhob sich also die seligste Jungfrau auf die Stimme des Herrn und richtete allen Eifer ihres liebevollsten Herzens darauf, nach dem heiligsten Willen Gottes unverzüglich die Heiligung des Vorläufers des menschgewordenen Wortes zu beschleunigen, welcher in den Banden der Erbsünde, im Schoß Elisabeths gleichsam eingekerkert war. Dies war das Ziel und Ende dieser glückseligen Reise. Zu diesem Zweck machte sich die Königin des Himmels auf und ging mit Eile und Schnelligkeit, wie der heilige Evangelist Lukas berichtet.

201. Es verließen also die keuschesten Gatten Maria und Joseph das Haus ihrer Eltern, vergaßen ihr Volk (Ps 45,11) und machten sich auf den Weg nach der Heimat des Zacharias in dem Gebirge Judäas. Dieses war siebenundzwanzig Stunden von Nazareth entfernt, und der Weg dahin war, zumal für eine so zarte Jungfrau, großenteils rau und beschwerlich. Die ganze Bequemlichkeit bei so übergroßer Anstrengung bestand in einem kleinen, ärmlichen Lasttier, auf welchem sie die Reise begann und fortsetzte. Und wiewohl es nur zu ihrer Erleichterung bestimmt war, so stieg doch Maria, die demütigste und bescheidenste aller Kreaturen, oftmals von ihm ab und bat ihren Bräutigam Joseph, dass er wie die Mühsal so auch die Erleichterung mit ihr teile und sich gleichfalls zu einiger Erholung des Lasttieres bediene. Allein der weise Bräutigam nahm das Anerbieten niemals an. Um aber den Bitten der himmlischen Herrin doch wenigstens in etwas zu willfahren, gab er zu, dass sie zeitweise mit ihm zu Fuß ging, soweit er glaubte, dass ihre zarte Konstitution ohne übermäßige Ermüdung dies ertragen könne. Dann bat er sie aber wieder auf sehr bescheidene und ehrerbietige Weise, die kleine Erleichterung nicht länger abzuweisen, worauf die Himmelskönigin den übrigen Weg gehorsam auf dem Lasttier zurücklegte.

202. Unter so demutsvollem Wettstreit setzten Maria und Joseph ihre Reise fort. Ihre Zeit verteilten sie so, dass sie auch nicht einen Augenblick unbenützt ließen. Sie machten den Weg ganz einsam, ohne Begleitung irgendeines Menschen; allein die tausend Engel, welche die heiligste Jungfrau Maria, das «Ruhebett Salomons (Hld 3, 7)», bewachten, waren ihnen auf dem ganzen Weg zur Seite; sie dienten ihrer großen Königin und dem heiligsten Kinde, das sie unter ihrem Herzen trug, in sichtbarer Gestalt, allein nur Maria nahm sie mit leiblichen Augen wahr. Auf diese Engel und auf ihren Gemahl Joseph achtend, setzte Maria, die Mutter der Gnade, ihren Weg fort, Berge und Täler erfüllend mit dem süßesten Wohlgeruch ihrer Gegenwart und mit dem Lob Gottes, das ihre ununterbrochene Beschäftigung bildete. Zuweilen sprach sie mit ihren Engeln und sang mit ihnen chorweise himmlische Loblieder auf verschiedene heilige Geheimnisse, zum Beispiel auf die Vollkommenheiten Gottes und auf die Werke der Schöpfung und Menschwerdung, wodurch das makellose Herz der reinsten Herrin aufs neue von göttlicher Liebe entflammt wurde. Zu allem diesem war ihr der heilige Bräutigam Joseph dadurch behilflich, dass er, in hoher Beschauung seinen Geist innerlich sammelnd, ehrerbietiges Stillschweigen beobachtete, um dadurch - dies war seine Absicht - seiner gottesfürchtigen Braut es zu ermöglichen, ein Gleiches zu tun.

203. Zuweilen aber redeten Maria und Joseph miteinander und besprachen sich über manche Dinge, welche das Heil ihrer Seele betrafen, über die Erbarmungen des Herrn, über die Ankunft des Messias, über die Weissagungen, welche den Altvätern in Betreff des Messias verkündet worden waren, und über andere Geheimnisse des Allerhöchsten.

Auf dieser Reise trug sich auch etwas zu, was den heiligen Bräutigam Joseph in Verwunderung setzte. Joseph liebte seine Braut mit einer heiligen, keuschesten Liebe, mit einer Liebe, welche durch ganz besondere Gnade Gottes und durch Mitteilung der göttlichen Liebe geordnet war. Abgesehen von dieser ganz besonderen Gnadengabe, die sicherlich nicht gering war, war der Heilige von Natur aus sehr fein, artig, freundlich und sanft, und alles dieses zusammen hatte zur Folge, dass er für seine himmlische Braut höchst weise und liebevoll Sorge trug. Zu dieser Sorgfalt hatte ihn überdies die Heiligkeit und ernste Würde, die er an ihr wahrnahm, schon von Anfang an bewogen; war sie ja doch die nächste Ursache, um derentwillen er jene himmlischen Gaben empfangen hatte.

So war er denn für die seligste Jungfrau beständig besorgt und fragte sie oft, ob sie nicht ermüdet sei und womit er ihr dienen oder eine Erleichterung verschaffen könne. Da aber die Königin des Himmels im Heiligtum ihres jungfräulichen Schoßes bereits das göttliche Feuer, das menschgewordene Wort, trug, so fühlte der heilige Joseph, ohne die Ursache dessen zu kennen, durch die Worte und Ansprachen seiner geliebten Braut in seiner Seele ganz wunderbare Wirkungen; er gewahrte in sich eine glühendere Liebe zu Gott und ein tieferes Verständnis jener Geheimnisse, über welche sie sprachen, ein inneres Feuer und ein ungewohntes Licht, welches ihn ganz umwandelte und vergeistigte. Und je weiter sie ihre Wege und damit auch ihre himmlischen Unterredungen fortsetzten, desto mehr nahmen auch diese Gnaden zu, und Joseph erkannte, dass der Kanal dieser Gnaden nichts anderes sei als die Worte seiner Braut, welche sein Herz durchdrangen und den Willen mit göttlicher Liebe entflammten.

204. Dies war dem heiligen Joseph, diesem klugen Bräutigam, so auffallend und außerordentlich, dass er nicht umhin konnte, sich oft in Gedanken damit zu beschäftigen. Er wusste zwar, dass ihm alles durch Vermittlung der heiligsten Jungfrau zuteil wurde, und es wäre ihm, da er so verwundert war, ein großer Trost gewesen, die Ursache davon inne zu werden und ohne Neugierde danach zu fragen, allein in seiner großen Bescheidenheit wagte er es nicht, darüber eine Frage zu stellen. Der Himmel fügte es so; denn damals war die Zeit noch nicht gekommen, dass er das Geheimnis des Königs, das noch im jungfräulichen Schoß verborgen war, schon erfahre. Die Himmelskönigin sah ihren Bräutigam und wusste alles, was in seinem Innersten vorging. Bei ihrer klugen Überlegung dachte sie wohl daran, dass ein Bekanntwerden ihres Zustandes natürlicherweise unvermeidlich sei und dass er ihrem geliebtesten und keuschesten Bräutigam unmöglich verborgen bleiben könne. Die Art und Weise, wie Gott dieses Geheimnis durchführen würde, wusste die hehre Königin damals noch nicht. Auch hatte sie vom Herrn keine Weisung und keinen Befehl erhalten, die Sache geheimzuhalten; allein ihre himmlische Klugheit und Bedachtsamkeit sagten ihr doch, dass es gut sei, dieselbe als ein großes Geheimnis, ja als das größte aller Geheimnisse, verborgen zu halten. Und so hielt sie es denn geheim, ohne mit ihrem Bräutigam auch nur ein Wort darüber zu sprechen, weder bei dieser Gelegenheit, noch vorher bei der Verkündigung des Engels, noch später, als der heilige Joseph ihren gesegneten Zustand gewahrte und, wie wir seinerzeit beschreiben werden, darüber in Unruhe geriet.

205. O wunderbare Umsicht, o übermenschliche Klugheit! Die große Königin überließ sich ganz der göttlichen Vorsehung und wartete ab, was diese verfügen würde; doch bereitete es ihr Sorge und Pein, da sie die Unruhe, in welche ihr heiliger Bräutigam kommen konnte, voraussah und erwog, dass sie ihn nicht vor derselben bewahren oder davon befreien könne. Diese Besorgnis steigerte sich noch beim Gedanken an die so große Liebe und Aufmerksamkeit des heiligen Joseph, ihr zu dienen, und an ihre Pflicht, dieselbe zu erwidern durch alles, was klugerweise möglich war. Sie verrichtete hierfür besondere Gebete und stellte dem Herrn ihre Unruhe vor und ihr Verlangen, das Richtige zu treffen, sowie die Hilfe, welche der heilige Joseph bei jenem Anlass nötig haben werde. Sie flehte, dass Gott in allem ihr beistehen und sie leiten wolle. In diesem Zustand der Ungewissheit erweckte die heiligste Jungfrau große und heroische Akte des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe, der Klugheit, der Demut, der Geduld und der Stärke, und allem, wozu sich Gelegenheit bot, gab sie die Fülle der Heiligkeit; denn in jeder Sache tat sie das Vollkommenste.

206. Diese Reise war die erste Pilgerfahrt, welche das menschgewordene Wort in der Welt machte, vier Tage, nachdem es in sie eingetreten war; denn seine glühendste Liebe konnte nicht länger zögern, das Feuer, welches in der Welt zu verbreiten es gekommen war, zum ersten Male zu entzünden, indem es die Heiligung der Menschen in seinem Vorläufer begann. Diese Behendigkeit teilte es auch seiner heiligsten Mutter mit, damit diese mit Eile sich aufmachte und Elisabeth besuchte. Die himmlische Königin diente bei dieser Gelegenheit dem wahren Salomon als «Sänfte» (Hld 3, 9), war jedoch reicher, geschmückter und leichter als die des ersten Salomon, mit welcher dieser selbst sie verglichen hat. So war auch diese Reise viel reicher an Glorie, Jubel und Pracht für den Eingebornen des Vaters; denn er reiste mit Ruhe im jungfräulichen Schoß seiner Mutter und erfreute sich der Liebeswonne, mit welcher sie ihn anbetete, verherrlichte, betrachtete, anredete, hörte und ihm antwortete; denn sie allein, welche damals die Schatzkammer des höchsten Königs und das Heiligtum des «großen Geheimnisses» war, sie allein brachte ihm in ihrem eigenen Namen und im Namen des ganzen Menschengeschlechtes weit mehr Verehrung und Dank dar als alle Menschen und Engel zusammen.

207. Während dieser Reise, welche vier Tage dauerte, übten die heiligen Pilger Maria und Joseph nicht nur jene Tugenden, welche sich unmittelbar auf Gott beziehen, und andere innere Tugendakte, sondern sie verrichteten auch viele Werke der Nächstenliebe; denn ihre Liebe konnte angesichts der Hilfsbedürftigen nicht untätig sein. Sie fanden nicht in allen Herbergen Aufnahme; denn einige von den Herbergsbesitzern waren roh und wiesen sie in ihrer natürlichen Rücksichtslosigkeit ab; andere dagegen waren von der göttlichen Gnade bewegt und nahmen sie mit Liebe auf. Die Mutter der Barmherzigkeit aber verweigerte niemandem einen Liebesdienst, wenn es ihr möglich war; sie war bedacht, soweit es auf schickliche Weise geschehen konnte, die Armen, Kranken und Betrübten zu besuchen oder zu treffen, und allen kam sie zu Hilfe, allen spendete sie Trost oder heilte auch ihre Krankheiten. Ich verweile jedoch nicht länger beim Aufzählen aller dieser Fälle; ich will nur von dem Glück eines armen, kranken Mädchens sprechen, das unsere große Königin in einem Dorf fand, durch welches sie am ersten Tage der Reise kam. Als sie das Mädchen erblickte, wurde sie durch dessen sehr schwere Krankheit vom zartesten Mitleid gerührt, und indem sie Gebrauch machte von ihrer Macht als Herrin aller Geschöpfe, gebot sie dem Fieber, diese Person zu verlassen, und den Säften, sich zu ordnen und in ihren normalen Stand zurückzukehren. Durch dieses Gebot und durch die süßeste Gegenwart der reinsten Jungfrau Maria wurde die Kranke augenblicklich von ihrem körperlichen Leiden befreit und gesund und auch der Seele nach gebessert; sie machte in der Folge Fortschritte im Guten und gelangte zu einem vollkommenen und heiligen Leben; denn das Andenken und die Erinnerung an die Urheberin ihres Glücks blieb ihrem Geist allezeit eingeprägt, und ihr Herz bewahrte eine zärtliche Liebe für dieselbe, obwohl sie die heiligste Jungfrau später nie mehr sah und das Wunder verborgen blieb.

208. Die heiligste Mutter und Joseph, ihr Bräutigam, setzten die Reise fort und kamen am vierten Tage zur Stadt Juda, wo Elisabeth und Zacharias lebten. Juda war der Eigenname dieses Ortes, an welchem zu dieser Zeit die Eltern des heiligen Johannes lebten, und so hat ihn auch der heilige Evangelist Lukas bezeichnet, indem er ihn «Juda» nennt. Zwar sind die meisten Schriftausleger der Ansicht, dieser Name sei nicht der Eigenname der Stadt, in welcher Elisabeth und Zacharias wohnten, sondern der allgemeine Name der Provinz, welche «Juda» oder «Judäa» hieß, wie denn auch das Gebirge, welches sich vom Osten Jerusalems gegen den Süden hinzieht, «das Gebirge von Judäa» heißt. Es ist mir aber geoffenbart worden, dass die Stadt «Juda» hieß und dass der Evangelist sie mit ihrem Eigennamen genannt hat, obgleich die Gottesgelehrten und Ausleger unter dem Namen Juda die Provinz verstanden, wozu sie gehörte. Der Grund hiervon aber ist, weil die Stadt, welche den Namen Juda führte, einige Jahre nach dem Tod unseres Herrn Jesu Christi zerstört wurde; da nun die Ausleger keine Erwähnung dieser Stadt vorfanden, so glaubten sie, der heilige Lukas habe mit dem Namen Juda die Provinz und nicht den Ort bezeichnet; und daher kommt die Verschiedenheit der Meinungen über die Frage, welches die Stadt sei, in welcher der Besuch der heiligsten Jungfrau bei Elisabeth stattgefunden hatte.(Auch die gottselige Anna Katharina Emmerich gibt «Juta» als Ortsnamen an. P. Alexander Bassi nimmt denselben für das im Buch Josue [15, 55] genannte Jota [Pellegrinaggio storico di Terra santa, Torino 1857]. Über die dortigen Ruinen vgl. Mislin, die heiligen Orte, Bd. III. S. 131. - Gratz [Handbuch der bibi. Länderkunde. S. 359] sagt: «Jotta, eine Levitenstadt im Stamme Juda, heißt bei Hieronymus Jethan und dürfte mit dem heutigen Yutta, zwei Stunden südlich von Hebron, zusammengestellt werden. Mehrere Schrifterklärer nehmen an, dass Maria in diese Stadt zu ihrer Base Elisabeth gekommen sei». Vgl. Calmet. in Luc. 1, 39. Der Herausgeber).

209. Weil der Gehorsam mir aufgelegt hat, diesen Punkt genauer zu erklären, wegen des Befremdens, welches er hervorrufen kann, und ich diesem Befehl bereits genügt habe, so füge ich bei, dass das Haus des Zacharias und der Elisabeth, wo die Heimsuchung stattfand, an der nämlichen Stelle war, wo diese heiligen Geheimnisse jetzt von den Gläubigen und den Pilgern verehrt werden, welche die heiligen Stätten Palästinas besuchen oder dort leben. Obwohl nämlich die Stadt Juda, wo des Zacharias Haus stand, zerstört wurde, so ließ doch der Herr nicht zu, dass das Andenken an so verehrungswürdige Stätten verloren ging, an denen so große Geheimnisse sich erfüllt haben und welche geheiligt sind durch die Tritte der heiligsten Jungfrau, unseres Herrn Jesu Christi, Johannes des Täufers und seiner heiligen Eltern. So haben die alten Gläubigen, welche dort Kirchen bauten und die heiligen Orte wiederherstellten, ein himmlisches Licht erhalten, um mit diesem und einigen Überlieferungen die Wahrheit hierüber zu finden und das Andenken an so wunderbare Geheimnisse zu erneuern, damit wir Gläubige, die in dieser Zeit leben, des Glückes uns erfreuen, dieselben Geheimnisse dadurch zu ehren und zu feiern, dass wir den katholischen Glauben an den geheiligten Stätten unserer Erlösung öffentlich bekennen.

210. Zum besseren Verständnisse des Gesagten möge man nur beachten, dass der Satan, nachdem er beim Tod Unseres Herrn Jesu Christi inne geworden, dass derselbe Gott und Erlöser der Menschen sei, mit unglaublicher Wut darauf ausging, sein Andenken - wie der Prophet Jeremias (Jer 11,19) sagt - «aus dem Land der Lebendigen zu vertilgen» und ebenso das seiner heiligsten Mutter. So bewirkte er einmal, dass das heiligste Kreuz verborgen und in die Erde vergraben wurde; ein anderes Mal, dass es nach Persien in die Gefangenschaft kam; und in derselben Absicht brachte er es zuwege, dass viele heilige Orte zerstört und vernichtet wurden. Daher kam es auch, dass die heiligen Engel so oft das verehrungswürdige und heilige Haus von Loretto an einen andern Ort getragen haben; denn der Drache, welcher die Himmelskönigin verfolgte, hatte bereits die Gemüter der Bewohner des Landes dahin gebracht, dass sie diese geheiligte Kapelle, in welcher das erhabenste Geheimnis der Menschwerdung sich vollzog, zerstören und vernichten wollten. Dieselbe Arglist des bösen Feindes war schuld, dass auch die alte Stadt Juda zerstört wurde, teils durch die Nachlässigkeit der Bewohner, welche nach und nach ausstarben, teils auch durch Unglücksfälle. Doch das Haus des Zacharias ließ der Herr wegen der dort gefeierten Geheimnisse nicht ganz zugrunde gehen und zerstört werden.

211. Diese Stadt war, wie gesagt, siebenundzwanzig Stunden von Nazareth und ungefähr zwei Stunden von Jerusalem entfernt, in der Richtung nach dem Gebirge Judäas hin, wo der Fluss Sorek entspringt. Nachdem der heilige Johannes geboren und die heiligste Jungfrau mit dem heiligen Joseph nach Nazareth zurückgekehrt war, erhielt die heilige Elisabeth eine göttliche Erleuchtung, dass den Kindern von Bethlehem und der Umgebung ein großes Unglück ganz nahe bevorstehe. Obwohl diese Offenbarung nur allgemein, nicht deutlicher und bestimmter gegeben wurde, trieb sie doch die Mutter des heilige Johannes an, sich mit ihrem Gemahl Zacharias nach Hebron zurückzuziehen, welches ungefähr acht Stunden von Jerusalem entfernt war. Sie taten dies, weil sie reich und vornehm waren und nicht bloß in Juda und Hebron, sondern auch an anderen Orten Häuser und Güter besaßen. Als die heiligste Jungfrau und Joseph auf der Flucht vor Herodes nach Ägypten zogen, was einige Monate nach der Geburt des Heilandes und etwas länger nach der Geburt des Täufers geschah, hielten sich Elisabeth und Zacharias zu Hebron auf. Zacharias starb vier Monate nach der Geburt Unseres Herrn Jesu Christi, zehn nach der Geburt seines Sohnes, des heiligen Johannes.

Das Gesagte scheint mir nun hinreichend, um diesen Zweifel aufzuklären und zu zeigen, dass das Haus der Heimsuchung weder zu Jerusalem, noch zu Bethlehem, noch zu Hebron war, sondern in der Stadt, welche Juda hieß. Ich habe dies, wie auch die übrigen Geheimnisse dieser göttlichen Geschichte durch das Licht des Herrn erkannt, und nachher hat der heilige Engel mir dies aufs neue erklärt, als ich ihn infolge eines neuen Befehls nochmals darüber befragte.

212. Die heiligste Jungfrau und der heilige Joseph gelangten endlich in diese Stadt Juda und zum Hause des Zacharias. Der heilige Bräutigam ging einige Schritte voraus, um die Bewohner des Hauses vorzubereiten, und rief ihnen den Gruß zu: «Der Herr sei mit euch und erfülle eure Seelen mit seiner göttlichen Gnade !» Die heilige Elisabeth war schon vorbereitet; denn der Herr hatte ihr geoffenbart, dass ihre Base Maria vor Nazareth abreise, um sie zu besuchen; durch dasselbe Gesicht hatte sie auch erfahren, dass die himmlische Königin den Augen des Herrn sehr wohlgefällig sei; allein das Geheimnis, dass sie Mutter Gottes sei, wurde ihr nicht eher geoffenbart, als da beide sich allein begrüßten. Indes ging Elisabeth sogleich mit einigen Personen ihrer Familie hinaus, um die heiligste Jungfrau Maria zu empfangen; diese kam als die demütigere und jüngere ihrer Base mit dem Gruß zuvor und sagte zu ihr: «Der Herr sei mit dir, meine Base und meine Teuerste». «Der Herr», antwortete Elisabeth, «vergelte es dir, dass du gekommen bist, mir diesen Trost zu bereiten». Unter dieser Begrüßung traten sie in das Haus des Zacharias ein, und als beide sich zurückgezogen hatten und allein beieinander waren, erfolgte, was ich im folgenden Hauptstück erzählen werde.

LEHRE, welche unsere Königin und Herrin mir gab

213. Meine Tochter, wenn der Mensch die gebührende Hochachtung hat für die guten Werke und für die Befehle, welche der Herr zu seiner Ehre ihm auferlegt, so erhält er dadurch eine große Leichtigkeit, um dieselben auszuführen, eine große, höchst süße Lieblichkeit, um sie zu beginnen, und sorgfältige Behendigkeit, um sie fortzusetzen und zu vollenden. Und diese Wirkungen bezeugen, dass diese Befehle wahr und die Werke nützlich sind. Doch kann die Seele diese Wirkung nicht fühlen und diese Erfahrung nicht machen, wenn sie nicht dem Herrn ganz unterworfen ist, Augen und Ohren auf Gottes Willen richtet, um denselben mit Freude zu vernehmen und mit Behendigkeit auszuführen, dabei ihrer eigenen Neigung und Bequemlichkeit ganz vergessend, gleich dem treuen Diener, welcher einzig danach trachtet, den Willen seines Herrn zu tun, nicht aber seinen eigenen. Dies ist die Weise, mit Furcht zu gehorchen, wie alle Geschöpfe es Gott schuldig sind, und noch vielmehr die Ordensfrauen, welche es so versprochen haben. Damit du, Teuerste, dies in vollkommener Weise tuest, so erwäge, mit welcher Hochachtung David an vielen Stellen von den Geboten des Herrn redet, von seinen Worten und seinen Satzungen, von den Wirkungen, welche sie in ihm, dem Propheten, hervorgebracht haben und noch zur Stunde in den Seelen hervorbringen. Denn er bekennt, dass sie den Kindern Weisheit verleihen, des Menschen Herz erfreuen, die Augen der Seele erleuchten; dass sie ein hellstrahlendes Licht waren für seine Füße, dass sie süßer sind als Honig, feuriger zu verlangen und höher zu schätzen sind als Gold und die kostbarsten Edelsteine. Diese behende Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes und sein Gesetz machte den König David zum Mann nach dem Herzen Gottes, denn solche Diener und Freunde will Seine Majestät.

214. Achte also, meine Tochter. mit großer Hochschätzung auf alle Werke der Tugend und Vollkommenheit, welche du als Gott wohlgefällig erkennst; schätze keines gering; widersetze dich nicht, noch lasse ab, sie zu tun, wenn auch deine Neigungen und deine Schwachheit dir noch so große Schwierigkeit bereiten. Mache dich ans Werk mit dem Vertrauen auf den Herrn, dass seine Macht alle Schwierigkeiten sogleich überwinden werde; und alsbald wirst du durch eine glückliche Erfahrung dich überzeugen. wie leicht die Bürde und wie lieblich das Joch des Herrn ist und dass er mit diesem Wort nicht getäuscht hat, wie die Lauen und Nachlässigen annehmen wollen, welche durch ihre Trägheit und ihr Misstrauen diese Wahrheit stillschweigend leugnen. Ferner ist es mein Wille, dass du. um mich in dieser Vollkommenheit nachzuahmen, die Wohltat betrachtest, welche Gottes Güte mir erwies, indem sie mir die zärtlichste. mitleidsvollste Liebe zu den Menschen verlieh, als zu Geschöpfen, welche an der Güte und an dem Sein Gottes teilnehmen. In dieser liebevollen Gesinnung verlangte ich, alle Seelen zu trösten, zu erleichtern und zu ermutigen. Aus angeborenem Mitleiden verschaffte ich ihnen jedes geistliche und leibliche Gut. Keinem Menschen und wäre er auch der größte Sünder gewesen, habe ich je etwas Böses gewünscht, vielmehr neigte sich mein mitleidsvolles Herz gerade zu diesen mit großer Macht, um ihnen das ewige Heil zu erlangen. Eben diese mitleidsvolle Gesinnung war auch der Grund, warum der Schmerz, den mein Bräutigam Joseph bei Wahrnehmung meines gesegneten Zustandes voraussichtlich erdulden sollte, mich in bange Unruhe versetzte; war ich ja doch gerade ihm mehr zum Dank verpflichtet als allen anderen. Dieses zarte Mitleid hatte ich ganz besonders für die Betrübten und Kranken und allen suchte ich irgendeine Erleichterung zu verschaffen. Ich verlange, dass du mit Klugheit und so gut du es verstehst. mir in dieser Handlungsweise nachfolgst.

SIEBZEHNTES HAUPTSTÜCK: Heiligung des Johannes. Magnifikat

Der Gruß, welchen die Himmelskönigin zur heiligen Elisabeth sprach und die Heiligung des Johannes.

215. Als die heiligste Mutter Maria in das Haus des Zacharias kam, war der künftige Vorläufer unseres Heilandes Jesu Christi sechs Monate in dem Schoß seiner heiligen Mutter Elisabeth gewesen. Sein Körper war in natürlicher Hinsicht sehr vollkommen, vollkommener als bei anderen Menschen, weil er auf wunderbare Weise von einer unfruchtbaren Mutter empfangen und weil er von Gott bestimmt und auserwählt war, das Gefäß der größten Heiligkeit zu werden, die unter einer Frau Geborenen zu finden war (Mt 11,11). In seiner Seele aber herrschte damals noch die Finsternis der Sünde, welche er in Adam auf sich geladen hatte, wie die übrigen Kinder des ersten, gemeinschaftlichen Vaters des Menschengeschlechtes. Da nun nach dem göttlichen und allgemeinen Gesetz die Menschen das Licht der Gnade nicht erlangen können, ehe sie das natürliche Licht der Sonne erblickt haben, darum ist seit der ersten Sünde, welche man mit der Natur ererbt, der Mutterschoß gleichsam ein Gefängnis für alle, die wir in Adam, unserem Vater und Haupt, schuldbeladen geworden sind. Was aber Johannes betrifft, so hatte unser Herr Jesus Christus beschlossen, ihm als seinem großen Propheten und Vorläufer diese große Gnade früher als anderen zuzuwenden und das Licht der Gnade und Rechtfertigung ihm zum voraus mitzuteilen, nämlich sechs Monate nach seiner Empfängnis im Schoß der heiligen Elisabeth; seine Heiligkeit sollte eine außergewöhnliche sein, wie auch sein zukünftiges Amt als Vorläufer und Täufer ein außergewöhnliches war.

216. Nachdem die heiligste Jungfrau ihrer Base Elisabeth den ersten Gruß gegeben, zogen sich beide allein zurück, wie ich am Ende des vorigen Hauptstücks gesagt habe. Dann grüßte die Mutter der Gnade ihre Base aufs neue und sagte: «Gott grüße dich, meine teuerste Base, und sein göttliches Licht teile dir Gnade und Leben mit». Bei diesen Worten der heiligsten Jungfrau Maria wurde Elisabeth vom Heiligen Geiste erfüllt und ihr Inneres so sehr erleuchtet, dass sie in einem Augenblick die erhabensten Geheimnisse erkannte. Diese Wirkungen sowie diejenigen, welche zu gleicher Zeit das Kind Johannes im Schoß seiner Mutter fühlte, kamen von der Gegenwart des menschgewordenen Wortes im Schoß Mariä; es gebrauchte der Herr die Stimme seiner Mutter als Werkzeug durch welches er die Macht auszuüben begann, welche de ewige Vater ihm gegeben, die Seelen als ihr Erlöser zu rechtfertigen und selig zu machen. Da der Heiland dies als Mensch ausführte, so nahm er, - o Wunder ! - im jungfräulichen Schoß seiner Mutter mit seinem kleinen, erst seit acht Tagen empfangenen Körperchen eine demütige Stellung und Haltung an, um in dieser Weise seinen Vater zu bitten; er bat und flehte um die Rechtfertigung seines künftigen Vorläufers, und er erlangte diese von der allerheiligsten Dreifaltigkeit.

217. Der heilige Johannes im Mutterschoß war der dritte, für welchen unser göttlicher Erlöser, während er im Schoß der heiligsten Jungfrau Maria sich befand, im besonderen betete. Maria war nämlich die erste, für welche er an seinen Vater Dank- und Bittgebete richtete, als ihr Bräutigam nahm der heilige Joseph den zweiten Platz in den Gebeten des menschgewordenen Wortes ein, wie wir im zwölften Hauptstück gesagt haben; und als dritter kam der Vorläufer Johannes in den besondern Gebeten des Herrn für bestimmte, mit Namen bezeichnete Personen. So groß war das Glück und das Vorrecht des heiligen Johannes. Unser Herr Jesus Christus stellte dem ewigen Vater seine Verdienste vor, das Leiden und den Tod, welche er für die Menschen auf sich nehmen wollte, und in Kraft dessen bat er um die Heiligung dieser Seele. Er nannte und bezeichnete dabei das Kind, welches heilig geboren werden sollte, um sein Vorläufer zu sein und der Welt Zeugnis zu geben von seiner Ankunft, und die Herzen seines Volkes zu bereiten, damit sie ihn erkennen und aufnehmen möchten. Er bat, dass dieser auserwählten Person für ein so erhabenes Amt alle geziemenden Gnaden, Gaben und Vorrechte verliehen würden; und der Vater gewährte alles, wie sein menschgewordener Sohn verlangt hatte.

218. Dies ging dem Gruß und der Stimme der heiligsten Jungfrau voraus. Als die himmlische Königin sodann die obigen Worte aussprach, schaute Gott auf das Kind im Schoß der heiligen Elisabeth und gab ihm den vollkommensten Gebrauch der Vernunft, indem er es mit göttlichem Licht auf besondere Weise erleuchtete, damit es die ihm zu erweisende Gnade erkenne und sich darauf vorbereite. Nach dieser Vorbereitung wurde es von der Erbsünde gereinigt und geheiligt, als Kind Gottes angenommen und vom Heiligen Geiste mit überreicher Gnade und mit der Fülle der Gaben und Tugenden ausgerüstet. Alle seine Seelenkräfte wurden geheiligt und der Vernunft unterworfen. So erfüllte sich, was der heilige Erzengel Gabriel zu Zacharias gesagt hatte, dass nämlich sein Sohn schon im Mutterschoß mit dem Heiligen Geiste erfüllt werde. Zu gleicher Zeit sah das glückliche Kind von seinem Ort aus im Schoß seiner Mutter das menschgewordene Wort im jungfräulichen Schoß Mariä wie im reinsten Kristall; und es betete seinen Schöpfer und Erlöser auf den Knien an. Dies war die Bewegung und der Jubel, welche die heilige Mutter Elisabeth an ihrem Kinde und in ihrem Schoß wahrnahm und fühlte. Der kleine Johannes erweckte beim Empfang dieser Gnade noch viele andere Akte; er übte die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe, der Gottesverehrung, der Dankbarkeit, der Demut, der Hingebung an Gott und alle anderen, deren Übung ihm damals möglich war. In diesem Augenblick fing er an, Verdienste zu sammeln und in der Heiligkeit zu wachsen; niemals verlor er diese und niemals ließ er ab, mit der vollen Kraft der Gnade zu wirken.

219. Die heilige Elisabeth erkannte zu gleicher Zeit das Geheimnis der Menschwerdung, die Heiligung ihres eigenen Sohnes sowie das Ziel und die Geheimnisse dieses neuen Wunders. Sie erkannte auch die jungfräuliche Reinheit und die Würde Mariä. Da die Himmelskönigin bei diesem Anlass ganz versenkt war in die Anschauung dieser Geheimnisse und der Gottheit, welche dieselben in ihrem heiligsten Sohn wirkte, so war sie wie vergöttlicht und erfüllt von dem Licht und der Klarheit der Gloriengaben, an welchen sie teilhatte. Die heilige Elisabeth erblickte sie in dieser Majestät und sah auch, wie durch reinstes Glas, das menschgewordene Wort im jungfräulichen Schoß wie in einer Sänfte von feurigem, belebtem Kristall. Das Werkzeug aller dieser wunderbaren Wirkungen war die Stimme(Christus fecit Mariam salutare Elisabeth, ut sermo procedens de utero Matris, ubi habitabat Dominus, per aures Elisabeth ingressus, descenderet ad Joannem, ut illic eum ungeret in prophetam. Bernardinus a Bustis, Marial. [p. 6. s. 1.]). der heiligsten Jungfrau Maria, die ebenso stark und mächtig, als lieblich in den Ohren des Allerhöchsten war. Und alle diese Kraft strömte sozusagen aus der Kraft jener mächtigen Worte: «Fiat mihi secundum verbum tuum - Es gescheha mir nach deinem Wort !» mit welchen sie das ewige Wort vom Schoß des Vaters in ihren Geist und in ihren Schoß herabgezogen hatte.

220. Voll Staunen über das, was sie bei diesen so göttlichen Geheimnissen erkannte und fühlte, wurde die heilige Elisabeth vom Heiligen Geist mit geistlichem Jubel erfüllt, und hinblickend auf die Königin der Welt und auf den, welchen sie in ihr schaute, brach sie mit lauter Stimme in die Worte aus, welche der heilige Lukas berichtet: «Gebenedeit bist du unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes ! Und woher geschieht mir dies, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als die Stimme deines Grußes in meinen Ohren erscholl, hüpfte das Kind freudig auf in meinem Leib. Selig bist du, dass du geglaubt hast; denn was dir von dem Herrn gesagt worden ist, wird alles vollkommen in Erfüllung gehen (Lk 1, 42 ff)». In diesen prophetischen Worten fasste die heilige Elisabeth die hohen Vorzüge der heiligen Jungfrau Maria zusammen, da sie im göttlichen Licht erkannte, was der Allmächtige in ihr vollbracht hatte, was er gegenwärtig in ihr wirkte und was in der Zukunft geschehen sollte. Auch der kleine Johannes erkannte und verstand dies im Schoß seiner Mutter, deren Worte er vernahm; diese aber, bei seiner Heiligung erleuchtet, pries die heiligste Jungfrau in ihrem und des Kindes Namen als das Werkzeug ihres Glückes, da Johannes im Mutterschoß sie mit seinem Mund nicht loben und preisen konnte.

221. Auf die Worte, mit welchen die heilige Elisabeth unsere Königin pries, antwortete diese große Lehrmeisterin der Weisheit und Demut indem sie dieselben alle auf ihren Urheber zurückführte. Mit süßester und lieblichster Stimme begann sie den Lobgesang Magnificat welchen der heilige Lukas berichtet: «Hochpreist meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heiland ! Denn er hat angesehen die Niedrigkeit seiner Magd; denn siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter; denn Großes hat an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Er ist barmherzig von Geschlecht zu Geschlecht denen, die ihn fürchten. Er übt Macht mit seinem Arm; zerstreut, die da hoffärtig sind in ihres Herzens Sinne. Die Gewaltigen stürzt er vom Thron, und erhöht die Niedrigen. Die Hungrigen erfüllt er mit Gütern, die Reichen lässt er leer ausgehen. Er nimmt sich Israels an, seines Knechtes, eingedenk seiner Barmherzigkeit; wie er zu unsern Vätern gesprochen hat, zu Abraham und seinen Nachkommen auf ewig (Lk 1, 46 ff)».

222. Wie die heilige Elisabeth diesen süßen Lobgesang aus dem Mund der heiligsten Jungfrau Maria zuerst vernahm, so war sie auch die erste, welche ihn verstand und mit der ihr eingegossenen Erkenntnis auslegte. Sie erkannte darin große Geheimnisse, welche seine Urheberin in so wenigen Worten zusammengefasst hatte. Der Geist der heiligen Jungfrau pries den Herrn wegen der Erhabenheit seines unendlichen Wesens. Ihm spendete sie als dem Anfang und dem Endziel aller seiner Werke alle Ehre und alles Lob. Sie erkannte und verkündete, dass jedes Geschöpf in Gott allein sich rühmen und erfreuen darf, da er allein all sein Gut und sein Heil ist. Sie bekannte auch die Gerechtigkeit und Größe Gottes, welche er beweist, indem er auf die Niedrigen schaut und ihnen seinen Geist und seine göttliche Liebe im Überfluss mitteilt; und wie gebührenderweise alle Menschen sehen, verstehen und erwägen müssen, dass Maria durch ihre Demut erlangt hat, von allen Geschlechtern selig gepriesen zu werden, und dass alle Demütigen das nämliche Glück, ein jeder nach seinem Grade, verdienen werden. Sie hat auch in einem einzigen Worte alle Erbarmungen, Wohltaten und Gnaden ausgesprochen, welche der Allmächtige und sein heiliger Name ihr verliehen; sie sagt dafür: «Großes»; denn nichts war klein bei der so unermesslich großen Empfänglichkeit und Disposition dieser großen Königin und Herrin.

223. Da die Erbarmungen des Allerhöchsten aus der Fülle der seligsten Jungfrau Maria überströmen auf das ganze Menschengeschlecht, und da sie die Himmelspforte ist, durch welche alle Erbarmungen gingen und noch gehen, und durch welche wir alle eintreten müssen zur Teilnahme an der Gottheit, darum hat sie bekannt, dass sich die Barmherzigkeit des Herrn durch sie über alle Geschlechter verbreiten werde, um sich allen mitzuteilen, welche ihn fürchten. Und gleichwie die unendlichen Erbarmungen Gottes die Niedrigen erhöhen und diejenigen aufsuchen, welche ihn fürchten, ebenso zerstreut und vernichtet der mächtige Arm seiner Gerechtigkeit diejenigen, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinne, und er wirft sie herab von ihrem Sitz, um die Armen und Demütigen auf denselben zu erheben. Diese Gerechtigkeit des Herrn hat mit wunderbarer Herrlichkeit sich zum ersten Mal gezeigt an Luzifer, dem Haupt der Hoffärtigen, und an seinen Anhängern, als der mächtige Arm des Allerhöchsten sie zerstreute und herabriss - denn sie selbst stürzten sich - von dem erhabenen Rang der Natur und Gnade, welchen Gott ihnen angewiesen hatte im ersten Willensbeschluss seines Geistes und seiner Liebe, die ja will, dass alle selig werden. Ihr Sturz war ihr Stolz, womit sie dahin emporsteigen wollten, wohin sie nicht gelangen konnten und nicht gelangen sollten. Durch diese Anmaßung erhoben sie sich gegen die gerechten und unerforschlichen Gerichte des Herrn, welche den stolzen Engel und all seine Anhänger zerstreuten und entthronten. An ihre Stelle aber wurden die Demütigen gesetzt, durch Vermittlung der heiligsten Jungfrau Maria, welche die Mutter und die Schatzmeisterin der «ewigen Erbarmungen» ist.

224. Aus demselben Grund sagt und bekennt die himmlische Königin, dass Gott die Armen bereichert hat, indem er sie erfüllt mit den überfließenden Schätzen seiner Gnade und Glorie; diejenigen aber, die reich sind in ihrer eigenen Einbildung, Vermessenheit und Anmaßung, und die ihr Herz mit den falschen Gütern anfüllen, welche die Welt Reichtum und Glück nennt, diese hat der Allerhöchste von sich gewiesen und weist sie weg, da sie leer sind an Wahrheit, die keinen Platz finden kann in Herzen voll Lug und Trug. Dagegen hat er Israel, seinen Sohn und Diener, aufgenommen, eingedenk seiner Barmherzigkeit, um ihn zu lehren, wo Klugheit ist, wo Wahrheit, wo Verstand, wo langes Leben und Unterhalt, wo das Licht der Augen und der Friede sich findet (Bar 3,14). Diesem zeigte er den Weg der Klugheit und die geheimen Pfade der Weisheit und Zucht (Bar 5, 37), welche den Fürsten der Völker verborgen war, und unbekannt den Mächtigen, die da herrschen über die Tiere der Erde, mit den Vögeln des Himmels sich unterhalten und spielen, und Schätze von Gold und Silber aufhäufen (Bar 5,16-18). Auch die Kinder der Agar haben diese Weisheit nicht erworben, noch die Bewohner von Theman (Bar 3, 22 ff), das heißt die stolzen Weisen und Klugen dieser Welt. Der Allerhöchste aber verleiht sie denjenigen, welche Kinder des Lichtes und Kinder Abrahams sind durch den Glauben, die Hoffnung und den Gehorsam; denn so hat er diesem und seiner geistlichen Nachkommenschaft versprochen durch die gebenedeite und glückselige Frucht des jungfräulichen Schoßes Mariä.

225. Alle diese tiefen Geheimnisse hat die heilige Elisabeth verstanden, als sie die Königin der Geschöpfe hörte. Ja die glückliche Frau erkannte nicht nur, was ich mitteilen kann, sondern noch viele andere und größere Geheimnisse, welche mein Verstand nicht erfasst. Auch will ich mich bei dem, was mir hierüber geoffenbart wurde, nicht länger aufhalten; ich würde sonst übermäßig ausführlich werden. Diese zwei heiligen und weisen Frauen, die heiligste Jungfrau und ihre Base Elisabeth, haben mich aber in ihren lieblichen und göttlichen Unterredungen an die zwei Seraphim erinnert, welche Jesaja über dem Thron des Allerhöchsten sah, wie sie abwechselnd das göttliche, ewig neue Loblied sangen:«Heilig, heilig» usw., und wie sie mit zwei Flügeln ihr Haupt bedeckten, mit zweien ihre Füße und mit den zwei anderen flogen. Sicher hat die brennende Liebe dieser heiligen Frauen die Liebe aller Seraphim übertroffen, ja die reinste Jungfrau Maria liebte allein Gott mehr als diese alle. Beide entzündeten sich an diesem göttlichen Feuer, und sie breiteten die Flügel ihres Herzens aus, um es einander zu eröffnen und zum erhabensten Verständnis der Geheimnisse des Allerhöchsten emporzufliegen. Mit zwei anderen Flügeln erhabener Weisheit bedeckten sie ihr Haupt, da sie sich verständigten, das Geheimnis des Königs ihr ganzes Leben lang für sich allein zu bewahren; wie auch deswegen, weil sie ihren Verstand unterwarfen und gefangen gaben, indem sie, ohne Stolz und ohne Neugierde, in Demut glaubten. Sie bedeckten auch die Füße des Herrn und ihre eigenen mit Seraphimsflügeln, da sie beim Anblick einer so großen Majestät in Geringschätzung ihrer selbst sich verdemütigten und vernichteten. Da endlich die heiligste Jungfrau in ihrem reinsten Schoß die Majestät Gottes einschloss, so können wir mit Recht und in voller Wahrheit sagen, dass sie den Thron bedeckte, auf welchem der Herr seinen Sitz hatte.

226. Als es Zeit war, dass die beiden Frauen ihre Zurückgezogenheit verließen, bot die heilige Elisabeth der Königin des Himmels ihre eigene Person als Magd, ihre ganze Familie aber und ihr Haus zum Dienst an und bat sie, für ihre Ruhe und Sammlung ein Zimmer anzunehmen, dessen sie sich selbst zum Gebete bediente, weil es am meisten abgelegen und darum für diese heilige Beschäftigung besonders geeignet war. Die himmlische Fürstin nahm dieses Zimmer mit demütigem Dank an; sie bestimmte es zu ihrer Sammlung und für ihren Schlaf, und niemand trat in es, außer diesen beiden Frauen. Fürs übrige bot sie sich an, der heiligen Elisabeth als Magd zu dienen und zu helfen, denn dazu, sagte sie, sei sie gekommen. O welche liebliche, wahre, unzertrennliche Freundschaft, geschlossen durch das stärkste Band der göttlichen Liebe ! O, wie wunderbar ist doch der Herr, dass er dieses große Geheimnis seiner Menschwerdung vor allen anderen Menschen drei Frauen offenbart: die erste war die heilige Anna, wie an seiner Stelle gesagt worden, die zweite war Maria, ihre heiligste Tochter, die Mutter des Wortes, die dritte war die heilige Elisabeth und ihr Sohn mit ihr; denn dieser wird, weil er noch im Schoß seiner Mutter war, nicht als eigene Person gerechnet. So ist, wie der heilige Paulus sagt, «was an Gott töricht scheint, weiser als die Menschen (1 Kor 1, 25)».

227. Die heiligste Jungfrau und Elisabeth traten erst beim Einbruch der Nacht aus ihrer Kammer, nachdem sie lange Zeit in derselben geblieben waren. Dann besuchte die Himmelskönigin den Zacharias, der noch stumm war. Als einen Priester des Herrn bat sie ihn um seinen Segen, und der Heilige gab ihr ihn. Wegen seiner Stummheit sah sie ihn zwar mit zärtlichem Mitleid an; da sie aber das Geheimnis, welches in dieser Prüfung beschlossen war, kannte, so wollte sie jetzt noch nicht abhelfen; doch betete sie für ihn. Die heilige Elisabeth, welche bereits das hohe Glück des keuschesten Bräutigams Joseph kannte, obwohl es diesem noch verborgen war, empfing und bediente ihn mit großer Hochachtung und Ehrfurcht. Nachdem der Heilige drei Tage im Haus des Zacharias zugebracht hatte, bat er seine heiligste Braut, sie möge ihm die Rückkehr nach Nazareth erlauben, selbst aber bei der heiligen Elisabeth zurückbleiben, damit sie ihr bis zur Geburt des Kindes beistehe. Er nahm Abschied und versicherte, dass er zu seiner heiligen Braut zurückkehren werde, wenn sie ihn benachrichtige. Die heilige Elisabeth bot ihm einige Geschenke an, damit er sie nach Hause mitnehme; allein er nahm nur sehr wenig an und auch dies nur auf ihr inständiges Bitten; denn der Mann Gottes war nicht nur ein Liebhaber der Armut, sondern besaß auch ein großmütiges und edles Herz. Und so kehrte er denn mit dem Lasttier, das er gebracht hatte, nach Nazareth zurück. Zu Hause bediente ihn in Abwesenheit seiner Braut eine benachbarte, verwandte Frau, die auch, wenn die heiligste Jungfrau zu Hause war, zu kommen pflegte, um die nötigen Ausgänge zu machen.

LEHRE, welche mir unsere Herrin und Königin gab

228. Meine Tochter, damit das brennende Verlangen nach Gottes Gnade und Freundschaft, welches ich immer in deinem Herzen sehe, sich noch mehr entzünde, wünsche ich sehr, dass du die erhabene Würde und das große Glück einer Seele erkennst, welche die Schönheit der Gnade empfängt; diese ist jedoch so wunderbar und von so hohem Wert, dass du sie, auch wenn ich sie dir offenbare, doch nicht begreifen und noch viel weniger mit Worten ausdrücken kannst. Schaue auf den Herrn und betrachte ihn in seinem göttlichen Licht, das du empfängst; in diesem Licht wirst du erkennen, dass es für den Herrn ein weit glorreicheres Werk ist, eine einzige Seele zu rechtfertigen, als alle Kreise des Himmels und der Erde in all ihrer Vollkommenheit und mit allem, was darauf ist, erschaffen zu haben. Wenn nun die Geschöpfe schon durch diese Wunder, die wir mittelst der leiblichen Sinne wahrnehmen, die Größe und Macht Gottes zum großen Teile erkennen, was würden sie erst sagen und urteilen, wenn sie mit den Augen der Seele sähen, wie kostbar und wertvoll die Schönheit der Gnade ist, und zwar in so vielen Geschöpfen, welche fähig sind, sie zu empfangen.

229. Es gibt keine Ausdrücke und keine Worte, welche imstande wären, das Wesen der Gnade als einer Teilnahme an der Natur und den Vollkommenheiten Gottes - denn dieses schließt die Heiligmachende Gnade ein - in gebührender Weise auszudrücken. Es ist nur ein weniges, wenn ich sage: sie ist reiner und weißer als der Schnee, glänzender als die Sonne, kostbarer als Gold und Edelstein, lieblicher, angenehmer und süßer als alle Vergnügungen und Ergötzungen, schöner als alles, was das Herz der Geschöpfe verlangen kann. Betrachte auch die Hässlichkeit der Sünde, um so die Gnade durch ihren Gegensatz besser kennenzulernen; denn weder Finsternis, noch Fäulnis, noch das Erschrecklichste, Fürchterlichste und Hässlichste kann mit der Sünde und ihrem üblen Geruch verglichen werden. Die Märtyrer und andere Heilige haben dies wohl erkannt; denn um die Schönheit der Gnade zu erhalten und um anderseits den Sturz in das unselige Verderben der Sünde zu vermeiden, haben sie nichts gefürchtet, weder das Feuer, noch die wilden Tiere, noch die Messer, noch Foltern, Gefängnisse, Schmach, Pein und Schmerzen, selbst nicht den Tod, noch langwieriges, beständiges Leiden; denn dieses alles ist weniger, oder vielmehr für nichts zu achten, wenn man dadurch auch nur einen einzigen Grad der Gnade erwerben kann. Jede Seele aber, wäre sie auch die verachtetste der Welt, kann diesen Grad der Gnade, ja sehr viele Grade erlangen. Doch von all dem wissen die Menschen nichts; sie schätzen und begehren nur die flüchtige und sinnenfällige Schönheit der Geschöpfe; was ihr entbehrt, ist ihnen gering und verächtlich.

230. Hieraus wirst du einigermaßen die Größe der Wohltat zu erkennen vermögen, welche das menschgewordene Wort seinem Vorläufer Johannes im Schoß seiner Mutter erwiesen hat; dieser hat sie erkannt und ist bei dieser Erkenntnis voll Freude und Jubel aufgehüpft. Du wirst auch ersehen, wie vieles du tun und leiden musst, um dieses Glück zu bewahren und diese Zierde nicht zu verlieren, oder sie durch eine, wenn auch noch so kleine Sünde zu beflecken, oder ihre Kraft durch irgend eine Unvollkommenheit zu schwächen. Auch ist es mein Wille, dass du mein Verhalten gegen meine Base Elisabeth nachahmest, also mit keinem Menschen Freundschaft schließest oder solche zulassest; nur mit solchen darfst du verkehren, mit denen du über die Werke des Allerhöchsten und über seine Geheimnisse sprechen kannst und sprechen musst, und welche dich den wahren Weg seines göttlichen Wohlgefallens lehren können. Endlich sollst du auch, wenn du wichtige Geschäfte und große Sorgen hast, dennoch die geistlichen Übungen und die Ordnung des vollkommenen Lebens nicht unterlassen oder verabsäumen; denn man muss dieser Ordnung treu bleiben nicht nur wenn es bequem geht, sondern auch bei den größten Widersprüchen, Schwierigkeiten und Geschäften, weil die unvollkommene Natur bei einem geringen Anlass erschlafft.

ACHTZEHNTES HAUPTSTÜCK: Lebensweise der seligsten Jungfrau im Haus ihr Base

Die heiligste Jungfrau ordnet ihre Übungen im Haus des Zacharias; einige Begebenheiten zwischen ihr und der heiligen Elisabeth.

231. Nachdem der Vorläufer Johannes geheiligt und seine Mutter, die heilige Elisabeth, durch große Gaben und Gnaden erneuert war, was der Hauptzweck der Heimsuchung der seligsten Jungfrau Maria gewesen, beschloss diese große Königin, die Beschäftigungen, welche sie im Haus des Zacharias vorzunehmen hatte, zu ordnen; denn diese konnten nicht in allem denjenigen gleichen, die ihr zu Hause oblagen. Um dieses Verlangen unter der Leitung des Heiligen Geistes auszuführen, sammelte sie sich, warf sich in Gegenwart des Allerhöchsten nieder und bat ihn, wie sie zu tun pflegte, dass er sie leiten und ihr gebieten wolle, was sie zu tun habe während ihres Aufenthaltes im Hause seiner Diener Zacharias und Elisabeth, damit sie in allem vollkommen vollbringe, was Seiner allerhöchsten Majestät am meisten gefalle. Der Herr hörte ihre Bitte und antwortete ihr: «Meine Braut, meine Taube, ich werde alle deine Handlungen leiten und deine Schritte zu meinem vollkommenen Dienst und Wohlgefallen lenken. Ich werde dir auch den Tag bezeichnen, an welchem ich will, dass du nach Hause zurückkehrest. Solange du im Hause meiner Dienerin Elisabeth bist, wirst du mit ihr umgehen; im übrigen setze deine Übungen und Gebete fort, namentlich für das Heil der Menschen; bete, dass ich nicht meine Gerechtigkeit an ihnen walten lassen muss wegen der beständigen Beleidigungen, welche sie immer häufiger gegen meine Güte begehen. In diesem Gebete wirst du mir das Lamm ohne Makel aufopfern, welches du in deinem Schoß trägst und welches die Sünden der Welt wegnimmt. Dies sollen für jetzt deine Beschäftigungen sein».

232. Die Fürstin des Himmels regelte alle ihre Beschäftigungen im Haus ihrer Base Elisabeth nach dieser neuen Belehrung und Anordnung des Allerhöchsten. Sie erhob sich immer um Mitternacht und lag dann beständig der Beschauung der göttlichen Geheimnisse ob, indem sie Wachen und Schlafen verteilte, wie dies dem natürlichen Stand des Körpers am vollkommensten entsprach. Sie erhielt da vom Allerhöchsten jederzeit neue Gnaden, Erleuchtungen, Freuden und Verzückungen. Oftmals hatte sie während dieser drei Monate Visionen der Gottheit, meist auf abstrakte Weise. Noch öfter schaute sie die heiligste Menschheit des Wortes in der hypostatischen Vereinigung; denn ihr jungfräulicher Schoß, in welchem sie den Sohn Gottes trug, diente ihr als beständiger Altar und als Oratorium. Sie sah, wie sein hoch heiliger Leib von Tag zu Tag wuchs. Durch dieses Schauen und durch die Geheimnisse, welche ihr täglich auf den unendlichen Gefilden der Gottheit und der göttlichen Allmacht geoffenbart wurden, stieg auch ihre Seele immer höher, und oft war sie bei dem Feuer ihrer Liebe und ihren glühenden Affekten nahe daran, ohnmächtig zu werden und zu sterben, und nur die Kraft des Herrn hielt sie aufrecht. Außer diesen innern Übungen, welche indes verborgen blieben, tat sie sodann auch alles, was zum Dienste und zum Trost ihrer Base, der heiligen Elisabeth, diente, wiewohl sie hierzu keinen Augenblick mehr verwendete, als die Liebe erheischte. Schnell kehrte sie in ihre einsame Kammer zurück, wo sich ihr Geist in Gegenwart des Herrn in größerer Freiheit ergoss.

233. Doch selbst während ihrer inneren Beschäftigung blieb sie nicht untätig, sondern verrichtete zugleich lange Zeit Handarbeiten. Der heilige Vorläufer hatte hierbei das überaus große Glück, dass diese große Königin mit ihren eigenen Händen die Windeln und Binden verfertigte, in welche er eingewickelt werden sollte. Denn die Frömmigkeit und Sorgfalt seiner Mutter hatte ihm dieses Glück erlangt, da sie mit der Demut einer Magd die Himmelskönigin darum gebeten hatte; diese aber tat es mit unglaublicher Liebe und aus Gehorsam, um eben diese Tugend zu üben und derjenigen zu gehorchen, welcher sie, wie die geringste ihrer Mägde, dienen wollte; denn in der Demut und im Gehorsam trug die seligste Jungfrau Maria stets den Sieg über alle davon. Zwar trachtete die heilige Elisabeth, ihr in vielen Stücken mit Dienstleistungen zuvorzukommen; allein Maria wusste in ihrer wunderbaren Klugheit und unvergleichlichen Weisheit ihr in allem voranzueilen, so dass sie in der Tugend immer den Triumph errang.

234. Zwischen den beiden verwandten Frauen herrschte hierin ein großer und liebevoller Wettstreit, welchen der Herr mit höchstem Wohlgefallen, die Engel aber mit Staunen sahen; denn die heilige Elisabeth war aufs äußerste besorgt, der großen Königin, unserer Herrin, zu dienen, und wachte, dass auch alle Angehörigen ihrer Familie dasselbe taten. Die heiligste Jungfrau Maria aber, die Meisterin aller Tugenden, war noch aufmerksamer und dienstfertiger; sie kam den Sorgen ihrer Base zuvor und sprach zu ihr: «Meine Freundin und Base, das ist eben mein Trost, dass man mir befiehlt, und dass ich mein ganzes Leben lang gehorche. Es ist nicht gut, dass deine Liebe mich dieses Trostes beraube; ich bin ja die jüngere, und dieser Grund erheischt, dass ich nicht allein dir wie meiner Mutter, sondern auch allen Angehörigen deines Hauses diene; behandle mich als deine Magd, solange ich bei dir bin». Die heilige Elisabeth antwortete: «Meine geliebte Herrin, mir steht es zu, zu gehorchen, dir aber, zu gebieten und mich in allen Dingen zu leiten; und wenn ich dich bitte, du wollest es tun, so habe ich weit mehr Grund als du; denn wenn du, o Herrin, die Demut üben willst, so schulde ich ehrfurchtsvollen Dienst meinem Herrn und Gott, den du in deinem jungfräulichen Schoß trägst. Auch kenne ich deine Würde, die alle Ehre und Hochachtung verdient». Darauf erwiderte die weiseste Jungfrau: «Mein Sohn und mein Herr hat mich nicht deshalb zu seiner Mutter erwählt, damit man mich während dieses Lebens als eine Herrin ehre; denn sein Reich ist nicht von dieser Welt. Er ist nicht in die Welt gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und zu leiden, und die Menschen Gehorsam und Demut zu lehren, indem er ihren Stolz und Prunk verurteilt.

Wenn nun Seine höchste Majestät mir diese Lehre gibt, wenn er sich selbst «der Leute Spott» (Ps 22, 7) nennt, wie kann dann ich, seine Dienerin, die ich der Gesellschaft der Geschöpfe nicht wert bin, einwilligen, dass mir diejenigen dienen, welche nach seinem Bild und Gleichniss geschaffen sind?»

235. Doch die heilige Elisabeth bestand auf ihrem Verlangen und sprach: «Meine Herrin und Beschützerin, dies mag für jene gelten, welche das in dir verborgene Geheimnis nicht kennen; ich dagegen habe ohne mein Verdienst vom Herrn diese Kenntnis erhalten und wäre darum vor ihm sehr tadelnswürdig, wenn ich ihm in dir nicht die Verehrung erwiese, die ich ihm als meinem Gott und dir als seine Mutter schulde. Es ist gerecht, dass ich euch beiden diene, wie eine Dienerin ihren Herren». Hierauf antwortete die heiligste Jungfrau Maria: «Meine Freundin und Schwester, die Ehrfurcht, welche du erweisen sollst und erweisen willst, gebührt dem Herrn, den ich in meinem Schoß trage. Er ist das wahre, höchste Gut und unser Heiland. Mich dagegen, die ich ein bloßes Geschöpf bin und unter den Geschöpfen ein bloßes Würmchen, mich musst du betrachten als das, was ich aus mir selbst bin, obgleich du den Schöpfer anbetest, der mich Arme zu seiner Wohnung erwählt hat. In dem Licht dieser Wahrheit wirst du Gott geben, was ihm gebührt, und mir, was mir zukommt. Dies ist aber nichts anderes, als dass ich diene und unter allen stehe, und dies ist es, um was ich dich bitte, zu meinem Trost und um des Herrn willen, den ich in meinem Schoß trage».

236. In solchen überaus seligen und heiligen Unterredungen brachten die heiligste Jungfrau Maria und ihre Base Elisabeth manche Zeit zu. Allein in dem, was Demut und Gehorsam angeht, war unsere Herrin in ihrer himmlischen Weisheit so eifrig und erfinderisch, dass sie stets den Sieg davontrug; denn immer fand sie Mittel und Wege, um zu gehorchen und Befehle zu erhalten. Und dies war ihr Verhalten der heiligen Elisabeth gegenüber, solange sie beieinander blieben. Dabei betrachteten aber beide in ihrer Weise das Geheimnis des Herrn mit aller Ehrfurcht, dieses Geheimnis, das ihren Herzen anvertraut war, und zwar der heiligsten Jungfrau Maria als der Mutter und Königin der Tugenden und Gnade, ihrer Base Elisabeth aber als einer höchst weisen und vom göttlichen Licht des heiligen Geistes erfüllten Frau. Mit diesem Licht ordnete Elisabeth ihr Verhalten gegen die Mutter Gottes, indem sie sich ihrer, soviel sie nur konnte, gefällig und gehorsam erwies und auf diese Weise ihre Würde und mit ihr zugleich ihren Schöpfer verehrte. Sie fasste auch den Vorsatz, dass, wenn sie der Mutter Gottes etwas befehle, sie dies nur tun werde, um ihr zu gehorchen und ihrem Willen zu entsprechen; und wenn sie dies tat, bat sie den Herrn um Erlaubnis und um Verzeihung. Zudem sprach sie ihren Willen nicht in gebieterischer, sondern in bittender Weise aus; und nur dann tat sie es mit mehr Nachdruck, wenn es sich darum handelte, der Königin eine Erholung zu verschaffen, zum Beispiel durch Speise und Schlaf. Sie ersuchte sie auch, einige Arbeiten für sie zu verfertigen. Die heilige Jungfrau tat es, jedoch bediente sich die heilige Elisabeth ihrer niemals, sondern bewahrte sie mit Verehrung.

237. Auf diese Weise übte die heiligste Jungfrau durch die Tat, was der menschgewordene Sohn Gottes lehren wollte, indem er, der Abglanz des ewigen Vaters, das Ebenbild seines Wesens, wahrer Gott vom wahren Gott, sich so tief erniedrigte, dass er Knechtsgestalt annahm und die Dienste eines Knechtes sich aufbürdete. Maria war die Mutter Gottes, die Königin alles Erschaffenen, an Rang und Würde über alle Geschöpfe erhaben, und dennoch war sie immer die demütige Magd des geringsten derselben. Niemals nahm sie eine Gefälligkeit oder einen Dienst an, als ob man ihr ihn schuldig wäre. Niemals überhob sie sich, niemals unterließ sie, von sich die geringste Meinung zu hegen. Was wird nun hierzu unser verabscheuungswürdiger Eigendünkel und Stolz sagen? Obwohl voll von abscheulichen Sünden, sind wir doch so verstandlos, in ekelhaftem Wahnsinn zu glauben, wir hätten ein Recht auf den Dienst und die Verehrung der ganzen Welt. Und wenn man uns dies vorhält, dann verlieren wir schnell das bißchen Verstand, welches die Leidenschaften uns noch gelassen haben. Diese ganze heilige Lebensgeschichte ist ein Musterbild der Demut und ein Verdammungsurteil gegen unsern Hochmut. Weil mir aber nicht obliegt zu lehren oder zurechtzuweisen, sondern belehrt und geleitet zu werden, darum bitte ich flehentlich alle gläubigen Kinder des Lichtes, dass wir alle miteinander dieses Beispiel uns vor Augen stellen, um bei seinem Anblick uns zu verdemütigen.

238. Es wäre dem Herrn nicht schwer gewesen, seine heiligste Mutter von dieser äußersten Demut und von vielen Handlungen, wodurch sie diese Tugend übte, abzuhalten. Er hätte sie vor den Menschen erhöhen und anordnen können, dass sie von allen erkannt, geehrt und geachtet werde mit jenen Ehrenbezeigungen, welche die Welt denen zu spenden weiß, welche sie ehren und feiern will, gleichwie Assuerus dem Mardochäus es getan. Hätte hier menschlicher Verstand zu entscheiden gehabt, er hätte wohl angeordnet, dass eine Frau, welche heiliger war als alle Chöre des Himmels, eine Frau, welche in ihrem Schoß den Schöpfer der Engel und des Himmels getragen, ein beständiges Ehrengeleite um sich habe, den Blicken der Menschen immer entzogen und von allen allezeit verehrt werde. Die Menschen hätten es als etwas Unwürdiges angesehen, dass sie sich mit so niedrigen Dienstleistungen beschäftige und darauf verzichte, zu gebieten, geehrt und angesehen zu sein. Soweit reicht die menschliche Weisheit, wenn man sie, die so wenig zu fassen vermag, überhaupt Weisheit nennen kann. Die wahre Weisheit dagegen, die Wissenschaft der Heiligen, ist einem solchen Irrtum nicht zugänglich; sie stammt aus der unendlichen Weisheit des Schöpfers, welcher den Ehren ihren wahren Namen und ihren wahren Wert beilegt und jedem seiner Geschöpfe gibt, was ihm gebührt. Der Allerhöchste hätte seiner lieben Mutter viel entzogen und wenig gegeben während dieses Lebens, wenn er sie der Werke der tiefsten Demut beraubt und sie mit dem äußeren Beifall der Menschen erhoben hätte; aber auch die Welt hätte verloren, wenn sie diese Schule nicht hätte, um zu lernen, und dieses Beispiel, um ihren Hochmut zu demütigen und zu beschämen.

239. Die heilige Elisabeth wurde von dem Tag an, da sie den Herrn im Schoß seiner jungfräulichen Mutter als Gast in ihrem Haus hatte, mit Gnaden überhäuft. Und da sie die Geheimnisse der Menschwerdung kannte und verstand, wuchs diese sehr heilige Frau durch die beständigen Unterredungen und den vertraulichen Umgang mit dieser himmlischen Königin in jeder Art von Heiligkeit; denn sie trank dieselbe an ihrer Quelle. Zuweilen hatte sie das Glück, die heiligste Jungfrau Maria im Gebete verzückt, vom Boden erhoben und so ganz voll himmlischen Glanzes und himmlischer Schönheit zu sehen, dass sie ihr nicht ins Antlitz schauen konnte, ja dass sie nicht einmal in ihrer Gegenwart hätte verweilen können, wenn nicht die Kraft Gottes sie gestärkt hätte. Bei solchen Gelegenheiten, wenn sie die heiligste Jungfrau unbemerkt sehen konnte, warf sie sich vor ihr auf die Knie nieder, um ihr ihre Ehrfurcht zu bezeigen und das menschgewordene Wort im Heiligtum des jungfräulichen Schoßes der seligsten Mutter anzubeten. Alle Geheimnisse, welche sie durch das göttliche Licht und durch den Verkehr mit der großen Königin inne wurde, bewahrte die heilige Elisabeth in ihrem Herzen als treueste und weiseste Hüterin des ihr Anvertrauten. Nur mit ihrem Sohn Johannes und mit Zacharias, solange dieser nach der Geburt seines Sohnes noch lebte, konnte sie etwas von den Geheimnissen sprechen, die ihnen allen bekannt waren; in jeder Hinsicht war sie eine starke, weise und sehr heilige Frau.

LEHRE, welche mir die heiligste Königin Maria gab

240. Meine Tochter, die Gaben des Allerhöchsten und die Erkenntnis seiner göttlichen Geheimnisse bringen in den aufmerksamen Seelen eine gewisse Neigung und Hochschätzung für die Demut hervor; diese aber stellt sie mit wirksamer und zugleich lieblicher Kraft an den ihnen gebührenden und natürlichen Platz, gleichwie die Leichtigkeit dies tut am Feuer und die Schwere beim Stein. Dies bewirkt das wahre Licht, welches das Geschöpf zur wahren Erkenntnis seiner selbst bringt und die Werke der Gnade auf Gott als ihren Ursprung zurückführt, von welchem jede vollkommene Gabe kommt, und auf diese Weise wird jeder an seinen rechten Platz gesetzt. Dies ist die ganz richtige Ordnung der gesunden Vernunft, welche von dem falschen Eigendünkel der Menschen gestört und wie mit Gewalt umgestoßen wird. Darum kann der Hochmut und das Herz, wo dieser lebt, die Verachtung nicht begehren noch annehmen, noch einen Obern ertragen, ja selbst gegen Seinesgleichen ist er ungehalten und gewalttätig in allem, um allein über allen zu stehen. Ein demütiges Herz dagegen vernichtigt sich desto mehr, je größere Wohltaten es empfängt, und diese geben ihm eine Begierde, ja einen brennenden, obwohl ruhigen Durst, sich zu erniedrigen und den letzten Platz zu suchen; ja es ist ihm, als tue man ihm Gewalt an, wenn es nicht unter allen steht und der Demütigung entbehrt.

241. Die vollkommene Ausführung dieser Lehre wirst du, meine Teuerste, an mir sehen; keine der Gnaden und Wohltaten, welche Gottes Güte mir verlieh, war klein; niemals erhob sich mein Herz, noch blies es sich auf mit Eigendünkel, noch begehrte es irgend etwas mehr, als die Erniedrigung und den letzten Platz unter allen Geschöpfen. Dass du mir hierin nachfolgst, das ist mein ganz besonderes Verlangen; sei eifrig besorgt, als die geringste von allen zu gelten, Befehle zu erhalten, erniedrigt und für unnütz geachtet zu werden. Vor Gott sowohl als vor den Menschen musst du dich für geringer halten als den Staub der Erde. Du kannst ja nicht leugnen, dass niemand mehr Wohltaten empfangen hat als du, obwohl niemand dieselben so wenig verdient; wie willst du nun diese große Schuld abtragen, wenn du dich nicht vor allen und unter alle Kinder Adams verdemütigst, und wenn du für die Demut keine große Hochachtung und innige Liebe in dir zuwege bringst? Es ist gut, dass du deinen Obern und Vorgesetzten gehorchst, und du musst dies immer tun. Aber ich verlange von dir, dass du weiter gehst und auch dem Geringsten in allem, was nicht Sünde ist, gehorchest, gerade wie du dem höchsten Obern gehorchen würdest, und ich will, dass du hierin voll Eifer seist, wie ich es war.

242. Nur deinen Untergebenen gegenüber wirst du acht haben, diese Unterwürfigkeit mit mehr Vorsicht zu regeln, damit sie, wenn ihnen dein Verlangen zu gehorchen bekannt wird, dir nicht etwa zumuten, zuweilen zu gehorchen, wo es nicht am Platz ist. Du kannst jedoch viel gewinnen, ohne dass sie ihre Unterwürfigkeit verlieren, wenn du ein gutes Beispiel gibst und immer am Gehorsam festhältst, wo der Gehorsam gut ist, ohne deinem Ansehen als Oberin Eintrag zu tun. Betrachte jeden Verdruss und jede Beleidigung, welche etwa dir persönlich zugefügt wird, als etwas sehr Kostbares und nimm sie an, ohne deine Lippen zu bewegen, um dich zu verteidigen oder dich zu beklagen; die Fehler dagegen, welche gegen Gott begangen werden, tadle, ohne deine Sache mit der Sache Gottes zu vermengen; denn niemals sollst du auf Gründe sinnen, um dich zu verteidigen, immer aber, um Gottes Ehre zu wahren. Doch weder für das eine noch für das andere darfst du dich zum Zorn und zu ungeordneter Aufregung hinreißen lassen. Ich wünsche auch, dass du mit großer Klugheit die besonderen Gnaden des Herrn verbergst; denn man darf das «Geheimnis des Königs» nicht leichtsinnigerweise offenbaren. Auch sind die fleischlichgesinnten Menschen weder fähig noch würdig, die Geheimnisse des Heiligen Geistes zu kennen. In allem folge mir eifrig nach, da du ja meine teuerste Tochter sein willst; dies wirst du sein, wenn du mir gehorchst. Du wirst dann auch den Allmächtigen bewegen, dass er dich stärke und deine Schritte zu dem lenke, was er in dir wirken will. Widerstehe ihm nicht, sondern bereite ihm dein Herz mit Sanftmut und Behendigkeit, um seinem Licht und seiner Gnade zu gehorchen. Empfange die Gnade niemals vergeblich, sondern wirke eifrig mit und sei vollkommen in allen deinen Handlungen.

NEUNZEHNTES HAUPTSTÜCK: Verkehr Mariä mit den heiligen Engeln und Elisabeth

Gespräche, welche die seligste Jungfrau Maria im Hause der heiligen Elisabeth mit ihren heiligen Engeln und mit Elisabeth selbst geführt hat.

243. Die Fülle der Weisheit und Gnade in der heiligsten Jungfrau Maria, verbunden mit ihrer unermesslichen EmpfängIichkeit, konnte nicht gestatten, dass es einen Zeitpunkt, einen Ort, eine Gelegenheit für sie gäbe, wo sie nicht die höchste Vollkommenheit geübt hätte. Zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit tat sie, was die Umstände erforderten und was sie selbst zu tun vermochte, ohne auch nur im geringsten hinter dem zurückzubleiben, was das Höchste und Heiligste in der Tugend ist. Und da sie an allen Orten ein Fremdling war auf Erden und ihren Aufenthalt im Himmel hatte, ja, da sie selbst der glorreichste, geistige Himmel, der lebendige Tempel und die Wohnstätte Gottes war, darum hatte sie ihr Betkämmerchen und Heiligtum immer bei sich, und es bestand in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen ihrem eigenen Haus und dem ihrer Base Elisabeth, noch hinderte sie sonst ein Ort, eine Zeit oder ein Geschäft. Sie war über alles erhaben und ließ sich beständig und mit Ruhe von ihrer mächtigen Liebe leiten; bei alldem sprach und verkehrte sie zu gelegener Zeit mit den Mitmenschen, soviel als die Umstände es erforderten und für die weiseste Jungfrau in jeder Sache möglich und geziemend war. Da sie nun während der drei Monate, die sie im Hause des Zacharias zubrachte, meist nur mit der heiligen Elisabeth und mit ihren heiligen Schutzengeln verkehrte, so will ich in diesem Hauptstück einiges von ihren Unterredungen mit den Engeln anführen und dann noch einiges über ihren Verkehr mit der genannten Heiligkeit berichten.

244. Wenn die Himmelskönigin allein und frei war, bracht, sie viele Zeit in Verzückungen und Visionen der Gottheit zu. In diesem Zustand und auch außer diesem, pflegte sie mit ihren heiligen Engeln über die Geheimnisse ihres liebeglühenden Herzens zu sprechen. So hatte sie einmal kurze Zeit nach ihrer Ankunft im Haus des Zacharias folgende Unterredung mit ihnen: «Ihr himmlischen Geister», sprach sie zu ihnen, «ihr meine Beschützer und Begleiter, Abgesandte des Allerhöchsten und Lichtstrahlen seiner Gottheit, kommt und stärket mein Herz, welches eingenommen und verwundet ist von seiner göttlichen Liebe; es ist betrübt, weil es zu klein ist, denn es kann nicht durch der Tat die Schuld abtragen, welche es erkennt, und wohin all sein Verlangen zielt. Kommt, höchste Fürsten, und lobt mit mir den wunderbaren Namen des Herrn; wir wollen ihn preisen für seine heiligsten Gedanken und Werke. Helfet diesem armen Würmchen, damit es seinen Schöpfer preise, der sich mitleidsvoll würdigt, dieses geringe Geschöpf anzuschauen. Sprechen wir von den Wundern meines Bräutigams; lasst uns reden über die Schönheit meines Herrn und liebevollsten Sohnes. Mein Herz erleichtere sich, da es jemand findet, um ihm seine innersten Seufzer mitzuteilen, nämlich euch, meine Freunde und Genossen. Ihr kennt ja mein Geheimnis und meinen Schatz, welchen der Allerhöchste in dem engen Raum dieses zerbrechlichen, beschränkten Gefäßes eingeschlossen hat. Groß sind diese göttlichen Geheimnisse, wunderbar sind sie; und obwohl ich sie mit süßer Rührung betrachte, so vernichtet mich doch deren erhabenste Größe. Ihre Tiefe überwältigt mich, und die Kraft meiner Liebe verzehrt und erneuert mich zugleich. Niemals ist mein entflammtes Herz befriedigt; es findet keine völlige Ruhe; denn mein Verlangen übersteigt meine Werke, und meine Verpflichtung geht über mein Verlangen. Ich beklage mich über mich selbst, weil ich nicht alles tue, was ich verlange, und nicht alles verlange, was ich schuldig bin. Immer sehe ich mich überwunden und zu klein in Erwiderung der Liebe. Höchste Seraphim, höret den Klageruf meiner Liebe; ich bin krank vor Liebe. Öffnet mir eure Herzen, in welchen die Schönheit meines Herrn widerstrahlt, damit der Abglanz seines Lichtes und die Züge seiner Schönheit mir das Leben erhalten, welches durch die Liebe zu ihm hinschwindet».

245. Die heiligen Engel antworteten: «Mutter unseres Schöpfers und unsere Herrin, du besitzest wahrhaft den Allmächtigen, das höchste Gut, und da du ihn mit so engen Banden festhältst und seine wahre Braut und Mutter bist, so besitze und genieße ihn für ewig! Du bist die Braut und Mutter des Gottes der Liebe, und wenn die einzige Ursache und die Quelle des Lebens sich in dir befindet, so wird niemand mit ihr leben, wie du, unsere Königin und Gebieterin. Aber trachte nicht, Ruhe zu finden in deiner so glühenden Liebe; denn der Stand der Pilgerschaft lässt jetzt noch nicht zu, dass deine Liebe ihr Ziel erreiche und keine neuen Grade größerer Verdienste und höherer Glorie mehr erwerbe. Deine Verpflichtungen übersteigen ohne Vergleich die aller Menschen, und doch müssen sie noch immer sich steigern und größer werden, und niemals wird deine so glühende Liebe dem Gute gleichkommen, auf welches sie sich richtet, denn dieses ist ewig, und seine Vollkommenheiten sind unendlich und ohne Maß; immer wirst du von seiner Größe glücklicherweise überwunden bleiben, denn Gott erkennen und lieben, wie er es verdient, kann niemand als er allein. Immer wirst du, o Herrin, in ihm noch mehr zu verlangen, noch mehr zu lieben finden; dies gehört zu seiner Größe und zu unserer Glorie».

246. Durch diese Unterredungen entflammte sich das Feuer der göttlichen Liebe immer mehr in dem Herzen der heiligsten Jungfrau Maria; denn in ihr wurde auf gebührende Weise das Gebot des Herrn erfüllt, dass das Feuer des Brandopfers beständig in seinem Tabernakel und auf seinem Altar brennen, und der Priester des Alten Bundes es erhalten müsse, auf dass es immerwährend sei (Lev 6,12). Dies wurde in Wahrheit ausgeführt in der heiligsten Jungfrau Maria; denn in ihr war der Tabernakel, der Altar und der neue Hohepriester vereinigt, Christus, unser Herr, welcher dieses göttliche Feuer unterhielt und täglich vermehrte, indem er durch stets erneuerte Auszeichnungen, Gaben und Gnadeneinflüsse seiner Gottheit sozusagen neuen Brennstoff beibrachte; aber auch die erhabenste Herrin brachte ihrerseits ihre beständigen Werke von unvergleichlichem Wert dar; auf diese folgten dann neue Gaben des Herrn, welche ihre Heiligkeii und Gnade vermehrten. Sobald also diese Königin in diese Welt eingetreten war, entzündete sich das Feuer ihrer göttlichen Liebe, um auf diesem Altar die ganze Ewigkeit nie mehr zu erlöschen. So beständig und immerwährend war und wird sein das Feuer dieses lebendigen Heiligtums.

247. Solche Unterredungen mit den heiligen Engeln fanden auch zu jenen Zeiten statt, da sich die Engel, wie ich schon an verschiedenen Stellen erzählt habe, ihr in körperlicher Gestalt zeigten. Das Gespräch bezog sich dann meistens auf die Geheimnisse des menschgewordenen Wortes, und dabei redete die seligste Jungfrau von der Heiligen Schrift und den Propheten mit solcher Tiefe, dass sie die Engel in Staunen setzte. So sagte sie einmal, da sie sich mit ihnen über diese verehrungswürdigen Geheimnisse unterredete: «Meine Gebieter, Diener und Freunde des Allerhöchsten, mein Herz ist verwundet und mit schmerzlichen Pfeilen durchbohrt, wenn ich erwäge, was die Heiligen Schriften von meinem heiligsten Sohn sagen, was Jesaja und Jeremias geschrieben über die bittersten Schmerzen die ihn erwarten. Salomon sagt, dass man ihn zum schimpflichsten Tod verurteilen werde (Weish 2, 20); die Propheten sprechen von seinem Leiden und Sterben immer mit Ausdrücken, die bis zum äußersten gehen, und alles muss an ihm sich erfüllen. O wäre es doch der Wille des Allerhöchsten, dass ich dann noch lebte, um mich dem Tode zu überliefern für den Urheber meines Lebens ! Mein Geist betrübt sich, wenn ich in meinem Herzen diese unfehlbaren Wahrheiten erwäge, dass mein höchstes Gut und mein Herr meinen Schoß verlassen soll, nur um zu leiden. O wer wird ihn beschützen und verteidigen gegen seine Feinde ! Sagt mir, Fürsten des Himmels, mit welchen Werken und Mitteln ich den ewigen Vater bewegen kann, dass er die Strenge seiner Gerechtigkeit gegen mich kehre, damit der Unschuldige frei bleibe, der keine Schuld haben kann? Wohl weiß ich, dass die Werke eines menschgewordenen Gottes erfordert werden, um dem unendlichen Gott, den die Menschen beleidigt, Genugtuung zu leisten; allein mein heiligster Sohn hat durch sein erstes Werk schon mehr verdient, als das Menschengeschlecht verlieren oder verschulden konnte. Da dies also hinreichen würde, o so sagt mir, wird es möglich sein, dass ich sterbe, um seinen Tod und seine Peinen zu verhindern? Gott der Herr wird nicht unwillig werden über mein demütiges Verlangen; meine Ängsten werden ihm nicht missfallen. Doch was sage ich, und wohin bringt mich der Schmerz und die Liebe? Ich will ja, dass in allem der Wille Gottes geschehe, dem ich mich demütig unterwerfe».

248. Diese und ähnliche Unterredungen hielt die seligste Jungfrau Maria mit ihren Engeln, besonders zu jener Zeit, da sie den Sohn Gottes unter ihrem Herzen trug. Die himmlischen Geister antworteten auf alle ihre Sorgen mit großer Ehrfurcht; sie gaben ihr Stärke und Trost, indem sie ihr die Geheimnisse, welche ihr ohnedies bekannt waren, ins Gedächtnis riefen und ihr die Gründe vorstellten, warum es nötig und gebührend sei, dass Christus unser Herr sterbe, nämlich um das Menschengeschlecht zu erlösen, um den Satan zu überwinden und seiner tyrannischen Herrschaft zu berauben, zur Glorie des ewigen Vaters und zur Erhöhung seines heiligsten Sohnes, des höchsten Herrn. Diese Geheimnisse, über welche die große Königin mit ihren Engeln sprach, waren so groß und so erhaben, dass keine menschliche Zunge sie berichten und kein Verstand in diesem Leben solche Dinge fassen kann. Wenn wir die Anschauung Gottes genießen, werden wir in ihm sehen, was wir jetzt nicht erreichen können. Auch kann unsere Frömmigkeit durch das Wenige, das ich gesagt habe, zur Erwägung größerer Dinge gelangen.

249. Auch die heilige Elisabeth war in der heiligen Schrift sehr bewandert und erleuchtet; und sie war dies ganz besonders seit der Stunde der Heimsuchung. Darum sprach unsere Königin mit ihr über die göttlichen Geheimnisse, welche sie kannte, die heilige Matrone aber hörte zu und wurde durch die Belehrung der heiligsten Jungfrau Maria noch mehr unterrichtet. Überhaupt empfing die heilige Elisabeth durch die Vermittlung Mariä große Gaben und Gnaden vom Himmel. Sie war oft verwundert, wenn sie die tiefe Weisheit der Mutter Gottes sah und hörte. Sie pries dieselbe dann aufs neue und sprach: «Gebenedeit seist du, meine Herrin und Mutter meines Herrn, unter allen Frauen, und alle Nationen mögen deine Würde erkennen und preisen ! Überaus glücklich bist du um des reichsten Schatzes willen, den du in deinem jungfräulichen Schoß trägst; ich bringe dir meine demütigen und herzlichen Glückwünsche dar zu der Freude, welche dein Geist empfinden wird, wenn die Sonne der Gerechtigkeit in deinen Armen ruht und du ihn an deiner jungfräulichen Brust nährst. Erinnere dich dann, meine Herrin, deiner Magd und opfere mich deinem heiligsten Sohn, meinem wahren Gott in menschlichem Fleisch auf, damit er mein Herz als Opfer empfange. O wer wird wohl so glücklich sein, von Stunde an dir zu dienen und dir beizustehen! Wenn ich dieses Glückes nicht würdig bin, so schenke mir wenigstens das Glück, dass du mein Herz in deiner Brust trägst; denn ich fürchte nicht ohne Grund, dass es breche, wenn ich mich von dir trenne».

Die heilige Elisabeth hatte noch andere Unterredungen voll der süßesten Gefühle zärtlichster Liebe in Gegenwart und Gesellschaft der heiligsten Jungfrau, und diese weiseste Herrin gab ihr Trost, neuen Mut und neues Leben durch ihre himmlischen, kräftigen Worte. Diese so ausgezeichneten und erhabenen Handlungen unterbrach sie durch viele andere Werke der Demut und Erniedrigung, indem sie nicht nur ihrer heiligen Base Elisabeth diente, sondern auch den Dienerinnen des Hauses. Wenn sie Gelegenheit fand, kehrte sie das Haus ihrer Base aus; immer aber kehrte sie das Betkämmerchen, in welchem sie gewöhnlich war; sie wusch auch die Schüsseln mit den Mägden und verrichtete andere Werke tiefer Demut. Niemand wundere sich, dass ich diese so geringfügigen Handlungen im einzelnen erwähne; denn die Größe unserer Königin macht sie groß zu unserer Belehrung, auf dass bei deren Anblick unsere Hoffart schwinde und unser Stolz sich beuge. Wenn die heilige Elisabeth sah, welch demütige Dienste die Mutter der Liebe verrichtete, so war sie darob betrübt und suchte Maria daran zu hindern, weshalb sich die himmlische Königin bei solchen Gelegenheiten womöglich vor ihrer Base verbarg.

250. O Königin und Herrin des Himmels und der Erde, unsere Beschützerin und Fürsprecherin, obwohl du die Lehrmeisterin aller Heiligkeit und Vollkommenheit bist, so wage ich es doch, voll Bewunderung über deine Demut, an dich, o Mutter, eine Frage zu stellen. Du wusstest, dass in deinem jungfräulichen Schoß der menschgewordene Sohn des Vaters weile, und es war dein Verlangen, dich in allem als seine Mutter zu benehmen: wie konnte sich also deine Hoheit zu so niedrigen Verrichtungen, wie zum Beispiel zum Auskehren und ähnlichen Arbeiten herablassen? Nach unserem Dafürhalten konntest du dieselben aus Ehrfurcht vor deinem heiligsten Sohn unterlassen, ohne dein demütiges Verlangen aufzugeben? Ich wünsche, o Herrin, das Benehmen deiner Majestät in dieser Sache zu verstehen.

ANTWORT UND LEHRE DER KÖNIGIN DES HIMMELS

251. Meine Tochter, um auf deinen Zweifel zu antworten, musst du, außer dem, was du im vorhergehenden Hauptstück geschrieben hast, beachten, dass in Sachen der Tugend keine Beschäftigung oder äußere Handlung, so niedrig sie auch sei, wenn sie nur wohlgeordnet ist, hindern kann, dem Schöpfer aller Dinge Anbetung, Ehrfurcht und Lob darzubringen. Denn diese Tugenden schließen sich nicht aus, sondern lassen sich alle im Menschen vereinigen; und dies war besonders bei mir der Fall, da ich das höchste Gut immer gegenwärtig hatte, ohne es je durch diese oder jene Beschäftigung aus dem Auge zu verlieren. So betete ich es an und verehrte es in all meinen Handlungen, indem ich sie alle auf seine größere Ehre bezog, und der Herr, welcher alles geschaffen und geordnet hat, achtete keine Handlung gering; auch die geringsten Dinge missfallen ihm nicht und sind ihm nicht zuwider. Darum verschmäht eine Seele, welche ihn warhaft liebt, keines dieser niedrigen Werke in Gottes Gegenwart, denn alle suchen und finden ihn als den Ursprung und das Ende aller Geschöpfe. Da nun ein irdisches Geschöpf ohne solche und ähnliche demütigende Handlungen, welche mit seiner gebrechlichen Natur unzertrennlich verbunden und zur Erhaltung des Lebens notwendig sind, nicht leben kann, so muss man diese Lehre wohl verstehen, um sich bei solchen Handlungen danach zu richten; denn wenn man bei solchen Verrichtungen und Armseligkeiten nicht den Schöpfer im Auge hätte, so würde man die Tugendwerke, die Verdienste und die inneren Akte zu oft und zu lange unterbrechen; was alles ein Verlust und ein strafwürdiger Fehler ist, den die Menschen aber gar wenig beachten.

252. Nach dieser Lehre musst du deine irdischen Handlungen, welcher Art sie immer sein mögen, regeln, damit du die Zeit nicht verlierest, die niemals ersetzt werden kann. Du magst essen oder arbeiten, ruhen, schlafen oder wachen: zu jeder Zeit an jedem Ort und bei jeder Beschäftigung bete deinen großen und mächtigen Herrn an, ehre ihn und schaue auf ihn, der alles erfüllt und erhält. Du musst jetzt auch wissen, dass, was mich am meisten zu allen Akten der Demut angetrieben hat, die Erwägung war, wie mein heiligster Sohn in Demut gekommen ist, um eben diese Tugend durch Wort und Beispiel in der Welt zu lehren, um die Eitelkeit und die Hoffart der Menschen zu verbannen und dieses Unkraut auszureißen, welches Luzifer mit der ersten Sünde unter die Menschen gesät hat. Gott gab mir eine so hohe Erkenntnis über das Wohlgefallen, welches ihm diese Tugend bereitet, dass ich die größten Qualen der Welt gelitten hätte, um einen einzigen der genannten Akte zu verrichten, wie zum Beispiel den Boden zu kehren oder einem Armen die Füße zu küssen. Du wirst keine Worte finden, um auszudrücken, wie groß meine Liebe zu dieser Tugend war, noch auch, wie ausgezeichnet und edel die Demut ist. Im Herrn wirst du einstens erkennen und verstehen, was du mit Worten nicht wiederzugeben vermagst.

253. Präge jedoch diese Lehre deinem Herzen ein und beobachte sie als die Richtschnur deines Lebens. Übe dich immer in dem, was die menschliche Eitelkeit verachtet und verachte du diese Eitelkeit als etwas, was verabscheuungswürdig und verhasst ist in den Augen Gottes. Bei diesem demütigen Verhalten jedoch müssen deine Gedanken allzeit sehr edel sein. Dein Wandel muss im Himmel (Phil 3, 20) sein, mit den englischen Geistern sollst du verkehren; unterhalte dich mit ihnen, und sie werden dir neues Licht geben über die Gottheit und über die Geheimnisse Christi, meines heiligsten Sohnes. Deine Unterredungen mit den Mitmenschen seien derart, dass du sie immer eifriger verlässt und dass du dabei die andern zur Demut und zur Liebe Gottes antreibst. In deinem Inneren wähle den letzten Platz unter allen Geschöpfen, dann wirst du, wenn sich Zeit und Gelegenheit zu Übungen der Demut bietet, zu denselben bereit sein. Du wirst Herrin deiner Leidenschaften sein, wenn du dich zuvor in deiner eigenen Meinung anerkannt hast als das geringste, schwächste und unnützeste aller Geschöpfe.

ZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Gnaden, welche Maria der Familie des Zacharias erwies =

Einige besondere Wohltaten, welche die heiligste Jungfrau Maria einigen Personen im Hause des Zacharias erwies.

254. Es ist eine bekannte Eigenschaft der Liebe, wirksam und tätig zu sein, wie das Feuer, wenn es Stoff findet für seine Wirksamkeit. Jenes geistige Feuer aber hat noch dies besondere, dass, wenn es keinen Stoff hat, es solchen sucht. Diese Lehrmeisterin hat die Liebhaber Jesu Christi so viele Erfindungen und Kunstgriffe in Übung der Tugend gelehrt, dass sie sie niemals müßig sein lässt. Da sie nicht blind oder unverständig ist, so kennt sie wohl die Beschaffenheit ihres alleredelsten Gegenstandes, und nur eines macht ihr Sorge: dass nicht alle ihn lieben. Darum trachtet sie dieses Feuer ohne Neid und Eifersucht mitzuteilen. Wenn nun bei anderen trotz ihrer beschränkten Liebe zu Gott - die, wenn auch noch so feurig und heilig, doch gering war im Vergleich zur Liebe der seligsten Jungfrau - der Seeleneifer schon so mächtig und wunderbar war, wie wir aus ihren Taten und Opfern für die Seelen ersehen, was wird dann erst diese große Königin zum Wohl der Mitmenschen getan haben? Sie war ja die Mutter der göttlichen Liebe (Sir 24, 24) und trug in sich selbst das lebendige und wahre Feuer, welches gekommen war, um die Welt zu entzünden. In dieser ganzen göttlichen Geschichte werden die Menschen sehen, wie viel sie dieser Herrin zu verdanken haben. Freilich wäre es unmöglich, die Wohltaten, welche sie so vielen Seelen erwiesen hat, im einzelnen zu berichten; damit man aber aus einzelnen auf die übrigen schließen könne, will ich in diesem Hauptstück etwas sagen von dem, was in dieser Hinsicht sich ereignete, während die Königin des Himmels im Haus ihrer Base, der heiligen Elisabeth weilte.

255. In diesem Haus diente eine Magd, die von böswilligem Charakter, unruhig, jähzornig und ans Fluchen und Lästern gewöhnt war. Während sie bei diesen und noch andern Lastern ihrer Herrschaft sich gefügig erwies, war sie dem Satan derart untertänig, dass dieser Tyrann sie mit Leichtigkeit in jedes Elend und in jeden Fehler stürzte. Bereits seit vierzehn Jahren waren eine Menge böser Geister um sie herum, ohne sie auch nur einen Augenblick zu verlassen, um sich der Beute ihrer Seele zu versichern. Nur dann, wenn diese Frau in Gegenwart der heiligsten Jungfrau, der Himmelskönigin, sich befand, zogen sich diese Feinde zurück; denn, wie ich schon anderswo bemerkt habe, quälte die Macht unserer Königin sie; dies war besonders damals der Fall, da sie den mächtigen Herrn, den Gott der Stärke, im Heiligtum ihres jungfräulichen Schoßes trug. Wenn dann diese grausamen Peiniger sich entfernt hatten, fühlte die Magd die bösen Einwirkungen ihrer Gesellschaft nicht, anderseits brachte ihr der süße Anblick und Umgang der Himmelskönigin nach und nach große Gnaden. So begann diese Frau ihrer Befreierin sehr geneigt und anhänglich zu werden; sie war bedacht, ihr mit großer Liebe zu helfen, sich zu ihrem Dienst anzubieten und so lange sie nur konnte, dahin zu gehen, wo die heiligste Jungfrau war. Sie betrachtete diese mit Ehrfurcht, denn neben ihren verkehrten Neigungen hatte sie eine gute, nämlich ein gewisses natürliches Mitleiden mit den hilfsbedürftigen und armen Leuten; sie war diesen geneigt und tat ihnen gerne Gutes.

256. Die Himmelskönigin sah und kannte alle Neigungen diese Frau, den Zustand ihres Gewissens, die Gefahr ihrer Seele und die Bosheit der bösen Geister gegen sie; darum richtete sie die Augen ihrer Barmherzigkeit auf sie und schaute sie mit mitleidsvoller Mutterliebe an. Obwohl die seligste Jungfrau wusste, dass diese Nähe und diese Herrschaft der bösen Geister die gerechte Strafe für die Sünden dieser Frau war, so betete sie doch für sie und erlangte ihr die Verzeihung, die Genesung und das Heil ihrer Seele. Mit der ihr eigenen Macht befahl sie den bösen Geistern, dieses Geschöpf freizulassen und nicht mehr zurückzukehren, um dasselbe zu verwirren und zu belästigen. Da sie dem Machtwort unserer großen Königin nicht widerstehen konnten, unterwarfen sie sich und flohen voll Schrecken, ohne zu wissen, warum die heiligste Jungfrau solche Macht besitze. Sie beratschlagten jedoch untereinander und sagten: «Wer ist diese Frau, welches eine so ungewöhnliche Gewalt über uns besitzt? Woher kommt ihr eine solche außerordentliche Macht, dass sie alles vollbringt, was sie nur will?» Diese Feinde entbrannten darum aufs neue in Zorn und Wut gegen diejenige, welche ihnen den Kopf zerschmetterte. Jene glückliche Sünderin aber war für immer aus ihren Klauen befreit, und die heiligste Jungfrau ermahnte sie, wies sie zurecht, lehrte sie den Weg des Heils und wandelte sie in einen ganz anderen Menschen um, so dass sie fortan sanftmütig von Herzen und frei von Launen war. Dieselbe beharrte ihr ganzes Leben lang in diesem neuen Wandel und erkannte, dass all dies Glück ihr durch die Hände unserer Königin zugekommen sei, obwohl sie das Geheimnis ihrer Würde nicht kannte; sie blieb demütig und dankbar und beschloss ihr Leben durch einen heiligen Tod.

257. Eine andere Frau, nicht besser gesittet als diese Magd, wohnte nahe beim Haus des Zacharias und pflegte darum als Nachbarin dahin zu kommen und den Unterhaltungen der Hausangehörigen der heiligen Elisabeth anzuwohnen. Sie führte, was die Ehrbarkeit betrifft, ein ausgelassenes Leben, und als sie von der Ankunft unserer großen Königin in dieser Stadt hörte, sowie von deren Bescheidenheit und Eingezogenheit, sagte sie mit Neugierde und Leichtsinn: «Wer ist doch diese Fremde, die da zu uns als Gast und Nachbarin gekommen ist und die so heilig und zurückgezogen tut?» Sie trachtete sodann aus eitler Neugierde, wie dies solchen Personen eigen ist, die himmlische Frau zu sehen und deren Angesicht und Kleidung kennen zu lernen. War diese Absicht auch ungehörig und unnütz, so hatte sie doch gute Folgen; denn als sie ihr Verlangen befriedigte, wurde ihr Herz dergestalt verwundet, dass sie durch die Gegenwart und den Anblick der heiligsten Jungfrau ganz umgewandelt wurde. Sie änderte ihre Neigungen, und obwohl sie die Kraft des hier wirksamen Werkzeuges nicht kannte, so fühlte sie doch dieselbe, und ihre Augen vergossen reichliche Tränenströme aus innigstem Schmerz über ihre Sünden. Sie hatte nur mit neugieriger Aufmerksamkeit ihren Blick auf die Mutter der jungfräulichen Reinheit gerichtet, und dafür erhielt diese glückliche Frau die Tugend der Keuschheit und war befreit von ihren sinnlichen Gewohnheiten und Neigungen. Mit diesem Reueschmerz zog sie sich dann zurück, um ihr schlechtes Leben zu beweinen; darauf bat sie die Mutter der Gnade besuchen und sprechen zu dürfen, was diese bewilligte, um dieselbe in der Gnade zu bestärken; denn Unsere Liebe Frau wusste wohl, was vorangegangen war, und sie trug ja in ihrem jungfräulichen Schoß den Urheber der Gnade, welcher Gerechte und Heilige bildet und in dessen Macht sie als Fürsprecherin der Sünder tätig war. Sie empfing dieselbe mit mitleidsvoller Mutterliebe, ermahnte und unterrichtete sie in der Tugend und entließ sie gebessert und zur Beharrlichkeit gestärkt.

258. Also handelte unsere große Königin oftmals, und sie bewirkte in einer großen Zahl von Seelen wunderbare Bekehrungen, jedoch immer in der Stille und im geheimen. Die ganze Familie der heiligen Elisabeth und des Zacharias wurde durch den Umgang und die Unterredung mit ihr geheiligt. Denjenigen, welche schon gerecht waren, half sie zur Besserung und zum Fortschritt durch neue Gnaden und Gaben; die noch nicht gerecht waren, erleuchtete und bekehrte sie durch ihre Fürsprache. Die ehrfurchtsvolle Liebe, welche sie einflößte, gewann ihr alle Herzen, und zwar mit solcher Gewalt, dass ein jeder ihr um die Wette gehorchte und sie als Mutter, Zuflucht und Trost in allen Nöten betrachtete. Um all dies zu bewirken, genügte ihr Anblick nebst wenigen Worten, obwohl sie niemals die für solche Werke notwendigen Worte verweigerte. Da sie einem jeden in das Herz schaute und seinen Gewissenszustand kannte, wendete sie auch die für einen jeden passenden Heilmittel an. Manchmal, aber nicht immer, offenbarte ihr der Herr, ob diejenigen, welche sie sah, von der Zahl der Auserwählten oder der Verworfenen seien. Das eine wie das andere regte ihr Herz zur wunderbaren Übung der vollkommensten Tugend an, denn wenn sie Gerechte und Auserwählte sah, schenkte sie ihnen reichlichen Segen - was sie auch jetzt vom Himmel aus tut -, und der Herr wünschte ihr hierzu Glück; sie bat ihr auch, dieselben in seiner Gnade und Freundschaft zu bewahren. Zu diesem Zweck bot sie alles auf und verrichtete die eifrigsten Gebete. Erblickte sie dagegen jemanden im Stand der Sünde, so flehte sie mit innigster Teilnahme um dessen Rechtfertigung und erhielt sie gewöhnlich; war es jedoch ein Verworfener, so weinte sie bitterlich und verdemütigte sich vor dem Allerhöchsten wegen des Verlustes dieser Seele, die ein Ebenbild Gottes und das Werk seiner Hände war. Damit nicht noch andere verlorengehen möchten, verrichtete sie inständige Gebete, Aufopferungen und Selbstverdemütigungen. So war sie ganz und gar eine Flamme der göttlichen Liebe, die niemals rastete noch aufhörte, Großes zu wirken.

LEHRE DER HIMMELSKÖNIGIN, UNSERER HERRIN

259. Meine teuerste Tochter, zwei Dinge sind es, um welche sich alle deine Kräfte und alle deine Sorgen wie um zwei Angelpunkte drehen müssen: erstens die Sorge, dich selbst in der Freundschaft und Gnade des Allerhöchsten zu erhalten, und zweitens das Bemühen, diese Gnade auch anderen Seelen zu erlangen. Hierin muss dein ganzes Leben, müssen alle deine Beschäftigungen aufgehen. Und um so erhabene Ziele zu erreichen, sollst du nötigenfalls weder Mühen noch Sorgen scheuen; du sollst zu diesem Zweck zum Herrn flehen und dich anbieten, dein ganzes Leben in Leiden hinzubringen. Du sollst auch wirklich alles leiden, was dir zustößt und was in deinen Kräften steht. Zwar sollst du, um das Heil der Seelen zu befördern, keine außerordentlichen und in die Augen fallenden Maßregeln ergreifen, denn solche geziemen deinem Geschlecht nicht; du musst aber alle verborgenen Mittel ausfindig zu machen suchen und diejenigen, die du als die wirksamsten erkennst, mit Klugheit anwenden. Wenn du meine Tochter und die Braut meines heiligsten Sohnes bist, so bedenke wohl, dass das Besitztum unseres Hauses kein anderes ist als die vernünftigen Geschöpfe, welche der Herr um den Preis seines Lebens, seines Todes und seines Blutes als teure Beute sich erkauft hat; denn durch ihren Ungehorsam waren sie ihm verloren gegangen, nachdem er sie doch für sich erschaffen und für sich bestimmt hatte.

260. Wenn also der Herr dir eine hilfsbedürftige Seele zuschicken und ihren Zustand dir zu erkennen geben wird, so arbeite mit Treue an deren Besserung; weine und schreie zum Herrn mit innigem, feurigem Verlangen, um von Gott Abwendung so großen Verlustes und so großer Gefahr zu erlangen. Lasse kein dir zustehendes Mittel, weder ein übernatürliches noch ein natürliches, unbenützt, um das Heil und Leben einer Seele zu erlangen, welche dir anvertraut wird. Lasse nicht ab, sie mit der Klugheit und Mäßigung, wozu ich dich aufgefordert habe, zu ermahnen und sie um das zu bitten, was du für sie als dienlich erachtest, und bemühe dich ganz im geheimen, ihr Gutes zu tun. Es ist auch mein Wille, dass du nötigenfalls den bösen Geistern im Namen des allmächtigen Gottes und in meinem Namen mit aller Macht befiehlst, sich von den Seelen zu entfernen, welche du in deren Gewalt siehst; denn da dies im geheimen vor sich geht, so kannst du es ohne Furcht, mit ruhigem Herzen tun. Beachte, dass der Herr dir Gelegenheiten gegeben hat und noch geben wird, diese Lehre ins Werk zu setzen. Vergiss sie nicht und mache sie nicht unnütz; denn der Herr hat dich als seine Tochter verpflichtet, für das Gut und das Haus deines Vaters zu sorgen, und du darfst nicht ruhen, solange du dies nicht mit aller Sorgfalt tust. Fürchte nicht, alles wirst du vermögen in dem, der dich stärkt; seine göttliche Macht wird deinen Arm stärken, um große Werke zu vollbringen.

EINUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Elisabeth bittet Maria, bei ihr zu bleiben

Die heilige Elisabeth bittet die Königin des Himmels, ihr bei der Geburt des heiligen Johannes beizustehen; sie wird über letztere erleuchtet.

261. Bereits waren mehr als zwei Monate seit der Ankunft der Himmelskönigin im Haus der heiligen Elisabeth verflossen, und diese kluge Frau dachte schon zum voraus mit Schmerz an die Abreise und Abwesenheit der großen Herrin der Welt. Mit Recht fürchtete sie, den Besitz eines so großen Glückes zu verlieren; sie sah auch ein, dass menschliche Verdienste hier unvermögend seien; ja in ihrer Demut und Heiligkeit erwog sie in ihrem Herzen noch mehr ihre eigenen Fehler, voll Furcht, dass wegen derselben Maria, dieser «schöne Mond», sich entfernen möchte zugleich mit der «Sonne der Gerechtigkeit», welche sie im jungfräulichen Schoß trug. Sie weinte und seufzte manchmal allein, weil sie keine Mittel fand, um die Sonne aufzuhalten, welche ihr einen so klaren Tag der Gnade und des Lichtes gebracht hatte. Sie flehte mit vielen Tränen zum Herrn, dass er dem Herzen ihrer Base und Herrin, der heiligsten Jungfrau Maria, den Gedanken eingebe, sie nicht allein zu lassen, wenigstens sie nicht zu schnell ihrer liebenswürdigen Gesellschaft zu berauben. Sie bediente dieselbe mit großer Ehrfurcht und Sorgfalt und überlegte, was sie tun könnte, um sich sie zu verpflichten. Und es ist kein Wunder, wenn eine so große Heilige und so einsichtsvolle, kluge Frau eifrigst verlangte, was selbst die Engel hätten begehren können. Denn abgesehen von dem göttlichen Licht, welches sie vom Heiligen Geiste in großer Fülle empfangen hatte, um die erhabene Heiligkeit und Würde der jungfräulichen Mutter zu erkennen, hatte diese selbst durch ihren süßesten, himmlischen Umgang und durch die Wirkungen, welche die heilige Elisabeth infolge desselben an sich erfahren, deren Herz dergestalt eingenommen, dass Elisabeth ohne eine besondere Gnade nicht hätte leben können fern von der heiligsten Jungfrau, nachdem sie sie kennengelernt und mit ihr verkehrt hatte.

262. Um sich in dieser Pein zu trösten, beschloss die heilige Elisabeth, sie der himmlischen Königin zu eröffnen, welcher die Sache bereits bekannt war. Sie sagte also mit großer Demut und Ehrfurcht zu ihr: « Meine Base und Herrin, der Ehrfurcht und Rücksicht wegen, womit ich dir dienen muss, habe ich bis jetzt noch nicht gewagt, dir mein Verlangen und meine Pein kundzugeben, welche mein Herz erfüllt. Wenn du mir erlaubst, Erleichterung zu suchen, indem ich meine Unruhe eröffne, so werde ich's tun; denn ich lebe allein durch die Hoffnung, zu erlangen, was ich ersehne. Der Herr hat mir in seiner göttlichen Güte eine außerordentliche Barmherzigkeit erwiesen, da er dich hierher führte, damit ich das unverdiente Glück habe, mit dir umzugehen und die Geheimnisse zu erkennen, welche die göttliche Vorsehung in dir, meine Herrin, eingeschlossen hat. Ewig lobe ich Unwürdige ihn für diese Wohltat. Du bist der lebendige Tempel der Herrlichkeit des Allerhöchsten; du bist die Bundeslade; du bewahrst ja das Manna, von welchem die Engel leben. Du bist die Tafel des wahren Gesetzes, geschrieben von Gott selbst. Ich erwäge, wie niedrig ich bin, und wie reich die göttliche Majestät mich gemacht hat in einem Augenblick, da ich ohne mein Verdienst den Schatz des Himmels in meinem Haus finde und diejenige, welche er unter den Frauen zu seiner Mutter erwählt hat. Aber ich fürchte mit Grund, dass ich durch meine Sünden dir und der Frucht deines Leibes missfallen habe und dass du deshalb diese arme Dienerin verlassest und mich des großen Glückes, welches ich jetzt genieße, beraubest. Beim Herrn ist es möglich - o möchte es auch dein Wille sein -, dass ich das Glück erlange, dir mein ganzes Leben lang zu dienen und niemals von dir mich zu trennen. Ist es schwieriger, in dein Haus zu gehen, so wird es leichter sein, dass du in dem meinigen bleibst und deinen heiligen Bräutigam Joseph rufst, damit ihr beide hier als Herren und Gebieter lebt; ich aber werde euch als Magd mit derselben Liebe dienen, welche mir dieses Verlangen eingibt. Freilich verdiene ich nicht, um was ich bitte; aber ich flehe, verachte meine demütige Bitte nicht, da ja auch der Allerhöchste mit seinen Gnaden mein Verdienst und mein Verlangen weit übertroffen hat».

263. Die heiligste Jungfrau hörte mit süßestem Wohlgefallen diese Vorstellung und Bitte ihrer Base, der heiligen Elisabeth, an und antwortete ihr: «Teuerste Freundin meiner Seele, deine heiligen und zärtlichen Gefühle werden dem Allerhöchsten angenehm sein, und dein Verlangen wird seinen Augen wohlgefallen. Ich nehme es mit herzlichem Dank an; jedoch bei allen unseren Anliegen und Vorsätzen müssen wir auf der göttlichen Willen achten und demselben unseren Willen mit aller Unterwürfigkeit unterordnen. Dies ist Pflicht für alle Menschen; du weißt aber wohl, meine Freundin, dass ich den Herrn mehr verpflichtet bin als alle anderen, da er mich mit der Macht seines Armes aus dem Staub erhoben und mit unermesslichem Erbarmen auf meine Niedrigkeit geschaut hat. All, meine Worte und Bewegungen müssen durch den Willen meines Herrn und Sohnes geleitet werden; ich darf kein Wollen oder Nicht-Wollen haben außer dem, was Gott verfügt. Wir wollen deine Wünsche Seiner göttlichen Majestät vorstellen und was er als das ihm Wohlgefälligere verordnet, das werden wir ausführen. Ich muss auch meinem Bräutigam Joseph gehorchen, und ohne seinen Befehl und Willen kann ich mir weder die Beschäftigungen wählen noch den Wohnort und das Haus. Es ist gerecht, dass wir denjenigen gehorchen, die unsere Häupter und Vorgesetzten sind».

264. Die heilige Elisabeth unterwarf ihre Meinung und ihre Wünsche diesen so wirksamen Worten der Himmelskönigin und sprach mit demütiger Ergebung: «Meine Herrin, ich will deinem Willen gehorchen und ich verehre deine Lehre. Nur stelle ich dir nochmals die innigste Liebe meines Herzens vor, welches deinem Dienst ergeben ist; kann ich nicht erlangen, was ich nach meinem Begehren vorgeschlagen habe, und ist dies nicht dem göttlichen Willen gemäß, so verlange ich wenigstens, o meine Königin, dass du womöglich mich nicht verlassest, ehe der Sohn, welchen ich in meinem Schoß trage, das Licht der Welt erblickt hat, auf dass er, wie er dort seinen Erlöser in deinem Schoß erkannt und angebetet hat, auch seiner göttlichen Gegenwart und seines Lichtes eher als irgend eines Geschöpfes sich erfreue und deinen Segen empfange, um die Schritte seines Lebens in Gegenwart desjenigen zu beginnen, der sie alle in Gerechtigkeit leiten möge. Du, o Mutter der Gnade, wollest ihn seinem Schöpfer vorstellen und ihm vor dessen unendlicher Güte die Beharrlichkeit in der Gnade erlangen, welche er mittelst deiner süßesten Stimme empfangen hat, als ich dieselbe unverdienterweise in meinen Ohren wahrnahm. Gestatte denn, o meine Beschützerin, dass ich meinen Sohn in deinen Armen sehe, auf welchen einstens derselbe Gott ruhen wird, der Himmel und Erde erschaffen hat und durch dessen Gebot sie bestehen. Verkürze und beschränke nicht meiner Sünden wegen deine so große und mütterliche Güte; verweigere mir nicht diesen Trost und meinem Sohn ein so großes Glück, welches ich als Mutter für ihn erflehe und welches ich begehre, ohne es zu verdienen».

265. Die heiligste Jungfrau wollte ihrer heiligen Base diese letzte Bitte nicht abschlagen; sie bot sich an, den Herrn um Erfüllung ihres Wunsches zu bitten, und trug ihr auf, dasselbe zu tun, um Gottes heiligsten Willen zu erkennen. Nach diesem Übereinkommen zogen sich die beiden Mütter der zwei heiligsten Söhne, welche das Licht der Welt erblickt haben, in die Betkammer der himmlischen Königin zurück und trugen da dem Allerhöchsten ihre Bitten vor. Die reinste Jungfrau Maria hatte eine Verzückung, in welcher sie mit neuem göttlichen Licht das Geheimnis, das Leben und die Verdienste des heiligen Vorläufers Johannes erkannte und dessen Aufgabe, durch seine Predigten in den Herzen der Menschen die Wege zu bereiten zur Aufnahme ihres Erlösers und Meisters; sie teilte jedoch der heiligen Elisabeth von diesen großen Geheimnissen nur dasjenige mit, dessen Kenntnis für diese passend war. Sie erkannte auch die große Heiligkeit dieser ihrer Base, sowie dass deren Tod in kurzem erfolgen werde und noch früher der des Zacharias. Unsere mitleidsvolle Mutter empfahl ihre Base mit der Liebe, welche sie für diese hegte, dem Herrn und bat ihn, ihr beim Tod beizustehen. Sie stellte ihm auch die Wünsche vor, welche sie betreffs der Geburt ihres Sohnes geäußert hatte; was aber das Bleiben im Haus des Zacharias betraf, so stellte die weiseste Jungfrau keine Bitte; denn sie erkannte alsbald durch ihr himmlisches Licht, es sei nicht geziemend und nicht der Wille Gottes, dass sie immer im Hause ihrer Base lebe, wie diese begehrte.

266. Gott antwortete auf diese Bitten: «Meine Braut und meine Taube, es ist mein Wille, dass du zum Beistand und Trost meiner Dienerin Elisabeth gegenwärtig seist bei der Geburt ihres Sohnes, welche nahe bevorsteht; denn es sind nur noch acht Tage. Wenn der Sohn, den sie gebären wird, beschnitten ist, sollst du mit deinem Bräutigam Joseph in dein Haus zurückkehren. Du sollst meinen Diener Johannes sogleich nach seiner Geburt mir aufopfern, denn er wird mir ein angenehmes Opfer sein; sei auch beharrlich, meine Freundin, mich um das ewige Heil der Seelen zu bitten». Die heilige Elisabeth begleitete gleichzeitig die Gebete der Königin des Himmels und der Erde mit den ihrigen und flehte zum Herrn, dass er seiner heiligsten Mutter und Braut befehle, sie nicht zu verlassen bei der Geburt ihres Sohnes. Es wurde ihr sodann geoffenbart, dass diese bereits sehr nahe sei; auch andere Geheimnisse wurden ihr geoffenbart, welche ihr in ihrem Kummer großen Trost und Erleichterung brachten.

267. Nachdem die heiligste Jungfrau aus ihrer Verzückung zurückgekehrt war und das Gebet beendigt hatte, sprachen die beiden Mütter darüber, dass nach der Mitteilung, welche sie vom Herrn erhalten, die Geburt des heiligen Johannes schon nahe sei, und voll glühenden Verlangens nach ihrem hohen Glück fragte die heilige Frau Elisabeth unsere Königin: «Meine Herrin, sage mir, ich bitte dich, ob ich des Glückes, um welches ich dich gebeten habe, gewürdigt werde, nämlich bei der nahe bevorstehenden Geburt meines Sohnes dich bei mir zu haben». Unsere Liebe Frau antwortete: « Meine Freundin und Base, der Allerhöchste hat unsere Bitten gehört und angenommen. Er hat sich gewürdigt, mir zu befehlen, dass ich dein Verlangen erfülle und dir bei dieser Gelegenheit diene; ich werde dies tun und nicht nur bis zur Geburt, sondern auch bis zur gesetzlichen Beschneidung deines Sohnes warten. Dies alles wird in vierzehn Tagen geschehen sein». Infolge dieses Entschlusses der heiligsten Jungfrau erneuerte sich der Jubel ihrer heiligen Base Elisabeth; voll Erkenntlichkeit für diese große Wohltat sagte sie dem Herrn und auch der himmlischen Königin demütigen Dank. Sodann dachte die heilige Matrone, erfreut und neubelebt durch diese Mitteilungen, daran, auf die Geburt ihres Sohnes und auf die Abreise ihrer Base und Herrin die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

LEHRE, welche mir die heiligste Königin Maria gab

268. Meine Tochter, wenn das Verlangen des Geschöpfes von frommer, gottesfürchtiger Gesinnung kommt und mit gerader Meinung auf heilige Ziele gerichtet ist, so missfällt es dem Allerhöchsten keineswegs, wenn man ihm dies vorträgt; nur muss dies geschehen mit Ergebung in seinen heiligen Willen und mit vollkommener Bereitwilligkeit, alles zu tun, was seine göttliche Vorsehung verfügen wird. Stellen die Seelen sich mit diesem Gleichmut und dieser Gleichförmigkeit in die Gegenwart des Herrn, dann sieht er sie an wie ein mitleidsvoller Vater; er gibt ihnen dann immer, was recht ist, und verweigert ihnen nur, was nicht recht oder ihrem wahren Heile nicht dienlich ist. Das Verlangen meiner Base Elisabeth, mich ihr Leben lang zu begleiten und nie zu verlassen, kam von einem guten, frommen Eifer; es war jedoch ihr nicht dienlich und stimmte auch nicht überein mit dem Ratschluss des Herrn betreffs meiner Wirksamkeit, meiner Wanderungen und anderer Ereignisse, die mich erwarteten. Obwohl jedoch der Herr ihr diese Bitte abschlug, war sie ihm doch nicht missfällig; vielmehr gewährte er, was den Beschlüssen seines heiligen Willens und seiner unendlichen Weisheit nicht entgegenstand und zu ihrem Besten, sowie zu dem ihres Sohnes Johannes gereichte. Der Allmächtige bereicherte den Sohn und die Mutter für ihre Liebe zu mir und durch meine Vermittlung mit großen Gnaden und Gütern. Es ist immer ein bei Gott höchst wirksames Mittel, mit gutem Willen und guter Meinung ihn durch meine Vermittlung und mit Andacht zu mir zu bitten.

269. Ich will, dass du alle deine Bitten und Gebete im Namen meines heiligsten Sohnes und in dem meinigen aufopferst; vertraue dann ohne Furcht, dass sie erhört werden, wenn du sie mit geradester Meinung auf Gottes Wohlgefallen richtest. Betrachte mich mit liebevoller Gesinnung als deine Mutter, deinen Schutz und deine Zuflucht; weihe dich meiner Verehrung und Liebe und beachte, meine Teuerste, dass mein Verlangen nach deinem größeren Glück mich bewegt, dich das kräftigste und wirksamste Mittel zu lehren, wodurch es dir mit Gottes Gnade gelingen wird, große Schätze und Wohltaten von der freigebigsten Hand des Herrn zu erhalten. Aber mache dich derselben nicht unwürdig und halte sie nicht auf durch deine Schüchternheit und Zaghaftigkeit. Willst du mich bewegen, dich als meine teuerste Tochter zu lieben, so ahme eifrig nach, was ich dir über mein Verhalten offenbare; biete hierzu deine Kräfte und Sorgfalt auf, und sei versichert, dass jede Mühe, die du dir gibst, um die Frucht meiner Lehre zu erwerben, gut angewendet ist.

ZWEIUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Geburt des heiligen Johannes

Die Geburt des Vorläufers Christi, und was Maria, die erhabenste und heiligste Königin, bei dessen Geburt getan hat.

270. Die Stunde kam, da derjenige zur Welt geboren werden sollte, welcher als Morgenstern der klaren «Sonne der Gerechtigkeit» vorausging und den ersehnten Tag des Gesetzes der Gnade ankündigte. Es war die Zeit gekommen, dass Johannes, der große Prophet, ja der mehr war als ein Prophet, an das Licht der Welt treten sollte, um die Herzen der Menschen zu bereiten und mit dem Finger auf das Lamm zu zeigen, welches die Welt heilen und heiligen sollte. Ehe das gesegnete Kind den Mutterschoß verließ, offenbarte ihm der Herr, dass die Stunde seiner Geburt nahe, um die irdische Laufbahn in dem allen gemeinsamen Licht zu beginnen. Das Kind hatte den vollen Gebrauch der Vernunft, und dieser war noch erhöht durch das göttliche Licht und die eingegossene Weisheit, die es durch die Gegenwart des menschgewordenen Wortes erhalten hatte; darin erkannte und sah es, dass es auf einer mit dem Fluch belegten Erde voll gefährlicher Dornen anlanden und seine Füße in eine Welt setzen sollte, die mit Fallstricken bedeckt und mit Bosheiten besät ist, in eine Welt, auf welcher viele Schiffbruch leiden und zugrunde gehen.

271. Das erhabene Kind war wie schwebend und schwankend zwischen dieser Erkenntnis und der göttlichen und natürlichen Ordnung, kraft deren es nun auf die Welt kommen sollte; denn einerseits hatten die natürlichen Kräfte ihr Ziel erreicht, nämlich den Körper bis zur Vollkommenheit gebildet und genährt, so dass er natürlicherweise mit Macht getrieben wurde, den Mutterschoß zu verlassen; das Kind erkannte und fühlte dies auch, und zur Kraft der Natur kam noch der ausdrückliche Wille des Herrn, welcher ihm dasselbe gebot. Anderseits aber erkannte und erwog es, wie gefährlich die Laufbahn des menschlichen Lebens sei; so zwischen die Furcht und den Gehorsam gestellt, zögerte es aus Furcht und schickte sich zugleich an zu gehorchen. Es hätte gerne widerstanden und wollte doch gehorchen. So sprach es bei sich selber: «Wohin gehe ich, wenn ich in den Kampf eintrete mit Gefahr, Gott zu verlieren? Wie soll ich mich dem Verkehre mit den Menschen hingeben, wo so viele irre gehen und den Verstand verlieren und damit auch den Weg des Lebens? Hier, im Schoß meiner Mutter, bin ich in der Finsternis, aber ich gehe zu einer anderen, viel gefährlicheren Finsternis über. Seitdem ich das Licht der Vernunft erhalten, fühle ich mich eingeengt, aber noch mehr betrübt mich die Ungebundenheit und Freiheit der Menschen. Doch ich trete, o Herr, in die Welt, nach deinem Willen; diesen auszuführen ist ja immer das Beste. Kann ich mein Leben und meine Kräfte deinem Dienste weihen, o höchster König, so wird es mir dadurch allein schon leichter, an das Licht zu treten und die Laufbahn zu beginnen. O Herr, gib mit deinen Segen, um in die Welt einzutreten !»

272. Der Vorläufer Christi erlangte durch dieses Gebet, dass die göttliche Majestät ihm im Augenblick seiner Geburt aufs neue ihren Segen und ihre Gnade verlieh. Das glückliche Kind erkannte dies, denn es hatte ja Gott in seinem Geist gegenwärtig; auch wusste es, dass der Herr es sende, um große Dinge in seinem Dienst zu verrichten, und dass er ihm hierzu seine Gnade verspreche. Bevor ich nun diese gnadenreiche Geburt berichte, möchte ich deren Zeitpunkt in Übereinstimmung mit dem Texte der heiligen Evangelisten angeben. Ich bemerke daher, dass der gesegnete Zustand der heiligen Elisabeth neun Tage weniger als neun Monate dauerte; denn kraft des Wunders, durch welches die unfruchtbare Mutter Fruchtbarkeit erhielt, entwickelte sich das Kind in dieser Zeit vollkommen und war für die Geburt reif. Wenn der heilige Erzengel Gabriel zur seligsten Jungfrau sagte, dass ihre Base Elisabeth im sechsten Monate schwanger sei, so ist dies so zu verstehen, dass dieser Monat noch nicht vollendet war, denn es fehlten noch acht bis neun Tage. Ich habe auch oben im sechzehnten Hauptstücke gesagt, dass die Himmelskönigin am vierten Tage nach der Menschwerdung des Wortes abreiste, um die heilige Elisabeth zu besuchen; und eben weil diese Abreise nicht unmittelbar nach der Menschwerdung geschah, darum sagte der heilige Lukas, dass die heiligste Jungfrau «in jenen Tagen» sich aufmachte und mit Eile in das Gebirge ging (Lk 1, 39). Auf die Reise aber verwandte sie gleichfalls vier Tage, wie am nämlichen Ort (Nr. 208) gesagt worden ist.

273. Wenn der Evangelist Lukas sagt, die heiligste Jungfrau sei ungefähr drei Monate im Hause der heiligen Elisabeth gewesen, so ist zu bemerken, dass zu deren Vollendung bloß zwei bis drei Tage fehlten; denn der Text des heiligen Evangeliums ist in allem genau. Aus dieser Rechnung folgt notwendig, dass unsere Königin nicht bloß zur Zeit der Geburt des heiligen Johannes im Hause der heiligen Elisabeth weilte, sondern auch bei dessen Beschneidung und der Bestimmung seines geheimnisvollen Namens, wovon ich bald reden werde. Denn wenn wir acht Tage nach der Menschwerdung des Wortes rechnen, so kam Unsere Liebe Frau mit dem heiligen Joseph im Hause des Zacharias am zweiten April an, nach unserer Berechnung der Sonnenmonate (Oben Nr. 208) und zwar am Abend jenes Tages. Fügen wir nun noch drei Monate weniger zwei Tage hinzu, vom dritten April an begonnen, so ist dieser Zeitraum am ersten Juli einschließlich abgelaufen, und dieses ist eben der Tag der Beschneidung des heiligen Johannes und der Oktavtag seiner Geburt. Am folgenden Tage aber reiste die heilige Jungfrau in aller Frühe ab, um nach Nazareth zurückzukehren. Der heilige Evangelist Lukas erzählt zwar die Rückkehr unserer Königin in ihr Haus vor der Geburt des heiligen Johannes, allein die Abreise erfolgte nicht vor, sondern nach ihr, und der heilige Text hat diese Reise der himmlischen Königin nur darum früher erzählt, um alles, was sie betraf, zu vollenden und dann mit der Geschichte der Geburt des Vorläufers fortzufahren, ohne nochmals den Faden seines Berichtes zu unterbrechen(Lucas prius voluit pertexere totam historiam visitationis B. Virginis, deinde nativitatem Joannis ex ordine recensere, ne unam rem cum alia confunderet. Cornelius a Lap. in Luc. 1,56.).; dies wurde mir erklärt, damit ich es niederschreibe.

274. Als die Stunde der ersehnten Geburt herannahte, fühlte die heilige Mutter Elisabeth, dass das Kind in ihrem Schoß sich bewegte, als würde es sich erheben; es war dies die Wirkung der Natur und zugleich des Gehorsams des Kindes. Als einige mäßige Schmerzen für die Mutter sich einstellten, ließ sie Unsere Liebe Frau benachrichtigen, jedoch nicht rufen, um bei der Geburt gegenwärtig zu sein; denn die Ehrfurcht, welche sie der Würde Mariä und der Frucht ihres jungfräulichen Schoßes schuldig war, hielt sie klugerweise ab, zu verlangen, was nicht geziemend schien. Die große Königin kam auch nicht in Person dahin, wo ihre Base war, aber sie schickte die Windeln und das Wickelzeug, welche sie vorbereitet hatte, um das glückliche Kind einzuwickeln. Kurz darauf kam das Kind zur Welt, ganz vollkommen und ausgewachsen, und es gab durch die Reinheit des Leibes die seiner Seele kund; denn es war reinlicher als andere Kinder. Man wickelte es in die Windeln, welche vorher schon große, verehrungswürdige Reliquien waren. Einige Zeit nachher, da die heilige Elisabeth bereits vollkommen bereitet war, verließ die heiligste Jungfrau Maria auf Befehl des Herrn ihr Betkämmerchen und ging hin, um das Kind und die Mutter zu besuchen und diese zu beglückwünschen.

275. Die Himmelskönigin nahm den Neugebornen auf die Bitte seiner Mutter in ihre Arme und brachte ihn dem ewigen Vater als eine neue Opfergabe dar. Seine göttliche Majestät aber nahm das Opfer mit großem Wohlgefallen an als die Erstlingsfrucht der Werke seines menschgewordenen Sohnes und als den Beginn der Ausführung seiner göttlichen Ratschlüsse. Das glückseligste Kind erkannte, vom Heiligen Geist erfüllt, seine rechtmäßige Königin und Herrin und bewies ihr seine Ehrfurcht, und zwar nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich durch eine leichte Verbeugung des Hauptes; auch dem menschgewordenen Wort Gottes im Schoß seiner reinsten Mutter brachte es wiederum seine Anbetung dar, denn dasselbe offenbarte sich ihm in jenem Augenblick in einem ganz wunderbaren Lichte. Die Gnade, welche ihm vor allen Menschen zuteil geworden, war ihm wohlbekannt; darum verrichtete das dankbare Kind erhabene Akte der Dankbarkeit, der Liebe, der Demut und der Verehrung für den Gottmenschen und dessen jungfräuliche Mutter. Als diese das Kind dem ewigen Vater aufopferte, verrichtete sie folgendes Gebet für das Kind: «Allerhöchster Herr, unser heiliger und mächtiger Vater, nimm an zu deinem Dienst diese Erstlingsfrucht deines heiligsten Sohnes, meines Herrn. Dieses Kind ist durch deinen Eingebornen geheiligt und erlöst von der Gewalt und den Wirkungen der Sünde und deiner alten Feinde. Nimm dieses Morgenopfer an und gieße durch deinen heiligen Segen diesem Kind deinen göttlichen Geist ein, damit es den Dienst getreu verwalte, für welchen du es bestimmt hast, zu deiner und deines Eingebornen Ehre». Dieses Gebet unserer Königin und Herrin war vollkommen wirksam; sie erkannte, dass der Allerhöchste das zu seinem Vorläufer auserkorene Kind mit Gnaden bereicherte, und dieses selbst fühlte auch in seinem Geist die Wirkung so wunderbarer Gaben.

276. Während die große Königin und Herrin des Weltalls den kleinen Johannes in ihren Armen hielt, war sie eine Zeitlang unvermerkt in einer wonnevollen Verzückung; während derselben verrichtete sie das Gebet und die Aufopferung für das Kind, indem sie es an ihre Brust gelehnt hielt, an welcher gar bald der Eingeborne des Vaters und ihr Eingeborner ruhen sollte. Es war dies ein ganz besonderes, außerordentliches Vorrecht des großen Vorläufers, ein Vorrecht, das keinem anderen Heiligen beschieden ward. Darum ist es auch nicht zu verwundern, wenn der Engel von ihm sagte, er werde «groß sein vor dem Herrn» (Lk 1,15); er wurde ja schon vor seiner Geburt vom Herrn besucht und geheiligt, bei seiner Geburt aber wurde er auf den Thron der Gnade erhoben und zuerst von den Armen umschlossen, auf welchen der menschgewordene Gott ruhen sollte; er regte auch in dessen süßester Mutter das Verlangen an, ihren Sohn und Herrn selbst mit ihren Armen zu umfangen, ein Gedanke, welcher sie mit den lieblichsten Gefühlen für den neugeborenen Vorläufer erfüllte. Die heilige Elisabeth erkannte diese göttlichen Geheimnisse; denn der Herr offenbarte ihr dieselben, während sie ihren wunderbaren Sohn in den Armen derjenigen sah, welche in höherem Sinne seine Mutter war als sie selbst; verdankte er ja der heiligen Elisabeth nur das natürliche Leben, der reinsten Jungfrau hingegen das Leben der Gnade, und zwar einer so ausgezeichneten Gnade. Dies alles bildete eine höchst liebliche Harmonie in den Herzen der beiden glücklichsten Mütter und im Herzen des Kindes; denn auch dieses wurde über diese verehrungswürdigen Geheimnisse erleuchtet und äußerte durch die kindlichen Bewegungen seiner zarten Glieder den Jubel seines Geistes. Es neigte sich zur himmlischen Königin und suchte von derselben liebkost zu werden und bei ihr zu bleiben. Die mildeste Herrin liebkoste es auch, aber mit solcher Majestät und Mäßigung, dass sie es niemals küsste, was doch für ein solches Alter als zulässig gilt; denn sie bewahrte ihre keuschesten Lippen unberührt für ihren heiligsten Sohn. Ja sie schaute nicht einmal aufmerksam dem Kind in das Gesicht; alle ihre Aufmerksamkeit richtete sie auf die Heiligkeit seiner Seele, und kaum würde sie es äußerlich von Angesicht gekannt haben. So groß war die Klugheit und die Sittsamkeit der erhabenen Himmelskönigin.

277. Bald verbreitete sich, wie der heilige Lukas berichtet (Lk 1, 58), die Kunde von der Geburt des Johannes. Es kamen nun alle Verwandten und Nachbarn, um Zacharias und Elisabeth zu beglückwünschen; denn ihre Familie war reich, vornehm und in der ganzen Gegend geachtet, und durch ihre Heiligkeit hatten beide die Herzen aller gewonnen, welche sie kannten. Aus diesem Grund und weil man sie so viele Jahre lang kinderlos gesehen und die heilige Elisabeth in vorgerücktem Alter und unfruchtbar war, herrschte bei allen um so größere Verwunderung und höchste Freude; denn sie erkannten, dass dieses Kind mehr einem Wunder als der Natur zu verdanken sei. Der heilige Priester Zacharias war noch immer durch Stummheit verhindert, seinen Jubel auszusprechen; denn die Stunde, da seine Zunge auf so geheimnisvolle Weise gelöst werden sollte, war noch nicht gekommen. Er gab aber durch andere Zeichen seine innere Freude zu erkennen und brachte dem Herrn wiederholt die innigsten Lobpreisungen und Danksagungen dar für diese so außerordentliche Wohltat, die er jetzt, befreit von seiner Ungläubigkeit, anerkannte; ich werde aber im folgenden Hauptstück noch mehreres hierüber berichten.

LEHRE, welche mir die Königin des Himmels gab

278. Meine teuerste Tochter, wundere dich nicht, dass mein Diener Johannes fürchtete und Schwierigkeiten machte, in die Welt einzutreten; denn die unwissenden Kinder der Welt können dieselbe nicht in solchem Grad lieben, wie die Weisen sie verabscheuen und deren Gefahren fürchten, weil sie himmlisches Wissen und Licht von oben besitzen. Dieses Licht war aber dem künftigen Vorläufer meines heiligsten Sohnes in hervorragendem Grad verliehen; darum erkannte er die Gefahr, um die es sich handelte, und fürchtete deswegen, was er erkannte. Die Furcht diente ihm aber nur dazu, in glücklicher Weise in die Welt einzutreten; denn je mehr man die Welt kennt und verabscheut, um so sicherer fährt man auf ihren stürmischen Wogen und tiefen Abgründen.

Das glückliche Kind begann seine Laufbahn mit solchem Ekel, solcher Abneigung, solchem Abscheu vor dem Irdischen, dass es in dieser Feindschaft nie Waffenstillstand machte. Es schloss keinen Frieden mit dem Fleisch und nahm dessen vergiftete Schmeicheleien nicht an; es gab seine Sinne nicht hin an die Eitelkeit, noch öffnete es seine Augen, um dieselbe zu sehen; und mit diesem Verlangen, die Welt und alles, was es in der Welt gibt, zu verabscheuen, gab es sein Leben für die Gerechtigkeit. Der Bürger des wahren Jerusalem kann ja nicht Frieden und Bündnis schließen mit BabyIon, und es ist unvereinbar, die Gnade des Herrn zu suchen und zu besitzen, und zugleich die Freundschaft seiner erklärten Feinde; denn niemand konnte und kann je zwei Herren dienen, die sich feindlich gegenüberstehen; Licht und Finsternis, Christus und Belial können nicht vereinigt werden (2 Kor 6,14.15)

279. Du aber, liebste Tochter, fürchte diejenigen, welche von der Finsternis eingenommen und Liebhaber der Welt sind; fürchte sie mehr als das Feuer, denn die Weisheit der Kinder dieser Welt ist fleischlich, ja teuflisch (Röm 8, 7), und ihre finsteren Wege führen zum Tod. Und wenn der Fall eintritt, dass du jemand zum wahren Leben führen musst, so sollst du zwar freilich zu diesem Zweck dein zeitliches Leben zum Opfer anbieten, aber den Frieden des Herzens hast du dabei immer zu bewahren.

Drei Wohnungen bezeichne ich dir, in denen du dein Leben zubringen und die du niemals mit freiem Willen verlassen sollst. Und wenn dir auch manchmal der Herr befiehlt, den Nebenmenschen in ihren Bedürfnissen beizuspringen, so soll dies geschehen, ohne dass du deine Zufluchtsstätte verlassest. Du musst es machen wie jemand, der auf einer Burg lebt, die rings von Feinden umgeben ist. Ein solcher geht, wenn etwas notwendig zu verhandeln ist, nur bis an das Tor; von da aus trifft er die nötigen Anordnungen, und zwar mit solcher Umsicht, dass er nicht so sehr auf die Geschäfte nach außen, als vielmehr auf den Rückweg bedacht ist, auf dem er sich wieder in die Verborgenheit zurückziehen kann; immer ist er in Unruhe und Furcht vor der Gefahr. Dasselbe musst auch du beobachten, wenn du in Sicherheit leben willst; denn zweifle nicht, dass Feinde dich umringen, welche grausamer und giftiger sind als Nattern und Basilisken.

280. Deine Wohnungen müssen sein: die Gottheit des Allerhöchsten die Menschheit meines heiligsten Sohnes und die Verborgenheit deines Innern. In der Gottheit musst du leben, wie die Perle in der Muschel und wie der Fisch im Meer; in der Gottheit unermesslichen Räumen sollst du deine Anmutungen und Wünsche entfalten. Die heiligste Menschheit meines Sohnes wird deine Schutzmauer sein; sein geöffnetes Herz das Brautgemach, in welchem du ruhst unter dem Schatten seiner Flügel. Dein Inneres wird dir durch das Zeugnis des Gewissens Friede und Freude geben, und wenn du dein Gewissen rein bewahrst, so wird es dir den vertrauten und süßen Umgang mit deinem Bräutigam erleichtern. Du sollst dich hierzu durch die leibliche und äußere Zurückgezogenheit vorbereiten; und darum ist es mein Wunsch und Wille, dass du in deinem Chor oder deiner Zelle bleibst und sie nur verlassest, wenn die Macht des Gehorsams oder die Übung der Liebe dich dazu antreiben. Hierüber offenbare ich dir folgendes Geheimnis: es gibt böse Geister, welche von Luzifer eigens aufgestellt und ausdrücklich beauftragt sind, den Ordenspersonen, seien es Männer oder Frauen, aufzulauern, wenn sie ihre Einsamkeit verlassen, um sie alsdann augenblicklich anzufallen, mit einem Sturm von Versuchungen zu umringen und auf diese Weise zum Fall zu bringen. Die bösen Geister gehen nicht leicht in die Zellen hinein; denn da gibt es nicht soviel Gelegenheit zum Reden, Sehen und überhaupt zum Missbrauch der Sinne, wodurch sie gewöhnlich ihre Beute machen und wovon sie sich nähren, wie hungrige Wölfe. Die Zurückgezogenheit der Ordensleute und die Sittsamkeit, welche diese darin beobachten, ist darum den bösen Geistern eine Qual und ein Schrecken, weil sie keine Hoffnung haben, sie zu überwinden, solange sie dieselben nicht in der Gefahr des Verkehrs mit der Welt antreffen.

281. Im allgemeinen ist es sicher, dass die bösen Geister keine Macht über die Seelen haben, wenn diese sich nicht ihnen unterwerfen und ihnen Einlass gewähren durch eine lässliche oder durch eine Todsünde; denn die Todsünde gibt den bösen Geistern gewissermaßen ein ausdrückliches Recht, den Sünder zu anderen zu verleiten; die lässliche Sünde aber schwächt die Kräfte der Seele und gibt dem Feinde größere Stärke zum Versuchen; die Unvollkommenheiten endlich halten die Verdienste und den Fortschritt in der Tugend und Vollkommenheit auf, und geben so ebenfalls dem Feind Mut. Erkennt dieser dann, dass eine Seele in der Lauheit verbleibt oder sich leichtsinnig der Gefahr aussetzt, mit müßiger Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit über ihren Verlust, dann lauert die arglistige Schlange ihr auf und folgt ihr, um sie mit ihrem tödlichen Gift zu treffen. Wie ein argloses Vöglein treibt der böse Feind diese Seele, ohne dass sie es bemerkt, bis sie in eine der vielen Schlingen gerät, welche er ihr legt.

282. Staune, meine Tochter, über das, was du durch göttliches Licht hierüber erkannt hast, und beweine mit innigstem Schmerze den Untergang so vieler Seelen, welche in diesen gefahrvollen Schlaf versunken sind. Sie leben dahin, verblendet durch ihre Leidenschaften und verdorbenen Neigungen, unbekümmert um Gefahr, gleichgültig gegen ihren Schaden, unvorsichtig in den Gelegenheiten; ja, anstatt dieselben zu fürchten und zu meiden, suchen sie dieselben mit blinder Unwissenheit auf. Sie folgen ihren verkehrten Neigungen zum Bösen mit rasendem Ungestüm, legen ihren Leidenschaften und Wünschen keinen Zügel an und geben nicht acht, wohin sie den Fuß setzen. In jede Gefahr, in jeden Abgrund stürzen sie sich. Die Feinde aber sind ohne Zahl, ihre Arglist ist teuflisch und unersättlich, ihre Wachsamkeit ohne Stillstand, ihr Zorn ist nicht zu stillen, ihre Sorgfalt lässt nie nach. Ist es da zu verwundern, wenn ähnliche, oder besser gesagt, solche unähnliche und ungleiche Gegensätze so vielen und unersetzlichen Schaden unter den Menschen anrichten? Ist es zu verwundern, dass, wie die Zahl der Toren, so auch die Zahl der Verworfenen unendlich ist (Koh 1,15), und dass der Satan so vieler Triumphe sich rühmt, welche die Sterblichen zu ihrem eigenen, entsetzlichen Untergang ihm bereiten? Möge doch der ewige Gott vor solchem Unglück dich bewahren ! Weine und trauere über das Unglück deiner Brüder und flehe unablässig um Abhilfe, so weit eine solche möglich ist.

DREIUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Beschneidung des heiligen Johannes. Weissagung des Zacharias

Weisungen und Lehren, welche die heiligste Jungfrau Maria der heiligen Elisabeth auf ihr Verlangen gab. Beschneidung des Kindes; es wird ihm ein Name gegeben. Weissagung des Zacharias.

283. Nachdem der Vorläufer Christi geboren war, musste jetzt die Rückkehr der heiligsten Jungfrau nach Nazareth erfolgen. Die heilige Elisabeth unterwarf sich hierin als kluge und weise Frau dem göttlichen Willen und mäßigte dadurch einigermaßen ihren Schmerz; allein sie wünschte doch für den Schmerz der Trennung wenigstens einige Linderung in den Belehrungen, die sie von der Mutter der Weisheit zu empfangen hoffte. In dieser Absicht sprach sie zu ihr: «Meine Herrin, Mutter meines Schöpfers, ich weiß wohl, dass du dich zur Abreise bereitest; dann werde ich allein sein, dann werde ich deiner liebenswürdigen Gesellschaft, deines Beistandes und Schutzes beraubt sein. Ich bitte dich, meine Base, gewähre, dass mir während deiner Abwesenheit wenigstens eine Lehre von dir bleibe, die mir helfen wird, alle meine Handlungen zum größeren Wohlgefallen Gottes einzurichten. In deinem jungfräulichen Schoß besitzst du ja den Lehrmeister, der die Weisen unterrichtet, die Quelle des Lichtes selbst, und durch ihn kannst du dieses Licht allen Menschen mitteilen. Teile doch deiner Dienerin einen der Strahlen mit, welche in deinem reinsten Geist erglänzen, damit der meine erleuchtet und auf die geraden Pfade der Gerechtigkeit geleitet werde, bis ich das Glück erlange, 'den Gott der Götter auf Sion zu schauen'» (Ps 84, 8).

284. Die Worte der heiligen Elisabeth erweckten im Herzen der heiligsten Jungfrau zärtliches Mitleiden. In diesen Gefühlen antwortete sie ihrer Base und gab ihr himmlische Weisungen für ihr Verhalten in der noch übrigen Lebenszeit; sie sagte, diese werde kurz sein, es werde aber der Herr für das Kind sorgen, und auch sie selbst wolle Gott darum bitten. Es ist zwar nicht möglich, alles zu berichten, was die himmlische Herrin der heiligen Elisabeth bei dieser süßesten Unterredung zum Abschied empfohlen und geraten hat, ich will aber doch einiges sagen, wie es mir geoffenbart worden, oder wie meine unzureichenden Worte das, was ich geschaut habe, auszudrücken vermögen. Die heiligste Jungfrau Maria sagte: « Meine Base und Freundin, der Herr hat dich für seine Werke und seine erhabenen Geheimnisse auserwählt. Er hat sich gewürdigt, dir große Erleuchtungen über dieselben mitzuteilen; auch hat er gewollt, dass ich dir mein Herz eröffne. In diesem Herzen trage ich dich eingegraben, um dich Seiner Majestät darzustellen; nie werde ich die demütige Güte vergessen, welche du dem unnützesten aller Geschöpfe erwiesen hast, und ich hoffe, dass du von meinem heiligsten Sohn und Herrn überreiche Belohnung erhalten wirst.

285. «Richte allezeit deinen Geist und Sinn zum Himmel empor; in dem Gnadenlicht, welches du besitzst, betrachte beständig das unveränderliche Wesen des ewigen, unendlichen Gottes und die unermessliche Güte, die ihn bewogen, die Geschöpfe aus nichts zu erschaffen, um sie zu seiner Herrlichkeit zu erheben und mit seinen Gaben zu bereichern. Es ist dies zwar eine Pflicht, die allen Geschöpfen gemeinsam obliegt; allein uns hat die Barmherzigkeit des Herrn sie in ganz besonderer Weise auferlegt, da er uns vor anderen mit Erleuchtungen über diese Geheimnisse begnadigt hat. Darum sollen wir unser Herz erweitern und durch unsere Dankbarkeit Ersatz zu leisten suchen für die Blindheit und Undankbarkeit der Menschen, welche durch eben diese Undankbarkeit sich von der Erkenntnis und Verherrlichung ihres Schöpfers so weit entfernt haben. Dies muss unser Geschäft sein, und darum müssen wir unser Herz von allem losmachen, damit es frei und ungehindert seinem glücklichen Ziel zueile. Zu diesem Zweck ermahne ich dich inständig, dein Herz von allem Irdischen, selbst von deinem Eigentum loszureißen und zu entfernen, damit du, von irdischen Hindernissen frei, schnell dem Rufe Gottes folgst. Hoffe auf die Ankunft des Herrn, damit, wenn er kommt, du ihm mit Freuden antwortest, ohne die schmerzliche Gewalt, welche die Seele fühlt, wenn es Zeit ist, vom Körper zu scheiden und von allem übrigen, das sie übermäßig liebt. Jetzt ist die Zeit zu leiden und die Krone zu erwerben; trachten wir sie zu verdienen und schnell vorwärts zu schreiten, um zur innigsten Vereinigung mit unserem wahren und höchsten Gute zu gelangen».

286. «Sei bedacht, deinem Gemahl und Haupt Zacharias, solang er leben wird, mit großer Unterwürfigkeit zu gehorchen, ihn zu lieben und ihm zu dienen. Opfere deinen wunderbaren Sohn allezeit seinem Schöpfer auf; du kannst denselben in Gott und um Gottes willen als Mutter lieben; denn er wird ein großer Prophet sein, und er wird mit dem Eifer des Elias, den der Allerhöchste ihm geben wird, das Gesetz und die Ehre des Herrn verteidigen und für die Erhöhung seines heiligen Namens arbeiten. Mein heiligster Sohn, der ihn zu seinem Vorläufer und zum Verkünder seiner Ankunft und seiner Lehre erwählt hat, wird ihn wie seinen Vertrauten behandeln; er wird ihn mit seinen Gnaden erfüllen, ihn groß und wunderbar machen für alle Geschlechter und seine Größe und Heiligkeit der Welt offenbaren.»

287. «Sorge mit glühendem Eifer dafür, dass der heilige Name unseres Herrn, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs in deinem ganzen Haus und in deiner Familie gefürchtet und verehrt werde. Außerdem wirst du mit großer Sorgfalt der Hilfsbedürftigen und Armen dich nach Kräften annehmen, sie mit den zeitlichen Gütern bereichern, welche der Allerhöchste dir mit freigebiger Hand verlieh, damit du sie mit der nämlichen Freigebigkeit den Dürftigen austeilst. Diese Güter gehören ja mehr ihnen als dir; denn wir alle sind ja Kinder eines Vaters, der im Himmel ist, und welchem alles Erschaffene gehört; und es ist nicht recht, dass eines reichen Vaters Kind im Überfluss leben will, während sein Bruder in Armut darbt; dadurch wirst du dem unsterblichen Gott der Erbarmungen sehr wohlgefällig sein. Setze fort, was du tust, und führe aus, was du dir vorgenommen hast, denn Zacharias überlässt es deiner Verfügung; mit dieser Zustimmung darfst du freigebig sein. Alle Leiden, welche der Herr dir zusenden wird, sollen dir dazu dienen, in der Hoffnung stärker zu werden. Gegen die Mitmenschen sei gütig, sanft, demütig, gefällig und sehr geduldig, und zwar mit innerer Seelenfreude; denn wenn auch einzelne das Werkzeug der Prüfung für dich sein sollten, so bereiten sie dir auch die Krone. Preise den Herrn ewiglich für die hocherhabenen Geheimnisse, welche er dir geoffenbart hat. Bitte ihn mit unermüdlicher Liebe und mit Eifer um das Heil der Seelen; für mich aber wollest du Seine Majestät bitten, dass er mich leite und regiere, auf dass ich das Geheimnis, welches seine unermessliche Güte einer so niedrigen und armen Magd anvertraut hat, würdig und zu seinem Wohlgefallen verwalte. Lasse nun meinen Bräutigam holen, damit er mich begleite. Unterdessen bereite alles für die Beschneidung deines Sohnes vor und gib ihm den Namen Johannes; denn diesen hat ihm der Allerhöchste durch einen Beschluss seines unabänderlichen Willens gegeben.»

288. Diese und andere Worte des Ewigen Lebens, welche die heiligste Jungfrau Maria aussprach, brachten im Herzen der heiligen Elisabeth so göttliche Wirkungen hervor, dass die heilige Matrone einige Zeit verzückt und in Stillschweigen versenkt war durch die Kraft des Geistes, welcher sie erleuchtete, belehrte und emporhob zu den einer so himmlischen Lehre entsprechenden Gesinnungen und Anmutungen; denn der Allerhöchste belebte und erneuerte das Herz seiner Dienerin durch die Worte seiner reinsten Mutter, wie mittelst eines lebendigen Instrumentes. Darauf mäßigte sie etwas ihre Tränen und sagte: «Meine Herrin, Königin alles Erschaffenen, ich bin verstummt, teils vor Schmerz und teils vor Trost. Höre die Worte, die sich im Innersten meines Herzens bilden, die ich aber nicht ausdrücken kann; meine Gefühle mögen dir sagen, was meine Zunge nicht auszusprechen vermag. Ich überlasse dem Allmächtigen, dir die Gnade zu vergelten, welche du mir erwiesen; er ist der Belohner dessen, was wir Arme empfangen. Nur um das eine bitte ich dich: weil du in allem meine Zuflucht und die Ursache meines Heiles bist, so erlange mir Gnade und Stärke, deine Lehre auszuführen und das Entbehren deiner süßen Gesellschaft zu ertragen; denn groß ist mein Schmerz».

289. Man bereitete zur Beschneidung des Kindes vor; denn bereits nahte die vom Gesetz bestimmte Zeit. Wie es bei den Juden, besonders bei den Vornehmen, gebräuchlich war, versammelten sich im Haus des Zacharias viele seiner Verwandten und Bekannten und beratschlagten, welchen Namen man dem Kinde geben solle. Es war nämlich etwas Gewöhnliches, dass man bei einem solchen Anlass über die Wahl des Namens lange Besprechungen und Beratungen hielt; in unserem Fall aber lag ein außerordentlicher Grund vor, sowohl wegen der persönlichen Eigenschaften des Zacharias und der heiligen Elisabeth, als auch wegen des Wunders, dass letztere, obwohl bejahrt und unfruchtbar, empfangen und geboren hatte, ein Wunder, das alle reiflich erwogen und in welchem sie ein großes Geheimnis vermuteten. Da Zacharias stumm war, so musste seine Frau, die heilige Elisabeth, bei dieser Versammlung den Vorsitz führen. Hegten nun bereits alle für sie große Achtung und Verehrung, so war sie, seitdem die Himmelskönigin sie besucht, ihre Geheimnisse ihr mitgeteilt und viel mit ihr verkehrt hatte, in der Heiligkeit so erneuert und erhöht worden, dass alle Verwandten, Nachbarn und viele andere diese Veränderung gewahrten; denn selbst auf ihrem Gesicht zeigte sich ein gewisser Glanz, der sie ehrwürdig und wunderbar erscheinen ließ. Man gewahrte an ihr den Abglanz der Strahlen der Gottheit, in deren Nähe sie lebte.

290. Die himmlische Königin, die heiligste Jungfrau Maria, war bei dieser Versammlung gleichfalls zugegen. Die heilige Elisabeth hatte sie nämlich dringendst darum gebeten und sie durch einen sehr ehrfurchtsvollen und demütigen Befehl dazu bewogen. Die große Königin gehorchte; aber sie hatte vorher vom Allerhöchsten sich die Gnade erbeten, dass er sie nicht bekannt werden lasse und von seinen verborgenen Gnaden, derentwegen man sie geehrt und gepriesen hätte, nichts offenbare. Das Verlangen der Demütigsten unter allen Demütigen wurde erfüllt; die Welt lässt ja diejenigen in der Verborgenheit, welche nicht sich selbst mit Prahlerei zeigen und hervortun, und so schenkte ihr niemand besondere Aufmerksamkeit. Nur die heilige Elisabeth betrachtete sie mit inniger und äußerer Ehrerbietigkeit und wusste, dass von ihrer Leitung der glückliche Ausgang der Beratung abhänge. Dann geschah, was im Evangelium des heiligen Lukas berichtet wird: Einige wollten das Kind Zacharias nennen, wie sein Vater hieß; allein die kluge Mutter, von der heiligsten Lehrmeisterin unterstützt, sagte: «Mein Sohn muss Johannes heissen». Die Verwandten wendeten ein, es habe niemand aus ihrer Familie diesen Namen getragen, und man habe doch immer die Namen der ausgezeichnetsten unter den Ahnen hochgeschätzt, als einen Sporn, diesen in etwa nachzufolgen. Doch die heilige Elisabeth drang darauf, dass das Kind Johannes genannt werden solle.

291. Obwohl Zacharias stumm war, so wollten die Verwandten doch durch Zeichen wissen, was er darüber denke.

Er verlangte von ihnen einen Griffel und schrieb: «Johannes ist sein Name». Während er dies schrieb, machte die heiligste Jungfrau von der Gewalt, welche ihr Gott als Königin über alle natürlichen, geschaffenen Dinge verliehen hatte, Gebrauch; sie gebot der Stummheit des Zacharias, ihn zu verlassen, und seiner Zunge, sich zu lösen und den Herrn zu preisen, weil jetzt die Zeit erfüllt sei. Auf diesen Befehl der Himmelskönigin ward Zacharias befreit, er fing an zu reden, so dass, wie der Evangelist erzählt, alle Anwesenden von Furcht und Verwunderung ergriffen wurden. Der heilige Erzengel Gabriel hatte zwar, wie bei demselben Evangelisten zu lesen ist, zu Zacharias gesagt, dass er wegen seiner Ungläubigkeit stumm bleiben werde, bis das ihm Verkündete sich erfüllt habe; doch dies steht dem, was ich sage, nicht entgegen. Denn wenn der Herr einen Beschluss seines göttlichen Willens offenbart und derselbe auch wirksam und unbedingt ist, so erklärt er doch nicht immer die Mittel, durch welche er ihn ausführt und welche er in seiner Allwissenheit vorhersieht. So erklärte denn der Engel dem Zacharias, dass er stumm sein werde zur Strafe seines Ungehorsams; aber er sagte nicht, dass er durch die Vermittlung der heiligsten Jungfrau Maria davon befreit würde, wiewohl auch dies vom Herrn vorhergesehen und beschlossen war.

292. Wie die Stimme Unserer Lieben Frau das Werkzeug gewesen war, durch welches das Kind Johannes und seine Mutter Elisabeth geheiligt wurden, so war auch jetzt ihr geheimer Befehl und ihr Gebet das Werkzeug, wodurch die Zunge des Zacharias gelöst und er selbst mit dem Heiligen Geist und der Gabe der Weissagung erfüllt wurde. Mit dieser Gabe ausgerüstet, sprach er:

«Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels; denn er hat sein Volk heimgesucht und ihm Erlösung verschafft.

Ein Horn des Heiles hat er uns aufgerichtet im Haus Davids, seines Knechtes,

wie er es durch den Mund seiner heiligen Propheten zu allen Zeiten verheißen hat:

Uns zu erlösen von unsern Feinden, und aus der Hand aller, die uns hassen:

An unsern Vätern Barmherzigkeit zu tun, und eingedenk zu sein seines heiligen Bundes,

des Eides, den er unserem Vater Abraham geschworen hat, uns zu verleihen,

dass wir, aus der Hand unserer Feinde erlöst, furchtlos ihm dienen,

in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor ihm alle Tage unseres Lebens.

Und du, Kind, wirst ein Prophet des Allerhöchsten genannt werden; denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen um ihm den Weg zu bereiten,

Um sein Volk zur Erkenntnis des Heiles zu führen, zur Vergebung ihrer Sünden,

Durch die innigste Barmherzigkeit unseres Gottes, in welche uns heimgesucht hat der Aufgang aus der Höhe.

Um denen zu leuchten, die im Finstern und Todesschatten sitzen, und unsere Füße auf den Weg des Friedens zu leiten.»

293. In diesem himmlischen Lobgesange hat Zacharias alle die hocherhabenen Geheimnisse kurz zusammengefasst, welche die alten Propheten über die Gottheit und Menschheit Christi sowie über das Werk der Erlösung ausführlich vorausverkündet hatten. In wenigen Worten schloss Zacharias viele und große Geheimnisse ein, und er hatte auch das Verständnis von ihrer vermöge der reichlichen Gnade, welche seinen Geist erleuchtete und ihn mit größtem Feuereifer erhob in Gegenwart aller, die der Beschneidung seines Sohnes beigewohnt hatten; denn alle sahen das Wunder, dass seine Zunge sich löste und dass er solch göttliche Geheimnisse weissagte. Die tiefe Bedeutung dieser Geheimnisse aber, wie sie dem heiligen Priester erschlossen war, vermag ich wohl kaum zu erklären.

294. «Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels.» Indem Zacharias so sprach, erkannte er, dass der Allerhöchste auch durch seinen bloßen Willen oder durch sein bloßes Wort die Erlösung seines Volkes hätte bewerkstelligen und ihm das ewige Heil hätte geben können (Es stand Gott frei, auf die seiner Gerechtigkeit gebührende Genugtuung zu verzichten. Der Übersetzer), dass er aber nicht bloß von seiner Macht, sondern auch von seiner unermesslichen Güte und Barmherzigkeit Gebrauch machen wollte, indem der Sohn des ewigen Vaters harabstieg, um sein Volk zu besuchen und sein Bruder zu werden in der menschlichen Natur, Lehrmeister durch seine Lehre und sein Beispiel, Erlöser durch sein Leben, sein Leiden und seinen Tod am Kreuze. Zacharias erkannte in jenem Augenblick die Vereinigung der beiden Naturen in der Person des Wortes und sah mit übernatürlicher Klarheit dieses große Geheimnis vollzogen im jungfräulichen Schoß der heiligsten Mutter Maria. Ebenso erkannte er die Erhöhung der Menschheit des Wortes und den Triumph, welchen Christus, der Gott-Mensch, erringen sollte, indem er dem Menschengeschlecht das ewige Heil verlieh gemäß den göttlichen Verheißungen, welche David, seinem Vater und Ahnen, gegeben worden waren. Er erkannte, dass die nämliche Verheißung in den Prophezeiungen der Heiligen und Propheten der Welt gegeben worden war schon seit ihrem Beginn; denn seit der Schöpfung und ersten Bildung der Welt hatte Gott damit begonnen, die Natur und die Gnade auf seine Ankunft in dieser Welt vorzubereiten, indem er von Adams Tagen an in all seinen Werken dieses heilbringende Ziel im Auge hatte.

295. Zacharias erkannte, wie der Allerhöchste anordnete, dass wir durch diese Mittel das Heil der Gnade erlangen sollen und das ewige Leben, welches unsere Feinde durch ihren Hochmut und hartnäckigen Ungehorsam, um dessentwillen sie in die Tiefe gestürzt wurden, verloren hatten. Er sah, wie die Sitze, welche für sie als Lohn des Gehorsams bestimmt waren, denjenigen zuerkannt wurden, die unter den Menschen gehorsam sein würden. Er erkannte, wie von da an die Feindschaft und der Hass, den die alte Schlange gegen Gott gefasst hatte, sich gegen die Menschen kehrte, und dass wir damals in Gottes Geist eingeschlossen und durch seinen heiligen und ewigen Willen erwählt wurden; dass er unsere ersten Eltern Adam und Eva, nachdem sie seine Freundschaft und Gnade verloren, in einen Stand und Ort der Hoffnung versetzte und sie nicht verließ und züchtigte, wie die aufrührerischen Engel; ja dass er, um ihren Nachkommen dieselbe Barmherzigkeit wie ihnen zuzusichern, die Prophezeiungen und die Vorbilder des Alten Bundes bestimmte, welche er im Neuen Bund durch die Ankunft des Erlösers bestätigen und erfüllen wollte. Damit aber diese Hoffnung noch sicherer sei, versprach er unserem Vater Abraham mit einem Eid, dass er ihn zum Vater seines Volkes und zum Vater des Glaubens machen werde. Und dies alles tat der Herr, damit wir einer so wunderbaren und mächtigen Wohltat versichert wären, der Wohltat nämlich, dass gemäß der Verheißung der göttliche Sohn Mensch werden und uns die Gnade und Freiheit der Kinder Gottes verleihen werde. So sollten wir Gott dienen ohne Furcht vor unseren Feinden, die bereits durch unseren Erlöser besiegt und unterworfen waren.

296. Und damit wir verständen, was der Sohn Gottes durch seine Ankunft uns erworben hat, um in Freiheit dem Allerhöchsten zu dienen, so sagte Zacharias weiter, dass er in Gerechtigkeit und Heiligkeit die Welt erneuert und sein neues Gesetz der Gnade gegründet habe für alle Tage des gegenwärtigen Lebens und für alle Tage jedes einzelnen Kindes der Kirche, in welcher ja alle in Heiligkeit und Gerechtigkeit leben würden, wenn alle, was sie können, auch wirklich tun wollten. Weil endlich Zacharias in seinem Sohn Johannes durch das göttliche Licht den Anfang der Ausführung so vieler Geheimnisse erkannte, so wandte er sich an diesen, wünschte ihm Glück und sagte ihm seine Würde, Heiligkeit und sein Amt vorher, mit den Worten: Und du, Kind, wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden; denn du wirst vor seinem Angesicht (das heisst vor seiner Gottheit) hergehen und ihm die Wege bereiten durch das Licht, welches du seinem Volke über die Ankunft seines Erlösers geben wirst, damit die Juden durch deine Predigt zur Erkenntnis ihres ewigen Heiles gelangen, welches kein anderes ist als Christus unser Herr, ihr verheissener Messias; und damit sie auf dessen Empfang sich vorbereiten durch die Bußtaufe und die Verzeihung der Sünden, und damit sie endlich erkennen, dass er komme, um ihre Sünden und die Sünden der ganzen Welt zu vergeben; denn zu alldem hat ihn seine innigste Barmherzigkeit bewogen. Aus Güte und Barmherzigkeit, nicht wegen unserer Verdienste hat er sich herabgelassen, uns zu besuchen, von der Höhe, aus dem Schoß seines ewigen Vaters niederzusteigen und auf die Welt zu kommen, um diejenigen zu erleuchten, welche während so langer Jahrhunderte die Wahrheit nicht kannten und darum in Finstern und im Schatten des ewigen Todes saßen und noch sitzen, und um sowohl ihre, als unsere Füße auf den Weg des wahren Friedens, den wir erwarten, zu leiten.

297. Von allen diesen Geheimnissen hatte Zacharias durch göttliche Offenbarung das vollkommenste und tiefste Verständnis, und alle fasste er in seiner Prophezeiung zusammen. Auch einige der Anwesenden, die ihn hörten, wurden durch die Strahlen des himmlischen Lichtes erleuchtet und erkannten, dass die Zeit des Messias und der Erfüllung der alten Weissagungen bereits gekommen sei. Staunend bei dem Innewerden und Schauen dieser neuen Wunder, sagten sie: «Was wird wohl aus diesem Kinde werden, an welchem die Hand des Herrn sich so mächtig und wunderbar zeigt?» Das Kind wurde beschnitten und erhielt den Namen Johannes, wozu sein Vater und seine Mutter auf wunderbare Weise mitgewirkt hatten; in allen Stücken wurde das Gesetz erfüllt. Und der Ruf dieser Wunder verbreitete sich in den Gebirgen von Judäa.

298. Königin und Herrin alles Erschaffenen, ich staune über diese wunderbaren Werke, welche der Allmächtige durch deine Vermittlung an deinen Dienern Elisabeth, an Johannes und Zacharias vollbracht hat, und ich erwäge, in welch verschiedener Weise die göttliche Vorsehung und deine höchste Klugheit dabei gehandelt haben. Denn für das Kind und die Mutter war dein süßestes Wort das Werkzeug, wodurch sie geheiligt und mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden; und dieses Werk war verborgen und geheim. Dass aber Zacharias sprach und erleuchtet wurde, bewirkte dein Gebet und dein geheimer Befehl; und diese Wohltat wurde für die Umstehenden offenbar, und sie erkannten die Gnade, welche der Herr dem heiligen Priester verliehen. Ich verstehe den Grund dieser Wunder nicht und stelle darum meine ganze Unwissenheit deiner Güte vor, damit du, als meine Lehrmeisterin, mich unterweisest.

ANTWORT und Lehre der Königin und Herrin der Welt

299. Meine Tochter, aus zwei Gründen blieb verborgen, was mein göttlicher Sohn in dem heiligen Johannes und in seiner Mutter Elisabeth durch mich gewirkt hat, während dies bei Zacharias offenbar wurde. Der erste Grund ist der, weil meine Dienerin Elisabeth laut das Lob des göttlichen, in meinem Schoß menschgewordenen Wortes, sowie mein Lob verkündete; es geziemte sich aber nicht, dass dieses Geheimnis und meine Würde so deutlich geoffenbart wurde; die Ankunft des Messias musste sich durch andere, geeignetere Mittel kundgeben. Der zweite Grund war, weil nicht alle Herzen wie das der heiligen Elisabeth vorbereitet waren, um ein so kostbares und außerordentliches Samenkorn zu empfangen, sie hätten so erhabene Geheimnisse nicht mit der gebührenden Ehrfurcht aufgenommen. Außerdem war Zacharias seiner Würde wegen geeigneter, zu offenbaren, was damals offenbar werden sollte; denn von ihm nahm man die erste Mitteilung des Lichtes mit mehr Hochachtung auf, als wenn Elisabeth in Gegenwart ihres Mannes gesprochen hätte; was sie sagte, wurde für seine Zeit aufbewahrt. Freilich tragen die Worte des Herrn ihre Kraft in sich; allein die Vermittlung des Priesters war für unwissende und mit den göttlichen Geheimnissen wenig vertraute Menschen das beste und geeignetste Mittel.

300. Ferner musste die priesterliche Würde anerkannt und geehrt werden. Der Allerhöchste achtet ja dieselbe so hoch, dass, wenn er in den Priestern die gebührende Disposition vorfindet, er sie immer erhöht und ihnen seinen Geist mitteilt, damit auch die Welt sie als seine Auserwählten und Gesalbten ehre. Überdies sind bei ihnen die Wunder des Herrn weniger der Gefahr ausgesetzt, so sehr sie sich auch in ihrer Größe offenbaren. Würden die Priester ihrer Würde entsprechen, so müssten ihre Werke den Werken der Seraphim gleichen, und ihre ganze Erscheinung müsste unter den anderen Menschen hervorleuchten wie die der Engel. Ihr Antlitz würde strahlen wie das des Moses, als er von Gottes Gegenwart und der Unterredung mit ihm kam. Wenigstens müssen sie mit den übrigen Menschen in solcher Weise verkehren, dass sie Ehrfurcht gegen Gott und danach auch gegen sich selbst einflößen. Du musst wissen, meine Teuerste, dass der Allerhöchste heutzutage über die Welt gar sehr erzürnt ist wegen der Beleidigungen, die ihm um von anderen Sünden zu schweigen - gerade in dieser Hinsicht von Priestern sowohl, als von Laien zugefügt werden. Gegen die Priester ist er erzürnt, weil viele ihre erhabene Würde vergessen und beschimpfen, indem sie sich selbst verächtlich machen, geldgierig sind und unbekümmert um ihre Heiligung der Welt ein böses Beispiel und Ärgernis geben. Den Laien aber zürnet Gott, weil sie verwegen und vermessen sind gegen die «Gesalbten des Herrn»; denn sind diese auch unvollkommen und in ihrem Wandel nicht lobenswert, so muss man sie doch ehren und hochschätzen, weil sie die Stelle Christi, meines heiligsten Sohnes, vertreten.

301. Wegen dieser dem Priestertum schuldigen Ehrfurcht war auch mein Verhalten gegen Zacharias verschieden von dem gegen die heilige Elisabeth. Denn obwohl ich nach Gottes Willen der Kanal oder das Werkzeug sein musste, um beiden seinen göttlichen Geist mitzuteilen, so grüßte ich doch Elisabeth in der Weise, dass ich durch die Stimme meines Grußes eine gewisse Gewalt an den Tag legte, um der Erbsünde zu gebieten, welche ihr Sohn auf sich hatte; und diese Sünde wurde ihm mittelst meiner Worte schon damals vergeben, und Sohn und Mutter wurden vom Heiligen Geist erfüllt. Ich hatte ja die Erbsünde mir nicht zugezogen, sondern war von ihr frei und ausgenommen; darum hatte ich bei dieser Gelegenheit Macht und Gewalt über sie und konnte ihr gebieten als Herrin, welche durch den Schutz des Herrn über dieselbe triumphiert hatte und nicht deren Sklavin war, wie die übrigen Kinder Adams, die in diesem gesündigt haben. So wollte der Herr, dass ich, um Johannes von der Knechtschaft und Gefangenschaft der Sünde zu befreien, der Sünde gebiete, als diejenige, welche ihr niemals unterworfen gewesen. Den Zacharias hingegen begrüßte ich nicht in solch gebietender Weise, sondern ich betete für ihn und beobachtete so den Anstand und die Ehrfurcht, welche seine Würde und meine Bescheidenheit erheischten. Obwohl ich seiner Zunge nur geistiger- und verborgenerweise gebot, sich zu lösen, so hätte ich doch aus Ehrfurcht gegen die priesterliche Würde auch dies nicht getan, wenn der Allerhöchste es mir nicht befohlen und mir zu verstehen gegeben hätte, dass die Person des Priesters mit dem Gebrechen der Stummheit nicht wohl bestellt sei, da er mit all seinen Fähigkeiten ungehindert und behende sein muss für den Dienst und das Lob des Herrn. Ich werde über die Ehrfurcht gegen die Priester bei einer anderen Gelegenheit mehr sagen; darum genüge dies für jetzt, um auf deinen Zweifel zu antworten.

302. Die Lehre, welche ich dir nun gebe, ist die: Sei bedacht, über den Weg der Tugend und des Ewigen Lebens dich von allen denjenigen belehren zu lassen, mit welchen du umgehst, seien es Vorgesetzte oder Untergebene. Du sollst hierin nachahmen, was meine Dienerin Elisabeth mir gegenüber getan hat, indem du alle in gebührender Weise und mit Klugheit bittest, dass sie dich unterrichten und zurechtweisen; denn für diese Demut verleiht der Herr gar oft gute, richtige Leitung und sendet sein göttliches Licht. So wird es auch bei dir sein, wenn du mit einfältiger Klugheit und mit Eifer für die Tugend vorgehst. Sei auch bedacht, die Schmeicheleien der Geschöpfe, welcher Art sie auch seien, bis aufs letzte Stäubchen von dir zu weisen und sie nicht zu dulden, ebenso die Unterhaltungen, in welchen du solche hören kannst; denn diese Blendwerke verdunkeln und verkehren den Verstand, wenn man nicht auf der Hut ist. Der Herr ist aber so eifersüchtig auf die Seelen, welche er innig liebt, dass er sich augenblicklich zurückzieht, wenn sie das Lob der Menschen annehmen und an den Schmeicheleien derselben Gefallen finden; denn durch diese Leichtfertigkeit machen sie sich seiner Gnade unwürdig. Es ist ja unmöglich, dass in einer und derselben Seele die Schmeicheleien der Welt und die Tröstungen Gottes vereinigt seien; die letzteren sind wahr, heilig, rein, beständig; sie machen das Herz demütig und rein, sie geben ihm Licht und Frieden. Die Schmeicheleien und Lobhudeleien der Menschen dagegen sind eitel, unbeständig, trügerisch, unrein und lügenhaft; denn sie kommen aus dem Munde derjenigen, von denen geschrieben steht, dass sie alle lügenhaft seien (Ps 116,11). Was aber Lüge ist, das ist das Werk des bösen Feindes.

303. Dein Bräutigam, meine teuerste Tochter, will nicht, dass deine Ohren falsche und weltliche Plaudereien anhören und ertragen, noch, dass die Schmeicheleien der Welt sie anstecken und besudeln. Darum will ich auch, dass du sie für all diesen giftigen Trug geschlossen haltest und sie wohlverwahrt bewachest, um auf denselben gar nicht zu achten. Wenn der Herr Freude daran hat, Worte des ewigen Lebens zu deinem Herzen zu sprechen, so ist es billig, dass du, um auf seine Worte zu hören und auf seine Liebe zu achten, für alles Irdische taub, gefühllos, ja abgestorben seist, und dass alles dieses für dich Qual und Tod sei. Beachte, dass du ihm große und zarte Liebe schuldest und dass die ganze Hölle die Weichheit deines Charakters benützen möchte, um denselben zu verderben, damit du zärtlich seist für die Geschöpfe und undankbar gegen den ewigen Gott. Wache mit aller Sorgfalt, um ihr mit Kraft zu widerstehen im Glauben an deinen geliebten Herrn und Bräutigam.

VIERUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Abschied vom Haus des Zacharias

Die heiligste Jungfrau nimmt vom Haus des Zacharias Abschied, um in ihre Heimat nach Nazareth zurückzukehren.

304. Als die seligste Jungfrau die Rückkehr in ihr Haus zu Nazareth antreten sollte, kam von dorther ihr glückseligster Bräutigam Joseph: denn man hatte ihn auf Anordnung der heiligen Elisabeth gerufen. Bei seiner Ankunft im Haus des Zacharias, wo man ihn erwartete, wurde er mit unbeschreiblicher Liebe und Ehrfurcht empfangen und behandelt sowohl von Elisabeth, als von Zacharias; denn nun hatte auch der heilige Priester erfahren, dass diesem großen Patriarchen die Geheimnisse und Schätze des Himmels anvertraut seien, obwohl er dieselben noch nicht kannte. Seine erhabene Braut empfing ihn mit demütiger und sittsamer Freude; sie kniete vor ihm nieder und bat ihn, wie sie gewohnt war, um seinen Segen. Auch bat sie um Verzeihung, dass sie während der Zeit von fast drei Monaten, welche sie bei ihrer Base Elisabeth zugebracht hatte, ihm nicht gedient habe. Freilich hatte sie hierbei weder einen Fehler, noch eine Unvollkommenheit begangen, vielmehr den Willen Gottes erfüllt, zum höchsten Wohlgefallen des Herrn und im Einvernehmen mit ihrem Bräutigam; allein die weiseste Herrin wollte durch diesen demütigen und liebevollen Akt der Höflichkeit ihren Bräutigam für den Trost entschädigen, dessen er durch ihre Abwesenheit entbehrt hatte. Der heilige Joseph antwortete, ihr Anblick und ihre Gegenwart hätten ihm solchen Trost gegeben, dass sein Schmerz über ihre Abwesenheit nunmehr gestillt sei. Nachdem er einige Tage ausgeruht, bestimmten sie den Tag der Abreise.

305. Maria, die Himmelskönigin, nahm nun Abschied von dem Priester Zacharias. Da dieser bereits durch das göttliche Licht erleuchtet war und die Würde der jungfräulichen Mutter kannte, sprach er zu ihr mit tiefster Ehrfurcht, als zu dem lebendigen Heiligtum der Gottheit und Menschheit des ewigen Wortes: «O meine Herrin, lobe und preise ewiglich deinen Schöpfer, der in seiner unendlichen Barmherzigkeit sich gewürdigt hat, dich unter allen Geschöpfen zu seiner Mutter und zur einzigen Bewahrerin all seiner großen Güter und Geheimnisse zu erwählen. Erinnere dich auch meiner, deines Dieners, und bitte unsern Gott und Herrn, dass er mich in Frieden aus dieser Verbannung scheiden lasse zum sicheren Besitz des wahren Gutes, das wir erwarten, damit ich so durch dich gewürdigt werde, sein göttliches Antlitz zu schauen, welches die Glorie der Heiligen ist. Gedenke auch, o Herrin, meines Hauses und meiner Familie, namentlich meines Sohnes Johannes; endlich bitte den Allerhöchsten für dein Volk».

306. Die große Königin warf sich vor dem Priester auf die Knie nieder und bat ihn mit tiefer Demut um seinen Segen. Zacharias weigerte sich, sie zu segnen, und bat sie, dass sie vielmehr ihn segnen wolle. Allein niemand konnte diejenige an Demut übertreffen, welche die Lehrmeisterin und Mutter dieser Tugend und aller Heiligkeit war. Und so nötigte sie den Priester, ihr seinen Segen zu geben, und dieser erteilte ihr denselben, durch himmlisches Licht dazu angetrieben. Dabei sprach er zu ihr mit den Worten der Heiligen Schrift: «Die Rechte des allmächtigen und wahren Gottes stehe dir immerdar bei und bewahre dich vor allem Übel; erfreue dich seines wirksamen Schutzes; er erfülle dich mit dem Tau des Himmels und mit dem Fett der Erde; er gebe dir Überfluss an Brot und Wein. Die Völker mögen dir dienen, die Stämme dich verehren, denn du bist der Tabernakel Gottes; du wirst die Herrin deiner Brüder sein, und die Söhne deiner Mutter werden vor dir niederknien. Wer dich preist und verherrlicht, wird erhöht und gesegnet werden; verflucht dagegen, wer dich nicht preist und nicht lobt. Alle Völker mögen in dir ihren Gott erkennen, und durch dich werde verherrlicht der Name des Allerhöchsten, des Gottes Jakobs».

307. Zur Erwiderung dieses prophetischen Segens küsste die heiligste Jungfrau die Hand des Priesters Zacharias und bat ihn, ihr zu verzeihen, wenn sie ihn in seinem Hause belästigt und schlecht bedient habe. Der heilige Greis war durch diesen Abschied und durch die Worte des reinsten und liebenswürdigsten aller Geschöpfe tief gerührt. Die Geheimnisse, welche ihm während der Anwesenheit der heiligsten Jungfrau Maria geoffenbart worden waren, hielt er allzeit in seinem Herzen verborgen. Nur einmal, da ihm die Priester bei einer der Versammlungen, die im Tempel stattzufinden pflegten, zur Geburt seines Sohnes und zur Befreiung von der Stummheit ihre Glückwünsche darbrachten, sagte er, bewogen durch die Kraft seines Geistes, in seiner Antwort: «Ich glaube mit unfehlbarer Sicherheit, dass der Allerhöchste uns heimsucht und der Welt bereits den verheißenen Messias gesandt hat, welcher sein Volk erlösen wird». Mehr sagte er über das, was er von diesem Geheimnis wusste, nicht. Der heilige Priester Simeon aber, welcher auch zugegen war, fühlte bei diesen Worten in seinem Innern eine große Inbrunst, welche ihn zu dem Gebete bewog: «Herr, Gott Israels, lasse nicht zu, dass dein Diener aus diesem Tal der Tränen scheide, ehe er dein Heil, den Erlöser seines Volkes, geschaut !» Auf diese Worte bezog sich, was er spät, im Tempel sagte, da er das göttliche Kind bei dessen Aufopferung auf seinen Armen hielt, wie ich in der Folge berichten werde. Von diesem Augenblick an war sein liebevolles Verlangen, das göttliche menschgewordene Wort zu sehen, noch glühender.

308. Die heiligste Jungfrau verließ den zu Tränen gerührten Zacharias, um sich von ihrer Base, der heiligen Elisabeth zu verabschieden. Als eine Frau von weicherem Herzen, als Base, die so viele Tage den süßen Umgang der Mutter der Gnade genossen und durch deren Vermittlung so viele Gnaden vom Herrn erlangt hatte, war Elisabeth nahe daran, vor Schmerz ihre Kräfte zu verlieren, da die Ursache all dieser Güter sich entfernte und mit ihr die Hoffnung, noch viele andere zu erhalten. Das Herz wollte der heiligen Matrone brechen, da sie der Königin des Himmels und der Erde Lebewohl sagen musste; denn sie liebte sie mehr als ihr eigenes Leben. Mit wenigen Worten nur - denn sie konnte ja solche kaum vorbringen -, aber mit reichlichen Tränen und vielem Schluchzen gab sie die innersten Gefühle ihres Herzens zu erkennen. Die hochehrwürdige Königin dagegen, erhaben über alle natürlichen Bewegungen des Herzens, blieb mit anmutigem Ernst Herrin ihrer selbst und sagte zur heiligen Elisabeth: «Meine liebe Freundin und Base, lass dich durch meine Abreise nicht so sehr betrüben; die Liebe zu Gott, in welchem ich dich wahrhaft liebe, kennt ja keine Trennung und Entfernung, weder der Zeit noch dem Ort nach. In der göttlichen Majestät sehe ich dich und in dieser werde ich dich gegenwärtig haben; in ihr wirst auch du mich allezeit finden. Kurz ist die Zeit, für welche wir uns dem Leib nach trennen; alle Tage des menschlichen Lebens sind ja kurz. Überwinden wir mit Gottes Gnade unsere Feinde, so werden wir gar bald für ewig uns sehen und uns erfreuen im himmlischen Jerusalem, wo es weder Schmerz, noch Tränen, noch Trennung gibt. Inzwischen, meine Teuerste, wirst du in dem Herrn alle Güter finden; in ihm wirst du auch mich schauen und besitzen; möge er in deinem Herzen bleiben und dich trösten!» Unsere weiseste Königin sagte nicht mehr, um den Tränen Elisabeths Einhalt zu tun. Sie kniete nieder und bat um ihren Segen und um Verzeihung für alles, wodurch sie dieselbe belästigt haben könnte. Sie ließ nicht ab, bis sie den Segen erhielt; ebenso tat die heilige Elisabeth, damit die himmlische Herrin auch ihr den Segen gebe; und die heiligste Jungfrau erteilte ihr denselben, um ihr diesen Trost nicht zu entziehen.

309. Endlich suchte die Himmelskönigin den kleinen Johannes auf, nahm ihn auf ihre Arme und gab ihm wiederholt ihren kräftigen, geheimnisvollen Segen. Durch göttliche Fügung sagte das wunderbare Kind(Dies war ein Wunder, jedoch kein größeres als der Besitz des Vernunftgebrauches im Mutterschoß. Man denke auch zum Beispiel an den heiligen Philippus Benitius, von welchem wir im Brevier lesen, dass er schon im fünften Monate gesprochen habe: vix quintum retatis mensem ingressus linguam in voces mirifice solvit. Der Herausgeber). zur heiligsten Jungfrau, jedoch mit leiser Kinderstimme: «Du bist die Mutter Gottes und die Königin alles Erschaffenen, die Bewahrerin des unschätzbaren Schatzes des Himmels, meine Zuflucht und Beschützerin; gib mir, deinem Diener, deinen Segen; möge deine Fürsprache und deine Gnade mir niemals mangeln». Das Kind küsste dreimal die Hand der Himmelskönigin, betete das menschgewordene Wort in ihrem jungfräulichen Schoß an und bat dasselbe um seinen Segen und um seine Gnade; zugleich bot es sich mit tiefster Ehrfurcht zu seinem Dienst an. Das göttliche Kind zeigte sich freundlich und wohlwollend gegen seinen Vorläufer; Maria aber, die glücklichste Mutter, wusste und schaute dies alles. In allem handelte und wirkte sie mit der Fülle göttlicher Erkenntnis und bezeigte jedem dieser großen Geheimnisse die gebührende Hochachtung und Ehrfurcht; denn sie besaß die Weisheit Gottes und seiner Werke in hohem Grad (2 Makk 2, 9).

310. Das ganze Haus des Zacharias war durch die Gegenwart der heiligsten Jungfrau und des in ihrem Schoß menschgewordenen Wortes geheiligt, durch ihr Beispiel erbaut, durch ihre Unterhaltung und Belehrung unterrichtet und ihr in Liebe zugetan wegen ihrer großen Sanftmut und Sittsamkeit im Umgang. Nahm sie so die Herzen dieser Familie für sich ein, so verließ sie auch alle bereichert mit himmlischen Gaben, welche sie ihnen verdient und von ihrem heiligsten Sohn erlangt hatte. Auch Joseph, ihr heiliger Bräutigam, stand in hoher Verehrung bei Zacharias, Elisabeth und Johannes, da sie seine Würde kannten, noch ehe er selbst davon wusste. Der glückliche Patriarch verabschiedete sich von allen und zog freudig mit seinem Schatz, obwohl er denselben noch nicht völlig kannte, nach Nazareth zurück. Was auf der Reise geschah, werde ich im folgenden Hauptstück erzählen. Bevor sie sich aber auf den Weg machten, bat die heiligste Jungfrau Maria ihren Bräutigam kniefällig um seinen Segen, wie sie dies bei solchen Gelegenheiten zu tun pflegte; und nachdem er ihr denselben gegeben, traten sie die Reise an.

LEHRE der heiligsten Himmelskönigin Maria

311. Meine liebe Tochter, eine Seele, welche so glücklich ist, von Gott zum vertrauten Umgang mit ihm und zu hoher Vollkommenheit auserwählt zu werden, muss ihr Herz immer ruhig und bereit halten für alles, was Seine göttliche Majestät in ihr tun und verfügen will. Weit entfernt, zu widerstehen, muss sie ihrerseits alles bereitwillig ausführen. So habe ich getan, als der Allerhöchste mir gebot, mein Haus zu verlassen, meine teure Einsamkeit aufzugeben und zu meiner Base Elisabeth zu gehen; und so habe ich wieder getan, als er mir gebot, Elisabeth zu verlassen. Alles tat ich freudig und behende. Elisabeth und deren Familie hatten mir so viele Wohltaten bewiesen, und zwar mit einer Liebe und einem Wohlwollen, wie du es erkannt hast. Nachdem ich aber den Willen des Herrn erfahren hatte, setzte ich, obgleich ich jener Familie verpflichtet war, doch alle meine eigenen Gefühle beiseite und gestattete der Liebe und dem Mitleiden nicht mehr Raum, als mit dem behenden Gehorsam, den ich dem Gebot Gottes schuldig war, sich vereinigen ließ.

312. Mit welchem Eifer würdest du, geliebteste Tochter, nach dieser wahren und vollkommenen Hingabe trachten, wenn du vollständig erkennen würdest, wie kostbar sie ist, wie wohlgefällig in den Augen des Herrn und wie nützlich für die Seele. Bemühe dich also, dieselbe zu erwerben, indem du mir nachfolgst, wozu ich dich so oft einlade und ermuntere. Das größte Hindernis aber, um zu diesem Grad der Vollkommenheit zu gelangen, besteht darin, dass man besondere Neigungen und Anhänglichkeiten an irdische Dinge hegt; denn diese machen die Seele unwürdig, dass der Herr ihr seine Wonne mitteile und seinen Willen kundgebe. Und wenn auch solche Seelen Gottes Willen erkennen, so hält sie diese niedrige Liebe zu anderen Dingen zurück, und durch diese Anhänglichkeit sind sie unfähig, dem Willen ihres Herrn schnell und freudig, wie sie es sollten, zu gehorchen. Beachte diese Gefahr, meine Tochter, und dulde in deinem Herzen keine besondere Zuneigung; denn ich verlange, dass du sehr vollkommen und weise seist in dieser Kunst der göttlichen Liebe. Dein Gehorsam sei der eines Engels und deine Liebe die eines Seraphs. In allen deinen Handlungen sei also vollkommen, denn dazu verpflichtet dich meine Liebe, und dies lehrt dich die Erkenntnis und das Licht, welches du empfängst.

313. Ich will nicht sagen, dass du gefühllos sein sollst, denn dies ist natürlicherweise dem Geschöpf unmöglich. Aber wenn dir etwas Widerwärtiges begegnet, oder wenn dir etwas mangelt, was dir nützlich, notwendig und wünschenswert scheint, dann überlasse dich mit freudigem Gleichmut dem Herrn und bringe ihm ein Opfer des Lobes, weil sein heiliger Wille sich in dem erfüllt, was dich getroffen hat. Wenn du so einzig auf Gottes Wohlgefallen achtest und bedenkst, dass alles übrige vergänglich ist, dann wirst du schnell und leicht dich selbst überwinden und alle Gelegenheiten benützen, dich zu demütigen unter die mächtige Hand des Herrn. Ich ermahne dich auch, dass du mir in der Ehrfurcht gegen die Priester nachfolgst. Bevor du mit ihnen sprichst oder von ihnen Abschied nimmst, bitte immer um ihren Segen. Dasselbe tue dem Allerhöchsten gegenüber, was immer du auch beginnen magst. Den Obern gegenüber zeige dich immer demütig und unterwürfig. Kommen verheiratete Frauen, dich um Rat zu fragen, so ermahne sie, dass sie gehorsam seien gegen ihre Gatten, verträglich und friedfertig in ihrer Familie, zurückgezogen im Haus und sorgfältig in Erfüllung ihrer Pflichten; sie sollen sich aber nicht gänzlich hingeben und in ihre Geschäfte versenken unter dem Vorwand, dies sei notwendig; denn die Güte und Freigebigkeit des Allerhöchsten muss zu ihnen mehr beitragen als ihre Geschäftigkeit. In allem, was mir in meinem Stand begegnete, wirst du hierfür die wahre Lehre und das wahre Beispiel finden; ja mein ganzes Leben wird hierzu dienen, damit die Seelen jene Vollkommenheit erwerben, welche ihr jeweiliger Stand verlangt. Darum gebe ich dir keine Weisungen für jeden Stand im besonderen.

FÜNFUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Rückkehr nach Nazareth

Die Reise der heiligsten Jungfrau Maria vom Hause des Zacharias nach Nazareth

314. Um von der Stadt Juda nach Nazareth zurückzukehren, ging die heiligste Jungfrau Maria, die lebendige Bundeslade des lebendigen Gottes, in Begleitung ihres treuesten Bräutigams Joseph über das Gebirge von Judäa. Zwar sagen die Evangelisten nichts von ihrer Eile bei dieser Reise, wie der heilige Lukas betreffs der ersten solche hervorhob wegen des Geheimnisses, welches jene Eile in sich schloss; doch machte die Königin des Himmels auch diesen Rückweg nach Nazareth mit großer Schnelligkeit wegen der Ereignisse, welche sie zu Hause erwarteten. Alle Wanderungen dieser heiligsten Herrin waren eine geheimnisvolle äußere Darstellung ihrer inneren geistigen Fortschritte. Sie war ja die Bundeslade des Herrn, die während der Pilgerreise des sterblichen Lebens niemals stille stand, sondern jeden Tag von einer sehr erhabenen Stufe der Weisheit und Gnade fortschritt zu einer noch höheren; so schritt sie immer dahin, war immer einsam pilgernd auf dem Weg zum Gelobten Land; immer auch trug sie den wahren Gnadenthron mit sich, von welchem sie ohne Unterlass wie für sich selbst die Vermehrung der Gnaden und Gaben, so auch für uns das Heil erflehte und erlangte.

315. Unsere große Königin und der heilige Joseph brachten auf der Heimreise vier Tage zu, wie auf dem Hinwege, von dem ich im sechzehnten Hauptstück gesprochen habe. Ihre Art zu reisen und ihre heiligen Unterredungen waren ganz dieselben, wie ich sie dort angegeben; es ist darum nicht nötig, dies zu wiederholen. Häufig fand zwischen ihnen ein Wettstreit in der Demut statt; unsere Königin blieb jedoch immer Siegerin, ausgenommen, wenn der heilige Joseph mit einem Befehl dazwischen trat; denn gehorsam sich zu unterwerfen, war ihr die größte Demut. Da sie schon seit drei Monaten gesegneten Leibes war, so reiste sie mit größter Vorsicht und Sorge, nicht als ob der gesegnete Zustand ihr beschwerlich und lästig gewesen wäre; er gereichte ihr vielmehr zur lieblichsten Erquickung. Aber die kluge und umsichtige Mutter war sehr besorgt um ihren Schatz; denn sie hatte ihn vor Augen und sah, wie der heiligste Leib ihres Sohnes in ihrem jungfräulichen Schoß jeden Tag natürlicherweise wuchs und zunahm. Wenn ihr aber auch ihr Zustand nicht lästig fiel, so wurde sie doch manchmal durch die Mühe der Reise und durch die Hitze ermüdet, denn sie machte keinen Gebrauch von ihren Vorrechten als Königin und Herrin der Geschöpfe, um sich von Leiden zu befreien; vielmehr gab sie den Beschwerden und der Müdigkeit Raum, um in allem die Lehrmeisterin der Vollkommenheit und das einzige Abbild ihres heiligsten Sohnes zu sein.

316. Da die göttliche Frucht ihres Leibes in natürlicher Beziehung so vollkommen und ihre Natur äußerst zart und fein und ganz vollkommen war, so wurde ihr Zustand natürlicherweise sichtbar, und die umsichtigste Braut erkannte wohl, dass es unmöglich sei, denselben noch lange ihrem keuschesten und treuesten Bräutigam zu verbergen. Bei diesen Gedanken betrachtete sie den heiligen Joseph bereits mit größerer Zärtlichkeit und voll Mitleiden wegen der Verwirrung, welche ihm deswegen nahe bevorstand, und gerne hätte sie ihn vor derselben bewahrt, wenn ihr der Wille Gottes hierin bekannt gewesen wäre. Allein der Herr antwortete ihr nicht auf diese Besorgnisse; denn er leitete diese Sache durch diejenigen Mittel, welche sowohl für seine Ehre, als für das Verdienst des heiligen Joseph und seiner jungfräulichen Mutter die besten waren. In ihrem Herzen aber flehte die große Herrin zur Majestät Gottes, er möge das Herz des heiligen Bräutigams mit der nötigen Geduld und Weisheit ausrüsten und ihn mit seiner Gnade beistehen, damit er bei der bevorstehenden Gelegenheit nach Gottes Willen und Wohlgefallen handle. Denn sie war sich stets wohl bewusst, dass es für ihn ein großer Schmerz sein werde, wenn er sie gesegneten Leibes erblicke.

317. Während dieser Reise verrichtete die Herrin der Welt einige Wunderwerke, obwohl immer im geheimen und verborgenen. Sie gelangte an einen Ort, nicht fern von Jerusalem; da kamen am nämlichen Abend auch einige Leute aus einer anderen kleinen Ortschaft ins Haus, die auf dem Weg, zur heiligen Stadt waren mit einer jungen, kranken Frau, um für sie dort, als an einem volkreicheren und größeren Ort, irgend ein Heilmittel zu suchen. Sie wussten wohl, dass diese Frau sehr krank war, kannten aber deren Leiden und dessen Ursache nicht. Dieselbe war sehr tugendhaft gewesen; der böse Feind aber, welcher ihr Naturell und ihre Fortschritte in der Tugend kannte, kehrte seine Wut gegen sie - wie er immer gegen diejenigen tut, welche seine Feinde und Gottes Freunde sind -, und verfolgte sie und brachte sie dahin, dass sie in einige Sünden fiel. Um sie dann von einem Abgrund in den andern zu stürzen, versuchte er sie durch falsche Vorspiegelungen zu Kleinmut und ungeordnetem Schmerz wegen ihre Unehre und trübte ihren Geist, und so wurde es diesem Drachen möglich, in diese unglückliche Frau einzugehen und mit vielen andern Dämonen von ihr Besitz zu nehmen. Ich habe schon im ersten Teil gesagt, dass der höllische Drache gegen alle tugendhaften Frauen einen großen Zorn fasste, als er jene mit der Sonne bekleidete Frau am Himmel sah, von deren Geschlecht die anderen sind, welche ihr nachfolgen. Man ersieht dies aus dem zwölften Hauptstück der geheimen Offenbarung. In diesem Zorn war Satan voll Stolz und Übermut, da er den Leib und die Seele dieser unglücklichen Frau in seiner Gewalt hatte, und er misshandelte sie als grausamer Feind.

318. Die Himmelskönigin sah jene kranke Frau in der Herberge; sie erkannte deren Leiden, welches allen unbekannt war und von mütterlichem Mitleid bewogen, bat sie ihren heiligsten Sohn, derselben die Gesundheit des Leibes und der Seele zu verleihen. Als sie erkannte, dass Gottes Wille sich zur Milde neige, machte sie Gebrauch von ihrer Gewalt als Königin und gebot den bösen Geistern, sogleich von dieser Frau zu weichen, ihr die Freiheit zu lassen und niemals mehr zurückzukehren, um sie zu quälen, sondern sich in die Abgründe, als die ihnen gebührende Wohnung zu begeben. Unsere große Königin hatte diesen Befehl nicht in Worten, sondern rein innerlich gegeben, doch so, dass die unreinen Geister ihn vernehmen konnten; es war aber dieser Befehl so wirksam und mächtig, dass Luzifer und seine Genossen ohne Verzug den Leib der Frau verließen und in die Finsternis der Hölle geschleudert wurden. Die glückliche Frau war befreit und staunte über dieses unerwartete Ereignis; sie kehrte sich aber mit einer Bewegung des Herzens zur reinsten und heiligsten Herrin hin, betrachtete sie mit besonderer Ehrfurcht und Liebe und erhielt durch diesen Anblick noch zwei andere Wohltaten: einmal wurde ihr Herz von innigstem Schmerz über ihre Sünden durchdrungen; sodann verschwanden die bösen Wirkungen, welche jene ungerechten Besitzer in ihrem Leib zurückgelassen hatten, und an welchen die Frau einige Zeit gelitten hatte. Sie erkannte, dass diese himmlische Fremde, der sie zu ihrem großen Glück auf dem Weg begegnet, Anteil habe an der Genesung, die sie vom Himmel erhalten. Sie sprach dann mit unserer Königin; diese redete ihr ins Herz, ermahnte sie zur Beharrlichkeit und verdiente ihr auch diese für die Zukunft. Die Verwandten, welche bei ihr waren, erkannten gleichfalls dieses Wunder, schrieben es aber der Erfüllung ihres Versprechens zu, sie in den Tempel zu Jerusalem zu bringen und dort einiges Almosen aufzuopfern. So taten sie auch und lobten Gott, ohne jedoch das Werkzeug dieser Wohltat zu kennen.

319. Luzifer war in großer Wut und Verwirrung, da er sich durch den bloßen Befehl der heiligsten Jungfrau ausgetrieben und außer Besitz dieser Frau gesetzt sah. In rasendem Zorn rief er verwundert: «Wer ist doch diese einfältige Frau, das uns mit solcher Kraft gebietet und unterdrückt? Wie ist dies so neu, und wie kann es mein Stolz ertragen? Es ist nötig, dass wir miteinander hier Abhilfe treffen und trachten, diese Frau zu vernichten». Da ich aber im folgenden Hauptstück mehr über diesen Punkt sagen werde, so rede ich nicht weiter darüber und fahre in der Erzählung fort.

Unsere beiden heiligen Reisenden kamen zu einer anderen Herberge, deren Besitzer ein Mann von schlechtem Charakter und Betragen war. Zu Beginn seines Glückes fügte es aber Gott, dass er die heiligste Jungfrau und ihren Bräutigam, den heiligen Joseph, mit Teilnahme und Wohlwollen aufnahm. Er erwies ihnen mehr Dienste und größere Höflichkeit, als er anderen Gästen zu erweisen pflegte. Um dies auch in noch ausgezeichneterem Grad zu erwidern, betete die himmlische Königin für ihn; denn sie kannte den traurigen Gewissenszustand ihres Wirtes, und sie ließ ihm als Vergeltung für die Gastfreundschaft die Frucht ihres Gebetes; dadurch wurde nämlich seine Seele gerechtfertigt, sein Leben gebessert, und sogar seine zeitlichen Güter vermehrte Gott von da an zum Lohn für die kleine Wohltat, die er seinen erhabenen Gästen erwiesen hatte.

Noch viele andere Wunder wirkte die Mutter der Gnade auf dieser Reise; denn was von ihr ausging, war göttlich, und sie heiligte alle Seelen, in denen sie die nötige Empfänglichkeit vorfand. Endlich gelangten sie an das Ziel ihrer Reise, nach Nazareth. Die Himmelskönigin reinigte und ordnete da ihr Haus mit dem Beistand ihrer heiligen Engel, welche ihr bei solch niedrigen Arbeiten halfen; denn sie wollten mit ihrer Demut wetteifern und waren voll Verlangen, sie zu ehren und ihr zu dienen. Der heilige Joseph beschäftigte sich mit seiner gewöhnlichen Arbeit für den Unterhalt der Himmelskönigin. Diese aber täuschte das Herz des Heiligen nicht in seinem Vertrauen. Sie umgürtete sich mit neuer Kraft für die Geheimnisse, welche sie erwartete, und legte ihre Hand an große Dinge (Spr 31,11.17.19); in ihrem Innern aber erfreute sie sich des beständigen Blickes auf den göttlichen Schatz in ihrem Schoß und erhielt dadurch unvergleichliche Gnaden, Wonnen und Tröstungen; sie erwarb erhabene Verdienste und das Wohlgefallen Gottes in unvergleichlichem Grad.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin gab

320. Meine Tochter, die gläubigen Seelen, welche durch das Licht des Glaubens Gott erkennen und Kinder der Kirche sind, sollen keinen Unterschied machen in Zeit, Ort und Beschäftigung, um den Glauben und die anderen mit ihm eingegossenen Tugenden zu üben; denn Gott ist in allen Dingen gegenwärtig und erfüllt sie mit seinem unendlichen Wesen; auch der Glaube begleitet uns an jedem Ort und bei jeder Gelegenheit, um Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten und zu betrachten. Wie also auf die Erschaffung, die der Seele das erste Sein verleiht, die Erhaltung folgt, und auf das Leben das ununterbrochene Atemholen, und wie man immer sich nährt und wächst, bis man das Ziel erreicht hat, so sollte auch das vernunftbegabte Geschöpf, nachdem es durch den Glauben und die Gnade wiedergeboren ist, niemals das Wachstum dieses geistlichen Lebens unterbrechen und zu jeder Zeit und an jedem Ort mit dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe Werke des Lebens vollbringen. Weil jedoch die Menschen, und namentlich die Kinder der Kirche dies vergessen und vernachlässigen, so haben sie das Leben des Glaubens, wie wenn sie es nicht hätten, denn sie lassen es sterben, indem sie die Liebe verlieren. Diese haben vergebens eine neue Seele erhalten, wie David sagt (Ps 23´4, 4), weil sie daraus ebenso wenig Nutzen ziehen, als wenn sie dieselbe gar nicht empfangen hätten.

321. Ich will, meine Teuerste, dass dein geistliches Leben nicht mehr Lücken oder Unterbrechungen habe als das natürliche. Du sollst mit dem Leben der Gnade und mit den Geschenken des Allerhöchsten jederzeit wirken, indem du betest, liebst, lobst, glaubst, hoffst und diesen Herrn im Geist und in der Wahrheit anbetest, ohne in Beziehung auf Zeit, Ort oder Beschäftigung einen Unterschied zu machen. Er ist ja überall gegenwärtig und will, dass alle vernünftigen Geschöpfe ihn lieben und ihm dienen. Darum lege ich dir auf, dass du, wenn Seelen zu dir kommen, welche dies vergessen haben oder sonst mit Sünden beladen und vom bösen Geist verfolgt sind, für sie mit lebendigem Glauben und Vertrauen betest; und sollte auch der Herr nicht immer in der Weise wirken, wie du es wünschest und sie begehren, so wird er es verborgenerweise tun, und du wirst das Glück haben, ihm wohlzugefallen, indem du als seine treue Tochter und Braut handelst. Wenn dein Wandel in allem seinen Wünschen entspricht, so versichere ich dir, dass er dich als seiner Braut viele Vorrechte zum Besten der Seelen verleihen wird. Betrachte, was ich tat, wenn ich die Seelen in der Ungnade des Herrn erblickte, und mit welch besorgtem Eifer ich für alle und für einige im besonderen mich bemühte. Wenn also der Allerhöchste dir den Stand einiger Seelen offenbart, oder wenn diese dir denselben aufdecken, so arbeite und bete für sie, um mir nachzufolgen und mir zu gefallen; ermahne sie mit Klugheit, Demut und Bescheidenheit; denn der Allmächtige will nicht, dass du mit Geräusch wirkst, auch nicht, dass der Erfolg deiner Bemühungen offenbar werde, sondern dass er verborgen sei; hierin fügt er sich deiner natürlichen Zaghaftigkeit und deinem Verlangen und will, was für dich das Sicherste ist. Endlich, wenn du auch für alle Seelen beten sollst, so musst du dies doch mit mehr Eifer für jene tun, von denen du weißt, dass sie eine größere Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes haben.

SECHSUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Die bösen Geister halten Rat gegen Maria

Die bösen Geister halten in der Hölle eine Versammlung gegen die heiligste Jungfrau Maria

322. In dem Augenblick, als sich das unaussprechliche Geheimnis der Menschwerdung vollzog, fühlten, wie ich oben im elften Hauptstück (Nr. 130) gesagt habe, Luzifer und alle bösen Geister die Kraft des mächtigen Armes des Allerhöchsten, der sie in die tiefsten Höhlen der Hölle hinabstürzte. Sie waren dort einige Tage lang machtlos niedergeworfen, bis der Herr in seiner wunderbaren Vorsehung ihnen erlaubte, von diesem Schlag, dessen Ursache ihnen unbekannt war, sich zu erheben. Der große Drache stand nun auf und begab sich auf die Welt, um überall auf Erden umherzugehen und auszuforschen, ob sich etwas neues vorfinde, das Ursache der Wirkungen sein könnte, die er und all seine Diener an sich erfahren. Der stolze Fürst der Finsternis wollte dieses Geschäft nicht seinen Genossen anvertrauen, sondern er selbst kam mit ihnen herauf, streifte mit höchster Arglist und Bosheit über den ganzen Erdkreis und forschte und spähte auf verschiedene Art, um dem, was er suchte, auf die Spur zu kommen. Er verwendete zu diesem Geschäfte drei Monate und kehrte dann in die Hölle zurück, ebenso unwissend, wie er dieselbe verlassen hatte; denn so göttliche Geheimnisse konnte er damals nicht verstehen; seine Bosheit war ja so schwarz, dass er deren wunderbare Früchte nicht zu genießen noch den Schöpfer dafür zu verherrlichen und zu preisen vermochte, wie wir, für welche die Erlösung bestimmt war.

323. Der Feind Gottes war darum noch mehr verwirrt und bekümmert, ohne zu wissen, wem sein neues Missgeschick zuzuschreiben sei; daher rief er zur Beratung dieses Falles alle höllischen Banden zusammen, ohne auch nur einen einzigen bösen Geist auszunehmen. Dann ließ er sich in der Versammlung auf einem erhöhten Platz nieder und hielt folgende Rede: «Ihr wisst wohl, meine Untertanen, mit welch großer Sorgfalt ich, seitdem Gott uns aus seinem Haus verstoßen und unsere Macht gebrochen hat, auf Rache gesonnen und an der Zerstörung seiner Macht gearbeitet habe. Freilich kann ich ihn selbst nicht erreichen, aber bei den Menschen, die er liebt, habe ich weder Zeit noch Gelegenheit verloren, sie meiner Herrschaft zu unterwerfen. So habe ich durch meine Stärke mein Reich bevölkert, und zahlreich sind die Völker und Nationen, die mir folgen und gehorchen. Jeden Tag gewinne ich noch unzählige Seelen und bringe sie von der Erkenntnis und dem Dienst Gottes ab, damit sie nicht einst genießen, was wir verloren; ja ich will sie in diese ewige Qualen stürzen, die wir leiden, da sie meiner Lehre und meinen Fußstapfen gefolgt sind. An ihnen werde ich den Zorn auslassen, den ich gegen ihren Schöpfer trage. Doch dies alles halte ich für gering, und ich bin immer in Schrecken wegen des ungewöhnlichen Ereignisses, das uns begegnet ist. Denn solches ist uns noch nicht widerfahren, seitdem wir vom Himmel gefallen sind. Eine solche überwältigende und zermalmende Stärke haben wir noch nie zu fühlen gehabt. Ich erkenne, dass eure und meine Macht gewaltig erschüttert ist. Diese so neue und außerordentliche Wirkung kommt ohne Zweifel von neuen Ursachen, und unserer Schwäche wegen bemächtigt sich meiner eine große Furcht, unsere Herrschaft möchte zerstört sein».

324. «Diese Sache verlangt eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit; meine Wut ist beständig, und der Zorn meiner Rache ist nicht befriedigt. Ich habe den ganzen Erdkreis durchzogen, habe alle seine Bewohner mit großer Sorgfalt besichtigt, und doch habe ich nichts Auffallendes gefunden. Alle tugendhaften und vollkommenen Frauen vom Geschlecht jener unserer Feindin, die wir im Himmel kennengelernt haben, habe ich beobachtet und verfolgt, um sie unter ihnen anzutreffen. Ich finde aber keine Anzeichen, dass sie geboren ist; denn ich finde keine mit den Eigenschaften, welche nach meinem Dafürhalten die künftige Mutter des Messias haben muss. Ein Mädchen, die ich ihrer hohen Tugenden wegen fürchtete und im Tempel verfolgte, ist bereits verheiratet; sie kann also diejenige nicht sein, welche wir suchen; denn Jesaja hat gesagt, dass sie Jungfrau sein werde. Trotzdem fürchte und hasse ich sie; denn da sie tugendhaft ist, könnte von ihr die Mutter des Messias oder ein großer Prophet geboren werden; bis jetzt konnte ich sie noch in keiner Sache überwinden, und ich verstehe weniger von ihrem Leben als von dem der anderen. Immer hat sie mir unüberwindlichen Widerstand geleistet; sie schwindet mir leicht aus dem Gedächtnis, und wenn ich mich ihrer mich erinnere, so kann ich ihr nicht so nahe kommen. Ich kann nicht wissen, ob diese Schwierigkeit und diese Vergesslichkeit geheimnisvoll sind, oder ob sie von der Verachtung herkommen, die ich für eine armselige Frau hege. Aber ich werde darüber nachdenken; denn dieser Tage hat sie mir bei zwei Gelegenheiten Befehle erteilt, und wir konnten ihrer Gewalt und Hoheit nicht widerstehen, womit sie uns aus jenen Personen, die wir in Besitz hatten, vertrieb. Das ist aller Beachtung wert, und sie verdient meinen Zorn schon wegen eines solchen Auftretens bei diesen Gelegenheiten. Ich beschließe also, dieselbe zu verfolgen und zu unterwerfen, und ihr werdet mich bei diesem Unternehmen mit all euren Kräften und all eurer Verschlagenheit unterstützen. Wer sich in diesem Sieg auszeichnet, wird große Belohnungen von meiner großen Macht erhalten.»(Die Belohnungen, welche Luzifer verspricht und auch geben kann, bestehen in wichtigen Aufträgen, in der Macht, die anderen bösen Geister bei Unternehmungen, welche zum großen Nachteil der Seelen gereichen, zu leiten usw.; sie werden als «imperios» bezeichnet (Teil 2, Nr. 1068), als Herrschaften über Länder usw. Solche Aufträge, Stellungen usw. bieten dem Stolz und der Bosheit der gefallenen Engel einige Befriedigung und erregen deshalb in ihnen eine Freude, von welcher der heilige Thomas [I. q. 64. a. 3.] sagt: «Timor, dolor, gaudium et hujusmodi, secundum quod sunt passiones, in daemonibus esse non possunt; sed secundum quod nominant simplices actus voluntatis, sic possunt esse in daemonibus». So sagt auch der heilige Augustin: «Diabolus potestatem habet in eos, qui Dei praecepta contemnunt, et de hac tam infelici potestate laetatur» [De Gen. cant. Man. 1.2. c. 17.]. Allerdings ist dies keine wahre Freude, da die bösen Geister in derselben niemals Ruhe finden wegen ihres Schmerzes über den Verlust des Himmels und wegen ihres Neides gegen jene, welche zur Seligkeit gelangen. Der Herausgeber).

325. Die höllischen Rotten der bösen Geister, die Luzifer aufmerksam zugehört hatten, lobten und billigten seine Pläne und sagten, er möge nicht fürchten, dass seine Triumphe durch jene Frau zerstört oder vermindert würden, da seine Macht so groß und ihm beinahe die ganze Welt unterworfen sei. Sie überlegten sofort, welche Wege sie einschlagen sollten, um die heiligste Jungfrau zu verfolgen, die sie als eine Frau von ausgezeichneter Tugend und Heiligkeit, nicht aber als Mutter des menschgewordenen Wortes betrachteten; denn damals kannten die bösen Geister, wie gesagt, das verborgene Geheimnis noch nicht. Aus diesem Beschluss folgte dann für die Himmelskönigin ein langer Streit mit Luzifer und seinen Dienern der Bosheit; denn sie sollte oftmals dem höllischen Drachen den Kopf zertreten. Obwohl dieser Kampf groß und bedeutsam war im Leben der großen Herrin, so hatte sie doch später, als sie nach der Himmelfahrt ihres heiligsten Sohnes auf Erden zurückblieb, einen noch größeren Kampf zu bestehen, wie ich im dritten Teil dieser heiligen Geschichte berichten werde. Denn da Luzifer die heiligste Jungfrau bereits als die Mutter Gottes erkannt hatte, war jener Kampf sehr geheimnisvoll. Der heilige Johannes spricht davon im zwölften Kapitel der Geheimen Offenbarung, wie ich an seinem Ort sagen werde.

326. In der Anordnung und Ausführung der unvergleichlichen Geheimnisse der Menschwerdung war die göttliche Vorsehung wunderbar, und sie ist dies noch jetzt in der Leitung der katholischen Kirche. Ohne Zweifel musste diese mächtige und liebliche Vorsehung den bösen Geistern viele Dinge verbergen, deren Kenntnisse ihnen nicht gebührte, teils weil sie nicht würdig sind, die heiligen Geheimnisse zu kennen (wie in Nr. 318 bemerkt worden ist), teils weil die göttliche Macht sich an diesen Feinden in höherem Grad offenbaren will, damit sie unter sie gebeugt werden, besonders aber, weil wegen der Unkenntnis der Werke, welche Gott ihnen verbirgt, die Ordnung der Kirche und die Ausführung aller Geheimnisse, welche Gott in ihr gewirkt, auf lieblichere Weise verläuft und der maßlose Zorn Satans über das, was Gott ihm nicht gestatten will, besser gezügelt wird. Freilich konnte und kann Gott den Satan immer bezwingen und niederhalten; allein der Allerhöchste ordnet alles in einer Weise, welche seiner unendlichen Güte am besten entspricht. Darum verbarg der Herr diesen Feinden die Würde der heiligsten Jungfrau, die wunderbare Weise ihrer Mutterschaft und ihre jungfräuliche Unversehrtheit vor und nach der Geburt des göttlichen Kindes; dies ließ sich dadurch besser verbergen, dass ihr ein Bräutigam gegeben wurde. So kannten die bösen Geister auch die Gottheit Christi unseres Herrn vor der Stunde seines Todes nicht mit zweifelloser Sicherheit; erst von da an verstanden sie viele Geheimnisse der Erlösung, über welche sie sich getäuscht und geirrt hatten. Denn hätten sie dies vorher gewusst, so wären sie, wie der Apostel sagt, vielmehr bemüht gewesen, seinen Tod zu verhindern, als die Juden anzureizen, ihn zum grausamsten Tod zu verurteilen, wie wir an seinem Ort berichten werden; sie hätten dann die Erlösung zu verhindern und der Welt bekannt zu machen gesucht, dass Christus wahrer Gott sei. Aus diesem Grund hat auch der Herr, da Petrus ihn als solchen erkannte und bekannte, diesem und den übrigen Aposteln befohlen, dies niemand zu sagen. Durch die Wunder, welche der göttliche Heiland wirkte, und durch die Austreibung der Teufel aus dem Leib der Besessenen kam ihnen zwar der Verdacht, wie der heilige Lukas berichtet, dass er der Messias sei, und sie nannten ihn den Sohn des allerhöchsten Gottes; doch der Herr ließ nicht zu, dass sie dies sagten. Auch konnten sie dies nicht mit Sicherheit behaupten. Ihre Vermutungen verschwanden nämlich wieder, da sie Christus, unsern Herrn, arm, verachtet und ermüdet sahen; denn sie verstanden niemals das Geheimnis der Demut des Erlösers. Ihr aufgeblasener Stolz verblendete sie.

327. Es war also dem Luzifer unbekannt, dass Maria die Mutter Gottes sei, als er jene Verfolgung vorbereitete, und darum war diese zwar, wie wir sehen werden, schrecklich, wurde aber doch an Grausamkeit von der späteren Verfolgung übertroffen, die Satan gegen die allerseligste Jungfrau erregte, nachdem er ihre Würde erkannt hatte. Hätte er bei der Gelegenheit, von der ich jetzt spreche, erkannt, dass sie jene Frau sei, die er im Himmel mit der Sonne bekleidet sah und die ihm den Kopf zertreten sollte, er wäre ganz wütend geworden, hätte sich in seiner Wut aufgelöst und in Zornesblitze verwandelt. Alle waren ja schon in solchem Zorn, da sie Maria für eine vollkommene und heilige Frau hielten; sie hätten daher bei Erkenntnis ihrer hohen Würde sicher die ganze Natur so viel wie möglich in Verwirrung gebracht, um sie zu verfolgen und aus der Welt zu schaffen. Da aber der höllische Drache und seine Verbündeten einerseits das Geheimnis der Himmelskönigin nicht kannten, und anderseits bei ihr so hohe Tugend und so vollkommene Heiligkeit wahrnahmen, so wurden sie verwirrt, schwankten im Ungewissen und in Vermutungen hin und her und fragten einander, wer diese Frau sein könne, gegen welches ihre Kräfte sich so schwach erwiesen, und ob es vielleicht diejenige sei, welche unter den Geschöpfen die erste Stelle einnehmen sollte.

328. Andere antworteten, diese Frau könne unmöglich die Mutter des Messias sein, welchen die Gläubigen erwarteten; denn außerdem, dass sie einen Gatten habe, sei dieser wie auch sie sehr arm, gering und wenig geachtet in der Welt; sie seien nicht durch Wunder bekannt und suchten von den Menschen weder geachtet noch gefürchtet zu werden. Da Luzifer und seine Diener so stolz sind, so konnten sie nicht glauben, dass so vollständige Geringschätzung seiner selbst und so seltene Demut vereinbar sei mit der erhabenen Würde der Mutter Gottes; er urteilte, da dies alles schon ihm so sehr missfalle, obwohl er nicht so hoch stehe, als der Allmächtige, so werde dieser es noch viel weniger für sich erwählen. Kurz, er wurde getäuscht durch seinen Eigendünkel und aufgeblasenen Stolz, diese finsteren Laster, die mehr als andere den Verstand verblenden und den Willen ins Verderben stürzen. Darum sagt Salomon (Weish 2, 21), ihre eigene Bosheit habe sie verblendet und sie nicht erkennen lassen, dass das ewige Wort solche Mittel erwählen werde, um die Anmaßung und den Hochmut dieser Drachen zu vernichten, deren Gedanken von den Ratschlüssen des allerhöchsten Herrn weiter entfernt waren als der Himmel von der Erde. Denn er urteilte, Gott werde zum Streit gegen ihn mit großer Pracht und geräuschvollem Gepränge auf die Erde niedersteigen und mit Macht die Stolzen, die Fürsten und Herrscher demütigen, sie, die eben der Satan mit Hochmut erfüllte, wie man dies vor der Ankunft Christi, unseres Herrn, an so vielen sah, die durch ihren Stolz und Eigendünkel sogar die Vernunft verloren und vergessen zu haben schienen, dass sie sterblich und irdisch seien; Luzifer bemaß dies alles nach seinem eigenen Kopf und meinte, Gott werde bei seiner Ankunft auf gleiche Weise vorgehen, wie er in seiner Wut gegen die Werke unseres Herrn verfährt.

329. Doch Gott, der die unendliche Weisheit ist, tat gerade das Gegenteil von dem, was Luzifer dachte; denn er kam, um diesen zu besiegen, nicht einzig mit seiner Allmacht, sondern mit der Demut, der Sanftmut, dem Gehorsam und der Armut; dies sind die Waffen seiner Armee. Er kam nicht mit Prunk und Pracht und weltlicher Eitelkeit, die durch die Reichtümer der Erde genährt werden. Er kam in Verborgenheit, aller Pracht entkleidet. Er wählte eine arme Mutter und erschien, um alles, was die Welt hochschätzt, mit Füßen zu treten, und um durch Wort und Beispiel die Wissenschaft des wahren Lebens zu lehren. So wurde der böse Feind gerade durch die Mittel getäuscht und überwunden, welche ihn am meisten beschämen und quälen.

330. Da Luzifer von all diesen Geheimnissen noch nichts wusste, beobachtete er einige Tage hindurch mit aller Aufmerksamkeit die natürlichen Eigenschaften der heiligsten Jungfrau, ihr Temperament, ihren Körperbau, ihre Neigungen und die Ruhe ihrer so gleichmäßigen und geregelten Handlungen, was alles dem bösen Feind nicht verborgen war. Da er sah, wie dies alles so vollkommen war, ihr Gemüt so sanft, und alles zusammen gegen ihn eine unüberwindliche Mauer bildete, beriet er sich nochmals mit den bösen Geistern und stellte ihnen vor, welch schwieriges und mühevolles Unternehmen es sei, diese Frau zu versuchen. Sie sannen darum auf verschiedene große, arglistige Versuchungen, um dieselbe anzufallen, und sie halfen dabei alle zusammen. Ich werde in den folgenden Hauptstücken erzählen, wie sie dies ausführten, und welch glorreichen Triumph die Himmelskönigin errungen hat über alle diese Feinde sowie über all ihre bösen und fluchwürdigen Pläne, welche sie mit Bosheit geschmiedet hatten.

LEHRE der heiligsten Himmelskönigin Maria

331. Meine Tochter, ich verlange, dass du sehr aufmerksam und vorsichtig seist, um nicht in die Unwissenheit und Finsternis zu fallen, durch welche die Menschen sich insgeheim verblenden lassen und ihr ewiges Heil vergessen, ohne die Gefahr zu beachten, welche ihnen von der beständigen Verfolgung der auf ihr Verderben sinnenden bösen Geister droht. So schlafen die Menschen ruhig und vergessen sich selbst, als ob sie keine starken und wachsamen Feinde hätten. Diese entsetzliche Sorglosigkeit kommt von zwei Ursachen her: fürs erste hängen sie derart am Irdischen, Natürlichen und Sinnlichen, dass sie für keine anderen Wunden empfindlich sind als für die, welche die äußeren Sinne treffen; Schaden für das Innere achten sie nicht. Der zweite Grund besteht darin, dass die Fürsten der Finsternis unsichtbar und für die Sinne verborgen sind. Da nun die sinnlichen Menschen sie nicht tasten, nicht sehen und nicht berühren, so fürchten sie sie auch nicht, während sie doch gerade deswegen aufmerksamer und sorgfältiger sein sollten. Denn die unsichtbaren Feinde sind verschlagener und gewandter, um verräterischerweise zu schaden; darum ist die Gefahr desto sicherer, je weniger sie bemerkt wird, und die Wunden sind desto tödlicher, je weniger dieselben wahrgenommen und empfunden werden.

332. Tochter, höre auf diese Wahrheiten, die für das wahre und ewige Leben von höchstem Belang sind. Beachte meine Ratschläge, führe meine Lehre aus und nimm meine Ermahnungen an; denn wenn du dies vernachlässigst, so werde ich nicht mehr zu dir sprechen. Bemerke also wohl, was du von der Beschaffenheit dieser Feinde bis jetzt noch nicht erkannt hast; denn ich tue dir zu wissen, dass kein Verstand und keine Zunge weder der Menschen noch der Engel den Zorn und die rasende Wut ausdrücken können, von welchen Luzifer und seine bösen Geister gegen die Menschen beseelt sind, weil diese das Ebenbild Gottes und fähig sind, Gott ewig zu genießen. Der Herr allein begreift die Bosheit dieses stolzen Herzens, welches sich gegen seinen heiligen Namen und seine Anbetung empört hat. Würde er diese Feinde nicht mit seinem mächtigen Arme niederhalten, sie würden in einem Augenblick die Welt zerstören und alle Menschen ärger als hungrige Löwen, Drachen und wilde Tiere zerfleischen und zerreißen. Doch der gütigste Vater der Erbarmungen hemmt und zügelt diesen Zorn und behütet seine Kindlein auf seinen Armen, damit sie nicht der Wut dieser höllischen Wölfe anheimfallen.

333. Erwäge also mit aller möglichen Aufmerksamkeit, ob es etwas so Schmerzliches und Beklagenswertes gebe wie die Erscheinung, dass so viele Menschen die Augen schließen und diese große Gefahr nicht sehen wollen, und dass die einen aus Leichtfertigkeit, wegen einer Kleinigkeit, wegen eines kurzen, augenblicklichen Vergnügens, andere aus Nachlässigkeit, noch andere durch ihre ungeregelten Begierden, alle jedoch freiwillig den Schutz des Allerhöchsten verlassen, um sich in die wütenden Hände so gottloser und grausamer Feinde zu stürzen, welche dann nicht nur eine Stunde, einen Tag, einen Monat oder ein Jahr lang ihre Wut an ihnen auslassen, sondern dies ewig tun durch unsägliche Qualen. Staune und zittere, meine liebe Tochter, da du siehst, wie furchtbar und schrecklich die Torheit der unbußfertigen Menschen ist, und wie auch die Gläubigen, welche dies doch durch den Glauben wissen, den Verstand verloren haben und mitten in dem Licht, welches ihnen der wahre, katholische Glaube spendet, derart vom bösen Feinde betört und verblendet sind, dass sie die Gefahr nicht erkennen und nicht meiden wollen.

334. Damit du vor dieser Gefahr dich mehr fürchtest und hütest, so wisse, dass dieser Drache seit der Stunde, da du erschaffen worden und auf die Welt gekommen bist, dich kennt und ausforscht; Tag und Nacht geht er ohne Rast um dich herum und lauert auf eine Gelegenheit, dich zu seiner Beute zu machen. Er beobachtet deine natürlichen Neigungen und die Gnaden des Herrn, um mit deinen eigenen Waffen gegen dich zu streiten. Er geht mit andern bösen Geistern zu Rate über deinen Untergang, und er verspricht denjenigen Belohnungen, welche am meisten daran arbeiten. Aus diesem Grunde prüfen sie deine Handlungen mit großer Aufmerksamkeit, messen deine Schritte ab, und alle sind beschäftigt, dir für jedes Werk, für jede Handlung, welche du vorhast, Fallstricke zu legen und Gefahren zu bereiten. Ich will, dass du all diese Wahrheiten im Herrn betrachtest; da wirst du erkennen, wohin sie führen; beurteile sie dann nach deiner eigenen Erfahrung; diese Vergleichung wird dir zeigen, ob es vernünftig sei, dass du inmitten so vieler Gefahren schläfst. Zwar ist es für alle Menschen wichtig, wachsam zu sein; für dich jedoch mehr als für irgend jemanden, und zwar aus besonderen Gründen. Wenn ich dir diese jetzt auch nicht alles mitteile, so darfst du doch nicht daran zweifeln, dass du mit größter Wachsamkeit und Vorsicht wandeln sollst; es genüge dir der Blick auf dein weiches und gebrechliches Naturell, welches deine Feinde gegen dich benützen werden.

SIEBENUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Kampf der Hölle gegen die seligste Jungfrau

Der Herr bereitet die heiligste Jungfrau zum Kampf gegen Luzifer; der Drache beginnt sie zu verfolgen.

335. Das ewige Wort, welches die heiligste Jungfrau Maria nach seiner Menschwerdung in ihrem Schoß bereits als seine Mutter betrachtete, kannte die Pläne Luzifers nicht nur als Gott mit der unerschaffenen Weisheit, sondern auch als Mensch mit der erschaffenen Erkenntnis. Deshalb war es bedacht, seinen Tabernakel zu verteidigen, der ja kostbarer war, als alle übrigen Geschöpfe. Um nun die unüberwindliche Herrin gegen die tolle Kühnheit dieses verräterischen Feindes und seiner Rotte mit neuer Stärke zu bekleiden, bewegte sich die heiligste Menschheit Jesu und stellte sich im jungfräulichen Schoß auf die Füße, in der Haltung eines Streiters, welcher dem Kampf entgegengeht, voll Entrüstung gegen die Fürsten der Finsternis. In dieser Stellung bat das göttliche Kind den ewigen Vater, seine Gnaden und Gunsterweise an seiner Mutter zu erneuern, auf dass sie neugestärkt den Kopf der alten Schlange zertrete, damit diese durch eine Frau gedemütigt und bezwungen, mit ihren Anschlägen zuschanden gemacht und in ihrer Macht geschwächt werde, die Königin des Himmels aber siegreich hervorgehe und über die Hölle triumphiere, zur Ehre und zum Lob Gottes und der jungfräulichen Mutter.

336. Die heiligste Dreifaltigkeit gewährte und beschloss, was Christus unser Herr erbeten hatte. Alsbald offenbarte dies der heiligste Sohn auf unaussprechliche Weise seiner jungfräulichen Mutter, die ihn im Schoß trug. Bei dieser Vision erhielt sie die reichste Fülle von unbeschreiblichen Gnaden und Gaben, und sie erkannte mit neuer Weisheit die tiefsten Geheimnisse, die ich nicht erklären kann. Namentlich wurde sie inne, dass Luzifer übermütige Pläne und große Zurüstungen gemacht habe gegen die Glorie des Herrn und dass die Vermessenheit dieses Feindes soweit gehe, die reinen Wasser des Jordan austrinken zu wollen (Job 40,18). Indem der Herr ihr dies mitteilte, sprach er zu ihr: «Meine Braut und meine Taube, die glühende Wut des höllischen Drachen gegen meinen heiligen Namen und gegen diejenigen, welche ihn anbeten, ist so unersättlich, dass er alle ohne Ausnahme sich unterwerfen und meinen Namen in seiner schrecklichen Verwegenheit von der Erde der Lebenden vertilgen will. Meine Teure, ich will, dass du für meine Sache einstehest und meine Ehre verteidigst, indem du in meinem Namen gegen diesen grausamen Feind streitest. Ich werde im Kampf mit dir sein; denn ich bin ja in deinem jungfräulichen Schoß. Ich verlange, dass du, noch ehe ich auf die Welt komme, mit meiner göttlichen Kraft diese Feinde vernichtest und beschämst; denn sie sind überzeugt, dass die Erlösung der Menschen naht, und möchten noch vorher alle zugrunde richten und alle Seelen der Welt gewinnen, ohne auch nur einer einzigen zu schonen. Ich erwarte diesen Sieg von deiner Treue und Liebe; du wirst gegen diesen Drachen, gegen die alte Schlange in meinem Namen streiten, und ich selbst werde in dir streiten.»

337. Diese Mitteilung des Herrn und die Erkenntnis so tiefer Geheimnisse brachten im Herzen der göttlichen Mutter solche Wirkungen hervor, dass ich keine Worte finde, um dieselben zu erklären. Als die eifervollste Königin erkannte, es sei der Wille ihres heiligsten Sohnes, dass sie die Ehre des Allerhöchsten verteidige, entbrannte sie dergestalt von göttlicher Liebe und bekleidete sich mit solch unüberwindlicher Stärke, dass, wäre auch jeder einzelne böse Geist eine ganze Hölle gewesen mit der Wut und der Bosheit aller, sie doch nur wie schwache, unvermögende Ameisen gewesen wären gegenüber der unvergleichlichen Tugend unserer Königin; sie hätte mit der geringsten ihrer Tugenden und mit ihrem Eifer für die Ehre des Herrn alle überwunden und vernichtet. Der göttliche Beschützer wollte seiner heiligsten Mutter diesen glorreichen Sieg über die Hölle verleihen, damit der anmaßende Stolz seiner Feinde, die sich so sehr beeilten, die Welt noch vor der Ankunft des Heilandes zu verderben, sich nicht mehr erhebe, und damit wir Menschen nicht allein der unermesslichen Liebe ihres heiligsten Sohnes, sondern auch unserer himmlischen Beschützerin und Wiederherstellerin zu Dank verpflichtet wären; denn sie erhob sich zum Streit gegen Luzifer, hielt ihn auf, besiegte und bezwang ihn, damit das Menschengeschlecht nicht noch unfähiger und sozusagen in die Unmöglichkeit versetzt würde, seinen Erlöser zu empfangen.

338. O Menschenkinder von trägem und hartem Herzen! Warum achten wir nicht auf so wunderbare Wohltaten? Was ist der Mensch, dass du ihn so schätzst und begünstigst, o allerhöchster König? Deine eigene Mutter, unsere Herrin, setzst du dem Kampf und der Arbeit für unsere Verteidigung aus? Wer hat je ein ähnliches Beispiel gehört? Wer könnte eine so starke und erfinderische Liebe finden? Wo haben wir unseren Verstand? Wer hat uns des guten Gebrauches der Vernunft beraubt? Wie groß ist unsere Hartherzigkeit? Wer hat uns zu solch hässlicher Undankbarkeit gebracht? Die Menschen, die so sehr an der Ehre hängen und um dieselbe sich bemühen, wie sind sie nicht beschämt, da sie eine solche Niederträchtigkeit, eine so schändliche Undankbarkeit begehen, dass sie diese Verpflichtung vergessen? Dieselbe dankbar anerkennen und sogar mit dem Leben bezahlen, dies wäre ein edles Benehmen und wahre Ehre für die sterblichen Kinder Adams.

339. Zu diesem Streit gegen Luzifer bot sich die gehorsame Mutter zur Ehre ihres heiligsten Sohnes, ihres und unseres Gottes an. Sie beantwortete seinen Auftrag mit den Worten: «Mein Herr und mein höchstes Gut, von dessen unendlicher Güte ich Dasein, Gnade und Licht erhalten habe, ich bin ganz dein; und du, o Herr, hast Dich gewürdigt, mein Sohn zu sein; tue mit deiner Dienerin, was zu deiner größeren Ehre und zu deinem größeren Wohlgefallen dient; bist du, o Herr, in mir und ich in dir, wer wird dann mächtig sein gegen die Kraft deines Willens? Ich werde das Werkzeug deines unüberwindlichen Armes sein; gib mir deine Stärke, komm mit mir, wir gehen zum Kampf gegen die Hölle, gegen den Drachen und seinen ganzen Anhang». Während die himmlische Königin dieses Gebet verrichtete, verließ Luzifer seinen Rat so voll Stolz und Grimm gegen sie, dass er alle anderen Seelen, nach deren Verderben er doch lechzte, als eine Sache von sehr geringem Werte betrachtete. Könnten wir diese höllische Wut erkennen, so wie sie war, wir würden verstehen, was Gott zum heiligen Job vom Satan sagte: «Wie Stroh achtet er das Eisen, und wie faules Holz das Erz (Job 41,18)». So groß war der Zorn dieses Drachen gegen die heiligste Jungfrau, und er ist noch jetzt verhältnismäßig nicht geringer gegen die Seelen. Hat er die Heiligste, die Unüberwindlichste und Stärkste in seinem Hochmut gering geachtet wie ein dürres Blatt, was wird er dann mit den Sündern tun, die gleich hohlem, verfaultem Rohr ihm keinen Widerstand leisten? Nur der lebendige Glaube und die Demut des Herzens sind die doppelten Waffen, mit welchen man ihn glorreich überwindet und bezwingt.

340. Um den Streit zu beginnen, nahm Luzifer die sieben Legionen nebst deren vornehmsten Führern mit sich, welche er bei seinem Fall vom Himmel angewiesen hatte, die Menschen zu den sieben Hauptsünden zu versuchen. Jeder dieser sieben Banden gab er den Auftrag, gegen die unschuldige Königin zu streiten und ihre besten Kräfte gegen sie aufzubieten. Die unüberwindliche Herrin war im Gebet, als mit Zulassung des Herrn die erste Legion eintrat, um sie zum Stolz zu versuchen; dies war das besondere Geschäft dieser Feinde. Sie suchten ihr zu nahen, um die Gemütsbewegungen und natürlichen Neigungen durch Einwirkung auf die körperlichen Säfte zu bearbeiten - dies ist die gewöhnliche Art, andere Seelen zu versuchen -; denn sie dachten, dass die heiligste Jungfrau wie die anderen Menschen infolge der Sünde ungeordnete Leidenschaften habe. Allein sie konnten ihr nicht nahen, wie sie wünschten; denn sie fühlten den Wohlgeruch und die unüberwindliche Macht ihrer Heiligkeit, welche sie heftiger quälte, als das Feuer, das sie litten. Obgleich sie aber schon die äußere Erscheinung der heiligsten Jungfrau mit großem Schmerz durchdrang, war ihre Wut doch so rasend und maßlos, dass sie auf diese Qual nicht achteten und hartnäckig und gewaltsam ihr näher zu kommen trachteten, um ihr zu schaden und sie zu verderben.

341. Die Zahl der bösen Geister war groß, Maria dagegen nur eine Frau, ganz allein; doch sie allein war denselben so furchtbar und schrecklich, wie viele wohlgeordnete Kriegsheere. Diese Feinde stellten ihr, soviel sie konnten, die verruchtesten Trugbilder vor. Doch die Königin des Himmels, die uns zeigt, wie man siegt, blieb ganz ruhig, ohne auch nur Farbe und Gesichtszüge zu ändern. Sie schenkte ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit, als wenn es schwache Ameisen gewesen wären, und verachtete sie mit unbesiegtem, großmütigem Herzen; denn da dieser Kampf durch die Tugenden geführt wird, so soll man nicht in auffallender Weise, mit Lärm und Getöse, sondern mit heiterer Ruhe, innerem Frieden und äußerer Bescheidenheit streiten. Auch in die Gemütsbewegungen und das Begehrungsvermögen Unserer Lieben Frau konnten die bösen Geister keine Störung bringen; denn sie stand hierin nicht unter dem Einfluss Satans, da alles in ihr der Vernunft, die Vernunft aber Gott gehorchte und der Schlag der ersten Sünde die Harmonie ihrer Seelenkräfte nicht getroffen und gestört hatte, wie bei den andern Kindern Adams. Darum waren die Pfeile dieser Feinde denen der kleinen Kinder gleich, wie David sagte, und ihre Rüstzeuge waren wie Geschütze ohne Ladung. Nur gegen sich selbst waren sie stark, denn ihre Schwäche gereichte ihnen zu empfindlicher Qual. Freilich wussten sie nichts von der Unschuld und ursprünglichen Gerechtigkeit der heiligsten Jungfrau, und dass diese der Grund sei, warum ihr die gewöhnlichen Versuchungen nicht schaden konnten; indes schlossen sie aus der Festigkeit und Würde ihres äußeren Verhaltens, dass Maria sie verachte und von ihren Angriffen nur wenig zu leiden habe. Doch es war nicht bloß wenig, sondern nichts; denn wie der Evangelist in der Offenbarung sagt und ich im ersten Teil bemerkt habe (Nr. 129, 130), kam die Erde der mit der Sonne bekleideten Frau zu Hilfe, als der Drache die stürmischen Wogen der Versuchungen gegen dieselbe schleuderte, weil der irdische Körper der heiligen Jungfrau in seinen Kräften und Neigungen nicht verdorben war, wie bei den andern, welche mit der Schuld behaftet waren.

342. Diese bösen Geister nahmen schreckliche Körpergestalten an, begannen ein gräuliches Geheul, entsetzliches Geschrei und Gebrüll, machten Lärm und Getöse, stießen Drohungen aus, erschütterten die Erde und das Haus, welches einzustürzen drohte, und führten andere ungeheuerliche Stücke auf, um die Königin der Welt zu verwirren, zu erschrecken oder zu erschüttern; denn wäre ihnen auch nur dies gelungen, oder hätten sie dieselbe vom Gebet abbringen können, so würden sie sich als Sieger betrachtet haben. Doch das große, unüberwindliche Herz Mariä ließ sich nicht verwirren oder stören, es blieb unveränderlich. Hier ist zu bemerken, dass der Herr seine heiligste Mutter für diesen Streit in dem gewöhnlichen Zustand des Glaubens und der anderen Tugenden ließ, und dass er ihr die übrigen Gaben und Gunsterweise entzog, welche sie sonst beständig erhielt. Der Allerhöchste ordnete dies an, damit der Triumph seiner Mutter glorreicher und glänzender wäre, abgesehen von anderen Gründen, welche Gott hat, die Seelen auf solche Weise zu behandeln; denn seine Urteile und seine Führung der Seelen sind verborgen und unerforschlich. Die große Königin sagte inzwischen wiederholt: «Wer ist wie der Herr, der in der Höhe wohnt und auf die Niedrigen schaut im Himmel und auf Erden ? (Ps 113, 5.6)» Mit diesen Worten schlug sie die vor ihr stehenden Rotten.

343. Nun vertauschten diese hungrigen Wölfe ihren Pelz und nahmen den der Schafe an, das heißt, sie legten die entsetzlichen Gestalten ab und verwandelten sich in schöne und glänzende Engel des Lichtes. So nahten sie der himmlischen Königin und sprachen zu ihr: «Du hast gesiegt, du hast gesiegt; du bist stark, und wir kommen, dir beizustehen und deine unüberwindliche Tapferkeit zu belohnen». Mit solch trügerischen Schmeicheleien umringten sie Maria und boten ihr ihren Schutz an. Doch die weiseste Herrin sammelte alle ihre Sinne, erhob sich mittelst der eingegossenen Tugenden über sich selbst und betete den Herrn im Geist und in der Wahrheit an, verachtete die Fallstricke dieser bösen Zungen und lügnerischen Vorspielungen und sprach zu ihrem heiligsten Sohn: «Mein Herr und mein Gott, meine Stärke, wahres Licht vom Licht, auf deinem Schutz allein ruht all mein Vertrauen und die Erhöhung deines heiligen Namens. Alle aber, die ihm feind sind, verfluche, hasse und verabscheue ich.» Die Meister der Bosheit fuhren fort, der Lehrmeisterin der Weisheit Trug und Torheit vorzutragen und diejenige, welche sich bis unter die geringsten Geschöpfe erniedrigte, mit heuchlerischen Lobpreis bis über die Sterne zu erheben; sie sagten, dass sie dieselbe vor allen Frauen auszeichnen und ihr eine auserlesene Gunst erweisen, nämlich sie im Namen des Herrn zur Mutter des Messias erwählen wollten, da sie ja heiliger sei als die Patriarchen und Propheten.

344. Luzifer selbst war der Urheber dieses Lügengewebes, und seine Bosheit enthüllt sich in ihm, damit andere Seelen sie kennen lernen. Es war aber lächerlich, der Himmelskönigin anzubieten, was sie bereits war, und die bösen Geister waren die Getäuschten und Verblendeten, nicht nur sofern sie anboten, was sie nicht geben konnten, sondern auch weil sie nichts wussten von den Geheimnissen des himmlischen Königs, die in der glückseligsten Mutter, die sie verfolgten, verborgen waren. Dabei war die Bosheit des Drachen groß, denn er wusste, dass er sein Versprechen nicht halten könne; aber er wollte ausforschen, ob unsere himmlische Königin vielleicht schon Mutter des Messias sei oder irgend ein Anzeichen gebe, dass sie davon wisse. Die weiseste und heiligste der Jungfrauen kannte diese Hinterlist Luzifers wohl und verachtete sie mit wunderbarer Festigkeit und Ruhe. Während der heuchlerischen Schmeicheleien war das Gebet ihre einzige Beschäftigung; auf die Erde niedergeworfen, betete sie den Herrn an, und während sie ihn verherrlichte, erniedrigte sie sich selbst und hielt sich für geringer als alle Geschöpfe, sogar als den Staub, den sie mit den Füßen trat. Durch dieses Gebet und diese Demut vernichtete sie den vermessenen Stolz Luzifers während der ganzen Dauer dieser Versuchung. Was sonst noch dabei vorging und mir geoffenbart wurde über den Scharfsinn der bösen Geister, die Grausamkeit und die lügenhaften Vorspiegelungen, welche sie versuchten, glaube ich nicht alles berichten zu sollen, denn das Gesagte genügt für unsere Belehrung, und man kann nicht alles der Unwissenheit irdischer, gebrechlicher Geschöpfe anvertrauen.

345. Nachdem die erste feindliche Legion zurückgeschlagen und besiegt war, nahte die zweite, um die Ärmste auf Erden zur Habsucht zu verleiten. Sie boten ihr große Reichtümer an, Gold, Silber und kostbare Juwelen. Damit es aber nicht scheine, dieses Versprechen sei aus der Luft gegriffen, legten sie ihr viele derartige Gegenstände, obwohl nur zum Schein, vor; sie wussten ja, dass die Sinne Gewalt haben, den Willen für einen angenehmen Gegenstand, der gegenwärtig ist, einzunehmen. Zu diesem Betrug fügten sie noch viele lügnerische Reden und sagten, Gott sende ihr all dies, damit sie es an die Armen austeile. Da sie jedoch nichts annahm, kamen die bösen Geister mit einem andern Kunstgriff und sagten, sie tue Unrecht, so arm zu sein, da sie so heilig sei und gerade deswegen mehr Recht auf diese Reichtümer habe, als die Sünder und Bösen; das Gegenteil, dass nämlich die Gerechten arm seien, während die Bösen und Gottes Feinde in Reichtum und Wohlstand leben, stehe mit der Gerechtigkeit und Weisheit der göttlichen Vorsehung nicht im Einklang.

346. «Umsonst wirft man das Netz den Vögeln vor die Augen hin», sagte der Weise (Spr 1,17); dies bewahrheitete sich bei allen Versuchungen gegen unsere himmlische Königin; doch bei der zum Geiz war die Bosheit der Schlange am kopflosesten, da sie mit irdischen und verächtlichen Dingen ein Netz spannen wollte für den Phönix der Armut, der sich in seinem Flug so hoch über die Erde und selbst über die Seraphim erhoben hatte. Die weiseste Königin ließ sich, obwohl mit der göttlichen Weisheit erfüllt, niemals in Streit mit diesen Feinden ein, und niemand soll dies tun; denn sie streiten gegen die offenbare Wahrheit, und wenn sie auch dieselbe erkennen, so geben sie sich derselben doch niemals gefangen. Deshalb bediente sich die heiligste Jungfrau Maria einiger Worte der Heiligen Schrift, welche sie mit ernster Demut aussprach, so die Worte des 119. Psalmes: «Haereditate acquisivi testimonia tua in reternum (Ps 119,111) - Ich habe als Erbe und Reichtum erwählt, deine Aussprüche und Gebote, o Herr, zu beobachten». Sie gebrauchte noch andere, lobte und pries den Allerhöchsten unter Danksagung, dass er sie erschaffen und erhalten habe und sie noch immer ohne ihr Verdienst am Leben erhalte. Durch dieses so weise Benehmen überwand sie die zweite Versuchung, zur Qual und zur Beschämung der bösen Geister.

347. Darauf nahte die dritte Legion mit dem Fürsten der Unlauterkeit, welcher in der Schwachheit des Fleisches versucht. Sie machten noch größere Anstrengungen, denn sie stießen auch auf größere Schwierigkeiten, um ihr Vorhaben auszuführen. Und sie erreichten auch weniger, wenn überhaupt das Ergebnis bei einer Versuchung geringer sein konnte als bei den anderen. Sie versuchten ihr schändliche Gedanken und Vorstellungen beizubringen und andere Abscheulichkeiten, die nicht auszusprechen sind. Es waren jedoch lauter Luftstreiche; denn sobald die reinste Jungfrau die Beschaffenheit dieses Lasters bemerkte, sammelte sie sich innerlich und hob allen Gebrauch ihrer Sinne auf. Daher konnte keine Einflüsterung sie berühren, kein Bild Zutritt finden bei ihrem Verstand; denn nichts gelangte zu ihrem Seelenvermögen. Sie erneuerte dabei oftmals voll Eifer innerlich vor dem Herrn ihr Gelübde der Keuschheit und verdiente bei dieser Gelegenheit mehr als alle Jungfrauen, die je gelebt haben und noch leben werden. Der Allmächtige aber verlieh ihr in dieser Tugend eine solche Stärke, dass das in einem Geschütz eingeschlossene Feuer die Ladung nicht mit mehr Kraft und Schnelligkeit hinausschleudert, als die bösen Geister zurückgeschleudert wurden, da sie der Reinheit der heiligsten Jungfrau mit einer Versuchung nahekommen wollten.

348. Die vierte Legion kam mit Versuchungen gegen die Sanftmut und Geduld und suchte in der sanftesten Taube Zorn zu erregen. Diese Versuchung war lästiger als die übrigen, denn die Feinde kehrten das ganze Haus um; sie zerbrachen und schlugen in Stücke, was sie nur konnten, und in einer Weise, die am meisten geeignet war, die sanftmütigste Königin zum Zorn zu reizen. Doch ihre heiligen Engel machten diesen Schaden alsbald wieder gut. Hierin besiegt, nahmen die bösen Geister die Gestalten einiger der erhabenen Königin wohl bekannter Frauen an, beschimpften sie, als wären sie wirklich in größtem Zorn und in Wut, über alles Maß, stießen kecke Drohungen gegen sie aus und nahmen einige der notwendigsten Gegenstände aus ihrem Haus weg. Doch alle diese Kunstgriffe waren bei der heiligsten Jungfrau, die sie erkannte, vergeblich, denn sie durchschaute jede ihrer Bewegungen, jede Handlung, obwohl sie innerlich sich ganz von ihnen abwendete und sie in unveränderter Ruhe mit der Majestät einer Königin verachtete. Die bösen Geister fürchteten, erkannt und deshalb verachtet zu werden. Darum bedienten sie sich eines anderen Werkzeuges, nämlich einer wirklichen Frau, welche für ihre Absicht ganz passte. Mit teuflischer Arglist brachten sie sie gegen die Himmelskönigin auf. Ein Dämon nahm nämlich die Gestalt einer Freundin dieser Frau an und sagte ihr, Josephs Frau Maria habe sie während ihrer Abwesenheit um ihren guten Namen gebracht und viele Fehler von ihr erzählt. Diese Fehler hatte aber der Teufel, unser Feind, erdichtet.

349. Also getäuscht und ohnehin zum Zorn geneigt, kam diese Frau voll Wut zur heiligsten Jungfrau, dem sanftesten Lämmlein, und sagte ihr abscheuliche Schmähungen und Vorwürfe ins Gesicht. Doch Unsere Liebe Frau ließ sie ruhig ihren Zorn ausgießen und redete dann zu ihr in so demütigen und sanften Worten, dass sie dieselbe ganz umstimmte und ihr Herz beruhigte. Als sie so wieder zur Besinnung gekommen war, spendete ihr die seligste Jungfrau Trost und ermahnte sie, vor dem bösen Feind auf der Hut zu sein; sie gab ihr ein Almosen, denn sie war arm, und entließ sie im Frieden. So war auch dieses Truggewebe zerstört, wie viele andere, welche Luzifer, der Vater der Lüge, angezettelt hatte, um die sanftmütigste Taube zum Zorn zu reizen und sie außerdem auf diesem Weg in üblen Ruf zu bringen. Doch der Allerhöchste hatte schon im voraus die Ehre seiner heiligsten Mutter durch deren Vollkommenheit, Demut und Klugheit verteidigt, so dass der Dämon niemals und in nichts ihrem guten Namen schaden konnte; denn sie benahm sich gegen alle mit solcher Sanftmut und Weisheit, dass die zahlreichen Kunstgriffe des Drachen zunichte wurden. Die Engel bewunderten die Ruhe und die Sanftmut der himmlischen Königin bei solchen Gelegenheiten, und selbst die bösen Geister waren, obwohl in anderer Weise, erstaunt, ein solches Benehmen bei einem menschlichen Geschöpfe, zumal bei einer Frau, zu finden, denn nie hatten sie eine ähnliche gesehen.

350. Die fünfte Legion kam mit der Versuchung zur Unmäßigkeit. Zwar richtete Satan an unsere Königin nicht, wie später an ihren heiligsten Sohn, die Aufforderung, Steine in Brot zu verwandeln; denn er hatte sie noch nicht so große Wunder tun sehen, da Unsere Liebe Frau sie vor ihm verborgen hatte, jedoch versuchte er sie, wie die erste Frau, mit der Gaumenlust. Die bösen Geister stellten ihr köstliche Leckerbissen vor, um durch deren lockendes Äußere den Appetit zu reizen. Sie trachteten, ihre natürlichen Säfte zu verderben und dadurch einen falschen Hunger zu erregen; auch durch andere Zuflüsterungen suchten sie ihre Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was sie ihr anboten. Doch alle Anstrengungen waren vergeblich und ohne jeden Erfolg; denn das edle Herz der Himmelskönigin war von diesen irdischen Dingen soweit entfernt, wie der Himmel von der Erde. Ebenso wenig gebrauchte sie ihre Sinne, um die Gaumenlust zu befriedigen, und Maria empfand sie fast nicht. Denn in allem war sie bemüht, wieder gut zu machen, was unsere Mutter Eva gefehlt hatte. Unvorsichtig und unbekümmert um die Gefahr, richtete diese auf die Schönheit des Baumes der Erkenntnis und auf dessen liebliche Frucht ihre Blicke und streckte dann die Hand aus und aß, wodurch sie unser Unglück begründete. Nicht so tat die heiligste Jungfrau; sie hielt ihre Sinne gesammelt und eingezogen, obwohl für sie keine Gefahr bestand, wie für Eva, die aber auch zu unserem Verderben besiegt wurde, während die große Königin zu unserer Erlösung und Rettung siegte.

351. Nun kam die sechste Legion mit der Versuchung zum Neid, jedoch ganz mutlos, da sie das Missgeschick ihrer Vorgänger gesehen; denn wenn sie auch nicht die ganze Vollkommenheit erkannten, mit welcher die Mutter der Heiligkeit handelte, so fühlten sie doch deren unüberwindliche Stärke und fanden dieselbe so unerschütterlich, dass sie die Hoffnung aufgaben, Maria zur Einwilligung in einen ihrer gottlosen Pläne verleiten zu können. Gleichwohl ergaben sich der unversöhnliche Hass und der unbegreifliche Stolz des Drachen noch nicht; vielmehr wollten die bösen Geister die heiligste Jungfrau, die von der größten Liebe zu Gott und zum Nächsten beseelt war, mit neuen Vorspiegelungen reizen, andere zu beneiden um das, was sie selbst besaß, und um das, was sie als unnütz und gefahrvoll hasste. Sie stellten ihr weitläufig vor, wie andere so viele zeitliche Güter besäßen, während Gott ihr diese verweigert habe. Und weil sie glaubten, dass für sie die übernatürlichen Güter ein wirksamerer Antrieb zur Eifersucht wären, so hielten sie ihr große Gnaden und Wohltaten vor, welche der Allmächtige anderen verliehen habe, und ihr nicht. Doch wie hätten solch lügnerische Vorstellungen diejenige beirren können, welche die Mutter aller Gnaden und aller Geschenke des Himmels war? Denn was sie auch an Wohltaten, welche der Herr allen anderen Geschöpfen verliehen, vorbringen konnten, alles war geringer als die Würde einer Mutter des Urhebers der Gnade. Ja gerade wegen der Gnade, welche der Herr ihr verliehen hatte, und wegen des Feuers der Liebe, welches in ihrem Herzen glühte, begehrte sie mit lebhaftester Sehnsucht, dass die Hand des Allerhöchsten alle bereichere und freigebig beschenke. Wie konnte also der Neid eine Stelle finden, wo die Liebe übergroß war? Doch die grausamen Feinde ließen noch nicht ab. Sie stellten nun der Himmelskönigin das scheinbare Glück der anderen vor, die ihrer Reichtümer und zeitlichen Güter wegen als glücklich galten in diesem Leben und die Ersten waren in der Welt. Sie bewogen auch verschiedene Personen, die heiligste Jungfrau zu besuchen und ihr dabei zu sagen, welchen Trost es ihnen bringe, reich und begütert zu sein; als ob dieses trügerische Glück der Menschen nicht so oft in der Heiligen Schrift verurteilt würde, und als ob dies die Weisheit wäre, welche die Himmelskönigin und ihr heiligster Sohn die Welt durch ihr Beispiel lehren wollten!

352. Die seligste Jungfrau ermahnte diese Personen, welche sie besuchten, ihre zeitlichen Güter gut zu gebrauchen und ihrem Schöpfer dafür zu danken. Sie selbst tat dies auch und ersetzte so, was der Undank der Menschen gewöhnlich versäumt. Freilich erachtete die demütigste Herrin sich der geringsten Wohltat des Allerhöchsten unwürdig; doch ihre erhabene Würde und Heiligkeit waren ein tatsächliches Bekenntnis dessen, was die Heilige Schrift ihr in den Mund gelegt hat: «Bei mir sind Reichtum und Ehre, überschwängliche Güter und Gerechtigkeit. Meine Frucht ist besser als Gold und Edelstein (Spr 8,18.19). Bei mir ist alle Gnade des WandeIns und der Wahrheit, bei mir alle Hoffnung des Lebens und der Tugend (Sir 24, 25)». Mit solcher Überlegenheit besiegte die heiligste Jungfrau ihre Feinde. Diese waren erstaunt und beschämt, zu sehen, dass, je mehr sie all ihre Kraft und List aufboten, desto geringer ihr Erfolg und desto größer ihre Niederlage war.

353. Trotzdem blieben die bösen Geister hartnäckig und kamen nun mit der siebenten Versuchung, nämlich mit der Versuchung zur Trägheit. Sie wollten die heiligste Jungfrau hierzu verleiten, indem sie körperliches Unwohlsein, Müdigkeit, Mattigkeit und Traurigkeit(Si Satana usus est tentare Filium, quomodo non tentaret Matrem? sagen wir mit Gerson. Doch ist zu beachten, dass alle diese Versuchungen der seligsten Jungfrau äußerlich blieben, auch die Traurigkeit suchte Satan nur durch äußere Einflüsse zu erregen. Man vergleiche hierzu, was im 1. Teil, Nr. 215 gesagt wurde. Der Herausgeber). in ihr zu erregen suchten. Es ist dies ein Kunstgriff, der nur zu wenig bekannt ist, durch den es aber dem Satan gelingt, dass das Laster der Trägheit in gar vielen Seelen große Herrschaft erlangt und ihren Fortschritt in der Tugend hindert. Auch flüsterten die bösen Geister der seligsten Jungfrau ein, sie solle, wenn sie ermüdet sei, einige geistliche Übungen aufschieben, bis sie dazu besser aufgelegt sei. Dies ist ein ebenso schlauer Kunstgriff Satans, den er gebraucht, wenn er uns mit den andern nicht hintergehen kann; wir aber bemerken ihn gar nicht und wissen nicht, was dagegen zu tun ist. Ferner suchten die bösen Geister die heiligste Jungfrau auch dadurch an einzelnen geistlichen Übungen zu hindern, dass sie einige Personen antrieben, sie zu ungelegener Zeit zu stören, damit sie die eine oder andere ihrer heiligen Beschäftigungen aufschiebe; denn sie hatte für jede die Zeit und Stunde bestimmt. Doch die weiseste und umsichtigste Königin erkannte alle diese Kunstgriffe und vereitelte sie durch ihre Weisheit und Pünktlichkeit. Nie gelang es dem Feind, sie in irgendeinem Stück zu hindern, so dass sie nicht in allem mit höchster Vollkommenheit gehandelt hätte. Darum waren auch die bösen Geister wie verzweifelt und gelähmt, und Luzifer war gegen sie, wie gegen sich selbst, voll Wut; allein in ihrer rasenden Hoffart erhoben sie sich aufs neue und fassten den Beschluss, einen gemeinschaftlichen Angriff zu machen; doch hiervon werde ich im folgenden Hauptstück sprechen.

LEHRE, welche mir die heiligste Königin Maria gab

354. Meine Tochter, du hast zwar den langwierigen Kampf meiner Versuchungen in Kürze geschildert, es ist aber mein Wille, dass du aus dem, was du geschrieben, und aus dem, was du sonst noch in Gott erkannt hast, die Regeln und Unterweisungen ableitest, die zu beobachten sind, um der Hölle zu widerstehen und sie zu besiegen. Die beste Art zu streiten ist die, dass man den bösen Geist verachtet indem man ihn als einen Feind Gottes ansieht, der ohne heilige Furcht, ohne Hoffnung auf irgend ein Gut an jeder Hilfe verzweifelt, jedoch in seinem Unglück hartnäckig bleibt, ohne Reue über seine Bosheit. Auf diese unfehlbare Wahrheit dich stützend, sollst du dich ihm gegenüber überlegen, großherzig und unveränderlich zeigen und ihn als einen Verächter der Ehre und des Dienstes seines Gottes behandeln. Im Bewusstsein, dass du eine so gerechte Sache verteidigst, darfst du keine Mutlosigkeit aufkommen lassen; vielmehr musst du ihm mit ganzer Kraft, mit größtem Mut widerstehen und dich allen seinen Plänen widersetzen, wie wenn du an der Seite des Herrn stündest, für dessen Namen du streitest. Denn es ist kein Zweifel, dass Seine Majestät denjenigen beisteht, welche gesetzmäßig kämpfen. Du befindest dich an einem Ort und in einem Stand der Hoffnung und bist für die ewige Seligkeit bestimmt, sofern du treu und fleißig für deinen Gott und Herrn arbeitest.

355. Erwäge weiter, dass die bösen Geister unversöhnlichen Hass tragen gegen das, was du liebst und begehrst, nämlich gegen die Ehre Gottes und deine ewige Seligkeit. Sie wollen dir rauben, was sie selbst nicht wieder erlangen können. Den Satan hat Gott verworfen, dir aber bietet er seine Gnade und seine mächtige Hilfe an, um seinen und deinen Feind zu überwinden und das glückliche Ziel deiner ewigen Ruhe zu erreichen, wenn du treu arbeitest und die Gebote des Herrn beobachtest. Freilich ist der Hochmut des Drachen groß, allein seine Schwäche ist noch größer; vor der Kraft Gottes ist seine Kraft nichts Weiteres als ein machtloses Sonnenstäubchen. Da er jedoch an erfinderischer Arglist und Bosheit den Menschen weit überlegen ist, so ist es für die Seele nicht ratsam, sich mit ihm auf Gründe oder Unterredungen einzulassen, mag er nun sichtbar oder unsichtbar kommen; denn aus seinem finsteren Geist gehen, wie aus einem Feuerofen, Finsternis und Verwirrung hervor, welche das Urteil des Menschen verdunkeln; hören sie auf ihn, dann erfüllt er sie mit Lüge und Finsternis, damit sie weder die Wahrheit und Schönheit der Tugend, noch die Schändlichkeit seiner giftigen Blendwerke einsehen; dann wissen sie nicht mehr das Kostbare von dem Schlechten, das Leben von dem Tod, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden, und so fallen sie in die Hände dieses gottlosen, grausamen Drachen.

356. Darum muss es dir als unverletzliche Regel gelten, in den Versuchungen auf die Vorschläge Satans nicht zu achten, darauf nicht zu hören und darüber nicht nachzudenken. Kannst du dich der Versuchungen ganz entledigen und dich so weit von ihnen fern halten, dass du seine Bosheit gar nicht gewahr wirst oder nur von fern siehst, so ist dies das Sicherste; denn um seinem Trug Eingang zu verschaffen, trifft der böse Feind vorher immer einige Vorbereitung, besonders bei Seelen, von welchen er fürchtet, sie möchten sich seinem Eintritt widersetzen, wenn er den Eintritt nicht erleichtert. So pflegt er zum Beispiel mit Traurigkeit und Niedergeschlagenheit den Anfang zu machen, oder auch mit einer heftigen Aufregung, welche die Seele von dem liebevollen Andenken an Gott abbringt und zerstreut, und dann bietet er sein Gift in goldenem Gefäß an, damit es nicht so sehr abschrecke. Bemerkst du also in dir eines dieser Anzeichen - du hast ja hierin Erfahrung, Leitung und Belehrung-, so musst du mit Taubenflügeln dich so weit emporschwingen, bis du zum Zufluchtsort des Allerhöchsten gelangst; du musst ihn anrufen und ihm zu deinen Gunsten die Verdienste meines heiligsten Sohnes vorstellen. Auch zu mir, als deiner Mutter und Lehrmeisterin, musst du deine Zuflucht nehmen sowie den Schutz deiner Engel und der anderen Diener des Herrn anrufen. Schließe auch eilends deine Sinne und stelle dir vor, du seist ihnen abgestorben, oder wie eine Seele aus dem andern Leben, auf welches die Gewalt der Schlange, dieses grausamen Tyrannen, sich nicht erstreckt. Mit erhöhtem Eifer erwecke alsdann solche Tugendakte, welche den Lastern, zu denen Satan dich versucht, entgegengesetzt sind; besonders erwecke Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe; denn durch diese werden die Feigheit und Furchtsamkeit, welche die Widerstandskraft des Willens schwächen, ausgetrieben (1 Joh 4, 18).

357. Die Gründe, durch welche du den Luzifer überwinden kannst, musst du in Gott allein suchen; du sollst sie aber deinem Feind nicht angeben, damit er nicht etwa durch das Gewirr seiner Vorspiegelungen einnehme. Erachte es als eine unwürdige und überdies gefährliche Sache, dich mit ihm auf Gründe einzulassen, oder auf ihn, der dein und deines Bräutigams Feind ist, auch nur zu achten. Zeige dich ihm überlegen, sei gegen ihn mutvoll und biete dich an, alle Tugenden üben zu wollen, und zwar dein ganzes Leben lang. Mit diesem Schatz sei zufrieden, in ihm suche deine Zuflucht; denn das Klügste, was die Kinder Gottes in diesem Kampf tun können, ist dies, dass sie soweit als möglich fliehen. Der Satan ist stolz, darum ärgert es ihn, wenn man ihn verachtet; er will, dass man auf ihn höre; denn er verlässt sich auf seine Anmaßung und auf seine Lügen, und dieses Selbstvertrauen ist der Grund, warum er so hartnäckig darauf dringt, dass man ihm bei irgend einer Sache die Hand im Spiel lasse. Auf die Macht der Wahrheit kann sich der Lügengeist nicht verlassen - er sagt sie ja niemals -, darum setzt er seine ganze Stärke darein, dass er belästigt und seinen Trug mit dem Scheine des Guten und Wahren umkleidet. Solange dieser Knecht der Bosheit sich nicht verachtet sieht, denkt er gar nicht daran, dass man ihn erkannt habe; wie eine zudringliche Fliege kommt er wieder zurück, und zwar gerade an die Stelle, von welcher er weiß, dass sie dem Verderben am nächsten ist.

358. Nicht geringere Umsicht sollst du anwenden, wenn der böse Feind, um dich zum Fall zu bringen, deiner Mitmenschen sich bedienen sollte. Auf zwei Wegen wird er zu diesem Ziele zu gelangen suchen: er wird sie entweder zu übertriebener Zuneigung, oder umgekehrt zum Hass verleiten. Bemerkst du bei jemand, der mit dir verkehrt, ungeordnete Zuneigung, so beobachte die Lehre, welche für die Flucht vor dem bösen Feind gilt, jedoch mit einem Unterschied: letzteren sollst du verabscheuen, die Mitmenschen aber sollst du betrachten als Geschöpfe Gottes und darfst ihnen darum nicht versagen, was du in Gott und um Gottes willen ihnen schuldest. Was aber das Lossagen betrifft, so musst du allesamt als Feind betrachten; denn mit Rücksicht auf das, was Gott von dir verlangt, und auf den Stand, in welchem du dich befindest, wird ein jeder ein Satan sein, welcher andere antreibt, dich vom Herrn und von deinen Verpflichtungen gegen ihn abwendig zu machen. Wenn dagegen die Menschen dich hassen und verfolgen so vergilt ihnen mit Liebe und Sanftmut; bete für diejenigen, welche dich hassen und verfolgen und tue dies mit aller Inbrunst des Herzens. Und sollte der Fall eintreten, dass du den Zorn eines Menschen durch sanfte Worte brechen oder eine Täuschung zugunsten der Wahrheit aufdecken müsstest, so tue es, jedoch nicht, um dich rein zu waschen, sondern zur Beruhigung und zur Wohlfahrt deiner Mitmenschen sowie zur Wahrung des inneren und äußeren Friedens. Auf diese Weise wirst du mit einem Male einen doppelten Sieg davontragen, nämlich über dich und über diejenigen, die dich hassen. Um aber zu diesem ganzen Verhalten den Grund zu legen, ist es notwendig, die Hauptsünden mit ihren Wurzeln auszuschneiden und auszureißen, das heißt, den Regungen der Begierlichkeit ganz abzusterben; denn in letzterer haben die sieben Hauptsünden, zu denen der Satan versucht, ihre Wurzeln. Die ungeordneten und unabgetöteten Leidenschaften und Neigungen sind es, in welche er den Samen aller jener Laster ausstreut.

ACHTUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Weiterer Verlauf des Kampfes. Der Drache wird besiegt

Luzifer mit seinen sieben Legionen fährt fort, die heiligste Jungfrau zu versuchen. Maria besiegt den Drachen und zermalmt sein Haupt.

359. Könnte der Fürst der Finsternis von seiner Bosheit abstehen, so wäre sein grenzenloser Hochmut durch die Siege, welche die Himmelskönigin über ihn davontrug, gebrochen und verdemütigt werden. Allein da er sich «allzeit gegen Gott erhebt (Ps 74, 23)» und seine Bosheit unersättlich ist, so war er wohl besiegt, aber dem Willen nach nicht unterworfen. Er glühte vom Feuer seiner nie erlöschenden Wut, da er sich besiegt, und zwar in solcher Weise besiegt sah, nämlich durch eine demütige, zarte Frau, er, der doch mit seinen höllischen Knechten schon so viele starke Männer und großmütige Frauen sich unterworfen hatte. Durch Gottes Fügung wurde der böse Feind nach und nach auch gewahr, dass die heiligste Jungfrau Maria Mutter geworden sei; allein er wusste nur soviel, dass ihr Kind ein wirkliches Kind sei; die Gottheit unseres Herrn sowie andere Geheimnisse blieben den bösen Geistern immer verborgen. Darum waren sie auch der Überzeugung, dass er nicht der verheißene Messias sei, da er ein Kind war wie die übrigen Menschen. Diese Täuschung brachte sie auch von dem Gedanken ab, dass die heiligste Jungfrau die Mutter des göttlichen Wortes sei, welche sie deshalb fürchteten, weil sie mit ihrem Sohn ihnen den Kopf zertreten sollte. Doch dachten sie sich, dass von einer so starken und siegreichen Frau ein Mann von ausgezeichneter Heiligkeit werde geboren werden. Und so fasste der große Drache schon zum voraus gegen den Sohn der heiligsten Jungfrau jene Wut, von welcher, wie ich bereits oben gesagt habe (Teil 1. Nr, 105) der heilige Johannes im zwölften Kapitel der Offenbarung spricht, wo er sagt, dass der Drache wartete, «um ihr Kind zu verschlingen, wenn sie geboren hätte (Offb 12, 4)».

360. Luzifer fühlte, wie eine geheime Kraft ihn niederdrückte, so oft er gegen das im Schoß seiner heiligsten Mutter eingeschlossene Kind hinblickte. Zwar gewahrt er nur, dass er in dessen Gegenwart schwach und wie gebunden sei; allein dies versetzte ihn in eine solche Wut, dass er sich entschloss, alle Mittel aufzubieten, um dieses ihm so verdächtige Kind und seine Mutter, deren Überlegenheit im Streit er erfahren hatte, zu vernichten. Er zeigte sich der heiligsten Jungfrau auf verschiedene Weise, indem er sichtbare Schreckgestalten annahm, zum Beispiel die Gestalt eines wilden Tieres, eines schrecklichen Drachens usw. In solcher Weise versuchte er, ihr zu nahen; aber er konnte nicht. Er nahm einen Anlauf, sah sich aber zurückgehalten, ohne zu wissen, von wem und wie. Er tobte, um los zu werden, wie ein wildes Tier, das man gebunden hat. Auch erhob er ein so schreckliches Gebrüll, dass, wenn Gott nicht verhindert hätte, dass man es höre, es die ganze Welt in Schrecken versetzt hätte und viele aus Angst gestorben wären. Aus seinem Rachen spie er Feuer, Schwefeldampf und giftigen Geifer aus. Alles dieses sah und hörte die himmlische Königin Maria; sie blieb aber so ruhig und unbeweglich, wie wenn sie eine Mücke gesehen hätte. Dann brachte Luzifer Störungen hervor in der Luft, in der Erde und in der Wohnung Mariä, indem er dort alles umstürzte und in Unordnung brachte; allein Maria verlor auch hierdurch ihre Ruhe und ihren inneren und äußeren Frieden in keiner Weise. Immer war sie unüberwindlich und über alles erhaben.

361. Als Luzifer sich auf solche Weise besiegt sah, öffnete er seinen schmutzigen Mund, bewegte seine befleckte Lügenzunge und ließ seine Bosheit wie eine den Damm durchbrechende Flut sich ergießen, indem er in Gegenwart der Himmelskönigin alle höllischen Ketzereien aussprach, die er mit seinem verstockten Anhang ausgesonnen hatte. Denn nachdem die bösen Geister vom Himmel gestürzt worden waren und erfahren hatten, dass das göttliche Wort die menschliche Natur annehmen sollte, um das Haupt eines Volkes zu werden und es mit himmlischer Gnade und Lehre zu beschenken, fasste der Drache den Entschluss, gegen alle Wahrheiten, die er in Bezug auf die Erkenntnis, die Liebe und den Dienst Gottes inne werden könnte, Irrtümer, Sekten und Ketzereien anzuzetteln und aufzubringen. Dies war auch die Beschäftigung der bösen Geister während der langen Reihe von Jahren, die bis zur Ankunft Unseres Heiligen Jesus Christus in dieser Welt verflossen. Luzifer aber, die alte Schlange, hatte dieses Gift in seinem Innern verschlossen gehalten. Nun aber spie er alles gegen die Mutter der Wahrheit und Reinheit aus. Voll Begierde, sie anzustecken, sagte er ihr alle Irrtümer vor, die er gegen Gott und seine Wahrheit bis auf jenen Tag geschmiedet hatte.

362. Es ist nicht am Platz, sie hier anzuführen, ebenso wenig als die im vorausgehenden Hauptstück genannten Versuchungen; denn dies ist nicht nur für die Schwachen gefährlich, sondern auch die Stärksten müssen diesen Pesthauch Luzifers fürchten; und diesen hat er bei genannter Gelegenheit ganz und gar ausgegossen. Nach dem, was ich hierüber erkannt habe, glaube ich ganz sicher, dass kein Irrtum, keine Abgötterei, keine Ketzerei bis auf den heutigen Tag in der Welt bekannt geworden ist, welche dieser Drache der heiligsten Jungfrau Maria nicht vorgestellt hätte. Dies ist aber geschehen, damit die heilige Kirche ihr in aller Wahrheit zu diesen Siegen Glück wünschen und von ihr singen könne, dass «sie allein alle Ketzereien in der Welt erstickt und vernichtet habe (Offic. Eccl. B. M. V.)», Und dies hat unsere siegreiche Sulamitis getan, sie, an welcher nichts zu sehen war als «Züge von Heerlagern (Hld 7, 1)», das heißt eine Fülle von Tugenden welche gleichsam in Scharen geordnet waren, um die Schlachtreihen der Hölle zurückzudrängen, zu verwirren und zu zerstreuen. Allen Lügen der Hölle und einer jeden im besonderen trat sie gegenüber und sprach mit unüberwindlichem Glauben ihren Abscheu und das Anathema gegen dieselben aus. Damit verband sie das erhabenste Bekenntnis der entgegengesetzten Wahrheiten und lobpries um ihretwillen den Herrn als den Wahrhaftigen, Gerechten und Heiligen. Auch sang sie Loblieder, in denen die Tugenden, sowie die wahre, heilige, reine und preiswürdige Lehre gefeiert waren. Desgleichen flehte sie in inbrünstigem Gebet zum Herrn, dass er den verwegenen Stolz der bösen Geister in dieser Sache demütigen wolle, damit sie nicht so viele giftige Lehren in der Welt verbreiten, und damit diejenigen, welche sie bereits ausgestreut hatten oder in Zukunft unter die Menschen zu säen willens waren, nicht die Oberhand gewinnen möchten.

363. Um dieses großen Sieges willen, den unsere himmlische Königin errang, und auf ihr Gebet hin hat der Allerhöchste, wie mir gezeigt wurde, aus Gerechtigkeit den Satan gehindert, das Unkraut der Irrtümer in solcher Menge auf dieser Welt auszusäen, als er es gewollt und die Sünden der Menschen es verdient hätten. Freilich hat es, wie die Erfahrung bis auf den heutigen Tag lehrt, wegen der Sünden eine große Menge Ketzereien und Sekten gegeben; allein es hätte deren noch weit mehr gegeben, wenn nicht die allerseligste Jungfrau Maria durch so herrliche Siege und durch so inbrünstige Gebete dem Drachen den Kopf zertreten hätte. Indes gibt es doch etwas, was uns in dem herben Schmerz über die Bedrückung der heiligen Kirche durch eine solche Menge von Ungläubigen und Feinden Trost zu geben vermag; es ist dies ein großes Geheimnis, das mit bei dieser Gelegenheit zu erkennen gegeben wurde, und dies Geheimnis ist folgendes: Die göttliche Majestät hat der allerseligsten Jungfrau Maria bei dem Sieg, den sie dieses Mal, und später nach der Himmelfahrt ihres heiligsten Sohnes noch einmal über den Satan errungen hat - von letzterem Sieg wird im dritten Teil (Teil 3, Nr. 528) die Rede sein -, als Belohnung für ihre Kämpfe das Vorrecht verliehen, dass durch ihre Fürbitte und ihre Verdienste alle Ketzereien und Sekten, welche zum Unheil der heiligen Kirche in der Welt existieren, vertilgt und ausgerottet werden sollen. Über die Zeit, in welcher diese Gnade nach dem Ratschluss Gottes gewährt werden soll, ist mir nichts gesagt worden; auch ist die Erfüllung dieser Verheißung des Herrn an eine Bedingung geknüpft, welche unbekannt und verborgen ist; indes bin ich versichert, würden die katholischen Fürsten samt ihren Untertanen sich um die Gunst der großen Königin Himmels und der Erde bewerben, würden sie Maria als ihre einzige Patronin und Beschützerin anrufen und all ihre Herrlichkeit und ihren Reichtum, ihre Macht und ihre Gewalt zur Erhöhung des Glaubens, zur Verherrlichung des Namens Gottes und des Namens seiner reinsten Mutter Maria aufbieten - vielleicht ist gerade dies die genannte Bedingung -, sie würden die Werkzeuge werden, durch welche Gott und seine heiligste Mutter die Ungläubigen bekämpfen und besiegen wollten; sie würden die Sekten und Irrlehren, welche die Welt in solches Elend gebracht haben, ausrotten und herrliche, großartige Siege über sie erringen.

364. Bevor unser Erlöser Jesus Christus auf die Welt gekommen war, dünkte es, wie ich im vorigen Hauptstücke bereits angedeutet habe, den Satan, dass die Ankunft des Erlösers um der Sünden der Welt willen verzögert werde. Um nun dieselbe ganz zu verhindern, suchte er das Hindernis zu vergrößern und die Irrlehren und Sünden unter den Menschen zu vervielfältigen. Doch der Herr machte diesen boshaften Hochmut durch seine heiligste Mutter mittelst ihrer glorreichen Siege zuschanden. Nachdem aber der Gott-Mensch geboren und für uns gestorben war, ging der Drache darauf aus, die Frucht des kostbaren Blutes zu zerstören und die Wirkung der Erlösung zu vereiteln. Zu diesem Zweck begann er, die Irrtümer zu ersinnen und auszusäen, welche seit der Zeit der Apostel die heilige Kirche bedrängt haben und noch bedrängen. Allein unser Herr Jesus Christus hat auch den Sieg über diese höllischen Bosheit seiner heiligsten Mutter überlassen; sie allein hat ein solches Vorrecht verdient und konnte es verdienen.(Suarez sagt:« Canit Ecclesia: Gaude Maria Virgo, cunctas haereses interemisti in universo mundo. Potest autem hoc specialiter attribui B. Virgini vel quia generando eum, qui est lux vera, quae illuminat omnem hominem omnes errorum tenebras fugaverit; vel quia singulari modo cunctis fidei defensoribus ac doctoribus opituletur; vel quia singulari modo fuerit fidei magistra et quia ipsos etiam Apostolos docuerit, quorum doctrina omnes haereses interimuntur.» [De Incarn. II. disp. 19. s. 1.] Der Herausgeber). Durch Maria wurde der Götzendienst mittelst der Predigt des Evangeliums ausgerottet; durch Maria gingen die alten Sekten, wie die des Arius, Nestorius, Pelagius usw. unter; sie war es auch, welche die Anstrengungen und Bemühungen der Könige und Fürsten, der heiligen Väter und Kirchenlehrer unterstützt hat. Wer wollte darum zweifeln, dass, wenn heutzutage die katholischen Fürsten, geistliche wie weltliche, mit feurigem Eifer die schuldige Sorgfalt anwendeten und die Himmelskönigin - um mich so auszudrücken - unterstützten, Maria ihnen helfen, sie in diesem und im anderen Leben höchst glücklich machen und alle Ketzereien auf der Welt vernichten würde? Gerade zu diesem Zweck hat der Herr seine Kirche und die katholischen Reiche mit zeitlichen Gütern so gesegnet; wäre es nicht zu diesem Zweck, dann wäre es besser für sie gewesen, arm zu sein. Es war aber nicht angemessen, alles durch Wunder zu bewirken, vielmehr mussten auch die natürlichen Mittel angewendet werden, und eben dies war durch die Reichtümer ermöglicht. Ob sie nun dieser Pflicht nachkommen oder nicht, das habe freilich ich nicht zu entscheiden; ich habe nur zu sagen, was der Herr mir zu erkennen gegeben hat, nämlich dass sie ungerechte Besitzer der Ehrentitel und der obersten Gewalt sind, welche die Kirche ihnen verleiht, wenn sie nicht die Kirche unterstützen und verteidigen und mittelst ihres Reichtums dahin wirken, dass das Blut Christi, unseres Herrn, nicht verloren gehe; denn das ist es, wodurch christliche Fürsten von ungläubigen sich unterscheiden.

365. Um den Faden der Erzählung wieder aufzunehmen, sage ich: Gott sah in seiner Allwissenheit die Bosheit des höllischen Drachen voraus; er wusste, dass derselbe seine Wut gegen die Kirche auslassen, die ersonnenen Irrlehren verbreiten, viele Gläubige irreführen und mit seinem Schweif die Sterne des Himmels (Offb 12, 4), das heißt die Gerechten der streitenden Kirche, nach sich ziehen werde, wodurch die göttliche Gerechtigkeit noch mehr herausgefordert und die Frucht der Erlösung an den meisten vereitelt würde. Da beschloss Gott in unermesslicher Güte, diesem Verderben, das der Welt drohte, vorzubeugen. Um aber dies alles mit höchster Gerechtigkeit und zur größten Ehre seines heiligsten Namens auszuführen, wollte er, dass die heiligste Jungfrau Maria ihn hierzu bewege; denn sie allein war der Vorrechte, Gaben und Auszeichnungen würdig, durch welche sie die Hölle überwinden sollte. Nur diese hocherhabene Königin war einer so schwierigen Aufgabe gewachsen, nämlich das Herz Gottes durch ihre Heiligkeit und Reinheit, durch ihre Verdienste und Gebete zu überwinden. Auch gereichte es zur größeren Verherrlichung der Allmacht Gottes, wenn es die ganze Ewigkeit hindurch offenbar wäre wie Gott den Luzifer und seinen Anhang durch ein bloßes Geschöpf, und zwar durch eine Frau überwunden hat, gleichwie auch der Satan das Menschengeschlecht mittelst einer Frau zum Fall gebracht hatte. Zur Ausführung dieses göttlicher Ratschlusses war aber niemand geeigneter als die Mutter Gottes selbst; ihr sollte die Kirche und die ganze Welt dieses Glück zu verdanken haben. Aus diesen und anderen Gründen, die wir einstens in Gott schauen werden, hat der Herr das Schwert seiner Macht in die Hand unserer siegreichen Königin gelegt, damit sie dem höllischen Drachen das Haupt abschlage. Und diese Gewalt sollte ihr niemals mehr entzogen werden; vielmehr sollte sie kraft dieser die streitende Kirche in allen Drangsalen und Nöten, welche in zukünftigen Zeiten über sie hereinbrechen würden, von der Höhe des Himmels herab beschützen und beschirmen.

366. Während nun Luzifer mit seinen höllischen Rotten, wie gesagt, in sichtbarer Gestalt seinen unseligen Kampf fortsetzte, richtete Maria niemals ihre Blicke oder ihre Aufmerksamkeit auf ihn; sie hörte sie nur; denn dies sollte so sein. Und weil man das Gehör nicht abwenden oder schließen kann wie die Augen, so sorgte sie, dass von dem, was die bösen Geister sagten, keine Vorstellungen in ihre Einbildungskraft oder in ihr Inneres drangen. Auch sprach sie zu ihnen kein einziges Wort, außer dass sie ihnen einige Male gebot, mit ihren Gotteslästerungen stille zu sein. Dieser Befehl war aber so wirksam, dass er sie nötigte, den Mund an die Erde zu heften; und unterdessen sang die Himmelskönigin dem Allerhöchsten zu Ehren heilige Loblieder. Während aber Maria zur göttlichen Majestät redete oder das Bekenntnis der göttlichen Wahrheiten aussprach, waren die bösen Geister so sehr gepeinigt und gequält, dass sie wie gierige Wölfe oder rasende Hunde einander bissen; denn jede Handlung der heiligsten Jungfrau war für sie ein brennender Pfeil, jedes ihrer Worte ein Blitzstrahl, der sie viel heftiger brannte und peinigte als selbst die Hölle. Dies ist keine Übertreibung; denn der Drache und seine Anhänger versuchten wirklich zu fliehen und sich aus der Nähe der heiligsten Jungfrau, welche ihnen eine Beschämung und Marter war, zu entfernen, allein der Herr hielt sie durch eine geheime Kraft zurück, damit der Triumph seiner Mutter und Braut desto glorreicher, der Hochmut Luzifers dagegen um so mehr zuschanden und zunichte würde. Darum geschah es durch Fügung und Zulassung Gottes, dass die bösen Geister sich so weit verdemütigten, dass sie die Himmelskönigin baten, sie aus ihrer Gegenwart weggehen zu lassen und sie dorthin zu jagen, wohin es ihr gefiele. Darauf schickte Maria sie mit einem Machtgebot zur Hölle, wo sie eine Zeitlang blieben, während die große Siegerin ganz in ihre Lob- und Dankgebete versenkt war.

367. Sobald der Herr dem Luzifer erlaubte, sich zu erheben, kehrte dieser zum Kampf zurück, nahm aber zu Werkzeugen einige Nachbarn des Hauses des heiligen Joseph; er säte unter diese und deren Frauen das teuflische Unkraut der Zwietracht wegen zeitlicher Interessen. Darauf nahm er die Gestalt einer ihnen allen befreundeten Person an und sagte, sie möchten einander nicht plagen; denn an dem ganzen Zwiste sei Maria, die Frau Josephs, schuld. Die Frau, welche der Satan vorstellte, stand in einem guten Ruf und in Ansehen, und darum war es dem Satan nicht schwer, Glauben zu finden. Freilich ließ der Herr nicht zu, dass der gute Name seiner heiligsten Mutter in einer wichtigen Sache verletzt wurde; doch gestattete er zu ihrer Ehre und zur Vermehrung ihrer Verdienste, dass alle diese getäuschten Personen bei dieser Gelegenheit ihre Tugend erprobten. Sie gingen miteinander zum Haus des heiligen Joseph, riefen Maria in Gegenwart ihres heiligen Bräutigams und machten ihr Vorwürfe, dass sie ihre Häuser beunruhige und sie nicht in Frieden leben lasse. Dieser Vorfall war für die reinste Jungfrau etwas schmerzlich, besonders wegen der Betrübnis des heiligen Joseph, welcher bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal ihres gesegneten Zustandes gewahr wurde. Sie schaute sein Herz und sah die Gedanken, die ihn zu beunruhigen begannen. Allein in ihrer Weisheit und Klugheit war sie bemüht, diese Schwierigkeit durch Demut, Geduld und lebendigen Glauben zu beseitigen. Sie entschuldigte sich nicht und wies in keiner Weise auf ihre Unschuld hin, vielmehr erniedrigte sie sich und bat die irregeleiteten Nachbarinnen demütig, sie möchten, wenn sie ihnen etwa eine Beleidigung zugefügt habe, ihr verzeihen und sich beruhigen. Mit sanften und weisen Worten klärte sie dieselben auf und brachte sie zur Ruhe, indem sie ihnen zeigte, dass keine von ihnen gegen die andere gefehlt habe. Dadurch befriedigt und durch die Demut, womit die heiligste Jungfrau geantwortet hatte, erbaut, kehrten sie im Frieden nach Hause zurück. Der Satan aber ergriff die Flucht, weil er eine solche Heiligkeit und solch himmlische Weisheit nicht ertragen konnte.

368. Der heilige Joseph blieb etwas traurig und nachdenkend; er ließ, wie ich in den folgenden Hauptstücken erklären werde, seinen Gedanken etwas Raum. Und der Satan, der die Hauptursache der Betrübnis des heiligen Joseph nicht kannte, wollte diese Gelegenheit - er lässt ja keine einzige vorübergehen - benützen, um den heiligen Joseph zu beunruhigen. Er vermutete, die Ursache sei ein Verdruss mit seiner Gemahlin oder seine Armut und Mittellosigkeit. Darum fasste er diese beiden Punkte ins Auge, obwohl er dabei sein Ziel verfehlte. Er gab dem heiligen Joseph Gedanken der Mutlosigkeit ein, damit er wegen seiner Armut niedergeschlagen werde und sie mit Ungeduld oder Traurigkeit trage; auch stellte er ihm vor, dass Maria, seine Gemahlin, sich gar lange mit Gebet und geistlichen Übungen beschäftige und nicht arbeite; dies sei aber für so arme Leute ein Müßiggang und eine große Sorglosigkeit. Allein der heilige Joseph hatte ein zu gerades und edles Herz und besaß eine zu hohe Vollkommenheit, als dass er auf diese Einflüsterungen geachtet hätte; es war ihm ein leichtes, sie zu verachten und abzuweisen. Überdies hätte die Betrübnis, welche er, ohne dass jemand davon wusste, wegen der Mutterschaft seiner Braut empfand, allein schon hingereicht, ihn alle anderen Sorgen vergessen zu lassen. Und wenn ihn auch der Herr wenigstens eine kurze Zeit in diesen Sorgen ließ, so befreite er ihn doch von der Versuchung Satans, und zwar auf die Fürsprache der heiligsten Jungfrau; denn Maria bemerkte alles, was im Herzen ihres treuesten Bräutigams vorging und bat ihren göttlichen Sohn, er möge den Kummer, welchen Joseph über ihre Mutterschaft empfinde, ein genügendes Opfer sein lassen und ihn von den übrigen Ängsten befreien.

369. Der Allerhöchste hatte es so gewollt, dass die Himmelskönigin diesen langwierigen Streit mit Luzifer zu bestehen habe. Er hatte es letzterem gestattet, mit allen seinen Legionen seine ganze Kraft und Bosheit zu erschöpfen, einzig und allein zu dem Zweck, damit die höllischen Geister ganz und gar zermalmt, zertreten und überwunden würden und die Himmelskönigin einen Triumph über die Hölle erringe, wie kein anderes bloßes Geschöpf einen größeren je zu erringen vermochte. Diese Scharen der Bosheit kamen also nochmals insgesamt mit ihrem höllischen Anführer und stellten sich vor die Himmelskönigin. Mit unaussprechlicher Wut erneuerten sie alle Angriffe und Versuchungen, mit denen sie bisher nur der Reihe nach vorgerückt waren, auf einmal und zu gleicher Zeit, indem sie das Wenige, dessen sie noch fähig waren, hinzufügten. Ich will aber diese Versuchungen hier nicht erzählen, da fast alle in den zwei vorhergehenden Hauptstücken bereits angeführt worden sind. Maria aber blieb so unbeweglich, überlegen und ruhig, wie es die höchsten Chöre der Engel bleiben würden, wenn sie diese Lügen des bösen Feindes anzuhören hätten. Diesen Himmel, die heiligste Seele Mariä, vermochte kein fremdartiger, ungehöriger Eindruck zu berühren oder zu trüben, wiewohl die Schreckbilder, Drohungen, Schmeicheleien, Vorspiegelungen und Lügen der Hölle derart waren, dass sie die ganze Bosheit des Drachens, der hier gegen die «starke, unbesiegbare Frau», die heiligste Jungfrau Maria, seinen höllischen Strom losließ (Offb 12, 15 ) völlig erschöpften.

370. Während die heiligste Jungfrau im Kampf stand und ihren Feinden gegenüber die heldenmütigsten Akte aller Tugenden übte, erkannte sie es als den Willen Gottes, dass sie von ihrer Macht und Gewalt als Mutter Gottes und von der Autorität, welche diese hohe Würde ihr verlieh, Gebrauch mache und den Hochmut des Drachen erniedrige und zertrete. Sie erhob sich also und sprach mit glühendem Eifer, mit unüberwindlicher Kraft gegen die Teufel sich wendend: «Wer ist wie Gott der in der Höhe wohnt (Ps 113, 5) ?» Diese Worte sprach sie öfter und fuhr dann fort: «Fürst der Finsternis, Urheber der Sünde und des Todes, im Namen des Allerhöchsten befehle ich dir, dass du verstummest. Ich verweise dich samt deinen Dienern in die höllischen Abgründe, zu denen ihr verurteilt seid; von dort sollt ihr nicht mehr herauskommen bis der verheißene Messias euch zermalmt und überwindet oder euch herauszugehen gestattet !» Hierbei war die himmlische Königin voll von Licht und himmlischem Glanz; der stolze Drache machte zwar einen schwachen Versuch, sich diesem Befehl zu widersetzen, allein die Himmelskönigin kehrte die ganze Kraft der ihr verliehenen Gewalt gegen ihn und überhäufte ihn mit um so größerer Schmach und Pein, wie er sie vor allen anderen bösen Geistern verdient hatte. Nun stürzten alle zumal in die Tiefe und blieben im tiefsten Abgrund der Hölle festgebannt, ähnlich wie ich es früher, da vom Geheimnisse der Menschwerdung die Rede war (Oben Teil 2, Nr. 130), beschrieben habe, und wie ich es später nochmals erklären werde, wenn von der Versuchung und vom Tod unseres Herrn Jesu Christi die Rede sein wird (Nr. 999 u. Nr. 1421). Als der Drache später zu einem neuen Kampf gegen die Himmelskönigin zurückkehrte, wovon im dritten Teile (Teil 3 Nr. 452 ff) gesprochen werden wird, besiegte ihn Maria auf so wunderbare Weise, dass, wie ich erkannte, durch sie und ihren heiligsten Sohn der Kopf des Luzifer ganz zertreten und er selbst ganz unfähig, schwach und kraftlos wurde, so dass, wenn die Menschen ihm nicht durch ihre eigene Bosheit Macht geben, sie mit Hilfe der göttlichen Gnade ihm ganz leicht widerstehen und ihn besiegen können.

371. Nach diesen Vorgängen erschien der Herr seiner heiligsten Mutter und verlieh ihr zum Lohn für diesen so glorreichen Sieg neue Gaben und Gnaden. Auch die tausend Schutzengel mit unzählbaren anderen Engeln erschienen ihr in körperlicher Gestalt und sangen neue Lieder zu ihrem und des Allerhöchsten Preise. In himmlischer Harmonie und mit lieblichen, vernehmbaren Stimmen sangen sie ihr zu Ehren jene Lobpreisungen, welche einst auf Judith, die hinsichtlich dieses Sieges ein Vorbild Mariä gewesen war, gesungen wurden und welche die heilige Kirche auf Maria anwendet: «Ganz schön bist du, Maria, heiligste Jungfrau und unsere Herrin, keine Makel der Schuld ist an dir. Du bist die Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem, du die Freude Israels, du die Ehre des Volkes des Herrn. Du verherrlichst seinen heiligen Namen, du bist die Fürsprecherin der Sünder und verteidigst sie gegen ihren stolzen Feind. O Maria, du bist voll der Gnade und mit allen Vollkommenheiten ausgestattet !» Die Himmelskönigin war mit Wonne und Jubel erfüllt, lobte und pries den Urheber alles Guten und schrieb alles, was sie empfangen, Gott zu. Darauf wandte sie sich wieder der Sorge für ihren Bräutigam zu, wie ich in den folgenden Hauptstücken des vierten Buches erzählen werde.

LEHRE, welche unsere Königin mir gegeben hat

372. Meine Tochter, die Seele muss sich allerdings hüten, mit den unsichtbaren Feinden sich in eine Unterredung einzulassen; allein dies hindert nicht, dass sie ihnen im Namen des Allerhöchsten mit gebieterischer Kraft befehle, zu verstummen und beschämt von dannen zu gehen. Es ist mein Wille, dass du bei zutreffenden Gelegenheiten, im Fall sie dich verfolgen, danach handelst. Es gibt nämlich gegen die Bosheit des Drachen keine mächtigere Waffe für den Menschen, als dass er ihm seine Gewalt und Überlegenheit zeigt, im festen Glauben, dass er ein Kind seines wahren Vaters im Himmel ist, von dem er jene Kraft und Zuversicht gegen den Satan empfängt. Der Grund hiervon ist, weil alles Sinnen und Trachten Luzifers, seitdem er vom Himmel gefallen ist, dahin geht, die Seelen von ihrem Schöpfer loszutrennen und zwischen dem himmlischen Vater und seinen Adoptivkindern, zwischen dem Bräutigam der Seelen und der Braut das Unkraut der Zwietracht zu säen. Wenn er aber sieht, dass eine Seele mit ihrem Schöpfer vereinigt und als ein lebendiges Glied ihres Hauptes Jesu Christi mutigen und starken Willens ist, dann bietet er all seine Bosheit und seine Kunstgriffe auf, um dieselbe mit rasender, neidischer Wut zu verfolgen und zu verderben. Sieht er aber, dass er nicht zum Ziel kommt und dass die Seelen beim Allerhöchsten wahren und unüberwindlichen Schutz und Schirm finden, dann lässt er in seinen Anstrengungen nach und erkennt sich mit unvergleichlicher Qual als überwunden. Ja, wenn die geliebte Braut Luzifer mit Würde und Autorität verachtet und wegjagt, dann ist kein Wurm, keine Ameise so schwach, wie dieser hochmütige Riese.

373. Mit dieser Wahrheit musst du dich ermutigen und stärken, wenn der Allmächtige es fügt, dass die Trübsal dich heimsucht und dass in schweren Versuchungen, wie ich sie erlitten habe, die Schmerzen des Todes dich umringen; denn dies ist die beste Gelegenheit für den Bräutigam, die Treue seiner wahren Braut durch die Erfahrung zu erproben. Ist die Braut treu, dann darf ihre Liebe sich nicht mit bloßen Gefühlen begnügen, ohne andere Frucht zu bringen; denn das Verlangen allein, welches der Seele nichts kostet, ist kein hinreichender Beweis ihrer Liebe und Hochschätzung für das Gut, welches sie hochzuachten und zu lieben vorgibt. Die Stärke dagegen und die Standhaftigkeit, mit der man großherzig das Leiden erträgt, sind Zeichen wahrer Liebe. Willst du sie also deinem Bräutigam ernstlich beweisen und ihn befriedigen, so kannst du dies am besten tun, wenn du, je mehr du betrübt und von menschlicher Hilfe verlassen bist, desto mehr dich unüberwindlich zeigst, auf deinen Gott und Herrn vertraust und nötigenfalls selbst gegen die Hoffnung hoffst; denn derjenige, welcher sich Beschützer Israels nennt, schläft nicht und schlummert nicht. Wenn es Zeit ist, wird er dem Meer und den Winden gebieten und Ruhe schaffen.

374. Du musst jedoch, liebe Tochter, beim Beginn der Versuchungen sehr wachsam sein; denn wenn sich die Seele durch die Versuchung sogleich verwirren lässt und den Regungen des begehrenden oder zürnenden Seelenvermögens nachgibt, wodurch das Licht der Vernunft getrübt und verdunkelt wird, dann kommt sie in große Gefahr. Sobald nämlich der Satan diese Aufregung bemerkt und sieht, welchen Staub er in den Seelenkräften aufgewirbelt und welchen Sturm er erregt hat, erhält seine unversöhnliche und unersättliche Grausamkeit neue Nahrung; er wird wütender und fügt Feuer zum Feuer, da er meint, dass die Seele niemand habe, der sie verteidige und aus seinen Händen befreie. Mit der steigenden Heftigkeit der Versuchung wächst euch die Gefahr, dass man derselben in ihrer größten Stärke nicht widerstehe, nachdem man ihr im Beginn schon nachgegeben hat. Auf dieses alles mache ich dich aufmerksam, damit du die Gefahr dieser ersten Versäumnisse fürchtest. In einer Sache, bei der es sich um so vieles handelt, darfst du dir niemals eine Sorglosigkeit zuschulden kommen lassen. Bleibe dir vielmehr bei jedweder Versuchung in deinem Verhalten gleich und setze in deinem Inneren den süßen und frommen Verkehr mit Gott fort; dem Nächsten gegenüber beobachte stets die schuldige Liebe, Milde und kluge Sanftmut; und durch Gebet und Bezähmung deiner Leidenschaften beuge der Unordnung vor, welche der böse Feind in denselben erregen möchte.

VIERTES BUCH

Besorgnisse des heiligen Joseph. Die Geburt Christi. Beschneidung. Die Heiligen Drei Könige. Darstellung Jesu im Tempel. Flucht nach Ägypten. Tod der unschuldigen Kinder. Rückkehr nach Nazareth.

ERSTES HAUPTSTÜCK: Besorgnisse des hl. Josephs wegen des gesegneten Zustandes seiner jungfräulichen Braut

Der heilige Joseph gewahrt den gesegneten Zustand seiner jungfräulichen Braut Er wird im Bewusstsein seiner Unschuld von schwerem Kummer befallen.

375. Es war bereits im fünften Monat, seit die Himmelskönigin den Sohn Gottes empfangen hatte, als Joseph, ihr keuschester Bräutigam, wegen der Anzeichen ihres Zustandes nachdenklich wurde; denn bei dem vollkommenen und edlen Körperbau der seligsten Jungfrau konnte irgend eine Veränderung an ihr um so weniger verborgen bleiben. Eines Tages nun, da Maria ihre Betkammer verließ, sah sie der heilige Joseph mit dieser Besorgnis und erlangte größere Gewissheit. Sein Verstand konnte den Augen nicht streitig machen, was für diese offenbar war. Da wurde das Herz dieses Mannes Gottes mit einem Schmerzenspfeil verwundet, der bis in sein Innerstes drang, und er wusste nichts zu finden, was er der Gewalt der Gründe, welche seinen Schmerz verursachten und nun allzumal seinem Geist sich aufdrängten, hätte entgegenstellen können.

Der erste dieser Gründe war die keuscheste, aber sehr innige und aufrichtige Liebe zu seiner treuesten Braut. Von Anfang an hatte er ihr sein Herz völlig geschenkt. Durch den liebenswürdigen Verkehr und die unvergleichliche Heiligkeit der Himmelskönigin wurde dieses Band noch fester geschlungen und Josephs Herz noch mehr an ihren Dienst gefesselt. Da sie so überaus vollkommen war in Bescheidenheit und demütigem Ernste, hegte der hl. Joseph neben der ehrfurchtsvollen Sorgfalt, ihr zu dienen, auch das seiner Liebe natürliche Verlangen, dass seine Braut diese Liebe erwidere. Der Herr fügte dies so, damit der Heilige durch das Verlangen nach gegenseitiger Liebe desto besorgter sei, die himmlische Königin hoch zu schätzen und zu bedienen.

376. Der heilige Joseph entsprach dieser Pflicht als treuester Bräutigam und als Verwalter eines Geheimnisses, das ihm selbst noch verborgen war. Je mehr er sich aber bemühte, seine Braut zu ehren und zu bedienen, und je reiner, heiliger und gerechter seine Liebe war, desto größer war auch sein Verlangen, dass Maria seine Liebe erwidere. Er hatte ihr dies freilich niemals geoffenbart und nie mit ihr darüber gesprochen, teils wegen der Ehrfurcht, welche ihm die demütige Majestät seiner Braut einflößte, teils auch deshalb, weil ihm in Anbetracht ihres so heiligen Benehmens im Umgang und ihrer mehr als englischen Reinheit die Sorge für sie niemals lästig gefallen war. Als er aber in diese Verlegenheit geriet und die Augen ihm die unerklärliche Sache zweifellos bezeugten, war seine Seele von Schmerz durchbohrt. Wiewohl er aber betreffs der Tatsache ganz sicher war, so erlaubte er sich doch in seinem Urteil nicht mehr, als was er seinen Augen nicht ableugnen konnte. Als heiliger und gerechter Mann hielt er, obwohl er die Folge kannte, sein Urteil über deren Grund zurück; denn hätte er er sich überzeugen können, dass seine Braut schuldig sei, so wäre er ohne Zweifel natürlicherweise vor Schmerz gestorben.

377. Zu dieser ersten Ursache seines Schmerzes kam als zweite die Gewissheit, dass er an der Mutterschaft seiner Braut keinen Teil habe und dass deshalb die Schande unvermeidlich sein werde, wenn die Sache bekannt würde. Diese Besorgnis war für den hl. Joseph um so drückender, je edleren und großmütigeren Herzens er war und je besser er bei seiner Klugheit abmessen konnte, wie groß seine und seiner Braut Schande in jenem Fall sein würde. Die dritte, und zwar die peinlichste Ursache des Schmerzes für den heiligen Bräutigam war die Gefahr, seine Braut ausliefern zu müssen, damit sie dem Gesetz gemäß gesteinigt werde - dies war die Strafe der Ehebrecherinnen -, falls sie dieses Verbrechens überwiesen wäre. Diese Erwägungen waren ebenso viele spitzige Eisen, welche das Herz des hl. Joseph mit einem, oder vielmehr mit vielen schmerzlichen Stichen verwundeten, ohne dass er ein anderes Mittel, sich zu beruhigen, fand, als seine festgegründete Überzeugung von der Unschuld seiner Braut. Da aber alle Zeichen die unerwartete Tatsache bekundeten und er keine Ausflucht gegen dieselben finden konnte, auch nicht wagte, seinen schmerzlichen Kummer jemand zu eröffnen, so war er von Todesschmerzen umringt und fühlte aus Erfahrung, dass «der Eifer hart ist wie die Hölle (Hld 8, 6)».

378. Er suchte mit sich selber zu Rate zu gehen, aber der Schmerz lähmte seine Seelenkräfte. Wollte sein Verstand sich Vermutungen hingeben über das, was die Sinne gewahrten, so schwanden die Vermutungen wie das Eis vor der Sonne, oder wie der Rauch im Wind, sobald er sich der erprobten Heiligkeit seiner so sittsamen und klugen Braut erinnerte. Wollte er dem Gefühl seiner keuschesten Liebe zu ihr Einhalt tun, so konnte er nicht; denn er fand sie immer seiner Liebe würdig und die Wahrheit, wenngleich ihm verborgen, hatte mehr Kraft, ihn anzuziehen, als der täuschende Schein der Untreue, ihn abzustoßen. So konnte dieses Band, für dessen Festigkeit die Wahrheit, die Vernunft und die Gerechtigkeit als ebenso viele zuverlässige Bürgen einstanden, nicht zerrissen werden. Seiner himmlischen Braut gegenüber, sich über die Sache auszusprechen, das hielt er nicht für schicklich, abgesehen davon, dass ihr ernster, himmlisch demütiger Gleichmut ihm dies nicht gestattete. Ihr reines und heiliges Leben stimmte nicht überein mit dem, was er dem Schein nach vermuten konnte; denn solche Schuld war unvereinbar mit so großer Reinheit, Ruhe, Heiligkeit, Weisheit, sowie mit allen Gnaden, an welchen die heiligste Jungfrau jeden Tag sichtlich zunahm.

379. Um diese Peinen zu erleichtern, wandte sich der hl. Joseph zum Thron des Herrn durch das Gebet. In Gottes Gegenwart sich versetzend, sprach er: «Allerhöchster, ewiger Herr und Gott, mein Begehren und meine Seufzer sind dir nicht verborgen. Heftige Stürme bedrängen mich; durch meine Sinne sind sie in mein Herz gedrungen und haben es verwundet. Ruhig habe ich dieses Herz der Braut geschenkt, welche du mir gegeben hast. Ich habe mich auf ihre große Heiligkeit verlassen; was ich aber an ihr sehe, erregt in mir peinliche Fragen und die Furcht, in meinen Erwartungen getäuscht zu sein. Niemand, der sie bis jetzt gekannt hat, konnte ihre Sittsamkeit und ihre hohen Tugenden in Zweifel ziehen; doch kann ich auch nicht leugnen, dass sie Mutter ist. Urteilen, dass sie untreu gewesen und dich beleidigt habe, wäre angesichts so hoher Reinheit und Heiligkeit eine Vermessenheit; leugnen, was die Augen mir bezeugen, ist unmöglich; dagegen ist es nicht unmöglich, dass ich, falls hier nicht ein mir unbekanntes Geheimnis zugrunde liegt, vor Heftigkeit des Schmerzes sterbe. Meine Vernunft spricht sie frei; mein Auge verurteilt sie. Sie selbst verbirgt mir die Ursache ihrer Mutterschaft ich aber sehe sie; was muss ich nun tun? Wir haben im Beginn mit beiderseitiger Zustimmung das Gelübde der Keuschheit dir zu Ehren abgelegt; wäre es möglich, dass sie dir und mir die Treue gebrochen, so wollte ich deine Ehre verteidigen und dir zulieb auf die meinige verzichten. Aber wie kann sie so große Reinheit und Heiligkeit in allem übrigen bewahren, falls sie ein so schweres Verbrechen begangen hätte? Doch warum verheimlicht sie mir diese Sache, da sie doch so heilig und weise ist? Ich halte mein Urteil zurück und warte zu, da mir die Ursache dessen, was ich sehe, unbekannt ist. Ich gieße aber mein betrübtes Herz vor dir aus, o Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Nimm meine Tränen als wohlgefälliges Opfer an; haben meine Sünden deinen Zorn verdient, so lass dich, o Herr, durch deine Milde und Güte bewegen und sieh doch auf meine heftigen Peinen! Ich urteile nicht dass Maria dich beleidigt hat; aber ebenso wenig kann ich, da ich ihr Bräutigam bin, ein Geheimnis vermuten, dessen ich nicht würdig sein kann. Leite meinen Verstand und mein Herz durch dein göttliches Licht, damit ich erkenne und ausführe, was dir am wohlgefälligsten ist.»

380. In diesem Gebet verharrte der hl. Joseph lange Zeit, indem er noch viele andere Anmutungen und Bitten hinzufügte; denn wenn er sich auch vorstellte, dass der Mutterschaft der heiligsten Jungfrau ein ihm unbekanntes Geheimnis zugrunde liege, so konnte er sich doch dessen nicht versichern. Der Gedanke an die Heiligkeit Mariä bot ihm nur so viele Gründe dar, als hinreichten, um den Gedanken, dass sie eine Schuld habe, zurückzuweisen; dass sie die Mutter des Messias sein könnte, dies kam dem Heiligen nicht in den Sinn. Manchmal schlug er seine Vermutungen aus dem Sinne; doch bald kehrten sie desto stärker zurück, gestützt auf den Augenschein. So wurde er ruhelos von stürmischen Wogen hin- und hergetrieben; dann fiel er voll Kummer und Mattigkeit in eine gewisse peinvolle Stille und konnte sich für keine Ansicht entscheiden, welche seine Zweifel beseitigt sein Herz beruhigt und ihm Sicherheit für sein Verhalten geboten hätte. Dadurch wurde die Pein des hl. Joseph so groß, dass sie ein augenscheinlicher Beweis seiner unvergleichlichen Klugheit und Heiligkeit sein und ihm das Glück verdienen konnte, von Gott zu der ihm bestimmten, ganz einzigen Bevorzugung befähigt zu werden.

381. All dies, was im Herzen des hl. Joseph vorging, war der Himmelskönigin bekannt; sie sah es im Licht ihrer himmlischen Erkenntnis. Ihr heiligstes Herz war voll des zärtlichsten Mitleidens für ihren betrübten Bräutigam. Doch sprach sie mit ihm kein Wort über diese Sache; wohl aber diente sie ihm mit höchster Unterwürfigkeit und Sorgfalt. Dieser Mann Gottes aber betrachtete sie, ohne äußerlich etwas bemerken zu lassen, mit größerer Besorgnis, als ein anderer Mann je solche gehabt hat. Wenn nun die heiligste Jungfrau ihn bei Tisch oder bei anderen häuslichen Beschäftigungen bediente und dabei, obwohl ihr Zustand ihr nicht lästig oder peinlich war, einzelne Handlungen oder Bewegungen vornahm, durch welche ihr Zustand deutlicher sichtbar werden musste, so beachtete der hl. Joseph dieses alles und überzeugte sich mit stets wachsendem Schmerz seiner Seele immer mehr und mehr von der Wahrheit der Tatsache. Obwohl heilig und gerecht, hatte er doch seit seiner Vermählung mit Maria sich von ihr ehren und bedienen lassen und in allem sein Ansehen als ihr Gatte und Haupt gewahrt, wenn er auch damit die größte Demut und Klugheit verband. Solange ihm das Geheimnis seiner Braut unbekannt war, glaubte er, sich immer als Vorgesetzten zeigen zu müssen, wenn auch mit kluger Mäßigung, nach dem Beispiel der Altväter und Patriarchen, von welchem man nicht weichen dürfe, damit die Frauen ihren Gatten gehorsam und untertänig blieben. Und er hätte bei diesem Verhalten sicher auch recht gehabt, wenn Maria, unsere Königin, eine Frau wie andere gewesen wäre. Aber trotz des großen Abstandes zwischen ihr und anderen war doch nie und wird niemals eine Frau so gehorsam, demütig und unterwürfig gegen ihren Gatten sein, wie diese erhabenste Königin gegen ihren Bräutigam gewesen ist. Sie diente ihm mit unvergleichlicher Ehrfurcht und Willigkeit; und obwohl sie wusste, dass er ihre Mutterschaft bemerkte und darüber bekümmert war, so entzog sie sich doch keinem ihrer Geschäfte; auch machte sie sich keine Mühe, das Auffallende ihrer übernatürlichen Mutterschaft zu verbergen; denn Umschweife, erkünsteltes Wesen oder Doppelsinnigkeit vertrugen sich nicht mit ihrer englischen Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, noch mit der Großmut ihres edelsten Herzens.

382. Die große Königin hätte wohl zu ihrer Verteidigung ihre tadellose Unschuld und das Zeugnis ihrer Base Elisabeth und des Zacharias anführen können; denn hätte Joseph eine Schuld bei ihr vermutet, so hätte diese am ehesten in jene Zeit verlegt werden müssen. Auf diese oder andere Weise hätte sie sich rechtfertigen und den hl. Joseph von seinem Kummer befreien können, ohne ihm das Geheimnis zu offenbaren. Doch die Lehrmeisterin der Klugheit und Demut tat nichts von all dem, weil es eben diesen Tugenden widerstreitet, sich auf sich selbst zu berufen und die Überzeugung von einer so geheimnisvollen Wahrheit auf eigenes Zeugnis zu stützen. Mit großer Weisheit überließ sie also alles der göttlichen Vorsehung. Freilich wünschte sie aus Mitleid und Liebe, ihren Bräutigam zu trösten und von seiner Pein zu erlösen; allein sie tat dies nicht dadurch, dass sie ihre Mutterschaft verheimlichte oder sich rechtfertigte, sondern nur dadurch, dass sie ihm mit größeren Beweisen der Liebe diente, ihm Freude zu machen trachtete, ihn fragte, was er wünsche, dass sie tun solle, und ihm andere Beweise ihrer Liebe und Unterwürfigkeit gab. Oft diente sie ihm sogar auf den Knien. Solche Beweise der Liebe trösteten zwar einigermassen den hl. Joseph, gaben ihm aber zugleich auch neuen Anlass zum Schmerz, da er darin so viele Gründe erblickte, diejenige hoch zu schätzen und zu lieben, von der er nicht wusste, ob sie gegen ihn gefehlt habe. Die Himmelskönigin betete beständig für ihn und flehte, dass der Herr ihn gnädig anblicken und trösten möge, sich selbst aber überließ sie gänzlich dem Willen Gottes.

383. Der hl. Joseph konnte seine bittere Pein nicht ganz verbergen. Manchmal war er nachdenkend, traurig und unschlüssig und sprach in seinem Schmerz mit seiner heiligsten Braut in etwas strengerem Ton als zuvor. Dieses Verhalten war eine unvermeidliche Folge seiner Kümmernis und rührte keineswegs von Unwillen oder Rachsucht her; denn solche Gefühle kamen, wie wir in der Folge noch sehen werden, niemals in sein Herz. Die weiseste Jungfrau aber änderte ihre Mienen nie und zeigte nicht die geringste Verletztheit darüber, im Gegenteil war sie nur um so mehr besorgt, ihren Bräutigam zu trösten. Sie diente ihm bei Tisch, gab ihm den Stuhl, reichte ihm Speise und Trank, und nachdem sie dies alles mit unvergleichlicher Liebenswürdigkeit getan, befahl ihr der hl. Joseph, sich zu setzen; und von Stunde zu Stunde konnte er sich von der Wahrheit ihrer Mutterschaft mehr überzeugen.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass dieser ganze Vorgang nicht bloß für den hl. Joseph, sondern auch für die Königin des Himmels eine der schwersten Prüfungen war, die sie zu bestehen hatten. In ihr offenbarte Maria aufs deutlichste die tiefe Demut und Weisheit ihrer Seele, und der Herr gab ihr diese Gelegenheit, damit sie alle ihre Tugenden übe und beweise; denn nicht nur gebot er ihr nicht, das Geheimnis ihrer Mutterschaft zu verbergen, sondern er offenbarte ihr seinen Willen nicht einmal so ausdrücklich, wie in anderen Fällen. Es scheint, dass der Herr alles der Weisheit und den erhabenen Tugenden seiner auserwählten Braut überließ und anvertraute, indem er, ohne ihr eine andere besondere Erleuchtung oder außergewöhnliche Gnade mitzuteilen, sie in ihrem Handeln einzig auf ihre Tugenden anwies. Die göttliche Vorsehung gab der seligsten Jungfrau Maria und ihrem treuesten Bräutigam Joseph, einem jeden nach Verhältnis, Gelegenheit, die Tugenden und Gnaden, welche er ihnen verliehen hatte, durch heldenmütige Akte auszuüben. Er hatte, nach menschlicher Auffassungsweise zu reden, seine Freude an dem Glauben, der Hoffnung, der Liebe, Demut. Geduld und ruhigen Zuversicht, welche diese unschuldigen Herzen inmitten solch schmerzlicher Prüfung an den Tag legten. Um seine Glorie zu vermehren, um der Welt dieses Beispiel von Heiligkeit und Klugheit zu geben und um das ihm so liebliche und wohlgefällige Flehen der heiligsten Mutter und ihres keuschesten Bräutigams zu hören, stellte er sich, menschlich gesprochen, gleichsam taub, damit sie ihre Gebete wiederholten, und schob die Antwort auf, bis die gelegene Zeit dazu gekommen war.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin, die heiligste Jungfrau Maria, gegeben hat

384. Meine teuerste Tochter, hoch und erhaben sind die Gedanken und Absichten des Herrn. Seine Vorsehung für die Seelen ist stark und lieblich und wunderbar in der Leitung aller, besonders seiner Freunde und Auserwählten. Wenn die Menschen vollkommen begreifen würden, mit welch liebevoller Sorgfalt dieser Vater der Erbarmungen sie lenkt und leitet, dann wären sie nicht so sehr um sich selbst bekümmert; sie würden sich nicht so lästigen, unnützen, ja gefährlichen Sorgen hingeben, mit welchen sie sich plagen und an andere Geschöpfe sich hängen. Sie würden sich ruhig der unendlichen Weisheit und Liebe Gottes überlassen, der mit väterlicher Milde und Güte für all ihre Gedanken, Worte und Werke, und für alles, was ihnen zum Heil dient, Sorge tragen würde. Diese Wahrheit darf dir nicht unbekannt sein. Du musst wohl verstehen, dass der Herr von Ewigkeit her alle Auserwählten, welche in den verschiedenen Zeiten und Weltaltern leben sollten, in seinem göttlichen Geist gegenwärtig hat und dass er mit der unüberwindlichen Macht seiner unendlichen Weisheit und Güte alle Güter, die ihnen zum Heil dienen, für sie bereitet und anordnet, damit sie schließlich zu dem Ziel gelangen, zu dem er sie bestimmt hat.

385. Darum ist es für das vernünftige Geschöpf so überaus wichtig, sich von der Hand des Herrn leiten zu lassen und sich ganz seiner göttlichen Anordnung zu übergeben; denn die sterblichen Menschen kennen weder ihre Wege, noch das Ziel, zu welchem jene sie führen. In ihrer Unwissenheit sind sie unfähig, ohne große Verwegenheit und ohne große Gefahr, verloren zu gehen, eine selbständige Wahl zu treffen. Überlassen sie sich aber von ganzem Herzen der göttlichen Vorsehung, anerkennen sie Gott als ihren Vater und sich selbst als seine Kinder und Geschöpfe, dann wird er ihr Beschützer, ihr Helfer und Lenker sein, und zwar mit solcher Liebe, dass er dem Himmel und der Erde zeigen will, es sei sein Amt und seine Sache, die Seinigen zu leiten und alle zu lenken, die ihm vertrauen und ihm sich übergeben. Wäre Gott fähig, Schmerz oder Eifersucht zu fühlen wie die Menschen, er würde sie darüber empfinden, dass ein Geschöpf die Sorge für die Seelen mit ihm teilen will, und dass die Seelen etwas ihnen nötiges irgendwo anders suchen als beim Herrn, der selbst für alles sorgt. Den Menschen aber kann diese Wahrheit nicht unbekannt sein, wenn sie nur bedenken, was unter ihnen selbst ein Vater für seine Kinder tut, ein Bräutigam für seine Braut, ein Freund für den andern und ein Fürst für einen Günstling, den er liebt und ehren will. Dies alles ist aber nichts im Vergleich zu der Liebe, welche Gott für die Seinigen hegt. und zu dem, was er für sie tun will und für sie tun kann.

386. Freilich glauben die Menschen diese Wahrheit im allgemeinen; aber niemand kann vollkommen begreifen, wie groß die Liebe Gottes und wie mächtig ihre besonderen Wirkungen in den Seelen sind, die sich gänzlich seinem Willen übergeben. Für dich, meine Tochter, ist es nicht möglich und auch nicht passend, zu offenbaren, was du davon weißt; habe es aber stets vor Augen im Herrn. Er selber sagt, dass seinen Auserwählten kein Haar verloren gehe, weil er sie alle gezählt habe (Lk 21, 18; Vgl. Ps 37, 23; Spr 3,12; Weish 6,14; 5,17; Hld 8, 5; Ps 27, 3; 90,15; Est 13, 9; Ps 113´4,1). Er lenkt ihre Schritte zum Leben und hält sie ab von den Wegen des Todes. Er achtet auf ihre Werke, verbessert liebevoll ihre Fehler, kommt ihren Wünschen zuvor, denkt zum voraus an ihre Sorgen, verteidigt sie in der Gefahr, erfreut sie in der Ruhe, stärkt sie im Streit, steht ihnen bei in der Trübsal. Er bewahrt sie vor Täuschung durch seine Weisheit. Er heiligt sie durch seine Güte. Er stärkt sie mit seiner Macht. Als unendlicher Gott, dem niemand widerstehen und dessen Willen niemand hindern kann, führt er aus, was er kann; und er kann alles, was er will. Er will sich aber ganz dem Gerechten hingeben, der seine Gnade besitzt und auf ihn allein vertraut. Wer kann also erfassen, wie viele und wie große Güter Gott in ein Herz ausgießen wird, welches in dieser Weise auf deren Empfang vorbereitet ist !

387. Verlangst du, meine Freundin, dieses hohe Glück zu erreichen, so folge mir nach, so sehr du kannst und richte von Stunde an alle deine Sorgfalt darauf, tatsächlich zur wahren Hingebung an die göttliche Vorsehung zu gelangen. Schickt sie dir Trübsale, Peinen und Mühen, so nimm dieselben an, ja umfange sie mit gleichmütigem Herzen, mit Seelenruhe, mit Geduld, mit lebendigem Glauben und mit Vertrauen auf die Güte des Herrn. Er wird dir ja immer geben, was das Sicherste und Geeignetste ist für dein ewiges Heil. In keiner Sache triff eine eigene Wahl. denn Gott weiß und kennt deine Wege. Verlass dich auf deinen himmlischen Vater und Bräutigam, der dich mit treuester Liebe beschirmt. Achte auf meine Werke, sie sind dir ja nicht verborgen, und wisse: nächst den Schmerzen, welche ich um meines göttlichen Sohnes willen litt, habe ich mein ganzes Leben lang kein größeres Leid zu erdulden gehabt als das, welches ich bei dem Anlass, den du eben beschreibst, wegen der Trübsale und Schmerzen meines Bräutigams Joseph ausgestanden habe.

ZWEITES HAUPTSTÜCK: Joseph will Maria verlassen

Die Kümmernisse des heiligen Joseph werden größer. Er entschließt sich, seine Braut zu verlassen, und betet in diesem Anliegen.

388. In dem gewaltigen Kummer, der das unschuldigste Herz des hl. Joseph drückte, suchte der Heilige in seiner Klugheit zuweilen darin einige Beruhigung und einige Erleichterung seines bitteren Schmerzes zu finden, dass er, bei sich selber nachdenkend, sich zu überreden suchte, die Mutterschaft seiner Braut sei doch immer noch zweifelhaft. Allein diese Täuschung wurde immer unmöglicher, da die Wirklichkeit täglich bestimmter zutage trat; einen anderen Beruhigungsgrund aber konnte der glorreiche Heilige nicht entdecken, und so hielt sein Zweifel nicht mehr stand; er machte der Gewissheit Platz. Unterdessen zeigte sich die Himmelskönigin stets liebenswürdiger und frei von jedem Unwohlsein. Ihre Schönheit, Gesundheit, Behendigkeit steigerte sich in jeder Beziehung, lauter Gründe zu erhöhter Unruhe für den hl. Joseph, neue Bande für seine keuscheste Liebe und für seine Schmerzen. Er konnte diese Gefühle, die ihn bestürmten und peinigten, nicht verbannen; sie bemeisterten ihn, und er gelangte endlich zur völligen Überzeugung. Freilich war sein Geist immer dem Willen Gottes gleichförmig, aber das schwache Fleisch fühlte den heftigsten Seelenschmerz, bis zu dem Grad, dass er gegen seine Traurigkeit keine Abhilfe mehr fand. Er fühlte seine Körperkraft schwinden, und obwohl es zu keiner eigentlichen Krankheit kam, so wurde er doch schwächer, magerte ab, und der schwere Kummer seines Herzens gab sich auf seinem Angesicht zu erkennen. Da er den Kummer für sich allein trug und ihn niemand mitteilte, auch auf keinem anderen Wege der Bedrängnis seines Herzens Luft zu machen und Erleichterung zu finden suchte, wie dies andere Menschen zu tun pflegen, so wurde der Schmerz des Heiligen um so größer und natürlicherweise um so unheilbarer.

389. Nicht geringer war der Schmerz, der das Herz der heiligsten Jungfrau Maria durchbohrte, ja er war sehr groß; aber auch die Großmut ihres edelsten Herzens war im Verhältnis noch größer als die des hl. Joseph. Darum verbarg sie auch ihre eigenen Peinen und zeigte nur die Sorgen, welche das Leid ihres Bräutigams Joseph ihr bereitete. Sie entschloss sich, eifriger als je ihm zu dienen und seine Gesundheit zu pflegen. Doch war es ein unverletzliches Gesetz für die weiseste Königin, alles mit größter Weisheit und Vollkommenheit zu tun. Darum verbarg sie immer die Wahrheit des Geheimnisses, da sie keine Weisung erhalten hatte, sie zu offenbaren; und obwohl sie allein auf diesem Weg Joseph, ihren Bräutigam, hätte beruhigen können, so tat sie es doch nicht, um das Geheimnis des himmlischen Königs zu achten und zu bewahren. Was sie selbst betraf, tat sie, soviel sie konnte; sie sprach mit ihm von seiner Gesundheit und fragte ihn, was sie tun solle, um ihn zu pflegen und dieses Unwohlsein zu erleichtern, das ihn so sehr schwäche; sie bat ihn, er möge sich einige Ruhe und Erquickung gönnen, da es ja ganz recht sei, dass man der Not abhelfe und die geschwächten Körperkräfte wiederherstelle, um dann für den Herrn zu arbeiten. Der hl. Joseph aber achtete auf alles, was seine himmlische Braut tat; er erwog bei sich ihre Tugend und Umsicht und fühlte die heiligen Wirkungen ihrer Worte und ihrer Gegenwart. Darum sprach er bei sich selbst: «Ist es möglich, dass eine so tugendhafte Frau, in welcher die Gnade des Herrn sich so deutlich kundgibt, mir eine solche Trübsal verursache? Wie verträgt sich diese Klugheit und Heiligkeit mit den augenscheinlichen Anzeichen einer Untreue gegen Gott und gegen mich, der ich sie von ganzem Herzen liebe? Wenn ich sie entlasse oder selbst weggehe, so verliere ich ihre teure Gesellschaft, all meinen Trost, mein Haus und meine Ruhe. Ferne von ihr, welches Gut werde ich finden, das ihr gleichkäme, welchen Trost, wenn dieser mir abgeht? Doch alles dieses ist noch geringer anzuschlagen als die Schande eines so unglücklichen Falles und die Nachrede, dass ich der Mitschuldige an einem Verbrechen gewesen. Die Sache kann nicht verborgen bleiben; die Zeit muss alles offenbaren, wenn ich auch jetzt dazu die Augen schließe und schweige. Sagen, dass ich der Vater bin, wäre eine Lüge, die mein Gewissen und meinen guten Namen verletzte; ich kann es weder mir zuschreiben, noch einer anderen Ursache, die ich nicht kenne. Was tun in dieser Verlegenheit? Das kleinere Übel wird sein, dass ich weggehe und vor der Geburt mein Haus verlasse; denn dann wäre ich noch mehr verwirrt und verlegen und wüsste nicht, was tun, wenn ich in meinem Hause ein Kind sähe, das nicht mein ist.»

390. Die Himmelskönigin schaute mit großem Schmerz den Entschluss ihres Bräutigams, des hl. Joseph, sie zu verlassen. Sie wandte sich daher an ihre heiligen Engel und Beschützer und sagte zu ihnen: «Selige Geister, Diener des höchsten Königs, der euch zu der Glückseligkeit erhoben hat, die ihr genießt und durch dessen Güte ihr mich begleitet als seine treuesten Diener und meine Behüter; ich bitte euch, meine Freunde, stellt ihm die Peinen meines Bräutigams Joseph vor. Bittet, dass er ihn tröste und als wahrer Gott und Vater ihn anblicke. Ihr gehorcht so schnell seinen Worten, o so hört auch meine Bitten. Durch den Unendlichen, der in meinem Schoß Mensch werden wollte, bitte und beschwöre ich euch, beseitiget ohne Verzug die Verlegenheit, in welcher sich das treueste Herz meines Bräutigams befindet, befreiet ihn von seinen Peinen und benehmt seinem Geist den Entschluss, mich zu verlassen.» Die Engel, welche Maria hierzu bestimmte, gehorchten alsbald ihrer Königin und flößten dem Herzen des heiligen Joseph heimlich viele heilige Gedanken ein. Sie überzeugten ihn aufs neue, dass seine Braut Maria heilig und ganz vollkommen und etwas Ungeziemendes von ihr nicht glaubwürdig sei; dass Gott unbegreiflich sei in seinen Werken, ganz geheimnisvoll in seinen gerechten Urteilen, aber immer unendlich getreu gegen diejenigen, welche auf ihn vertrauen. und dass er niemand in der Trübsal verachte und verlasse.

391. Durch diese und ähnliche Einsprechungen wurde das verwirrte Herz des hl. Joseph ein wenig beruhigt, obwohl er nicht wusste, auf wessen Befehl jene an ihn gelangten. Da jedoch der Gegenstand seiner Traurigkeit unverändert blieb, verfiel er bald wieder in sie und fand keinen festen, stichhaltigen Grund, um sich zu beruhigen, weshalb er aufs neue daran dachte, seine Braut zu verlassen. Da die Himmelskönigin dies sah, dachte sie, es sei jetzt notwendig, dieser Gefahr zuvorzukommen und den Herrn dringender um Hilfe zu bitten. Sie wandte sich daher an ihren göttlichen Sohn und betete zu ihm mit größter Inbrunst: «Herr und höchstes Gut meiner Seele, wenn du es mir erlaubst, so will ich, obwohl Staub und Asche, in deiner königlichen Gegenwart sprechen und meine Seufzer kundgeben, die dir nicht verborgen sein können. Ich darf, o mein Herr, nicht nachlässig sein in der Sorge für den Bräutigam, den du mir gegeben. Ich sehe, wie betrübt er ist durch die Fügung deiner Vorsehung und es wäre herzlos, ihn in dieser Trübsal zu lassen. Wenn ich Gnade finde in deinen Augen, ewiger Herr und Gott, so flehe ich dich an durch die Liebe, die dich bewogen hat, zur Erlösung der Menschen in den Schoß deiner Magd zu kommen, tröste doch deinen Diener Joseph und bereite ihn, damit er zur Erfüllung deiner großen Werke beitrage. Deine Dienerin könnte ja nicht wohl ohne Bräutigam sein, der sie beschützt und ihr zur Sicherheit dient. Lasse nicht zu, mein Gott und Herr, dass er seinen Entschluss ausführe und mich verlasse.»

392. Der Allerhöchste antwortete auf diese Bitte: «Meine Taube, meine Freundin, bald werde ich meinem Diener Joseph Trost bringen. Ich werde ihm durch meinen Engel das Geheimnis erklären, das er noch nicht kennt; dann kannst du über alles, was ich an dir getan, offen mit ihm sprechen, ohne weiter noch Stillschweigen darüber zu beobachten. Ich werde ihn mit meinem Geist erfüllen und zu dem befähigen, was er bei diesen Geheimnissen tun muss. Er wird dir dabei in allem beistehen.» Die heiligste Jungfrau war durch dieses Versprechen des Herrn gestärkt und getröstet. In tiefer Demut dankte sie dem Herrn, dass er alles mit so wunderbarer Weisheit und Umsicht geordnet hatte; denn abgesehen davon, dass die große Herrin durch die Befreiung von dieser Sorge getröstet ward, erkannte sie auch, wie segensvoll diese Trübsal für ihren Bräutigam Joseph war, weil dadurch seine Seele erprobt und für die großen Dinge, welche ihm anvertraut werden sollten, erweitert und vorbereitet worden war.

393. Der hl. Joseph erwog zur nämlichen Zeit seine Zweifel bei sich selber, nachdem er nun bereits zwei Monate in dieser großen Trübsal zugebracht hatte. Von der Schwierigkeit überwunden, sprach er bei sich selbst: «Ich finde für meinen Schmerz kein besseres Mittel, als fortzugehen. Ich gestehe ein, dass meine Braut sehr vollkommen ist. Alles, was ich an ihr sehe, bekundet ihre Heiligkeit; allein sie ist doch Mutter, und ich verstehe dieses Geheimnis nicht. Ich will ihrer Tugend kein Unrecht tun, indem ich sie zur Vollziehung des Gesetzes ausliefere; doch ebenso wenig kann ich die Geburt des Kindes abwarten. Ich will darum alsbald abreisen und mich der Vorsehung des Herrn überlassen, der mich leitet.» Er beschloss also, in der folgenden Nacht abzureisen, bereitete für die Reise ein Kleid mit etwas Wäsche zum Wechseln und packte dann alles in ein Bündelchen zusammen. Er hatte auch ein wenig Geld erhalten, das man ihm für seine Arbeit schuldig war. Mit dieser kleinen Ausrüstung wollte er um Mitternacht abreisen. Doch weil der Fall so außerordentlich und er ohnehin an das Gebet gewohnt war, zog er sich zurück, um wegen dieses Vorhabens zu beten. Er betete zum Herrn: «Allerhöchster, ewiger Gott unserer Väter Abraham, Isaak und Jakob, wahrer und einziger Schutz der Armen und Betrübten, dir ist die große Betrübnis meines Herzens bekannt. Auch weißt du, o Herr, dass ich, obwohl unwürdig, an der Ursache meiner Pein keine Schuld habe. Du weißt, welche Unehre und Gefahr mir droht wegen des Zustandes meiner Braut. Ich halte sie nicht für eine Ehebrecherin, da ich an ihr große Tugenden und eine hohe Vollkommenheit wahrnehme; doch ich sehe mit Sicherheit, dass sie Mutter ist. Woher und wie dies gekommen. weiß ich nicht; aber ich finde kein Mittel mich zu beruhigen. Darum bin ich entschlossen, das kleinere Übel zu wählen, nämlich von ihr fortzugehen an einen Ort, wo mich niemand kennt. Deiner Vorsehung mich überlassend, will ich mein Leben in einer Wüste beschließen. Mein ewiger Herr und Gott. verlass mich nicht; denn ich verlange nichts, als dir zu dienen zu deiner größeren Ehre!»

394. Dabei warf sich der hl. Joseph auf die Erde nieder und machte das Gelübde, im Tempel zu Jerusalem einen Teil seines wenigen Reisegeldes als Opfer darzubringen, damit Gott seine Braut Maria gegen die Verleumdung der Menschen beschütze und vor allem Übel bewahre. So groß war die Rechtschaffenheit dieses Mannes Gottes, so groß seine Hochachtung für die Himmelskönigin. Nach diesem Gebet zog er sich zurück, um ein wenig zu schlafen und dann gegen Mitternacht ohne Wissen seiner Braut sich zu entfernen; im Traum geschah dann, was ich im folgenden Hauptstück erzählen werde. Die hehre Himmelskönigin, ruhig vertrauend auf das Wort Gottes, schaute von ihrem Kämmerlein aus alles, was der hl. Joseph tat und zubereitete; der Allmächtige zeigte ihr dies. Da sie das Gelübde erfuhr, welches Joseph für sie gemacht und das so ärmliche Päckchen und das geringe Reisegeld, welches er bereit hatte, erblickte, betete sie voll zärtlichen Mitleids aufs neue für ihn. Sie dankte Gott dem Herrn und lobpries seine Werke und die Weisheit, womit er dieselben in einer über alle Gedanken der Menschen erhabenen Weise anordnet.

395. Der Herr hatte zugelassen, dass sowohl die heiligste Jungfrau Maria, als der hl. Joseph den bittersten Seelenschmerz litten, damit. abgesehen von den Verdiensten, welche sie durch dieses langwierige Martyrium erwarben, die Wohltat des göttlichen Trostes desto wunderbarer und kostbarer werde. War auch die Himmelskönigin unerschütterlich fest im Glauben und Vertrauen, dass der Allerhöchste zur rechten Zeit in allem Hilfe bringen werde, und verschwieg sie deswegen das «Geheimnis des Königs», der ihr nicht geboten hatte, dasselbe zu offenbaren, so wurde sie gleichwohl durch den Entschluss des hl. Joseph aufs äußerste betrübt, da sie an die vielen Unzukömmlichkeiten dachte, welche nach dem gewöhnlichen und natürlichen Gang der Dinge für sie erfolgen mussten, wenn sie allein und ohne Begleiter gelassen wäre, der sie beschützte und tröstete; denn man darf nicht alles auf wunderbarem, übernatürlichem Weg suchen. Doch alle diese beängstigenden Gedanken konnten sie nicht hindern, die erhabensten Tugenden zu üben. So übte sie die Großmut, indem sie die Trübsal, den Argwohn und den Entschluss des hl. Joseph ertrug. Sie übte die Klugheit, indem sie bedachte, dass das Geheimnis groß sei und es ihr nicht zustehe, dasselbe aus eigenem Antrieb zu offenbaren; die Verschwiegenheit, indem sie als «starke Frau», ausgezeichnet unter allen, sich zurückhielt und nicht sagte, was zu sagen sie doch so viele menschliche Gründe hatte; die Geduld indem sie litt, und die Demut, indem sie den Argwohn des hl. Joseph zuließ. Sie übte bei dieser Heimsuchung noch viele andere Tugenden auf wunderbare Weise und lehrte uns so, auch in den größten Trübsalen vom Allerhöchsten Hilfe zu erwarten.

LEHRE, welche mir die heiligste Himmelskönigin Maria gab

396. Meine liebe Tochter, die Lehre, welche ich dir durch das Beispiel meines Stillschweigens, das du beschrieben hast, gebe, ist diese: Du musst es zur Richtschnur nehmen für dein Verhalten bei außergewöhnlichen und geheimnisvollen Begnadigungen des Herrn, d. h. auch du musst dieselben im Verborgenen deines Herzens bewahren. Scheint es dir auch zum Trost einer Seele dienlich, dieselben zu offenbaren, so musst du doch niemals für dich allein darüber entscheiden, ohne zuerst mit Gott und dann mit dem Obern dich beraten zu haben; in diesen geistlichen Dingen darf man nicht nach menschlichen Gefühlen handeln; denn die Leidenschaften und bösen Neigungen des Menschen üben auf sein Urteil einen so großen Einfluss aus, dass man in Gefahr kommt, als vorteilhaft zu betrachten, was verderblich ist, und zu meinen, man diene Gott, während man ihn beleidigt. Die Augen von Fleisch und Blut sind nicht fähig, zwischen den inneren Regungen zu unterscheiden und zu erkennen, ob sie göttlich sind, d. h. von der Gnade kommen, oder menschlich, d. h. aus ungeordneten Neigungen entspringen. Zwar herrscht zwischen diesen zweifachen Regungen und ihren Ursachen ein gar großer Unterschied; allein wenn der Mensch nicht sehr erleuchtet und seinen Leidenschaften nicht abgestorben ist, so vermag er es nicht, diesen Unterschied zu erkennen und das Kostbare von dem Gemeinen zu sondern. Diese Gefahr ist aber noch größer, wenn ein zeitlicher, menschlicher Beweggrund hinzukommt oder mitunterläuft; denn dann schleicht sich gar oft die natürliche Eigenliebe ein, um über göttliche und geistliche Dinge zu entscheiden, und dies führt zu mannigfachen, gefährlichen Übereilungen.

397. Es gelte dir also als allgemeine Regel, dass du außer deinem Seelenführer niemand etwas offenbarest, wenn ich es dir nicht befehle; denn da ich es auf mich genommen habe, deine Lehrmeisterin zu sein, so werde ich nicht ermangeln, dir hierin wie in allen Stücken Weisung und Rat zu erteilen, damit du nicht vom Willen meines heiligsten Sohnes abweichest. Dabei musst du jedoch die Gnaden und Wohltaten des Herrn sehr hochhalten. Behandle sie mit Ehrfurcht; sie hoch zu achten, dafür dankbar zu sein und sie zu benützen, dies gelte dir mehr als alle geringeren Dinge, besonders wenn diese deiner Neigung entsprechen. Mich hat größtenteils die Ehrfurcht zum Stillschweigen bewogen, da ich den mir anvertrauten Schatz als überaus kostbar betrachtete, wie sich's gebührte. Darum habe ich geschwiegen, obwohl ich meinem Herrn und Bräutigam, dem hl. Joseph, natürlicherweise verpflichtet war, ihn liebte und voll schmerzlichen Mitleidens für seine Betrübnis ihn davon zu befreien wünschte. Gleichwohl habe ich geschwiegen, den Willen des Herrn über alles gestellt und die Sache, die er sich allein vorbehielt, ihm überlassen. Lerne sodann aus meinem Verhalten, dich niemals zu entschuldigen, auch wenn du an dem, was man dir zur Last legt, noch so unschuldig bist. Suche die Gnade des Herrn, indem du alles seiner Liebe anvertraust; lass ihm die Sorge für deinen guten Namen und trachte unterdessen, diejenigen, welche dir Unrecht tun, durch Geduld, Demut, Liebeswerke und sanfte Worte zu überwinden. Überdies ermahne ich dich, dass du niemals über jemanden böse urteilst, wenn auch der Augenschein dich dazu bewegen möchte; denn die vollkommene und aufrichtige Nächstenliebe wird dich lehren, in vernünftiger Weise alles gut auszulegen und die Fehler der anderen zu entschuldigen. In dieser Hinsicht hat Gott meinen heiligen Bräutigam Joseph als Muster aufgestellt; denn niemand hatte mehr Anzeichen für einen Verdacht als er, und doch war niemand weiser im Zurückhalten seines Urteils. Nach dem Gesetz der umsichtigen und heiligen Liebe ist es Klugheit, nicht aber Verwegenheit, da, wo die Schuld nicht sicher ist, sich eher auf höhere, unbekannte Gründe zu berufen, als den Nächsten zu beschuldigen. Ich gebe dir hier keine besondere Lehre für die Verheirateten, denn sie finden dieselbe im ganzen Verlauf meines Lebens; aus obiger Lehre aber können alle Seelen Nutzen ziehen, obwohl ich dabei zunächst deinen Fortschritt im Auge habe, den ich mit besonderer Liebe verlange. Höre mich, Teuerste, und führe meine Ratschläge und meine Worte des Lebens aus.

DRITTES HAUPTSTÜCK: Maria tröstet ihren Bräutigam

Der Engel des Herrn erklärt dem heiligen Joseph im Traum das Geheimnis der Menschwerdung, Wirkungen dieser Botschaft.

398. Der Schmerz der Eifersucht ist für die, welche ihn fühlen, ein so wachsamer Aufwecker, dass er gar oft, anstatt sie aufzuwecken, sie wach erhält und der Ruhe und des Schlafes beraubt. Diese Qual hat niemand so sehr empfunden, wie der heilige Joseph, obwohl in Wahrheit niemand weniger Grund dazu gehabt hätte, wenn ihm damals die Wahrheit bekannt gewesen wäre. Er war mit hoher Einsicht und reichlichem Licht begabt, um die erhabene Heiligkeit und die unvergleichlichen Vorzüge seiner himmlischen Braut vollkommen zu erkennen. Allein eben dieser Erkenntnis stellten sich die Gründe gegenüber, welche ihn zu nötigen schienen, auf den Besitz eines so großen Gutes zu verzichten. Darum war es nicht anders möglich, als dass, je besser er das, was er verlieren sollte, kannte, um so größer auch sein Schmerz über diesen Verlust war. Aus diesem Grund war auch der Schmerz des hl. Joseph größer als alles, was je ein anderer Mensch in ähnlicher Lage gelitten hat; denn kein Mensch hatte je von einem ihm drohenden Verlust eine so klare Vorstellung, keiner konnte eine solche Vorstellung und Schätzung haben, wie er. Dazu kommt, dass zwischen der Eifersucht und Angst, welche dieser getreue Diener Gottes hatte, und derjenigen, welche bei andern Menschen vorzukommen pflegt, ein gar großer Unterschied stattfindet. Die Eifersucht schließt nämlich außer der heftigen, feurigen Liebe auch eine große Sorge ein, den geliebten Gegenstand nicht zu verlieren, sondern ihn vielmehr zu bewahren. Dieser Gemütsstimmung nun folgt mit Naturnotwendigkeit eine andere auf dem Fuße nach, nämlich der Schmerz, den man empfindet, wenn man sich denkt oder einbildet, man könne den geliebten Gegenstand verlieren oder durch jemand andern dessen beraubt werden. Und eben dieser Schmerz, dieses peinliche Gefühl ist es, was man nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch «Eifersucht» nennt. Bei Personen nun, welche, sei es aus Mangel an Klugheit oder aus Mangel an anderen Tugenden, ihre Leidenschaften noch nicht abgetötet haben, pflegt dieser Schmerz vielerlei Wirkungen hervorzubringen, nämlich Zorn, Wut und Neid, entweder gegen die geliebte Person selbst oder aber gegen den Nebenbuhler, welcher die Erwiderung der Liebe, mag diese ungeordnet oder geordnet sein, hindert. Es erheben sich die Stürme der Einbildungen und unbegründeten Verdachtes, welche durch die Leidenschaften hervorgerufen werden. Daraus entstehen dann die verschiedenen Bewegungen des Willens: man wünscht und verabscheut, man liebt und bereut. Zürnen und Begehren sind in beständigem Streit, ohne sich von der Vernunft oder der Klugheit leiten zu lassen; denn diese Seelenpein ist von der Art, dass sie den Verstand verfinstert, die Vernunft verkehrt und die Klugheit verbannt.

399. Beim hl. Joseph fanden sich derartige ungeordnete, sündhafte Regungen nicht; sie konnten sich bei ihm nicht finden, und zwar nicht bloß wegen seiner eigenen außerordentlichen Heiligkeit, sondern auch wegen der Heiligkeit seiner Braut. Er fand ja in ihr keine Schuld, die ihn hätte erzürnen können; auch kam dem Heiligen niemals der Gedanke, als habe sie ihre Liebe einem anderen geschenkt, den er darum zu beneiden oder mit Zorn zurückzuweisen hätte. Die Eifersucht des hl. Joseph bestand nur in seiner großen Liebe, in einem bedingten Zweifel oder Verdacht, ob seine keuscheste Braut seine Liebe erwidert habe; denn er fand für Beseitigung dieses Zweifels keinen so sicheren Grund, als der Verdachtsgrund war, den ihm der Augenschein darbot. Größere Sicherheit in dieser Befürchtung war gar nicht nötig, um so heftigen Schmerz zu empfinden; denn mit Recht duldet man für ein solches Eigentum, wie die Braut es ist, keinen Teilhaber, und damit die Wahrnehmungen dem hl. Joseph solchen Schmerz verursachten, genügte es, dass sein Herz von heftiger, keuscher Liebe erfüllt war, beim Gewahren des geringsten Scheines, dass seine Braut untreu sei und er in ihr den vollkommensten, schönsten und angenehmsten Gegenstand verliere. Ruht die Liebe auf so gerechten Gründen, dann sind ihre Bande kräftig und stark, um so mehr, wenn keine Unvollkommenheiten gegenüberstehen, um diese Bande zu brechen. Die Himmelskönigin hatte aber in natürlicher wie übernatürlicher Hinsicht nichts an sich, was die Liebe ihres heiligsten Bräutigams gemäßigt oder vermindert hätte; vielmehr trug alles in ihr bei, diese Liebe immer zu vermehren.

400. In diesem bis zum Kummer gesteigerten Schmerz war der hl. Joseph nach Verrichtung des oben erwähnten Gebetes eingeschlummert. Er hatte sicher geglaubt, zur rechten Zeit wieder zu erwachen, um gegen Mitternacht das Haus zu verlassen, ohne, wie er glaubte, von seiner Braut bemerkt zu werden. Die heiligste Jungfrau aber wartete unterdessen auf Hilfe und flehte in ihren demütigen Gebeten um Rettung. Sie wusste, dass, nachdem die Trübsal ihres geängstigten Bräutigams so weit gekommen und den höchsten Grad des Schmerzes erreicht habe, nun auch die Zeit der Barmherzigkeit und des Trostes für dieses so betrübte Herz herannahe. Nun sandte der Allerhöchste den heiligen Erzengel Gabriel damit er, während der hl. Joseph schlief, ihm durch göttliche Offenbarung das Geheimnis der Mutterschaft seiner Braut Maria kundgebe. Der heilige Erzengel erfüllte diesen Auftrag. Er begab sich zum hl. Joseph und redete zu ihm «im Schlaf», wie der hl. Matthäus sagt. Er erklärte ihm das ganze Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung mit den Worten, welche der heilige Evangelist berichtet. Es könnte etwas befremden, wie es auch mir aufgefallen ist, dass der heilige Erzengel zum hl. Joseph im Schlaf und nicht im wachen Zustand gesprochen hat; war ja doch das Geheimnis so erhaben und nicht so leicht zu verstehen, zumal in dem Zustand der Verwirrung und Traurigkeit, in dem sich der Heilige damals befand. Auch war dasselbe Geheimnis anderen im Wachsein und nicht im Schlaf geoffenbart worden.

401. Der tiefste Grund bei solchen Gnadenwirkungen des Herrn ist immer sein göttlicher Wille, der in allem gerecht, heilig und vollkommen ist. Ich will jedoch zu unserer Belehrung, so gut ich kann, einige besondere Gründe hier anführen, wie sie mir mitgeteilt worden sind. Der erste Grund ist: der heilige Joseph besaß eine solche Klugheit und eine solche Fülle himmlischen Lichtes, er hegte eine so erhabene Meinung von der heiligsten Jungfrau Maria, dass keine stärkeren Mittel nötig waren, um ihn von ihrer Würde und von den Geheimnissen der Menschwerdung zu überzeugen; denn in Herzen, welche wohl vorbereitet sind, bringen die göttlichen Einsprechungen leicht ihre Frucht hervor. Der zweite Grund war: seine Verwirrung hatte durch Vermittlung der Sinne angefangen, da er die Mutterschaft seiner Braut gewahrte; daher war es auch gerecht, dass, nachdem die Sinne Anlass zur Täuschung und zum Verdachte gegeben hatten, sie dafür abgetötet und des Anblickes des Engels beraubt wurden und dass sie die Erkenntnis der Wahrheit nicht vermitteln durften. Der dritte Grund ergibt sich aus dem eben angeführten: obwohl nämlich der hl. Joseph keinen Fehler begangen hatte, war er doch in Verwirrung, und infolgedessen waren seine Sinne wie gelähmt und für den Anblick und die sinnenfällige Mitteilung des heiligen Engels wenig geeignet; darum war es angezeigt, dass dieser ihm die Botschaft verkündete, während die Sinne, welche vorher geärgert wurden, gehemmt und in ihren Tätigkeiten gehindert waren. Als nachher der heilige Mann den Gebrauch derselben wieder erhielt, reinigte und bereitete er sich, wie ich noch ausführlicher sagen werde, durch zahlreiche Akte, um den Einfluss des Heiligen Geistes zu empfangen, welchen die Verwirrung vollständig verhindert hätte.

402. Diese Gründe lassen auch erkennen, warum Gott zu den Altvätern öfter im Schlaf gesprochen hat, als jetzt zu den gläubigen Kindern des Neuen Bundes. Letzteren werden solche Offenbarungen im Schlaf seltener zuteil; das Gewöhnlichere ist, dass sich die Engel auf sichtbare, sinnenfällige Weise offenbaren und mitteilen. Der Grund hiervon ist folgender: Nach göttlicher Anordnung ist das größte Hindernis, welches dem vertrauten Verkehr der Seelen mit Gott und den Engeln im Weg steht, die Sünde, und zwar auch die lässliche Sünde, ja sogar die Unvollkommenheiten. Als aber das göttliche Wort Mensch wurde und mit den Menschen verkehrte, wurden ihre Sinne gereinigt, und unsere Seelenkräfte werden noch tagtäglich gereinigt und geheiligt durch den würdigen Empfang der heiligen Sakramente, die ja sinnlich wahrnehmbar sind. Unsere Sinne werden dadurch gewissermaßen vergeistigt, erhöht, verfeinert und ihre Tätigkeiten zur Aufnahme der göttlichen Gnadeneinflüsse befähigt. Dieses Vorrecht vor den Gläubigen des Alten Bundes verdanken wir aber dem Blut unseres Herrn Jesu Christi; durch seine Kraft werden wir in den heiligen Sakramenten geheiligt und empfangen durch sie die göttlichen Wirkungen ganz besonderer Gnaden, und in einzelnen derselben den geistlichen Charakter, welcher uns von anderen unterscheidet und zu den erhabensten Bestimmungen befähigt. Wenn aber der Herr manchmal im Schlaf gesprochen hat oder jetzt noch spricht, so schließt er dabei die Tätigkeit der Sinne aus und bezeichnet damit die letzteren als unfähig und untauglich, um zur geistlichen Hochzeit. d. h. zur Mitteilung seiner Gnadeneinflüsse einzugehen.

403. Aus dieser Lehre ergibt sich noch eine weitere Folgerung, nämlich diese: Soll eine Seele fähig sein, die verborgenen Gnadenwirkungen des Herrn zu empfangen, so muss sie nicht nur von Sünden rein und mit Verdiensten und Gnaden geziert sein, sondern sich auch in Ruhe und ungestörtem inneren Frieden befinden; denn ist die Harmonie der Seelenvermögen gestört, wie dies beim hl. Joseph der Fall war, dann sind dieselben für so zarte, göttliche Einwirkungen, wie sie die Seele in den Heimsuchungen und Tröstungen des Herrn erhält, nicht empfänglich. Es ist dies so sehr die allgemeine Regel, dass es wahr bleibt, obgleich die Seele im Zustand der Pein und Trübsal sich große Verdienste erwirbt, wie der Bräutigam der Himmelskönigin. Denn im Leiden findet ein mühevoller Kampf mit der Finsternis statt; im Zustand des Trostes dagegen ruht man friedlich im Besitze des Lichtes, und es verträgt sich damit der Anblick der Finsternis nicht, wäre es auch nur, um diese zu verscheuchen. Doch auch mitten im Kampfe der Versuchungen, welcher dem Schlafe oder der Nacht gleicht, pflegt man die Stimme des Herrn zu vernehmen, wenn er durch die Engel redet. Dies geschah bei dem hl. Joseph: er hörte und verstand alles, was der heilige Erzengel Gabriel sagte (Mt 1, 20 ff), dass er nämlich sich nicht fürchten solle, bei seiner Braut Maria zu bleiben, denn was in ihr erzeugt worden, sei vom Heiligen Geiste. Sie werde einen Sohn gebären, dem solle er den Namen Jesus geben, dieser werde sein Volk erlösen, und in diesem ganzen Geheimnis werde sich die Prophezeiung des Jesaja erfüllen: «Eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, welcher Emmanuel d. i. Gott mit uns heißen wird (Jes 7, 14).» Der hl. Joseph sah den Engel nicht in sinnenfälliger Gestalt; er hörte nur die innere Stimme und verstand das Geheimnis. Aus den Worten des Engels geht auch hervor, dass der hl. Joseph dem Entschluss nach die heilige Jungfrau bereits verlassen hatte, weil der Engel ihm gebot. sie ohne Furcht wieder zu sich zu nehmen.

404. Der hl. Joseph erwachte und besaß nun die vollkommene Erkenntnis des ihm geoffenbarten Geheimnisses; er wusste jetzt, dass seine Braut in Wahrheit Mutter Gottes sei. Schwankend zwischen der Freude über sein unerwartetes Glück und zwischen neuem Schmerz wegen seines Verhaltens, warf er sich zur Erde nieder, und in neuer, demütiger Verwirrung, mit Furcht und Freude zugleich erfüllt. erweckte er heldenmütige Akte der Demut und der Dankbarkeit. Er dankte dem Herrn dafür, dass er ihm dieses Geheimnis geoffenbart und ihn zum Bräutigam derjenigen erhoben habe, welche er zu seiner Mutter erkoren, da er doch nicht würdig sei, ihr Diener zu sein. Durch diese Erkenntnis und diese Tugendakte wurde der Geist des hl. Joseph wieder klar, ruhig und für neue Mitteilungen des Heiligen Geistes empfänglich. Durch den Zweifel und die Verwirrung aber, die er überstanden, waren in ihm die tiefen Fundament der Demut gelegt, deren er bedurfte, da ihm ja die Ausführung der erhabensten Ratschlüsse des Herrn anvertraut war. Die Erinnerung an dieses Ereignis diente ihm für sein ganzes Leben zur Lehre. Nachdem er sein Gebet verrichtet, begann der heilige Mann sich selbst Vorwürfe zu machen und sprach bei sich selbst: «O meine himmlische Braut, sanfteste Taube, vom Allerhöchsten auserwählt zu seiner Wohnung, zu seiner Mutter, wie hat dieser unwürdige Diener sich erkühnt, deine Treue in Zweifel zu ziehen? Wie konnte ich, Staub und Asche, mich bedienen lassen durch die Königin des Himmels und der Erde, die Herrin aller Geschöpfe? Warum habe ich nicht den Boden geküsst, den deine Füße berührten? Warum war ich nicht einzig darauf bedacht, dir auf den Knien zu dienen? Wie werde ich es wagen dürfen, meine Augen zu dir zu erheben, in deiner Gesellschaft zu sein und meine Lippen zu bewegen, um mit dir zu sprechen? Ewiger Herr und Gott, gib mir Gnade und Stärke, sie um Verzeihung zu bitten, bewege ihr Herz, dass sie Barmherzigkeit übe und mich, ihren Diener, nicht verachte, wie ich es verdiente; jetzt erkenne ich ja meine Schuld. Wehe mir! Sie ist voll des Lichtes und der Gnade, sie trägt in sich den Urheber des Lichtes; alle meine Gedanken werden ihr also offenbar sein, und da ich dieselben darauf gerichtet habe, sie in der Tat zu verlassen, so ist es wohl Verwegenheit, ihr unter die Augen zu treten! Ich erkenne mein grobes Benehmen und meinen schweren Irrtum, da ich angesichts so großer Heiligkeit unwürdige Gedanken gehegt und an ihrer treuesten Gegenliebe, die ich nicht verdiente, gezweifelt habe. Hätte deine Gerechtigkeit zu meiner Strafe zugelassen, dass ich meinen verkehrten Beschluss ausführte, wie groß wäre nun mein Unglück! Ewig werde ich, o höchster Herr, für eine so unvergleichliche Wohltat dankbar sein. Verleihe mir, allmächtiger König, dieselbe einigermaßen auf würdige Weise zu erwidern. Ich gehe jetzt zu meiner Herrin und Braut, vertrauend auf ihre sanfte Milde. Zu ihren Füßen hingeworfen werde ich sie um Verzeihung bitten, damit du, mein ewiger Herr und Gott, ihretwegen mich als Vater ansiehst und mir meiner großen Fehler verzeihst.»

405. So trat der hl. Joseph ganz verändert aus seinem ärmlichen Gemach, ebenso glücklich seit seinem Erwachen, als er traurig war beim Nahen des Schlummers. Da die Himmelskönigin noch in stiller Zurückgezogenheit in ihrem Kämmerchen weilte, wollte er sie von ihrer süßen Beschauung nicht aufwecken, bis sie selbst es wollte (Hld 2, 7). Unterdessen band der Mann Gottes das Bündelchen, das er sich zurechtgerichtet hatte, wieder auf und vergoss dabei reichliche Tränen, jedoch mit ganz anderen Gefühlen als zuvor. Dann machte er sich daran, aus Ehrfurcht gegen seine himmlische Braut und unter Tränen das Haus zu scheuern und den Boden zu reinigen, den ihre geheiligten Füße betreten sollten. Auch verrichtete er noch andere kleinere Arbeiten, die er gewöhnlich der Himmelskönigin überlassen hatte, so lange er deren Würde noch nicht kannte. Er beschloss, sein Verhalten gegen sie zu ändern, für sich den Dienst des Dieners zu übernehmen und ihr die Stelle der Herrin anzuweisen. So fand seit diesem Tag zwischen beiden ein wunderbarer Wettstreit statt, wer dienen und sich mehr erniedrigen dürfe. Die Himmelskönigin sah alles, was mit dem hl. Joseph vorging; kein Gedanke, keine Bewegung desselben blieb ihr verborgen. Als es Zeit war, kam der Heilige zum Kämmerchen der heiligsten Jungfrau, und diese erwartete ihn mit Sanftmut, Freundlichkeit und Anmut, wie ich im folgenden Hauptstücke erzählen werde.

LEHRE, welche mir die heiligste Jungfrau Maria gab

406. Meine Tochter, was du in diesem Hauptstück gesehen hast, bietet dir einen lieblichen Beweggrund, den Herrn zu loben, da du die wunderbare Ordnung seiner Weisheit erkennst, in weicher er seinen Dienern und Auserwählten Trost und Trübsal sendet. In beiden Fällen handelt er voll Weisheit und Güte und in der Absicht, sie dadurch zu größerem Verdienst und höherer Glorie zu führen. Noch eine andere Lehre sollst du aus dem Gesagten ziehen, eine Lehre, welche für dein Verhalten und für den innigen Verkehr, den der Allerhöchste mit dir pflegen will, von höchster Wichtigkeit ist. Du sollst nämlich all deine Aufmerksamkeit darauf richten, immer die Ruhe und den Frieden deines Herzens zu bewahren. Durch keine Verwirrung darfst du dir dieselben rauben oder stören lassen, was immer dir auch in diesem sterblichen Leben begegnen mag. Was der heilige Joseph, mein Bräutigam, bei dem beschriebenen Anlass erfahren hat, soll dir als Lehre und Beispiel dienen. Der Allerhöchste will nicht, dass die Seele durch die Trübsal verwirrt werde, sondern dass sie Verdienste erwerbe. Er will nicht, dass sie dadurch niedergeschlagen werde, sondern dass sie durch Erfahrung lerne, wie viel sie mit der Gnade vermag. Zwar pflegen die Sturmwinde der Versuchungen das Schifflein der Seele zum Hafen größeren Friedens und höherer Erkenntnis Gottes hinzutreiben, und die Verwirrung kann ihr zu besserer Selbstkenntnis und größerer Demut verhelfen; allein wenn die Seele nicht zur inneren Ruhe zurückkehrt, so ist sie nicht fähig, dass der Herr sie besuche, rufe und zu seinen Tröstungen erhebe; denn er kommt nicht im Sturmwinde (1 Kön 19, 11), und die Seele kann die Strahlen dieser erhabensten Sonne der Gerechtigkeit nicht aufnehmen, solange sie nicht ruhig und klar ist.

407. Ist nun schon der Mangel dieser Ruhe ein so großes Hindernis für den innigen Verkehr mit dem Allerhöchsten, so ist es klar, dass die Sünden ein noch weit größeres Hindernis sind, eine so große Gnade zu empfangen. Beachte wohl diese Lehre und glaube ja nicht, du habest ein Recht, von deinen Seelenkräften einen Gebrauch zu machen, der mit dieser Lehre im Widerspruch stünde. Und weil du den Herrn so oftmals beleidigt hast, so rufe zu seiner Barmherzigkeit, weine und wasche dich mehr und mehr in deinen Tränen, eingedenk, dass du unter der Strafe, als untreu verurteilt zu werden, verpflichtet bist, deine Seele als die ewige Wohnung des Allerhöchsten in Reinheit und Ruhe zu erhalten, damit er als ihr Herr sie besitze und in würdiger Weise darin wohnen könne. Deine Sinne und Seelenkräfte sollen geordnet sein und, einem gut gestimmten Musikinstrumente ähnlich, eine liebliche und angenehme Harmonie bilden. Je vollkommener aber dieser Einklang ist, desto größer ist auch die Gefahr, dass derselbe gestört werde. Darum musst du mit desto größerer Sorgfalt deine Sinne und Seelenkräfte von allem Irdischen ferne halten; denn schon die verdorbene Luft der irdischen Dinge reicht hin, die Seelenkräfte, welche aus so vielen Gründen Gott dem Herrn geweiht sind, zu verstimmen, zu verwirren und anzustecken. Gib dir also Mühe, wache beständig über dich selbst und beherrsche deine Seelenkräfte und ihre Tätigkeiten. Sollte aber manchmal diese Ordnung gestört und verwirrt werden, und sollten Misstöne die Harmonie verderben, so suche das göttliche Licht wieder zu finden, nimm dasselbe ohne Furcht und Schwanken auf, und von ihm geleitet tue, was das Vollkommenste und Reinste ist. Zu diesem Zweck gebe ich dir meinen heiligen Bräutigam Joseph zum Vorbild, er hat ohne Zögern, ohne Misstrauen dem Engel Glauben geschenkt und alsbald mit unbedingtem Gehorsam getan, was ihm befohlen war. Dadurch verdiente er aber auch, große Belohnungen zu empfangen und zu hoher Würde erhoben zu werden. Und wenn er so tief sich verdemütigt hat, obwohl er nicht gesündigt, sondern nur durch so viele, freilich scheinbare Gründe sich hatte verwirren lassen, so erwäge, wie viel mehr du, ein armes Würmchen, in dich gehen, bis zum Staub dich erniedrigen und deine Nachlässigkeiten und Sünden beweinen musst, bis der Allerhöchste dich wieder als Vater und Bräutigam ansieht.

VIERTES HAUPTSTÜCK: Er wird vln Engeln beruhigt

Der heilige Joseph bittet seine heiligste Braut Maria um Verzeihung. Maria spendet ihm mit großer Klugheit Trost

408. Joseph, der dankbare Bräutigam, wartete, bis seine heiligste Braut Maria ihre Betrachtung beendet hatte. Als die Stunde gekommen war, öffnete er die Türe des armen Gemaches, in welchem die Mutter des himmlischen Königs wohnte, warf sich sogleich Maria zu Füßen und sprach zu ihr mit tiefer Demut und Ehrfurcht: «Meine Herrin und Braut, wahre Mutter des ewigen Wortes, sieh hier deinen Diener niedergeworfen vor deinen Füßen. Ich bitte, verzeihe mir meine Verwegenheit aus Liebe zu Gott, unserem Herrn, den du in deinem jungfräulichen Schoß trägst. Ich bin sicher, o Herrin, dass kein einziger meiner Gedanken vor deiner Weisheit und himmlischen Erleuchtung verborgen ist. Groß war meine Verwegenheit, da ich beabsichtigte, dich zu verlassen; nicht geringer war meine Unhöflichkeit, da ich dich bis jetzt als meine Untergebene behandelt habe, anstatt dir als Mutter meines Herrn und Gottes zu dienen. Doch du weißt auch, dass ich alles aus Unwissenheit getan, weil ich das «Geheimnis des himmlischen Königs» und deine hohe Würde nicht kannte, obwohl ich in dir andere Gaben des Allerhöchsten verehrte. Achte nicht, meine Herrin, auf die Unwissenheit eines geringen Geschöpfes, das bereits in sich geht und Herz und Leben deinem Dienste anbietet. Ich werde mich von deinen Füßen nicht erheben, bis ich weiß, dass ich deine Gnade und Verzeihung meines Fehlers erlangt habe, und dass du dein Wohlwollen und deinen Segen mir wieder zuwendest.»

409. Maria hörte diese demütigen Worte des hl. Joseph, ihres Bräutigams, mit verschiedenen Gefühlen an; einerseits erfreute sie sich gar herzlich in dem Herrn, zu sehen, dass Joseph nun die Geheimnisse der Menschwerdung kannte und dieselben mit so lebendigem Glauben, so tiefer Demut bekannte und verehrte; anderseits aber war sie betrübt wegen des Entschlusses ihres Bräutigams, sie in Zukunft mit der Ehrfurcht und Unterwürfigkeit zu behandeln, wozu er sich angeboten. Die demütige Königin glaubte, sie werde bei dieser Änderung die Gelegenheit verlieren, ihm zu gehorchen und sich als Dienerin ihres Bräutigams zu verdemütigen. Wie jemand, der sich plötzlich außer Besitz eines Edelsteines oder eines hochgeschätzten Kleinodes sieht, so betrübte sich die heiligste Jungfrau, da sie befürchtete, der hl. Joseph werde, da er sie nunmehr als Mutter des Herrn ansehe, sie nicht mehr als Untergebene behandeln. Sie ließ darum den heiligen Bräutigam aufstehen und warf sich selbst ihm zu Füßen, was dieser zwar verhindern wollte, aber nicht konnte, denn in der Demut war Maria unbesiegbar. Dann antwortete sie dem hl. Joseph: «Mein Herr und Bräutigam, ich bin es, welche dich um Verzeihung bitten muss; du aber verzeihe mir die bitteren Peinen, welche du meinetwegen gelitten; darum flehe ich dich hier zu deinen Füßen an, vergiss diesen Kummer, da ja der Allerhöchste deine sehnlichen Wünsche und die Peinen, welche dieselben begleiteten, gnädig angenommen hat!»

410. Die Himmelskönigin hielt es für gut, ihren Bräutigam zu trösten. Aus diesem Grund, nicht aber um sich zu entschuldigen, fügte sie hinzu: «Das Geheimnis, welches der Allmächtige in mir verborgen hat, konnte ich, wiewohl ich es gerne getan hätte, nicht auf mein eigenes Urteil hin mitteilen; denn als Dienerin des Allerhöchsten musste ich seinen vollkommenen, heiligen Willen abwarten. Ich habe nicht deswegen geschwiegen, weil ich dich etwa nicht als meinen Herrn und Bräutigam hochachte; ich bin und werde immerdar deine treue Dienerin sein, um dein heiliges Verlangen und Begehren zu erfüllen. Aber ich bitte dich aus dem Grund meines Herzens, um des Herrn willen, den ich in meinem Schoß trage, ändere doch nicht dein bisheriges Verhalten gegen mich. Der Herr hat mich ja nicht zu seiner Mutter erhoben, damit ich bedient werde und Herrin sei in diesem Leben, sondern damit ich die Dienerin aller sei und dir als Dienerin gehorche. Dies ist meine Aufgabe; ohne sie würde ich in Betrübnis und Trostlosigkeit leben. Die Gerechtigkeit verlangt, dass du mir diesen Trost giebst; denn der Allerhöchste hat es so angeordnet, indem er mir deinen Schutz und deine Fürsorge verlieh, damit ich unter deinem Schutz sicher sei und mit deiner Hilfe die Frucht meines Schoßes, meinen Gott und Herrn, ernähren könne.» Mit diesen und ähnlichen Worten voll wirksamer Anmut tröstete und beruhigte Maria den hl. Joseph; dann stand sie vom Boden auf, um mit ihm alles Notwendige zu besprechen. Da die Himmelskönigin nicht nur voll des Heiligen Geistes war, sondern auch als Mutter das ewige Wort bei sich trug, von welchem der Heilige Geist ausgeht wie von dem Vater, so erleuchteten ihre Worte den heiligen Joseph auf außerordentliche Weise. Der Heilige empfing dabei himmlische Gnadeneinflüsse in reichster Fülle; daher sprach er, im Geiste ganz erneuert und von Eifer durchglüht:

411. «Gebenedeit bist du, o Herrin, unter allen Frauen, glückselig unter allen Nationen und Geschlechtern. Der Schöpfer Himmels und der Erde sei mit ewigem Lob gepriesen, weil er von der Höhe seines königlichen Thrones herab dich angesehen und zu seiner Wohnung erwählt hat. In dir allein hat er die alten Verheißungen erfüllt, die er unsern Vätern und den Propheten gegeben hat. Alle Geschlechter mögen ihn preisen, weil er an niemand seine Größe so sehr gezeigt hat wie an dir, seiner demütigen Dienerin, und weil er mich, den geringsten der Sterblichen, in seiner Güte zu deinem Diener erwählt hat!» Bei diesen Lobpreisungen war der hl. Joseph vom Heiligen Geist erleuchtet, wie die hl. Elisabeth, da sie auf den Gruß der Himmelskönigin antwortete; jedoch war das Licht und die Erkenntnis, welche der heiligste Bräutigam erhielt, noch wunderbarer, wie sich dies für sein Amt und seine Würde geziemte. U. L Frau aber antwortete auf diese Worte des gebenedeiten Heiligen mit dem Lobgesang Magnificat; sie wiederholte denselben, wie sie ihn in Gegenwart der hl. Elisabeth gesprochen hatte, und fügte noch einiges hinzu. Dabei wurde sie ganz entflammt und in eine sehr hohe Entzückung versetzt; umgeben von einer strahlenden Lichtkugel, schwebte sie über der Erde ganz verklärt, wie wenn sie mit den Gaben der Glorie ausgerüstet gewesen wäre.

412. Beim Anblick dieses himmlischen Schauspiels war der hl. Joseph voll Verwunderung und unaussprechlicher Freude; denn noch niemals hatte er seine gebenedeiteste Braut in solcher Glorie und in so strahlender Herrlichkeit gesehen. Jetzt erkannte er diese Herrlichkeit aufs klarste und vollkommenste, denn es wurde ihm nun auf einmal die unversehrte Reinheit der Himmelskönigin, sowie das Geheimnis ihrer Würde geoffenbart. Er schaute in ihrem jungfräulichen Schoß die heiligste Menschheit des göttlichen Kindes und die Vereinigung der beiden Naturen in der Person des Wortes. Mit tiefer Demut und Ehrfurcht betete er das Kind an, bekannte es als seinen wahren Erlöser und opferte sich ihm mit heroischen Liebesakten auf. Der Herr aber sah den hl. Joseph mit Güte und Milde an, wie kein anderes Geschöpf, denn er verlieh ihm das Amt und den Titel eines Nährvaters; und damit er diesen erhabenen Namen würdig trage, verlieh er ihm eine Fülle von Weisheit und himmlischen Gaben, so groß, als die christliche Frömmigkeit sich diese vorstellen kann und muss. Doch verweile ich nicht bei der Beschreibung der vielen und erhabenen Dinge, die mir über den hl. Joseph mitgeteilt wurden; denn ich müsste sonst weitläufiger werden, als der Zweck dieser Geschichte verlangt.

413. Es war ein Beweis der Seelengröße des glorreichen heiligen Joseph und ein deutliches Zeichen seiner erhabenen Heiligkeit, dass er jenem Kummer wegen seiner geliebten Braut nicht unterlag und nicht starb; aber noch wunderbarer ist es, dass ihn die unerwartete Freude, von welcher er nun beim Entdecken der Wahrheit überströmt wurde, nicht überwältigt hat. Dort bewährte sich seine Heiligkeit; hier aber erhielt er einen solchen Zuwachs von Gnadengaben, dass er ihn nicht hätte in sich aufnehmen und den Jubel seiner Seele nicht hätte überleben können, wenn Gott nicht sein Herz erweitert hätte. Er wurde ganz erneuert und erhöht, damit er auf würdige Weise mit derjenigen verkehre, welche die Mutter Gottes und seine Braut war, und damit er im Verein mit ihr anordne, was das Geheimnis der Menschwerdung und die Pflege des menschgewordenen Wortes erforderte, wovon ich später sprechen werde. Damit er aber desto vollständiger seine Verpflichtungen seiner himmlischen Braut zu dienen, verstände, wurde ihm zu erkennen gegeben, dass alle Gaben und Wohltaten, die er aus der Hand des Allerhöchsten empfangen hatte, durch Maria und wegen Maria ihm zukamen; diejenigen, welche er vor seiner Vermählung mit Maria erhalten hatte, waren ihm verliehen worden, weil der Herr ihn für diese Würde erwählt hatte; diejenigen welche seiner Vermählung folgten, hatte er erlangt, weil Maria sie ihm erworben und verdient hatte. Er erkannte auch die unvergleichliche Klugheit, mit welcher die große Königin ihn behandelte, indem sie ihm nicht nur mit unverletzlichem Gehorsam und tiefer Demut diente, sondern auch in seiner Trübsal ihn tröstete, für ihn um die Gnade und den Beistand des Heiligen Geistes flehte, zuerst tat, als kenne sie die Vorgänge in seinem Innern nicht, dann aber ihn beruhigte und auf die Mitteilungen des Heiligen Geistes vorbereitete. Wie also die Himmelskönigin das Werkzeug gewesen für die Heiligung des Täufers und seiner Mutter, der hl. Elisabeth, so war sie dies auch für die noch größere Gnadenfülle, welche der hl. Joseph erhielt.(Ganz im Einklang mit obiger Darstellung erörtert und begründet Suarez [De Incarnat. II. disput. 8. s. 1 et 2] die erhabene Stellung, Gnadenausrüstung und Heiligkeit des Bräutigams der allerseligsten Jungfrau. Der Herausgeber). Dies alles erkannte der glückselige Bräutigam, und als treuester, dankbarster Diener entsprach er dieser Erkenntnis auf das vollkommenste.

414. Diese und viele andere große Geheimnisse, die sich zwischen der Himmelskönigin und ihrem Bräutigam, dem hl. Joseph, zutrugen, haben die heiligen Evangelisten nicht erwähnt, teils deshalb, weil die demütige Jungfrau und der hl. Joseph dieselben in ihrem Innern bewahrten und niemand offenbarten, teils auch deswegen, weil in der Beschreibung des Lebens Christi. unseres Herrn, die Erwähnung dieser Wunder nicht notwendig war; die Evangelisten haben das Leben Christi beschrieben, damit durch den Glauben an ihn die neue Kirche und das Gesetz der Gnade sich verbreite. Ja, eine Erwähnung jener Wunder war mit Rücksicht auf die Heiden, die sich eben erst bekehrten, möglicherweise nicht einmal ratsam. Die wunderbare Vorsehung Gottes hat in ihren geheimen, unerforschlichen Ratschlüssen diese Dinge sich vorbehalten, um neues und altes aus ihrem Schatz hervorzubringen zu einer Zeit, welche die göttliche Weisheit als die gelegenste vorhersah, da nämlich die Kirche und der katholische Glaube bereits verbreitet, die Gläubigen aber des Schutzes, der Hilfe und der Fürsprache ihrer großen Königin am meisten benötigt wären. Dann sollten sie in neuem Licht erkennen, welch liebevolle Mutter und mächtige Fürsprecherin sie im Himmel haben bei dem göttlichen Sohn, dem der Vater die richterliche Gewalt übergeben hat, damit sie so bei ihr Hilfe suchen, als bei der einzigen geheiligten Zuflucht der Sünder. Ob diese betrübten Zeiten für die Kirche gekommen sind, das mögen uns ihre Tränen und Trübsale sagen; denn diese waren niemals größer als jetzt da ihre eigenen Kinder, die sie an ihrer Brust genährt, sie betrüben, sie verwüsten und die Schätze des Blutes ihres Bräutigams mit größerer Grausamkeit verschleudern als die geschworensten Feinde. Während aber diese Not der Kirche um Hilfe ruft, während das Blut ihrer Kinder, das vergossen wird, und noch weit mehr das Blut unseres Hohenpriesters Jesu Christi, welches unter dem Vorwand der Gerechtigkeit mannigfach entweiht und mit Füßen getreten wird, zum Himmel schreit, was tun da die gläubigsten, bestkatholischen, standhaftesten Kinder dieser betrübten Mutter? Warum schweigen sie so lange? Warum rufen sie nicht zu Maria? Warum flehen sie nicht zu ihr, um ihre Gnade zu erwerben? Was Wunder dann, dass die Hilfe ausbleibt, wenn wir sie nicht suchen, wenn wir diese Königin nicht als die wahrhafte Mutter Gottes anerkennen? Ich bekenne es, großartige Geheimnisse sind in dieser «Stadt Gottes» enthalten, und wir verkünden und bekennen sie mit lebendigem Glauben; ja sie sind so groß, dass deren vollständiges Verständnis erst nach der allgemeinen Auferstehung stattfindet. Die Heiligen werden dieselben in Gott schauen. Unterdessen mögen die frommen und gläubigen Herzen die Güte ihrer liebenswürdigsten Königin beachten, welche einige dieser so großen, erhabenen Geheimnisse durch ein höchst geringfügiges Werkzeug enthüllt, das in seiner Schwäche und Verzagtheit nur durch den wiederholt kundgegebenen Willen und Befehl der gütigsten Mutter ermutigt wird.

LEHRE DER HIMMELSKÖNIGIN

415. Meine Tochter, ich verlange, wie dir bekannt ist, dass mein Leben dir als Spiegel diene für das deine, und dass meine Werke die unverletzliche Richtschnur der deinigen seien; darum erkläre ich dir in dieser Geschichte meines Lebens nicht nur die Geheimnisse, welche du niederschreibst, sondern noch viele andere, die du nicht veröffentlichen kannst, weil sie in deinem Herzen verborgen bleiben müssen. Darum erinnere ich dich auch als deine Lehrmeisterin an die Lehre, durch welche du die Wissenschaft des Ewigen Lebens erwerben sollst. Als gehorsame, sorgfältige Schülerin vollbringe schnell das Befohlene. Zum Muster diene dir nun die demütige Sorgfalt des heiligen Joseph, meines Bräutigams, sowie seine Unterwürfigkeit und Hochachtung gegen die göttlichen Erleuchtungen und Belehrungen. Beachte ferner: Um sein Herz zum schnellen Vollbringen des göttlichen Willens wohlbereitet zu finden, hat ihn der Allerhöchste durch eine Gnadenfülle, wie sie seiner erhabenen Bestimmung entsprach, vollkommen umgewandelt und erneuert. So muss auch bei dir die Erkenntnis deiner Fehler bewirken, dass du demütig und unterwürfig werdest, nicht aber, dass du unter dem Vorwand der Unwürdigkeit den Herrn hinderst, sich deiner nach seinem Wohlgefallen zu bedienen.

416. Bei dieser Gelegenheit möchte ich dich auf etwas aufmerksam machen, worüber der Allerhöchste gerechte Klage führt, und um dessentwillen er über die Sterblichen sehr erzürnt ist. Du wirst diese Sache im göttlichen Licht besser verstehen, wenn du dabei die Demut und Sanftmut ins Auge fassest welche ich meinem Bräutigam Joseph gegenüber geübt hatte. Worüber aber der Herr Klage führt, und worüber auch ich Klage führe, das ist die unmenschliche Härte, welche die Sterblichen durch ihr liebloses und hochfahrendes Wesen in ihrem Verkehre miteinander an den Tag legen. In diesem Verhalten sind dreierlei Versündigungen inbegriffen, welche alle den Allerhöchsten und auch mich in hohem Grad hindern, den Menschen Barmherzigkeit zu erweisen. Die erste dieser Sünden ist folgende: die Menschen wissen doch, dass sie sämtliche Kinder eines Vaters sind, der im Himmel ist. Sie wissen, dass sie Werke seiner Hände sind, die er von einer und derselben Natur gebildet, freigebig ernährt, mit seiner Vorsehung liebevoll belebt und an einer und derselben Tafel mit den göttlichen Geheimnissen und Sakramenten, insbesondere mit seinem eigenen heiligen Fleisch und Blut gespeist hat. Aber alles dieses vergessen sie, alles dieses setzen sie hintan, sobald es sich um einen elenden irdischen Vorteil handelt; wie Menschen ohne Vernunft kommen sie dann in Aufregung und Zorn, gehen über zu Streit und Zwist, zu heimtückischem Verrat und übler Nachrede, manchmal sogar zu gottloser, unmenschlicher Rache und zu tödlichem Hass gegeneinander. Die zweite Sünde ist: wenn sie aus menschlicher Schwachheit und Mangel an Abtötung, oder durch die Versuchung des Teufels verwirrt, in einen dieser Fehler gefallen sind, dann trachten sie nicht, diesen Fehler alsbald wieder gut zu machen und sich miteinander zu versöhnen, als Brüder, die vor den Augen des gerechten Richters stehen. Sie wollen ihn nicht als barmherzigen Vater haben, sondern fordern ihn heraus als strengen Richter ihrer Sünden; denn keine Sünde reizt Gottes Gerechtigkeit mehr als Hass und Rache. Das dritte, was Gottes Zorn gar sehr erregt, ist dies: wenn manchmal einer mit seinem Bruder sich versöhnen möchte, so nimmt derjenige, welcher sich für beleidigt hält, die Versöhnung nicht an und verlangt für sich größere Genugtuung, als diejenige ist, mit welcher doch, wie er wohl weiß, Gott sich zufrieden gibt und mit welcher er selbst die göttliche Majestät versöhnen will. Denn alle wollen, dass, wenn sie reuevoll sich verdemütigen, Gott sie gnädig aufnehme und ihnen verzeihe, wiewohl doch Gott mehr von ihnen beleidigt worden ist. Sie selbst aber, obwohl Staub und Asche, wollen sich an ihrem Bruder rächen und geben sich nicht mit dem zufrieden, was doch dem allerhöchsten Herrn genügt, um ihnen zu verzeihen.

417. Von allen Sünden, welche die Kinder der Kirche begehen, sind vor den Augen Gottes keine abscheulicher, als die genannten. Dies zeigt dir Gott selbst durch den Nachdruck, mit welchem er das Gebot der Feindesliebe gegeben hat. Er hat uns befohlen, unserem Bruder zu verzeihen, auch wenn derselbe siebzigmal siebenmal gegen uns sündige: ja wenn dies täglich und zwar oftmals geschähe, so befiehlt der Herr doch, dass, wenn der Beleidiger bekennt es reue ihn, der beleidigte Bruder ihm ebenso oft, ja unzählige Male, verzeihe. Jenen aber, welche dies nicht tun, droht der Herr, weil sie andere ärgern, mit furchtbaren Strafen, wie dies aus folgenden Drohworten des Herrn ersichtlich ist: «Wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt; es wäre ihm besser, wenn er in das Meer versenkt würde mit einem Mühlstein an seinem Halse (Mt 18, 7; Lk 17, 2).» Mit diesen Worten ist angedeutet, welch großer Gefahr der Mensch durch solche Sünden sich aussetzt und wie schwer es ihm ist, daraus errettet zu werden, da er einem Menschen gleicht, der mit einem Mühlstein am Halse in das Meer stürzt. Auch ist die Strafe angedeutet, welche ein solcher im Abgrund der ewigen Peinen zu leiden haben wird. Darum ist es ein weiser Rat für die Gläubigen, ja es ist ein Gebot meines heiligsten Sohnes, dass man sich eher die Augen ausreiße und die Hände abhaue, als dass man durch solche Sünden die Kleinen ärgere (Mt 18, 8 ft).

418. O meine teuerste Tochter, mit blutigen Tränen solltst du die Abscheulichkeit und die verderblichen Wirkungen dieser Sünde beweinen, dieser Sünde, welche den Heiligen Geist betrübt, dem Satan stolze Triumphe verschafft, vernunftbegabte Menschen in Ungeheuer verwandelt und das Ebenbild ihres himmlischen Vaters in ihnen vernichtet. Kann es etwas Verkehrteres, etwas Hässlicheres, etwas Ungeheuerlicheres geben, als dass ein Mensch, aus Erde gebildet. ein Mensch, dessen Anteil Verwesung und Würmer sind, sich gegen seinesgleichen erhebt, und zwar mit solchem Hochmut und solcher Anmaßung? Du wirst keine Worte finden, welche hinreichend wären, eine solche Bosheit gebührend zu schildern und die Sterblichen zu ermahnen, sie zu fürchten und vor dem Zorn des Herrn sich in acht zu nehmen. Du aber, Teuerste; bewahre dein Herz vor dieser Pest und präge ihm eine so nützliche und heilsame Lehre tief ein, um dieselbe zu befolgen. Denke niemals, es sei ein unbedeutender Fehler, den Nächsten zu beleidigen und zu ärgern; denn in Gottes Augen wiegen solche Fehler gar schwer. Lege deinem Mund Schweigen auf und setze eine starke Wache an all deine Fähigkeiten und Sinne, um die Liebe gegen die Geschöpfe Gottes aufs strengste zu beobachten. Mache mir diese Freude, denn ich will, dass du in dieser so ausgezeichneten Tugend ganz vollkommen seist, und ich lege dir dieselbe als mein strenges Gebot auf. Niemals darfst du etwas denken, reden oder tun, was eine Beleidigung deines Nächsten einschließt. Auch darfst du unter keinem Vorwand zulassen, dass deine Untergebenen solches tun, und soweit dies möglich ist, darfst du auch nicht dulden, dass andere in deiner Gegenwart solche Fehler begehen. Erwäge wohl, meine Teuerste, was ich von dir verlange; denn dies ist die Wissenschaft, die am meisten göttlich und doch am wenigsten von den Menschen verstanden ist. Als einziges wirksames Mittel gegen deine Leidenschaften und als aufmunterndes Beispiel diene dir meine Demut und Sanftmut, die Frucht der aufrichtigen Liebe, mit welcher ich nicht nur meinen Bräutigam, sondern alle Kinder meines himmlischen Herrn und Vaters liebte; denn ich betrachtete und schätzte sie als solche, die um sehr hohen Preis erkauft und erlöst sind. Belehre deine Nonnen mit Wahrheit, Gewissenhaftigkeit, Güte und Liebe, dass Gott zwar von allen schwer beleidigt wird, welche dieses Gebot, das mein Sohn «sein Gebot» und ein «neues Gebot (Joh 15,12; 13, 34)» nennt, nicht erfüllen, dass aber sein Zorn ohne Vergleich größer ist gegen die Ordensleute, welche er hierin schuldig findet; denn diese müssen die vollkommenen Kinder ihres Vaters und Lehrmeisters in dieser Tugend sein; trotzdem gibt es viele, welche die Liebe ebenso zerstören wie die Weltleute und darum Gott verhasster sind als diese.

FÜNFTES HAUPTSTÜCK: Mit welcher Demut Joseph und Maria dienten

Der heilige Joseph fasst den Entschluss, der Mutter Gottes in allem mit Ehrfurcht zu dienen. Verhalten der Himmelskönigin. Einige andere Bemerkungen über die Lebensweise beider.

419. Seitdem Joseph, der treueste Bräutigam, die Würde Mariä, seiner heiligsten Braut, sowie das Geheimnis der Menschwerdung kannte, hatte er von ihr eine so erhabene Meinung, dass er ein ganz anderer Mann wurde, obwohl er allzeit sehr heilig und vollkommen gewesen war. Darum beschloss er, sich der Himmelskönigin gegenüber anders, nämlich mit größter Ehrfurcht, zu benehmen, wie ich dies im folgenden beschreiben werde. Dieses Verhalten entsprach ebenso der Weisheit des Heiligen, wie es der erhabenen Würde seiner Braut gebührte; denn er war Diener, sie aber war Königin des Himmels und der Erde, was der heilige Joseph, durch himmlisches Licht erleuchtet, wohl wusste. Um nun der Mutter Gottes dem Verlangen seines Herzens gemäß Ehre und Hochachtung zu bezeigen, beugte er mit großer Ehrfurcht die Knie, so oft er allein mit ihr sprach oder vor ihr vorbeiging; auch wollte er nicht zulassen, dass sie ihn bediene und mit niedrigen Arbeiten, wie mit dem Scheuern des Hauses, Reinigen der Schüsseln und dergleichen sich abgebe. Alle diese Verrichtungen wollte der glückseligste Bräutigam selbst tun, um nicht gegen die Würde der Himmelskönigin zu verstoßen.

420. Maria aber war allzeit die demütigste unter den Demütigen und konnte von niemand an Demut übertroffen werden. Darum ordnete sie auch hier die Dinge so, dass die Palme aller Tugenden immer ihren Händen verblieb. Sie bat den hl. Joseph, er möge die Knie nicht vor ihr beugen; denn wenn auch diese Verehrung dem Herrn gebühre, den sie in ihrem Schoß trage, so könne man doch bei dieser Handlung seine Person nicht von der ihrigen unterscheiden, solange derselbe noch im Mutterschoß verborgen sei. Aus diesem Grund fügte sich der Heilige dem Verlangen der Himmelskönigin; nur wenn diese es nicht bemerkte, erwies er jene Ehre dem Herrn, den sie in ihrem Schoß trug, und beziehungsweise auch ihr als seiner Mutter, so wie es beiden gebührte. Auch betreffs der Handarbeiten fand oft ein demütiger Wettstreit zwischen ihnen statt. Der hl. Joseph konnte es nicht über sich bringen, die große Königin solche verrichten zu lassen; darum trachtete er ihr zuvorzukommen. Die himmlische Braut aber tat ihrerseits dasselbe und kam ihm in solchen Arbeiten zuvor, soviel sie konnte. Doch während sie einsam dem Gebet oblag, fand der heilige Joseph Gelegenheit, manche dieser Arbeiten selbst zu verrichten, und so täuschte er ihr beständiges Verlangen, Dienerin zu sein, der es obliege, die häuslichen Geschäfte im großen wie im kleinen zu besorgen. Angetrieben durch dieses Verlangen, wandte sich nun Maria mit demütigen Klagen an den Herrn und bat ihn, er möge ihren Bräutigam wirksam bewegen, sie nicht an der so ersehnten Übung der Demut zu hindern. Nun ist aber diese Tugend überaus mächtig vor dem Thron Gottes, sie hat da freien Zutritt; eine Bitte, von ihr begleitet, ist niemals gering; sie macht alle groß und neigt den unveränderlichen Gott zur Milde. Er erhörte also die Bitte Mariä und verfügte, dass der heilige Schutzengel des gebenedeiten Bräutigams innerlich zu diesem sprach: «Vereitle nicht die demütigen Wünsche derjenigen, welche über alle Geschöpfe des Himmels und der Erde erhaben ist. Was das Äußere betrifft, so lasse sie dir dienen; im Innern jedoch hege für sie die tiefste Ehrfurcht und zu jeder Zeit, bei jeder Gelegenheit verehre den menschgewordenen Sohn Gottes, der, wie seine Mutter, kommen will, um zu dienen, nicht um bedient zu werden, damit er so der Welt die Wissenschaft des Lebens und die Erhabenheit der Demut lehre. Du kannst sie wohl in einigen Arbeiten unterstützen, und allzeit ehre in ihr den Herrn der Welt!»

421. Auf diese Belehrung und Vorschrift des Allerhöchsten hin überließ der hl. Joseph die demütigen Beschäftigungen der Himmelskönigin und so hatten beide Gelegenheit, dem Herrn das wohlgefällige Opfer ihres Willens darzubringen: Maria, indem sie immer ihre tiefste Demut und den Gehorsam gegen ihren Bräutigam übte und alle Akte dieser Tugenden mit heroischer Vollkommenheit verrichtete, ohne je einen einzigen zu versäumen; der hl. Joseph aber, indem er dem Allerhöchsten gehorchte, mit kluger und heiliger Beschämung darüber, dass er von derjenigen bedient wurde, die er als seine und der ganzen Welt Herrin und als die Mutter Gottes, des Schöpfers, erkannte. Auf diese Art ersetzte der weise Heilige die Übungen der Demut, die er seiner Braut überlassen musste; denn dies demütigte ihn noch mehr und war ihm ein Sporn, seine innere Ehrfurcht zu verdoppeln und in seiner Meinung sich noch tiefer zu erniedrigen. In solcher Ehrfurcht betrachtete er Maria und in ihrem reinsten Schoß den Herrn, dem er dort Anbetung, Lob und Preis darbrachte. Manchmal geschah es, dass sich ihm das göttliche Kind auf wunderbare Weise offenbarte, um seine Heiligkeit und Ehrfurcht zu belohnen, oder um beides in ihm zu vermehren. Er sah dann dasselbe im Schoß seiner reinsten Mutter wie in einer kristallenen Monstranz. Die erhabene Königin aber sprach mit dem glorreichen Heiligen über die Geheimnisse der Menschwerdung auf eine vertraulichere Weise; denn seitdem dieser glückselige Heilige über die erhabenen Geheimnisse der persönlichen Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur im jungfräulichen Schoß seiner Braut erleuchtet und unterrichtet war, beobachtete Maria in den Unterredungen, welche diese heiligen Geheimnisse betrafen, nicht mehr soviel Zurückhaltung.

422. Diese himmlischen Unterredungen der heiligsten Jungfrau und des glückseligen hl. Joseph vermag keine menschliche Zunge wiederzugeben. Einiges davon werde ich, so gut ich es verstehe, in den folgenden Hauptstücken mitteilen. Wer aber wird erklären können, welche Gefühle in dem sanften und gottinnigen Herzen dieses Heiligen der Gedanke erwecken musste, dass er nicht nur Bräutigam der Mutter des Schöpfers sei, sondern sogar von ihr bedient werde, als wäre sie eine niedrige Magd, während er doch wusste, dass sie an Heiligkeit und Würde die höchsten Seraphim überragte und nur unter Gott stand? Gott hat das Haus und die Person des Obededom reichlich gesegnet, weil dieser die vorbildliche Lade des Alten Bundes während einiger Monate bei sich aufgenommen hatte (1 Chr 13,14); welche Segensfülle wird er dann nicht dem hl. Joseph verliehen haben, dem er die wahre Bundeslade anvertraut hatte, ja den Gesetzgeber selbst, welcher in ihr eingeschlossen war? Unvergleichlich war das Glück und die Seligkeit dieses Heiligen, nicht nur, weil er in seinem Hause die lebendige und wahre Arche des neuen Bundes hatte, den Altar, das Opfer und den Tempel denn dies alles war ihm übergeben -, sondern weil er dies auf würdige Weise bewahrte, als «treuer und kluger Diener, den der Herr über seine Familie gesetzt hat (Mt 24, 45)», damit er als treuester Verwalter für alles zu rechter Zeit sorge. Alle Nationen, alle Geschlechter mögen ihn erkennen, preisen und sein Lob verkünden; denn an keinem anderen hat der Allerhöchste getan, was er an dem hl. Joseph getan hat! Beim Anblick solch ehrwürdiger Geheimnisse preise und verherrliche ich unwürdiger, armer Erdenwurm Gott den Herrn, ich bekenne ihn als heilig, gerecht, barmherzig, weise und wunderbar in der Anordnung all seiner großen Werke.

423. Das arme, aber glückliche Haus des hl. Joseph war in drei Gemächer eingeteilt, welche beinahe den ganzen Raum des Hauses einnahmen und die gewöhnlichen Wohnstätten der beiden Gatten bildeten; denn sie hatten weder Knecht noch Magd. In dem einen Gemach schlief der hl. Joseph, in einem anderen arbeitete er und bewahrte dort auch sein Zimmermannswerkzeug. In dem dritten weilte und schlief gewöhnlich die Himmelskönigin; sie hatte darin für letzteren Zweck eine von der Hand des hl. Joseph verfertigte Bettstelle. Diese Ordnung hatten sie von Anfang an eingehalten, seitdem sie vermählt und in ihr Haus gekommen waren. Ehe der hl. Joseph die Würde seiner erhabenen Braut und Herrin kannte, trat er sehr selten in ihr Gemach; denn während sie in ihrem Kämmerchen allein war, blieb er bei seinen Arbeiten, außer wenn es bei einem Geschäft dringend notwendig war, sie um Rat zu fragen. Seitdem er aber die Ursache seines Glückes kannte, war der heilige Mann aufmerksamer und fand seinen Trost darin, oft in das Kämmerchen der Himmelskönigin zu gehen, um sie zu besuchen und zu fragen, was sie begehre. Er kam aber immer mit außerordentlicher Demut und Ehrfurcht, und ehe er sie ansprach, beobachtete er stillschweigend, womit sie sich beschäftige. Oft kam es vor, dass er sie in Verzückung über der Erde schwebend und von hellstem Lichtglanz umgeben sah. Andere Male fand er sie in Gesellschaft ihrer heiligen Engel, in himmlischen Unterredungen mit ihnen; wieder andere Male sah er sie in Kreuzesform auf dem Boden hingeworfen zum Herrn beten. Der glückselige hl. Joseph hatte so teil an allen diesen Gnaden; wenn er jedoch die Himmelskönigin in derartigem Zustand oder solcher Beschäftigung fand, wagte er nur, sie mit tiefer Ehrfurcht zu betrachten. Manchmal hatte er dabei auch die Freude, die lieblichste Harmonie der himmlischen Musik zu hören, welche die Engel ihrer Königin darbrachten, und einen wunderbar süßen Wohlgeruch zu empfinden, welcher ihn stärkte und ganz mit Wonne und geistlicher Freude erfüllte.

424. Das heilige Ehepaar lebte ganz allein in diesem Haus; sie hatten, wie gesagt, keine Dienstboten, und zwar nicht nur wegen ihrer tiefen Demut, sondern auch weil es sich nicht geziemte, dass jemand Zeuge sei der so großen und augenfälligen Wunder, die zwischen ihnen vorfielen und die den Auswärtigen unbekannt bleiben mussten. Auch verließ die Himmelskönigin ihr Haus nie, außer wenn eine sehr dringende, den Dienst Gottes oder das Wohl des Nächsten betreffende Ursache es erforderte. Denn wenn sonst etwas nötig war, so holte dies jene glückliche Frau, ihre Nachbarin, von der ich früher sagte, dass sie, während die heiligste Jungfrau im Haus des Zacharias weilte, den hl. Joseph bedient habe. Diese Dienste wurden ihr so gut vergolten, dass nicht nur sie zur Vollkommenheit und Heiligkeit gelangte, sondern auch ihre ganze Familie durch den Schutz der Königin der Welt beglückt wurde. Denn Maria war für diese Frau sehr besorgt, als Nachbarin pflegte sie dieselbe in einigen Krankheiten, und endlich überhäufte sie dieselbe, sowie alle ihre Familienangehörigen mit himmlischen Segnungen.

425. Der hl. Joseph sah seine himmlische Braut niemals schlafen; er wusste nicht einmal aus Erfahrung, ob sie je schlief, obwohl er sie zuweilen bat, dass sie sich etwas Ruhe gönne, besonders zur Zeit ihrer heiligen Mutterschaft. Die Ruhestatt U. L. Frau war jene oben erwähnte, vom hl. Joseph verfertigte Bettstelle. Auf derselben hatte sie zwei Decken, in welche sie sich hüllte, um sich einen kurzen, heiligen Schlaf zu gönnen. Ihr Unterkleid war eine Tunika oder ein Hemd von einem Stoff wie Baumwolle, feiner als das gewöhnliche Tuch. Dieses Unterkleid legte sie niemals ab, seitdem sie den Tempel verlassen hatte. Sie wurde nicht abgenützt, nicht schmutzig. Niemand sah es, und auch der hl. Joseph wusste nicht, dass sie es trug; denn er sah nur das Oberkleid, welches für alle andern sichtbar war. Dieses Oberkleid war, wie ich oben schon gesagt habe, von grauer Farbe; die Himmelskönigin wechselte nur es dann und wann, sowie den Schleier, nicht als ob es schmutzig geworden wären, sondern weil es für alle sichtbar waren und Maria nicht bemerken lassen wollte, dass dieselben immer im nämlichen Stand blieben. Denn nichts von dem, was Maria auf ihrem reinsten, jungfräulichen Leib trug, wurde je beschmutzt; sie schwitzte nicht und war überhaupt von den körperlichen Gebrechlichkeiten frei, welche die übrigen Kinder Adams mit der Sünde geerbt haben. Sie war in allem ganz rein; auch ihre Handarbeiten trugen den Stempel ihrer Reinheit an sich. Auf dieselbe Weise besorgte sie die Kleidung des hl. Joseph und was ihm sonst nötig war.

Was ihre Nahrung betrifft, so war Maria sehr spärlich und einfach. Indes nahm sie jeden Tag Speise zu sich, und zwar mit dem hl. Joseph. Fleisch genoss sie niemals, wiewohl Joseph solches aß und sie es ihm zubereitete. Ihre Speise waren Früchte, Fische, gewöhnliches Brot und gekochte Kräuter; sie nahm aber von allem mit Maß und nur soviel, als für die Erhaltung des Lebens und der natürlichen Wärme unumgänglich notwendig war, ohne sich je etwas Überflüssiges zu gestatten, das an Unmäßigkeit hätte streifen oder schaden können. Ebenso verhielt es sich mit dem Getränk, obwohl die feurigen Liebesakte, die sie erweckte, eine gewisse übernatürliche Wärme verursachten. Was die Quantität der Speisen betrifft, so hielt sie immer dieselbe Ordnung ein; bezüglich der Qualität aber wechselte sie je nach den verschiedenen Ereignissen ihres heiligsten Lebens ab, wie ich später mitteilen werde.

426. In jeder Hinsicht war die reinste Jungfrau Maria von vollendeter Vollkommenheit; keine Gnade mangelte ihr, und alle Vorzüge besaß sie in höchster Vollendung, sowohl in natürlicher als übernatürlicher Beziehung. Es fehlen mir aber die Worte, um dies zu beschreiben; meine Ausdrücke befriedigen mich niemals, da ich sehe, dass sie hinter dem, was ich erkenne, zurückbleiben, um so mehr also hinter dem, was ein so erhabener Gegenstand in sich schließt. Ich bin immer in Sorgen wegen meiner Unfähigkeit, ich jammere über meine unzureichenden, beschränkten Ausdrücke und fürchte, dass ich allzu verwegen bin, wenn ich fortsetze, was meine Kräfte so weit übersteigt. Doch der Gehorsam tut mir, ich weiß nicht welche, süße Gewalt an; er spornt meine Mutlosigkeit an, er lehrt mich die Zaghaftigkeit überwinden, die mich ergreift, wenn ich die Größe des Werkes und die Armseligkeit meiner Sprache im rechten Licht betrachte. Ich arbeite im Gehorsam; durch ihn strömen mir so viele Güter zu; ihm wird es gelingen, mich zu rechtfertigen.

LEHRE DER HIMMELSKÖNIGIN MARIA

427. Meine Tochter, in dem Streben nach Demut wozu mein ganzes Leben dich anleitet, sollst du eifrig und sorgsam sein; ja dies muss die erste und die letzte deiner Sorgen sein, wenn du dich für die süßen Tröstungen des Herrn vorbereiten, seiner Gnaden dich versichern und die Schätze seines Lichtes genießen willst, das den Stolzen verborgen ist. Denn solche Schätze können niemand anvertraut werden ohne die zuverlässige Bürgschaft der Demut. All dein Bestreben muss also darauf gerichtet sein, dich mehr und mehr zu verdemütigen, sowohl in deiner eigenen Meinung, als in den äußeren Handlungen, indem du denkst, wie du handelst, und handelst, wie du von dir selber denkst. Sowohl dir als allen Seelen, welche den Herrn zum Vater und Bräutigam haben, muss es zur Lehre und Beschämung dienen, dass Stolz und Eigendünkel bei den Kindern der weltlichen Weisheit mehr vermögen, als Demut und wahre Selbsterkenntnis bei den Kindern des Lichtes. Schaue hin auf die angestrengten Bemühungen, auf den unermüdlichen Fleiß der hoffärtigen, anmaßenden Menschen: wie sie miteinander wetteifern, wer in der Welt am meisten gelte; wie sie niemals befriedigt sind in ihren, obwohl eitlen Ansprüchen; wie sie handeln in Übereinstimmung mit der falschen Meinung, die sie von sich selbst haben; wie sie sich einbilden, was sie nicht sind; und obwohl sie es nicht sind, oder weil sie es nicht sind, arbeiten sie, um Güter zu erwerben, die zwar nur irdisch sind, die sie aber doch nicht verdienen. Daher ist es für die Auserwählten in hohem Grad beschämend, dass die Täuschung bei den Kindern des Verderbens mehr Macht hat, als bei ihnen die Wahrheit; dass in der Welt so wenige im Dienste Gottes wetteifern mit denen, die der Eitelkeit dienen; kurz, dass alle berufen, wenige aber auserwählt sind.

428. Bemühe dich also, meine Tochter, diese Wissenschaft zu erwerben und in ihr die Palme zu erlangen vor den Kindern der Finsternis. Im Gegensatz zu ihrem Hochmut beachte, was ich getan habe, um den Hochmut der Welt durch eifrige Übung der Demut zu überwinden. In dieser Wissenschaft musst du sehr weise und bewandert sein; dies ist der Wille des Herrn und auch der meine. Versäume darum niemals eine Gelegenheit. Werke der Demut zu verrichten; lass dir sie nicht durch andere entreißen. Fehlen dir aber die Gelegenheiten, dich zu verdemütigen, oder sind sie nicht häufig genug, so suche dieselben und erbitte sie dir von Gott; denn der Herr sieht mit Wohlgefallen diese Sorgfalt und diesen Eifer in der Tugend, die er so sehr verlangt. Schon um dieses Wohlgefallens willen solltest du hierin sehr eifrig sein, da du ja das Kind seines Hauses und seine Braut bist, abgesehen davon, dass selbst der Ehrgeiz, wie er bei den Weltkindern vorkommt, dir zum Sporn dienen muss, in dieser Hinsicht nicht träge zu sein. Sieh nur, wie eine Hausfrau sich plagt, um ihr Vermögen zu vermehren. Sie verliert keine Gelegenheit, wo ein Gewinn zu machen ist; nichts ist ihr zuviel und der kleinste Verlust geht ihr zu Herzen. All dies lehrt die irdische Habgier; es ist aber nicht recht, dass die himmlische Weisheit unfruchtbarer sei durch die Nachlässigkeit derjenigen, welche sie empfangen. Ich will darum, dass du in einer Sache, die für dich von solcher Wichtigkeit ist, nichts versäumst, nichts vergessest und keine Gelegenheit unbenützt lassest, dich zu demütigen und für die Ehre des Herrn zu arbeiten.

Vielmehr musst du diese Gelegenheiten suchen, erflehen und sie alle als treueste Tochter und Braut benützen, damit du in den Augen des Herrn und in meinen Augen Gnade findest, wie du es verlangst.

SECHSTES HAUPTSTÜCK: Die himmlischen Unterredungen, welche Maria und Joseph miteinander führten

Einige Unterredungen der seligsten Jungfrau Maria mit dem hl Joseph über göttliche Dinge. Andere wunderbare Begebnisse.

429. Bevor der hl. Joseph das Geheimnis der Menschwerdung kannte, pflegte die Himmelskönigin ihm zu gelegener Zeit die Heilige Schrift vorzulesen, insbesondere die Psalmen und die Propheten. Als weiseste Lehrmeisterin legte sie ihm die Heilige Schrift aus; der heilige Bräutigam aber, der in dieser heiligen Wissenschaft gleichfalls bewandert war, legte ihr manchmal Fragen vor, und die himmlisch weisen Antworten seiner Braut erfüllten sein Herz mit Bewunderung und Trost, so dass beide abwechselnd den Herrn lobten und priesen. Seitdem aber der gebenedeite Heilige von diesem erhabenen Geheimnis Kenntnis hatte, sprach unsere Königin mit ihm als mit dem auserwählten Gehilfen in den wunderbaren Geheimnissen unserer Erlösung. Sie besprachen von da an mit größerer Deutlichkeit alle göttlichen Prophezeiungen über die Empfängnis des Wortes durch eine jungfräuliche Mutter, über seine Geburt, seine Erziehung und sein heiligstes Leben. U. L. Frau erklärte dies alles und sagte zum voraus, was sie zu tun hätten, wann der so ersehnte Tag erscheine, da das göttliche Kind das Licht der Welt erblicken, sie es in ihren Armen halten und mit ihrer jungfräulichen Milch nähren und der heilige Bräutigam vor allen anderen Menschen an diesem höchsten Glück teilnehmen sollte. Nur über das Leiden und den Tod Unseres Herrn und die Vorhersagungen des Jesaja und Jeremias sprach sie weniger; denn die weiseste Königin fand nicht für gut, ihren Bräutigam, der so weichen und zartfühlenden Herzens war, schon zum voraus durch das Andenken an diese Geheimnisse zu betrüben und ihm darüber mehr mitzuteilen, als er durch die Mitteilungen der Alten über die Ankunft und das Leben des Messias wissen konnte. Die weiseste Jungfrau wollte warten, bis der Herr selbst dies seinem Diener offenbare oder ihr seinen göttlichen Willen zu erkennen gebe.

430. Der treueste, glücklichste Bräutigam wurde durch solche süße Unterredungen von Liebe ganz entflammt. Unter Tränen der Freude sprach er zu seiner himmlischen Braut: «Ist es möglich, meine Herrin, dass ich in deinen keuschesten Armen meinen Gott und Erlöser sehen und anbeten soll? - dass ich ihn hören und auf meine Arme nehmen soll? - dass meine Augen sein göttliches Antlitz sehen sollen und der Schweiß meines Angesichtes - o Glück ! - zu seinem Unterhalt dienen soll? - dass er mit uns leben wird! - dass wir an seinem Tisch speisen, mit ihm sprechen und uns unterhalten werden? Woher kommt mir dieses große Glück, welches niemand verdienen konnte? O wie tut es mir leid, so arm zu sein! Hätte ich doch reiche Paläste, um ihn darin aufzunehmen, und viele Schätze, um sie ihm anzubieten!» Die Himmelskönigin antwortete ihm: «Mein Herr und Bräutigam, mit Recht erstreckt sich deine liebevolle Sorge auf alles, was nur möglich ist im Dienst unseres Schöpfers; doch dieser große Gott, unser Herr, will nicht mit Reichtum, mit irdischer Pracht und Herrlichkeit in die Welt kommen. Er bedarf ja all dieser Dinge nicht und würde ihretwegen nicht vom Himmel auf die Erde niedersteigen. Er kommt nur, um die Welt zu retten und die Menschen auf die geraden Pfade des Ewigen Lebens zu leiten. Dies aber muss mittels der Demut und Armut geschehen, und darum will er in Demut und Armut geboren werden, leben und sterben, um aus den Herzen der Menschen die unheilvolle Habsucht und Hoffart zu verbannen, welche ihrer Seligkeit im Weg stehen. Deswegen hat er unser armes, geringes Häuschen gewählt und will nicht, dass wir reich seien an scheinbaren, trügerischen, vergänglichen Gütern. Diese sind ja Eitelkeit der Eitelkeit und Betrübnis des Geistes; sie verfinstern den Verstand und hindern ihn, das Licht zu erkennen.»

431. Manchmal stellte der Heilige an die reinste Jungfrau die Bitte, sie möge ihm über das Wesen und die Eigenschaften der Tugenden, besonders der Liebe zu Gott Unterricht erteilen, damit er wisse, wie er sich dem menschgewordenen Gott gegenüber zu verhalten habe und nicht als unnützer, unfähiger Diener verstoßen werde. Die Königin und Lehrmeisterin der Tugenden entsprach diesen Bitten und erklärte ihrem Bräutigam die Art und Weise, die Tugenden mit der höchsten Vollkommenheit zu üben. Bei diesen Unterweisungen beobachtete sie aber stets eine so große Umsicht und Demut, dass sie nicht die Lehrmeisterin, selbst nicht ihres Bräutigams zu sein schien, obwohl sie es in Wirklichkeit war; vielmehr gab sie diese Lehren in der Form von Unterredungen oder in Form von Gebeten zum Herrn oder auch so, dass sie an den hl. Joseph Fragen stellte und ihn eben dadurch unterrichtete. In allem und allzeit bewahrte dabei die weiseste Herrin ihre tiefste Demut unversehrt, so dass nie auch nur die geringste Spur des Gegenteils an ihr zu bemerken war. Diese Unterredungen, sowie auch die Lesung der Heiligen Schrift waren von Handarbeit begleitet, wenn eine solche zu verrichten war. Was die Handarbeit betrifft, so wurde diese dem hl. Joseph schon dadurch erleichtert, dass die liebenswürdigste Königin ihm, wenn sie ihn durch Arbeit ermüdet sah, mit außerordentlicher Klugheit ihr Mitleid bezeigte; allein sie fügte zu dieser Erleichterung noch ihre himmlische Lehre hinzu, und indem der glückselige Heilige sie bemerkte, war er noch tätiger durch Übung der Tugenden als durch die Verrichtung der Handarbeit. Die himmlische Nahrung, welche ihm die liebevollste Braut mit einer Weisheit bot, wie sie nur der weisesten Jungfrau eigen ist, bestand darin, dass sie auseinandersetzte, welch überreichen Segen die Arbeit bringe. Und da Maria sich nicht für würdig erachtete, dass ihr Bräutigam sie durch seiner Hände Arbeit ernähre, so war sie, so oft sie daran dachte, ganz verdemütigt; sie sah sich dem hl. Joseph gegenüber als Schuldnerin an, welche verpflichtet sei, ihm für seinen Schweiß zu danken, den sie sozusagen als großes Almosen und als reines Geschenk annahm. Aus allen diesen Gründen glaubte sie sich ihm gegenüber so sehr verpflichtet, wie wenn sie das unnützeste aller Geschöpfe gewesen wäre. Sie konnte zwar dem Heiligen in seinem Handwerk nicht behilflich sein; dies war mit den Kräften einer Jungfrau nicht vereinbar, und noch weniger mit der würdevollen Sittsamkeit der Himmelskönigin; allein in allen anderen Dingen, die sich mit dieser Würde vertrugen, diente sie ihm wie eine demütige Magd; denn die kluge Demut und Dankbarkeit ihres edelsten Herzens gegen ihren Bräutigam hätte sich unmöglich mit einer geringeren Erwiderung begnügen können.

432. Nebst anderen wunderbaren Dingen, welche der heilige Joseph während seiner Unterredung mit Maria durch die äußeren Sinne wahrnahm, ereignete sich eines Tages auch folgendes. Es war noch zur Zeit. da Maria das göttliche Kind unter ihrem Herzen trug, als eine ganze Schar Vögel von verschiedener Gattung dahergeflogen kam, um der Königin und Herrin der Schöpfung ihre Huldigung darzubringen. Gleichsam einen Chor bildend, umgaben sie Maria und sangen ihr zu Ehren in wunderbarer Harmonie ihre Lieder. Es war dies freilich auch sonst schon geschehen, und ihr Gesang war stets wunderbar, wie ja das Herbeifliegen schon ein Wunder war. Der hl. Joseph aber hatte dieses Wunder vor jenem Tag noch nie gesehen. Voll Verwunderung und Freude sagte er darum zu seiner erhabenen Braut: «Ist es möglich, meine Herrin, dass die einfältigen Vögel, vernunftlose Geschöpfe, ihrer Pflicht besser nachkommen als ich? Wenn sie dich erkennen, bedienen und verehren, soviel ihnen möglich ist, dann wird es wohl billig sein, dass du auch mir gestattest, zu tun, wozu ich durch die Gerechtigkeit verpflichtet bin.» Die weiseste Jungfrau antwortete: «Mein Gebieter, durch das, was diese Vöglein des Himmels tun, spornt uns ihr Schöpfer kräftig an, dass wir, die wir ihn erkennen, unsere Kräfte und Seelenvermögen zu seinem Lob würdig gebrauchen, wie diese Tierchen es tun für ihren Gott, den ich in meinem Schoß trage. Ich aber bin nur ein Geschöpf, darum gebührt mir die Ehre nicht, und ich darf sie nicht für mich annehmen; ich muss jedoch meine Sorge darauf richten, dass alle den Allerhöchsten loben, weil er auf seine Dienerin gesehen und mich mit den Schätzen seiner Gottheit bereichert hat.»

433. Nicht selten kam es vor, dass die Himmelskönigin und ihr heiliger Bräutigam Joseph Armut und Mangel am nötigen Lebensunterhalt leiden mussten. Denn mit dem Wenigen, was sie besaßen, waren sie gegen die Armen im höchsten Grad freigebig, und niemals waren sie bedacht, mit der ängstlichen Berechnung einer vertrauenslosen Habsucht zum voraus für Nahrung und Kleidung zu sorgen, wie die Kinder dieser Welt es tun. Auch war es so eine Fügung des Herrn, welcher nicht wollte, dass der Glaube und die Geduld seiner heiligsten Mutter und des heiligen Joseph untätig blieben. Der seligsten Jungfrau aber brachten solche Entbehrungen unvergleichlichen Trost, nicht bloß wegen ihrer Liebe zur Armut, sondern auch wegen ihrer wunderbaren Demut in der sie sich des notwendigen Lebensunterhaltes unwürdig erachtete und es als ganz gerecht ansah, dass sie ihn entbehre, da sie ihn nicht verdiene. Indem sie dies bekannte, pries sie den Herrn in ihrer Armut. Nur für ihren heiligen Bräutigam Joseph bat sie den Allerhöchsten, dass er diesem die erwartete Hilfe in der Not verleihe; denn sie achtete ihn als heiligen und gerechten Mann dessen für würdig. Doch der Allmächtige «vergaß seine Armen nicht gänzlich (Ps 74,19)»; denn gab er ihnen Gelegenheit zu Verdiensten und zur Übung der Tugend, so spendete er ihnen auch die Nahrung zur rechten Zeit (Ps 145,15). Die göttliche Vorsehung sorgte hierfür auf verschiedene Weise. Bald bewegte er das Herz der Nachbarn und Bekannten der heiligsten Jungfrau und des glorreichen hl. Joseph, diesen durch eine freiwillige Gabe oder durch Abtragung einer Schuld zu Hilfe zu kommen; bald, und dies war der gewöhnliche Fall, unterstützte sie die hl. Elisabeth; denn seit die Himmelskönigin bei dieser gottseligen Matrone gewesen, war diese bedacht, ihnen von Zeit zu Zeit Geschenke zu schicken, welche die demütige Jungfrau immer mit einer von ihr verfertigten Handarbeit vergalt. Bei passenden Gelegenheiten machte auch U. L. Frau, zur größeren Ehre Gottes, von ihrer Macht als Königin aller Geschöpfe Gebrauch und befahl den Vögeln der Luft, ihr Meerfische oder Feldfrüchte zu bringen, und diese taten es unverzüglich. Zuweilen brachten sie ihr auch irgendwoher, je nachdem es der Herr fügte, Brot in ihren Schnäbeln. Der heilige, glückselige Bräutigam war oftmals Zeuge solcher Wunder.

434. Bei manchen Gelegenheiten kamen ihnen auch die heiligen Engel auf wunderbare Weise zu Hilfe; ich will eines von diesen zahlreichen Wundern erzählen, wobei vorausgesetzt werden muss, dass der Glaube, die Großmut und die Freigebigkeit des hl. Joseph so groß waren, dass niemals auch nur eine Spur von Habsucht oder ängstlicher Sorge in seinem Herzen Zutritt finden konnte. Freilich arbeitete er, wie auch seine himmlische Braut; aber sie forderten niemals einen Lohn für die Arbeit. Sie sagten nie: «Dies kostet soviel», «du bist mir dies schuldig»; denn sie arbeiteten nicht aus Eigennutz, sondern aus Gehorsam und Liebe für diejenigen, welche es verlangten, und überließen es denselben, die Arbeit zu vergelten. Was man gab, nahmen sie nicht als Lohn und Zahlung an, sondern als freiwilliges Almosen. Diese Vollkommenheit und Heiligkeit hatte der hl. Joseph in der Schule des Himmels erlernt, die er in seinem Haus besaß. So geschah es manchmal, dass sie für ihre Arbeit nichts erhielten und infolgedessen in Not und ohne Lebensunterhalt waren, bis der Herr dafür sorgte. Eines Tages war die gewöhnliche Essenszeit schon vorüber, und sie hatten noch nichts zu essen; da blieben sie bis spät in den Abend im Gebet, um dem Herrn für diese Prüfung zu danken, voll Vertrauen, dass er seine mächtige Hand öffnen werde. Unterdessen bereiteten ihnen Engel das Essen, deckten den Tisch und setzten darauf Fische mit einigen Früchten und sehr weißem Brot, und außerdem noch ein wunderbar liebliches und stärkendes Gericht. Dann riefen einige Engel ihre Königin, andere den hl. Joseph. Diese verließen ihre Kammer, und da sie der Himmelsgabe ansichtig wurden, sagten sie unter Tränen und voll Inbrunst dem Allerhöchsten Dank; und nachdem sie gespeist, brachten sie ihm herrliche Lobgesänge dar.

435. Ähnliche Fälle waren sehr häufig; denn da Maria und Joseph allein und ohne einen Zeugen waren, vor dem diese Wunder hätten verborgen bleiben müssen, so war der Herr für sie, welche er zu Verwaltern des größten Wunders seines allmächtigen Armes gemacht hatte, in solchen wunderbaren Fügungen durchaus nicht karg. Ich bemerke nur, wenn ich sage, die Himmelskönigin habe entweder allein oder mit dem hl. Joseph und den Engeln Loblieder gesungen, so sind damit immer neue Loblieder gemeint, wie z. B. Anna, die Mutter Samuels, Moses, Ezechias und andere Propheten solche verfassten, wenn sie von der Hand des Herrn eine große Wohltat empfingen. Wären die von der Himmelskönigin verfassten Loblieder niedergeschrieben worden, dieselben würden einen großen Band ausmachen und einen Gegenstand unaussprechlicher Bewunderung bilden für die ganze Welt.

LEHRE, welche mir unsere Königin und Herrin gab

436. Meine vielgeliebte Tochter, es ist mein Wille, dass die Wissenschaft des Herrn oftmals in dir erneuert werde und dass sie durch dich beredten Ausdruck finde, damit sowohl du, als auch die übrigen Menschen zur Einsicht kommen, welch gefährlicher Täuschung und welch verkehrtem Urteil sie sich betreffs der zeitlichen und sichtbaren Dinge hingeben, indem sie die Eitelkeit lieben. Wer unter den Menschen ist dieser zauberischen Verblendung durch unmäßige Habsucht nicht verfallen? Alle setzen insgemein ihr Vertrauen auf das Gold und die zeitlichen Güter. Um diese zu vermehren, strengen sie alle menschlichen Kräfte an; dazu verwenden sie das Leben und die Zeit, die ihnen verliehen ist, um die ewige Ruhe und Seligkeit zu verdienen. So sehr verlieren sie sich in dieses Labyrinth von Peinen und Sorgen, dass es scheint, sie wüssten gar nichts von Gott und seiner Vorsehung; denn sie denken nicht daran, ihn um das zu bitten, was sie begehren, und sie begehren es auch nicht auf solche Weise, dass sie es von Gott erbitten und erwarten würden. Auf diese Weise aber verlieren sie alles, weil sie sich in allem auf ihre Sorgfalt, auf Lüge und Täuschung verlassen und hiervon die Verwirklichung ihrer irdischen Wünsche erwarten. Diese blinde «Habsucht ist die Wurzel aller Übel (1 Tim 6,10)», denn der Herr, über solche Verkehrtheiten erzürnt, verlässt zur Strafe dafür die Menschen, die sich dieser schändlichen Sklaverei der Habsucht hingeben; durch diese wird dann ihr Verstand verblendet und ihr Wille verhärtet. Darauf wendet der Allerhöchste zu noch größerer Strafe seine Blicke von ihnen weg, da sie seinen Augen ein Gegenstand des Abscheus sind. Er entzieht ihnen seinen väterlichen Schutz, und damit ist das Maß des Elendes, das es im menschlichen Leben gibt, voll.

437. Allerdings kann sich niemand vor den Augen des Herrn verbergen; wenn aber die Übertreter und Feinde seines Gesetzes ihn erbittern, so wendet er seinen liebevollen Blick und die Wachsamkeit seiner Vorsehung von ihnen ab; dann sind sie ihrem eigenen Begehren überlassen und haben keinen Teil mehr an der väterlichen Sorge, welche Gott für alle trägt, die auf ihn all ihr Vertrauen setzen. Wer auf sein eigenes Bemühen baut und auf das Gold, welches man mit den Händen greifen und mit den Sinnen wahrnehmen kann, der wird zwar die Frucht, die er davon erwartete, ernten; aber so groß der Abstand ist zwischen Gott und seiner unendlichen Macht und zwischen der Niedrigkeit und Beschränktheit der Menschen, so groß ist auch der Unterschied zwischen dem Erfolg der menschlichen Habgier und zwischen dem der göttlichen Vorsehung. Gott macht sich zum Helfer und Beschützer der Demütigen, die auf ihn ihr Vertrauen setzen. Auf diese schaut Seine Majestät mit zärtlicher Liebe herab, an diesen hat er seine Freude, sie trägt er an seiner Brust und achtet auf all ihre Wünsche und Anliegen. Mein heiliger Bräutigam Joseph und ich, wir waren arm und litten große Not; doch niemals vermochte diese die Pest der Habsucht und des Geizes in unser Herz einzuführen. Wir waren einzig besorgt für die Ehre des Allerhöchsten und überließen uns seiner treuen und liebevollen Fürsorge. Dadurch wurde er bewogen, soviel für uns zu tun, als du gesehen und beschrieben hast; denn er hat unserer Armut auf verschiedene Weise abgeholfen und sogar den himmlischen Geistern, die ihm dienen, befohlen, uns die Nahrung zu besorgen und zu bereiten.

438. Damit will ich jedoch nicht sagen, dass die Menschen dem Müßiggang und der Nachlässigkeit sich hingeben sollen; es ist im Gegenteil gerecht, dass alle arbeiten; denn nicht arbeiten ist gleichfalls ein verwerfliches Laster. Aber weder die Muße noch die Sorge dürfen übertrieben sein. Das Geschöpf darf nicht auf sein eigenes Bemühen vertrauen; dieses darf die Liebe zu Gott nicht schwächen oder gar ersticken. Der Mensch soll nicht mehr verlangen, als was genügt, um mäßig zu leben. Er soll auch nicht glauben, dass ihm hierzu Gottes Vorsehung mangle; und wenn sie auch lange auszubleiben scheint, so darf man deswegen doch nicht traurig und misstrauisch werden Anderseits soll derjenige, welcher Überfluss hat, nicht auf diesen vertrauen. Er darf sich nicht dem Müßiggang hingeben und vergessen, dass er ein Mensch ist, der zu den Beschwerden der Arbeit verurteilt ist. So muss man also den Überfluss wie die Armut Gott zuschreiben und beides auf heilige und geordnete Weise zur Ehre Gottes benützen, der alles erschaffen hat und alles regiert. Wenn die Menschen dieser Lehre folgten, so würde niemand der wahrhaft väterlichen Hilfe des Herrn entbehren dem Armen wäre seine Not, dem Reichen sein Wohlergehen kein Anlass zur Sünde. Du, meine Tochter, sollst diese Lehre ausüben; und obwohl ich dieselbe durch dich allen Menschen gebe, so musst du sie doch insbesondere deinen Untergebenen beibringen, damit sie nicht betrübt und verzagt werden, wenn sie Not leiden, und damit sie nicht übermäßig besorgt seien für Nahrung und Kleidung, sondern auf Gott vertrauen und seiner Vorsehung sich überlassen; denn ich versichere sie: wenn sie seine Liebe erwidern, wird ihnen das Nötige niemals fehlen Ermahne sie auch, dass sie bei ihren Unterhaltungen von heiligen, göttlichen Dingen sprechen und dabei Gott loben und preisen, nach der Lehre ihrer Meister, der Heiligen Schrift und anderen heiligen Bücher. Ihr Wandel sei im Himmel und ihr Verkehr sei mit Gott, mit mir, ihrer Mutter und Oberin, sowie mit den Engeln, um diesen in Liebe zu gleichen.

SIEBTES HAUPTSTÜCK: Maria trifft Vorbereitungen auf die Geburt des göttlichen Kindes

Die heiligste Jungfrau bereitet die Windeln und Linnen für das göttliche Kind mit dem glühendsten Verlangen, es zu sehen.

439. Die Geburt des göttlichen Kindes war bereits nahe. Die heiligste Jungfrau wusste zwar wohl, dass es nötig sei, die Windeln und anderen Bedarf herzurichten; um aber in allem mit der Fülle himmlischer Weisheit vorzugehen, wollte sie ohne den Willen und Befehl des Herrn, sowie ihres heiligen Bräutigams nichts beginnen, damit sie so in allem den Pflichten einer gehorsamen und treuen Dienerin nachkomme. Allerdings hätte sie nach eigenem Ermessen tun können, was einzig ihr Amt als Mutter und als ausschließliche Mutter ihres heiligsten Sohnes betraf, der ja sein Leben keinem anderen Geschöpf verdankte; aber sie tat es nicht, sondern sprach darüber zuvor mit ihrem heiligen Bräutigam Joseph und sagte zu ihm: «Mein Gebieter, es ist jetzt Zeit, dass wir für die Geburt meines heiligsten Sohnes die nötigen Gegenstände bereiten. Zwar will Seine unendliche Majestät behandelt werden wie die anderen Kinder der Menschen; er lässt sich herab, ihre Leiden zu teilen; allein wir unsererseits müssen in dem Dienst und der Pflege, welche wir seiner Kindheit angedeihen lassen, an den Tag legen, dass wir ihn als unsern wahren Gott, als unseren König und Herrn anerkennen. Wenn du es erlaubst, werde ich beginnen, die Windeln und das Linnenzeug für ihn zu bereiten. Ich habe schon ein Stück Linnen, von meiner Hand gesponnen, das jetzt zu den ersten Windeln dienen wird; du aber, mein Gebieter, sorge für ein Stück weicher, feiner Wolle von gewöhnlicher Farbe, damit wir daraus die Bettücher bereiten. Später werde ich ihm ein ungenähtes, gewobenes und ihm passendes Unterkleid machen. Damit wir dies alles in rechter Weise vollbringen, wollen wir ein besonderes Gebet verrichten und Gott bitten, er möge uns lenken und leiten und seinen heiligen Willen uns kundgeben, damit wir zu seinem größeren Wohlgefallen handeln.»

440. Der hl. Joseph antwortete: «Meine Braut und Herrin, könnte ich mit meinem Herzblut meinem Herrn und Gott dienen und vollbringen, was du befiehlst, ich würde mich glücklich schätzen, dies unter den heftigsten Peinen zu vergießen. Da dies aber nicht möglich ist, so möchte ich wenigstens reiche Schätze und Goldstoffe haben, um dir bei dieser Gelegenheit damit zu dienen. Ordne nur an, was geziemend ist; ich werde dir als dein Diener in allem gehorchen.» Dann verrichteten sie ein Gebet, und der Allerhöchste antwortete ihnen, einem jeden im besondern, doch mit den nämlichen Worten. Er bestätigte aufs neue, was er der heiligsten Jungfrau schon öfters mitgeteilt hatte, indem er zu Maria und zum hl. Joseph sprach: «Ich bin vom Himmel auf die Erde herabgekommen, um die Demut zu erhöhen und den Hochmut zu erniedrigen, um die Armut zu ehren und den Reichtum zu verachten, um den Trug zu vernichten und die Wahrheit zu gründen und den Leiden die gebührende Hochachtung zu verschaffen. Darum ist es mein Wille, dass ihr mich meiner Menschheit nach äußerlich behandelt, wie wenn ich euer beider Kind wäre; im Inneren dagegen werdet ihr mich als den Sohn meines ewigen Vaters und als wahren Gott anerkennen, mit der Ehrfurcht und Liebe, die mir als Gottmensch gebührt.»

441. Durch diese göttliche Stimme wurden Maria und Joseph in der Weisheit, mit welcher sie bei der Pflege des göttlichen Kindes vorzugehen hatten, bestärkt. Sie berieten nun, welches die erhabenste und vollkommenste Art und Weise sei, das Kind, soweit es bloßen Geschöpfen möglich ist, als ihren wahren, unendlich großen Gott zu verehren und es zugleich vor den Augen der Welt zu behandeln, als wäre es ihr beider Kind, da die Menschen dies meinen würden und der Herr selbst es so wollte. Diesen Beschluss führten sie gemäß dem Befehle des Herrn mit solcher Vollkommenheit aus, dass es dem ganzen Himmel zur Bewunderung gereichte. Ich werde hierüber in der Folge noch mehreres anführen. Sie sprachen sich auch dahin aus, dass es ihre Pflicht sei, im Dienst des göttlichen Kindes alles zu tun, was innerhalb der Grenzen ihres armen Standes nur möglich sei, ohne hierin zuviel oder zuwenig zu tun, damit so das «Geheimnis des Königs» unter dem Schleier der niedrigen Armut verborgen bleibe und ihrer glühenden Liebe doch gestattet sei, ihr Mögliches zu tun. Der hl. Joseph verschaffte sich darauf als Preis für einige Handarbeiten für zwei Stücke Wollstoff, wie seine himmlische Braut gesagt hatte; das eine war weiß, das andere bräunlichgrau, beide so gut, als er sie nur bekommen konnte. Aus diesen schnitt die Himmelskönigin das erste Wickelzeug für ihr heiligstes Kind. Von dem Linnen, die sie selbst gesponnen und gewoben, verfertigte sie die Hemdlein und Windeln, um das Kind darin zu wickeln. Von solchen Händen verfertigt, war dieses Linnen sehr fein. Die heiligste Jungfrau hatte schon damals, als sie mit dem hl. Joseph ihr Haus bezog, dieses Linnen zu verfertigen angefangen, in der Absicht, sie im Tempel aufzuopfern. Diese Bestimmung wurde nun freilich in eine andere, viel bessere umgeändert; allein Maria brachte doch alles das, was nach der Ausstattung des göttlichen Kindes an Linnen noch übrig blieb, im Tempel zu Jerusalem als Opfer dar. Alle diese Tücher und überhaupt die ganze Ausstattung des göttlichen Kindes nähte und verfertigte die heiligste Jungfrau mit eigenen Händen, und zwar beständig kniend und unter Tränen unvergleichlicher Andacht. Der hl. Joseph dagegen suchte Blumen, Kräuter und andere wohlriechende Dinge, die er finden konnte; aus diesen bereitete die sorgfältige Mutter ein Wasser von himmlischem Wohlgeruch, womit sie das dem künftigen Opfer geweihte Wickelzeug besprengte; dann faltete sie es zusammen und legte es in ein Kästchen, in welchem sie es später, wie wir noch hören werden, mit nach Bethlehem nahm.

442. Diese Arbeiten der heiligsten Himmelskönigin Maria darf man aber nicht, wie ich sie erzähle, bloß ihrem Äußeren nach, als eine Sache ohne Seele betrachten und auffassen; man muss sie sich vielmehr vorstellen, wie sie waren: bekleidet mit Schönheit, gefertigt mit der Fülle von Heiligkeit und Seelengröße, bereitet mit der höchsten, alle menschliche Vorstellung übersteigenden Vollkommenheit; denn alle Werke, welche der göttlichen Weisheit gewidmet waren, verrichtete Maria mit großartiger Weisheit, ja als die Mutter der Weisheit und Königin aller Tugenden. Sie brachte das Opfer der Einweihung des neuen Tempels des lebendigen Gottes in der heiligsten Menschwerdung ihres Sohnes dar, der bald zur Welt geboren werden sollte. Die erhabene Königin erkannte weit besser als alle übrigen Geschöpfe die unvergleichliche Hoheit dieses Geheimnisses, dass Gott Mensch werde und auf die Welt komme, und darum wiederholte sie oftmals, nicht als ob sie zweifelte, sondern aus Verwunderung, mit glühender Liebe und tiefster Ehrfurcht die Worte, welche Salomon sprach, nachdem er den Tempel gebaut hatte: «Ist es denn möglich, dass Gott mit den Menschen auf Erden wohne? Wenn der Himmel und die Himmel der Himmel zu eng sind, um dich zu fassen, wie viel mehr dieses Haus deiner Menschheit, welches in meinem Schoß errichtet ist? (2 Chr 6,18)» Wenn jener Tempel, der doch nur dazu bestimmt war, dass der Herr die darin verrichteten Gebete anhöre, mit solcher Pracht, mit solchem Aufwand von Gold und Silber, von Schätzen und Opfern gebaut und eingeweiht wurde, was wird erst die Mutter des wahren Salomon getan haben bei der Errichtung und Weihe des lebendigen Tempels, in welchem die ganze Fülle der ewigen, unendlichen Gottheit leibhaftig wohnte? Alles, was in den Opfern und Schätzen jenes vorbildlichen Tempels wie im Schatten vorgestellt war, hat die seligste Jungfrau verwirklicht, nicht durch Aufwand von Gold, Silber und reichen Stoffen, denn solche Gaben verlangte Gott damals nicht, sondern durch die heldenmütigen Tugenden und durch die Reichtümer der himmlischen Gnaden und Gaben, mit welchen sie ihre Lobgesänge darbrachte. Sie brachte Gott die Opfer ihres liebeglühenden Herzens dar; denn indem sie die ganze Heilige Schrift überschaute, wandte sie die Hymnen, Psalmen und Lobgesänge auf dieses Geheimnis an und fügte noch viel mehr hinzu. So erfüllte sie die alten Vorbilder auf wahre, geheimnisvolle Weise durch Übung der Tugenden in inneren und äußeren Akten. Sie lud auch alle Geschöpfe ein, Gott, ihren Schöpfer, zu loben, zu ehren und seine Ankunft zu erwarten, um dadurch geheiligt zu werden. An vielen dieser heiligen Werke Mariä nahm auch ihr glückseliger Bräutigam Joseph teil.

443. Keines Menschen Zunge, kein erschaffener Verstand vermag zu erklären, welch erhabene Verdienste die Himmelskönigin durch diese Tugendübungen sammelte und welch großes Wohlgefallen der Herr daran fand. Wenn schon der geringste Grad der Gnade, welchen jedwedes Geschöpf durch einen Tugendakt erwirbt, mehr wert ist als die ganze Welt, welcher Wert muss dann die Gnade erreicht haben bei derjenigen, die nicht nur die alten Opfer und Gaben und alle Verdienste des Menschen, sondern sogar die der höchsten Seraphim übertroffen hat, und zwar weitaus! Ja, die Liebesglut der Himmelskönigin, mit der sie ihren Sohn und wahren Gott erwartete, um der selben in ihre Arme zu schließen, an ihrer Brust zu nähren, mit ihrer Hand zu speisen, zu pflegen, zu bedienen und ihn, der von ihrem Fleisch und Blut die menschliche Natur angenommen anzubeten, diese Liebesglut erreichte derart den äußerste Höhepunkt, dass ihr Leben von diesem süßesten Feuer verzehrt worden wäre, wenn Gott nicht durch wunderbare Hilfe sie gestärkt und vor dem Tod bewahrt hätte. Oftmals hätte sie das Leben verloren, wenn ihr heiligster Sohn dasselbe nicht bewahrt hätte. Denn fast immer schaute sie ihn in ihrem jungfräulichen Schoß; sie sah mit himmlischer Klarheit dessen Menschheit vereinigt mit der Gottheit, sowie alle inneren Akte seiner Seele, die Haltung seines Körpers und die Gebete, welche er für sie, für den hl. Joseph, für das ganze Menschengeschlecht und insbesondere für die Auserwählten verrichtet. Alle diese und andere Geheimnisse schauend, entbrannte sie ganz in Nachahmung und Lobpreis; trug sie ja doch in ihrem Herzen das Feuer, welches erleuchtet, aber nicht verzehrt.

444. Von diesem göttlichen Feuer durchglüht, sprach sie manchmal zu ihrem heiligsten Sohn: «Meine süßeste Liebe, Schöpfer des Weltalls, wann werden meine Augen sich am Glanz deines göttlichen Antlitzes erfreuen? Wann werden meine Arme geweiht als lebendiger Altar des Opfers, welches dein ewiger Vater erwartet? Wann werde ich als deine Dienerin den Boden küssen, den deine Füße berühren? Wann werde ich als Mutter zugelassen werden zu dem Kuss, den meine Seele ersehnt, damit ich mit deinem göttlichen Atem auch an deinem Geiste teilnehme? Wann wird das unzugängliche Licht, welches du bist, wahrer Gott vom wahren Gott, Licht vom Licht, den Menschen erscheinen, nachdem so viele Jahrhunderte dich unserem Blick verborgen hatten? Wann werden die in den Banden der Sünde schmachtenden Kinder Adams ihren Erlöser schauen, wann ihr Heil sehen, wann ihren Lehrer, Bruder und wahren Vater in ihrer Mitte finden? O Licht meiner Seele, meine Stärke, mein Geliebter, für den ich sterbend lebe! O Kind meines Schoßes, wie soll ich das Amt einer Mutter an dir erfüllen, da ich nicht einmal verstehe, dir als Dienerin zu dienen, und selbst diesen Titel nicht verdiene? Wie soll ich elender, armer Erdenwurm dich würdig behandeln? O unendliche Heiligkeit und Güte, wie soll ich dich bedienen und pflegen? Ich Staub und Asche, wie werde ich es wagen, in deiner Gegenwart zu sprechen und in deiner Nähe zu verbleiben? Herr meines ganzen Wesens, der du mich geringste unter den Töchtern Adams erwählt hast, leite meine Handlungen, lenke mein Verlangen und entflamme meine Gefühle, damit es mir gelinge, dir in allem wohlzugefallen. Was soll ich aber tun, mein höchstes Gut, wenn du meinen Schoß verlässest und die Welt betrittst, um Schmach zu leiden und zu sterben für das Menschengeschlecht? Was soll ich tun, wenn ich nicht mit dir sterben, und dich, mein Leben, zum Opfer begleiten darf? Möge die Ursache, welche dein Leben zerstören soll, auch das meinige zerstören, da ja beide so innig vereinigt sind! Viel weniger als dein Tod würde genügen, um die Welt und Tausende von Welten zu erlösen. Lass also mich für dich sterben und deine Schmach leiden, du aber heilige die Welt und erleuchte die Finsternis der Menschen durch dein Licht und deine Liebe! Kann aber der Ratschluss des ewigen Vaters nicht zurückgenommen werden, damit die Erlösung überreich sei und deine überaus große Liebe befriedigt werde, so nimm wenigstens meine Wünsche gnädig an und lass mich teilnehmen an allen Mühsalen deines Lebens, weil du mein Sohn und Herr bist.»

445. Solche und ähnliche Anmutungen der süßesten Liebe verliehen der Himmelskönigin in den Augen des Fürsten der Ewigkeit, den sie in ihrem jungfräulichen Schoß trug, die höchste Schönheit. Ihre Anmutungen entsprachen immer den Handlungen seiner heiligsten, vergöttlichten Menschheit; denn die würdige Mutter schaute dieselben, um sie nachzuahmen. Zuweilen warf sich das göttliche Kind im Heiligtum des Mutterschoßes auf die Knie nieder, um zu seinem Vater zu beten; manchmal betete es mit in Kreuzform ausgespannten Armen, gleich als wollte es sich jetzt schon für das Kreuz einüben. Und wie der menschgewordene Sohn Gottes jetzt vom höchsten Himmelsthron aus alles sieht, so schaute und kannte er schon im Mutterschoß kraft der Weisheit seiner heiligsten Menschheit alles. Er sah alle Menschen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft samt allen ihren Gedanken und Werken; kein einziger war ihm verborgen und alle betrachtete er als ihr Lehrmeister und Erlöser. Da nun alle diese Geheimnisse seiner göttlichen Mutter offenbar waren und sie mit Gnaden und himmlischen Gaben erfüllt war, um dieser Kenntnis entsprechend zu handeln, so handelte sie in allem mit so erhabener Heiligkeit und Vollkommenheit, dass der menschliche Verstand keine Worte findet, um es auszudrücken. Wenn jedoch unser Verstand nicht verkehrt, unser Herz nicht gefühllos und hart ist wie Stein, so muss es beim Schauen und, ich möchte sagen, beim Fühlen so wunderbarer und heilbringender Werke notwendig von liebevollem Schmerz und demutsvoller Dankbarkeit durchdrungen werden.

LEHRE, welche mir die heiligste Königin Maria gab

446. Meine Tochter, dieses Hauptstück soll dir zur Lehre dienen, mit welcher Ehrfurcht alle Gegenstände, welche zum Dienst Gottes geweiht und geheiligt sind behandelt werden müssen. Es soll aber auch die Unehrerbietigkeit und Nachlässigkeit durch welche selbst die Diener des Herrn in dieser Hinsicht Gott beleidigen, hier ihren Tadel finden. Sie mögen ja nicht gering anschlagen oder vergessen, dass die göttliche Majestät gegen sie erzürnt ist wegen der rohen Unanständigkeit und Undankbarkeit, mit welcher sie die Ornamente und geweihten Gegenstände behandeln, die sie gewöhnlich ohne irgendwelche Aufmerksamkeit und Ehrfurcht handhaben. Viel größer noch ist der Zorn des Allerhöchsten gegen jene, welche die Früchte und Einkünfte aus seinem kostbaren Blut zu niedrigen Eitelkeiten, zu weltlichen, ja noch ungeziemenderen Dingen verwenden. Für ihr Vergnügen und ihre Bequemlichkeit suchen sie das Kostbarste und Geschätzteste, für den Dienst und die Ehre Gottes aber verwenden sie das Gröbste, Gemeinste und Verächtlichste. Merke wohl, wenn jemand so handelt, namentlich betreffs des Linnen, welche, wie die Korporalien und Purifikatorien, mit dem Fleisch und Blut meines heiligsten Sohnes in Berührung kommt, dann sind die heiligen Engel, welche bei der Feier des erhabensten und heiligsten Messopfers gegenwärtig sind, ganz entrüstet; sie kehren ihre Blicke von solchen Dienern ab und staunen, dass der Allmächtige solche Langmut mit ihnen trägt und ihre Verwegenheit und Unehrerbietigkeit nachsieht. Freilich sind nicht alle in dieser Weise schuldbar, aber doch viele; und nur wenige zeichnen sich aus durch Eifer und Sorgfalt für den göttlichen Kult und behandeln die geweihten Gegenstände äußerlich mit größerer Ehrerbietigkeit; jedoch selbst von diesen wenigen tun dies nicht alle mit rechter Absicht und aus schuldiger innerer Ehrfurcht, sondern aus Eitelkeit und anderen irdischen Beweggründen, so dass diejenigen sehr selten sind, die den Schöpfer mit reinem, aufrichtigem Herzen im Geiste und in der Wahrheit anbeten.

447. Erwäge, meine Teuerste, was werden wohl wir hiervon denken, wir, die wir der Anschauung der unfassbaren Wesenheit Gottes genießen und sehen, wie er in seiner unermesslichen Güte die Menschen erschaffen hat, damit sie ihn anbeten und mit Ehrfurcht ihm dienen, wie er ihnen dies als Naturgesetz eingeprägt und alle anderen Geschöpfe ihnen huldvoll zu diesem Zweck übergeben hat -, was werden wir denken, wenn wir die Undankbarkeit sehen, mit der die Menschen ihrem unendlich großen Gott vergelten, indem sie mit den Gütern, die sie von seiner freigebigen Hand empfangen haben, karg und geizig umgehen, wenn es sich darum handelt, ihn zu ehren; denn zu diesem Zweck wählen sie das Gemeinste und Elendeste aus, für ihre Eitelkeiten aber das Kostbarste und Wertvollste. Dieses sündhafte Benehmen wird jedoch wenig beachtet und erkannt; darum will ich, dass du dasselbe nicht nur mit wahrem Schmerz beweinst, sondern auch, so lange du Oberin bist. nach Kräften gut machest. Gib dem Herrn das Beste und schärfe deinen Nonnen ein, dass sie sich lauteren, frommen Herzens mit der Anfertigung und Reinigung der geweihten Gegenstände beschäftigen, und zwar nicht bloß für ihr Kloster, sondern auch für die armen Kirchen, die nicht hinreichend mit Korporalien und anderen Ornamenten versehen sind. Sie mögen ruhig vertrauen, dass der Herr ihnen diesen gerechten Eifer für seinen heiligen Kult vergelten, ihrer Armut zu Hilfe kommen und als Vater für die Bedürfnisse des Klosters sorgen wird; es wird deswegen niemals ärmer werden. Dies ist das geeignetste und geziemendste Geschäft für die Bräute Christi, und hierzu sollten sie die Zeit verwenden, welche ihnen nach dem Chor und den anderen Verpflichtungen des Gehorsams übrig bleibt. Wenn alle Klosterfrauen sich diesen so ehrenvollen, löblichen und gottgefälligen Beschäftigungen mit Eifer hingäben, so würde es ihnen nie am nötigen Lebensunterhalt mangeln; sie würden auf Erden einen englischen, himmlischen Stand bilden. Dagegen werden viele, weil sie diesen Dienst des Herrn vernachlässigen, von seiner Hand verlassen und wenden sich nun zu sehr gefährlichen Zerstreuungen und Leichtfertigkeiten, die für meine Augen ein solcher Gräuel sind dass du sie nicht beschreiben, ja nicht einmal daran denken sollst, es sei denn, um sie aus dem Grund deines Herzens zu beweinen und Gott um Abhilfe für diese Sünden zu bitten, die so sehr ihm missfallen, ihn beleidigen und erzürnen.

448. Da jedoch mein Herz aus besonderen Gründen den Nonnen deines Klosters mit Liebe zugetan ist, so will ich, dass du sie in meinem Namen und Auftrag ermahnst und mit liebevoller Gewalt antreibst, immer zurückgezogen zu leben, tot für die Welt und alles auf ewig vergessend, was in der Welt ist. Sie sollen einen himmlischen Wandel miteinander führen, über göttliche Dinge sich unterhalten und mehr als alles andere den Frieden und die Liebe unversehrt bewahren, wie du sie so oft ermahnst. Gehorchen sie mir hierin, so sichere ich ihnen meiner ewigen Segen zu; ich bin dann ihre Mutter, Beschützerin und Verteidigerin, wie ich die deine bin. Ebenso verspreche ich ihnen meine beständige, wirksame Fürsprache bei meinem heiligsten Sohn, wenn sie mich nicht betrüben. Du sollst ihnen darum unablässig die besondere Andacht und Liebe zu mir empfehlen, damit sie diese ihrem Herzen tief einprägen, durch diese Treue von ihrer Seite werden sie alles erlangen, was du ihnen wünschst, ja ich werde noch mehr für sie tun. Damit sie sich freudig und willig mit dem, was den Dienst Gottes betrifft beschäftigen und alles darauf Bezügliche mit Eifer besorgen, so erinnere sie, was ich zum Dienst meines göttlichen Sohn und des Tempels getan habe. Wisse, dass die heiligen Engel von Bewunderung erfüllt waren über den Eifer, die sorgsam Aufmerksamkeit und Reinlichkeit, mit welcher ich alles, was zum Dienst meines Sohnes und Herrn gehörte, behandelt habe. Mit dieser liebevollen und ehrerbietigen Sorgfalt richtete ich schon zum voraus alles zurecht, was zur Pflege des göttlichen Kindes vonnöten war, so dass ich nie in die Lage kam, dass, wie einzelne glauben, mir etwas abging, was zu seiner Bedeckung und Bedienung erforderlich war. Dies wirst du im ganzen Verlauf dieser Geschichte bestätigt finden; denn in dieser Sache nachlässig oder unaufmerksam zu sein, hätte sich mit meiner Klugheit und Liebe nicht vertragen.

ACHTES HAUPTSTÜCK: Befehl des Kaisers Augustus, das Reich zu beschreiben

Der Kaiser Augustus erlässt den Befehl das ganze Reich zu beschreiben. Verhalten des hl Joseph, als er dieses erfuhr.

449. Durch Gottes unveränderlichen Willen war es bestimmt, dass der Eingeborene des Vaters in der Stadt Bethlehem zur Welt kommen sollte. In Kraft dieses göttlichen Ratschlusses hatten die Heiligen und Propheten des Alten Bundes dieses Geheimnis schon lange vor seiner Ausführung vorausgesagt; denn die Bestimmung des unumschränkten göttlichen Willens ist immer unfehlbar: eher würden Himmel und Erde vergehen, als dass deren Erfüllung unterbliebe; denn niemand kann ihr widerstehen. Zur Ausführung dieses Ratschlusses bediente sich der Herr eines Befehls, welchen der Kaiser Augustus im römischen Reich ergehen ließ, wonach, wie der hl. Lukas berichtet, die Bewohner des ganzen Erdkreises aufgeschrieben und gezählt werden sollten. Das römische Reich erstreckte sich damals über den größten Teil des bekannten Erdkreises, und darum nannten sich die Römer die Herren der ganzen Welt, indem sie den Rest nicht rechneten. Diese Beschreibung bestand darin, dass sich alle als Untertanen des Kaisers erklärten und ihm als dem natürlichen Herrn in zeitlichen Dingen eine bestimmte Steuer entrichteten. Zwecks dieser Volkszählung ging ein jeder in seine Vaterstadt, um sich dort in das öffentliche Register einschreiben zu lassen. Dieses Edikt kam auch nach Nazareth. Joseph erhielt davon Nachricht, da er eben vom Haus abwesend war. Traurig und bekümmert kehrte er nach Haus zurück und erzählte diese Neuigkeit seiner heiligen Braut. Die weiseste Jungfrau antwortete ihm: «Diese Verordnung des irdischen Kaisers soll dich, mein Herr und Bräutigam, nicht beunruhigen; der Herr und König des Himmels und der Erde ist es, welcher alles fügt, was uns begegnet. Seine Vorsehung wird uns in jeder Lage beistehen und uns leiten. Überlassen wir uns ihm voll Vertrauen, wir werden nicht getäuscht werden.

450. Der heiligsten Jungfrau Maria waren alle Geheimnisse ihres heiligsten Sohnes bekannt. Sie kannte die Prophezeiungen und deren Erfüllung und wusste darum auch, dass ihr und des Vaters Eingeborener als armer Fremdling zu Bethlehem geboren werde sollte. Allein sie offenbarte dem hl. Joseph nichts davon, da sie ohne Befehl des Herrn ihr Geheimnis nicht mitteilen wollte. Was er ihr nicht zu sagen befahl, darüber schwieg sie mit wunderbarer Klugheit ganz und gar, trotz des Verlangens, ihren treuesten, heiligen Bräutigam zu trösten. Sie wollte sich gehorsam der Leitung Josephs überlassen und nicht gegen den Rat des Weisen (Spr 3, 7) nach eigener Klugheit handeln. Sie besprachen also miteinander, was sie unter diesen Umständen zu tun hätten, da die Zeit, in welcher die heiligste Jungfrau gebären sollte, nahe bevorstand. Der hl. Joseph sprach: «Königin des Himmels und der Erde, meine Herrin, wenn du keine andere Weisung von Gott erhalten hast, so glaube ich der Verordnung des Kaisers Folge leisten zu müssen. Freilich würde es genügen, dass ich allein abreise, denn der Befehl ist an die Familienhäupter gerichtet; doch wage ich es nicht, dich allein und ohne meinen Beistand zu lassen. Auch könnte ich ohne deine Gegenwart nicht leben. Ferne von dir würde ich keinen Augenblick Ruhe finden, und mein Herz hätte keinen Frieden, so lange ich deines Anblickes beraubt wäre. Dass du aber mit mir in unsere Vaterstadt Bethlehem gehst, wo wir nach dem Befehl des Kaisers uns angeben müssen, das scheint mir wegen der bevorstehenden Geburt unmöglich zu sein. Mit Rücksicht auf diesen Umstand, und weil ich überdies ganz arm bin, wage ich es nicht, dich solch offenbarer Gefahr auszusetzen. Mein Schmerz wäre ja unaussprechlich groß, wenn die Geburt unterwegs stattfände und ich deiner Not nicht abhelfen könnte. Dies ist die Sorge, welche mich drückt. Ich bitte dich darum, meine Herrin, stelle sie dem Allerhöchsten vor und bete, dass er mein Verlangen erhöre und mich nicht von dir trenne.»

451. Die demütige Braut folgte dem Willen des hl. Joseph. Zwar kannte sie Gottes Willen, aber sie wollte doch diese Handlung des lauteren Gehorsams als untertänigste Untergebene nicht unterlassen. Sie trug also dem Herrn das Verlangen ihres Bräutigams vor, und Seine Majestät antwortete ihr: «Meine Freundin, meine Taube, gehorche dem Vorschlag und dem Wunsch meines Dieners Joseph; begleite ihn auf der Reise. Ich werde mit dir sein und mit väterlicher Liebe dir beistehen. Ich werde dich in den Mühen und Trübsalen, welche du für mich leiden wirst, beschützen. Sie werden zwar groß sein, doch mein mächtiger Arm wird dich aus allen glorreich herausführen. Deine Schritte werden schön sein in meinen Augen. Begib dich also ohne Furcht auf die Reise; denn dies ist mein Wille.» Dann gab der Herr den heiligen Schutzengeln vor den Augen der göttlichen Mutter den erneuerten Befehl, ihr auf dieser Reise mit ganz besonderer Sorgfalt und Aufmerksamkeit beizustehen, mit Rücksicht auf die großen und wunderbaren Ereignisse, welche während ihrer stattfinden sollten. Außer den tausend Engeln, welche für gewöhnlich Maria zur Seite standen, wies der Herr noch neuntausend andere Engel an, ihre Königin zu begleiten und zu bedienen, so dass also vom ersten Tag der Reise an im ganzen zehntausend Engel stets in ihrer Nähe sein sollten. Als treueste Diener des Herrn erfüllten, wie ich in der Folge sagen werde, alle diese Engel den Befehl Gottes und dienten ihrer Gebieterin. Die große Königin selbst wurde durch neues göttliches Licht vorbereitet und gestärkt; sie erhielt neue Aufschlüsse über die Leiden, welche nach der Geburt des göttlichen Kindes ihrer warteten, wie z. B. über die Verfolgung des Herodes und andere bevorstehende Sorgen und Trübsale. Zu allen diesen Leiden bot sie bereit und unerschrocken (Ps 119, 60) ihr unüberwindliches Herz an und dankte dem Allerhöchsten für alles, was er an ihr tat und verfügte.

452. Die große Himmelskönigin kehrte darauf zum heiligen Joseph zurück und brachte ihm die Antwort, Gott wolle, dass sie ihm gehorche und ihn auf seiner Reise nach Bethlehem begleite. Ihr heiliger Bräutigam, hierüber hocherfreut und getröstet, dankte dem Herrn für diese große Gnade mit Akten tiefer Demut und Ehrfurcht und sprach zu seiner jungfräulichen Braut: «Meine Herrin, Ursache meiner Freude und meines Glückes, ich bedaure nur, dass du so viele Mühsale auf dieser Reise ertragen musst. da ich die Mittel nicht habe, dieselben zu beseitigen und dir die Bequemlichkeiten diese Reise gerne verschaffen möchte. Doch zu Bethlehem werden wir Verwandte, Bekannte und Freunde aus unserer Familie treffen. Sie werden uns, wie ich hoffe, mit Liebe aufnehmen. Dort kannst du von den Mühen der Reise ausruhen, wenn der Allerhöchste dies nach dem Wunsche deines Dieners so fügt.» So rechnete Joseph, der heilige Bräutigam, in seinem liebevollen Herzen voraus. Doch der Herr hatte es anders bestimmt, als Joseph damals dachte. Als daher später seine Erwartung fehlschlug, war, wie wir sehen werden, sein Schmerz und seine Betrübnis um so größer. Die seligste Jungfrau Maria wusste zwar wohl, dass es nicht so gehen werde, wie er dachte; doch teilte sie ihm nicht mit, was sie über dieses Geheimnis in Gott voraussah, vielmehr sprach sie, um ihm Mut einzuflößen, also: «Mein Bräutigam und Herr, mit großer Freude mache ich den Weg in deiner Gesellschaft. Wir werden im Namen des Herrn als Arme reisen, denn Seine Majestät verachtet die Armut nicht, da er sie ja mit so großer Liebe sucht. Da sein Schutz in Not und Mühsal uns zugesichert ist, so wollen wir auf denselben vertrauen; ja, mein Gebieter, wirf all deine Sorgen auf ihn!»

453. Sie setzten nun den Tag ihrer Abreise fest und der heilige Joseph suchte in Nazareth sorgfältig nach einem Lasttier, welches die Herrin der Welt tragen sollte. Es war nicht leicht ein solches zu finden, da so viele Leute nach verschiedenen Städten reisten, um der Verordnung des Kaisers zu genügen. Doch nach langem, mühevollem Suchen fand er ein unansehnliches Lasttier, das wir wahrlich glücklich nennen dürfen; es war in der Tat unter allen vernunftlosen Tieren das am meisten beglückte, da es nicht nur die Königin der Welt und mit ihr den König der Könige, den Herrn der Herren getragen hat, sondern auch bei der Geburt des göttlichen Kindes zugegen war und, wie später gesagt wird, diesem die Huldigung leistete, weiche die Menschen ihm verweigerten. Maria und Joseph richteten alles her, was für die Reise, welche fünf Tage in Anspruch nahm, vonnöten war. Der Speisevorrat der heiligen Wanderer war ganz derselbe, wie sie ihn bei ihrer früheren Reise, die sie ins Haus des Zacharias machten, mit sich genommen hatten, und wie er oben im fünfzehnten Hauptstück des dritten Buches Nr. 196 beschrieben worden ist. Er bestand in Brot, Früchten und einigen Fischen, was überhaupt ihre gewöhnliche Nahrung war. Da aber die weiseste Jungfrau durch übernatürliche Erleuchtung wusste, dass sie erst nach langer Zeit in ihr Haus zurückkehren würde, nahm sie nicht bloß die Windeln und Linnen für die Geburt des göttlichen Kindes mit sich, sondern ordnete, wenngleich unvermerkt, alles so an, wie es den Absichten des Herrn und den Ereignissen, welche sie erwartete, angemessen war. Auch gab sie jemand den Auftrag, bis zu ihrer Rückkehr für ihr Haus Sorge zu tragen.

454. Der Tag und die Stunde für die Abreise nach Bethlehem war gekommen. Da der glückselige, treueste Joseph seine himmlische Braut nicht anders als mit außerordentlicher und höchster Ehrfurcht betrachtete, so war er gleich einem wachsamen, eifrigen Diener besorgt, nach allem zu fragen und alles vorzusehen, was ihr angenehm und dienlich sein konnte. Er bat sie inständig, sie möge ihn, wenn er etwa nicht daran denke, auf alles aufmerksam machen, was für ihre Erleichterung, Ruhe und Pflege wünsche, und was zum Wohlgefallen des Herrn, den sie in ihrem jungfräulichen Schoß trug, gereichen könne. Die demütige Königin nahm diese heiligen Wünsche ihres Bräutigams mit Dank entgegen und bezog sie auf die Ehre und den Dienst ihres heiligsten Sohnes. Sie tröstete und ermutigte den hl. Joseph für die Beschwerden der Reise, indem sie ihn aufs neue versicherte, dass Gott auf alle seine Sorgen mit Wohlgefallen blicke. Sie sagte zu ihm, dass sie alle Leiden, die ihnen als Armen auf der Reise zustoßen würden, mit Gleichmut und Freude des Herzens annehmen wollten. Unmittelbar vor dem Antritt der Reise warf sich die Königin des Himmels dem hl. Joseph zu Füßen und bat ihn um seinen Segen. Der Mann Gottes zögerte zwar und machte in Anbetracht der Würde seiner Braut Schwierigkeiten. Allein die Demut Mariä trug den Sieg davon; sie bewog den hl. Joseph, ihr den Segen zu geben. Der Heilige tat es mit großer Furcht und Ehrerbietigkeit, warf sich dann selbst unter einem Strom von Tränen zur Erde nieder und bat die heiligste Jungfrau, sie möge ihn aufs neue ihrem heiligsten Sohn aufopfern und ihm Verzeihung und die göttliche Gnade erlangen. Nach dieser Vorbereitung reisten sie von Nazareth nach Bethlehem ab. Es war mitten im Winter, ein Umstand, welcher die Beschwerden und Mühsale des Weges noch vermehrte. Doch die Mutter des Lebens, die das Leben in ihrem Schoß trug, achtete nur auf die göttlichen Wirkungen; sie dachte nur daran, mit ihrem göttlichen Kind heilige Unterredungen zu führen. Allezeit betrachtete sie es in ihrem jungfräulichen Schoß, machte ihre Anmutungen den seiligen ähnlich und bereitete ihm größeres Wohlgefallen und höhere Ehre, als alle übrigen Geschöpfe zusammen.

LEHRE, welche mir Maria, die heiligste Königin, gab

455. Meine liebe Tochter, in dem ganzen Verlauf meines Lebens, ja in jedem Hauptstück und bei jedem Geheimnisse, welches du beschreibst, wirst du die wunderbare Vorsehung und väterliche Liebe erkennen, welche der Allerhöchste mir, seiner niedrigen Dienerin, zugewendet hat. Freilich kann der menschliche Verstand diese Werke von so wunderbarer Größe, von solch erhabener Weisheit nicht gebührend erfassen und erwägen; doch er muss sie wenigstens aus allen seinen Kräften verehren und sich bereiten, mir nachzufolgen und auf diese Weise auch an den Gnaden teilzunehmen, welche der Herr mir erwiesen hat. Die Menschen dürfen sich nicht einbilden, dass Gott bloß an mir und für mich seine unendliche Heiligkeit, Macht und Güte zeigen wollte; nein, es ist vielmehr gewiss: wenn eine Seele, ja wenn alle Seelen sich der Anordnung und Leitung dieses Herrn ganz und gar überlassen würden, sie würden alsbald auch an sich dieselbe Treue, dieselbe Aufmerksamkeit, dieselbe liebliche Kraft erfahren, mit welcher Gott bei mir alles, was seine Ehre und seinen Dienst betraf, geordnet hat. Sie würden ebenso jene überaus süßen Gnadeneinwirkungen und heiligen Gefühle empfinden, welche ich in der Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen empfunden habe. Sie würden auch nach Verhältnis die Überfülle seiner Gaben empfangen, welche in seiner Gottheit wie in einem unermesslichen Meer zurückgehalten sind. Gleich wie die Wassermassen des Meeres, falls man ihnen einen Kanal öffnete, durch welchen sie ihrem Drang nach einen Ausweg fänden, sich mit unwiderstehlicher Wucht in diesen Kanal ergössen, so würden sich auch die Gnaden und Gaben des Herrn über die vernünftigen Geschöpfe ergießen, wenn diese ihr Herz öffnen und deren Lauf nicht hemmen würden. Aber leider ist diese Wahrheit den Menschen unbekannt, und zwar deshalb, weil sie sich keine Zeit nehmen, über die Werke des Allerhöchsten nachzudenken.

456. Von dir aber verlange ich, dass du diese Wissenschaft dir aneignest und sie deinem Herzen einprägst. Auch sollst du aus meinem Verhalten lernen, dein Inneres und was darin beschlossen ist, geheim zu halten und dich allen willig zu unterwerfen, indem du immer die Meinung anderer deinem eigenen Urteile vorziehst. Und zwar musst du, um deinen Oberen und geistlichen Vätern zu gehorchen, die Augen schließen, selbst wenn du weißt, dass in Bezug auf eine dir aufgetragene Sache das Gegenteil von dem eintreffen wird, was sie vermuten. So wusste auch ich, dass das, was mein heiligster Bräutigam Joseph sich für seine Reise nach Bethlehem versprach, nicht in Erfüllung gehen werde. Gibt dir aber ein Untergebener oder ein Gleichgestellter eine derartige Weisung, so schweige still und befolge sie, soweit dies ohne Sünde oder Unvollkommenheit geschehen kann. Höre alle mit Stillschweigen und Aufmerksamkeit an, um zu lernen. Im Sprechen sei sparsam und zurückhaltend; denn dies verlangt die Klugheit und Umsicht. Endlich erinnere ich dich aufs neue, dass du für alles, was du tust, den Herrn um seinen Segen bittest, damit du nicht von seinem göttlichen Willen abweichest. Hast du Gelegenheit, so bitte auch deinen geistlichen Vater und Führer um seine Erlaubnis und seinen Segen, damit deinen Werken das große Verdienst und die Vollkommenheit nicht abgehe, und du mir das Wohlgefallen bereitest, welches ich von dir erwarte.

NEUNTES HAUPTSTÜCK: Maria und Joseph reisen nach Bethlehem

Die heiligste Jungfrau Maria reist in Gesellschaft ihres heiligen Bräutigams Joseph und in Begleitung der Engel von Nazareth nach Bethlehem.

457. Die reinste Jungfrau Maria und der glorreiche hl. Joseph reisten von Nazareth nach Bethlehem ab. In den Augen der Welt waren sie ebenso verlassene wie arme, niedrige Wanderer; kein Mensch hatte für sie eine höhere Achtung, als wie sie die Demut und Armut der Welt abgewinnen können. Aber, o wunderbare Geheimnisse des Allerhöchsten, verborgen für die Stolzen und unerforschlich für die Klugheit des Fleisches! Nicht verlassen, nicht arm, nicht verachtet machten sie den Weg, sondern beglückt, überreich und hochgeehrt. Sie waren ja in den Augen des ewigen Vaters der teuerste und würdigste Gegenstand seiner unermesslichen Liebe. Sie hatten bei sich den Schatz des Himmels, den Schatz der Gottheit. Der ganze himmlische Hof verehrte sie. Sogar alle leblosen Geschöpfe bezeigten der wahren, lebendigen Arche des Bundes ihre Verehrung, und zwar noch vollkommener, als einstens die Wasser des Jordans dem Schatten- und Vorbild ihre Verehrung bezeigt hatten, indem sie ehrfurchtsvoll sich teilten, um der Bundeslade und allen, die ihr folgten, freien Durchzug zu gestatten (Jos 3,16). Sie waren begleitet von den zehntausend Engeln, welche, wie oben Nr. 451 gesagt wurde, von dem himmlischen Vater angewiesen waren, seinem göttlichen Sohn und dessen heiligster Mutter auf der ganzen Reise zu dienen. Diese himmlischen Scharen gaben ihnen in menschlicher, für die Himmelskönigin sichtbarer Gestalt das Geleite. Eine jede dieser Scharen war glänzender als die Sonne. Mitten unter ihnen ging Maria einher, besser behütet und verteidigt als Salomons Brautbett, welches die sechzig Tapfersten Israels mit Schwertern umgürtet, umstanden (Hld 3, 7). Außer diesen zehntausend Engeln kamen noch viele andere vom Himmel herab, die vom ewigen Vater an seinen eingeborenen, menschgewordenen Sohn und an dessen heiligste Mutter gesandt waren, und von diesen dann mit neuen Botschaften und Aufträgen wieder zum Himmel emporstiegen.

458. Mit diesem den Augen der Menschen verborgenen Gepränge gingen Maria und Joseph ihres Weges, in der festen Zuversicht, dass der Stein der Trübsal ihren Fuß nicht verletzen werde; hatte ja der Allerhöchste seinen Engeln befohlen, sie schützend und schirmend auf ihren Händen zu tragen (Ps 91,12). Und diesen Befehl vollzogen die treuesten Diener, indem sie ihrer großen Königin als Untertanen dienten, voll Bewunderung, Lob und Freude, in einem bloßen Geschöpf so viele Geheimnisse, so große Vollkommenheiten und Würden, ja die Schätze der Gottheit vereinigt zu sehen, und zwar in so würdiger, geziemender Weise, dass selbst ihr englischer Verstand es nicht zu fassen vermochte. Sie sangen dem Herrn neue Loblieder, indem sie ihn als den höchsten «König der Glorie (Ps 24,10)» betrachteten, wie er auf seinem goldenen Thron saß. Die göttliche Mutter aber betrachteten sie bald als die lebendige «Sänfte aus unverweslichem Holz (Hld 3, 9)», bald als die «fruchtbare Ähre» des Gelobten Landes (Lev 23,10), welche das lebendige Weizenkorn in sich barg, bald als das «reiche Kaufmannsschiff (Spr 31,14)», welches dieses Weizenkorn brachte, damit es zu Bethlehem, d. i. im Haus des Brotes, zur Welt käme, um dann später in der Erde sterbend (Joh 12, 24), im Himmel vervielfältigt zu werden.

Die Reise dauerte fünf Tage, denn der hl. Joseph wollte sie aus Rücksicht auf die jungfräuliche Mutter nur ganz langsam machen. Für die Himmelskönigin gab es dabei keine Nacht; denn wenn sie manchmal während eines Teils der Nacht reisten, so verbreiteten die Engel so großen Glanz, wie wenn alle Gestirne des Himmels zumal bei klarstem, heiterstem Mittag mit größter Kraft leuchten würden. In diesen Nachtstunden erfreute sich auch der hl. Joseph dieses Lichtes und des Anblickes der Engel. Alle zusammen bildeten dann einen himmlischen Chor, in welchem die große Königin und ihr Bräutigam mit den erhabenen Geistern abwechselnd wunderbare Loblieder sangen, so dass sich die Gefilde in neue Himmel verwandelten. Die Himmelskönigin aber erfreute sich auf der ganzen Reise des Anblicks und Lichtglanzes ihrer Diener, sowie der lieblichsten innnerlichen Unterredungen mit ihnen.

459. Doch mischte der Herr unter diese wunderbaren Gaben und Freuden auch einige Leiden und Beschwerden, welche seine göttliche Mutter unterwegs trafen. Weil nämlich aus Anlass der kaiserlichen Verordnung gar viele Leute auf der Reise waren, so entstand in den Herbergen ein großer Volkszulauf, welcher für die Sittsamkeit und Eingezogenheit der reinsten, jungfräulichen Mutter und für ihren Bräutigam sehr lästig und peinlich war; denn weil sie arm und schüchtern waren, wurden sie nicht so gut wie andere aufgenommen. Sie hatten mehr Schwierigkeiten als die Reichen, da die Welt sich nach dem Äußern richtet und ihre Gunst gewöhnlich in verkehrter Weise und mit Rücksicht auf die Person verteilt. Unsere heiligen Wanderer mussten in den Herbergen, wo sie ermüdet anlangten, oftmals raue Worte hören; in einzelnen schickte man sie als unnütze, verächtliche Leute weg. Manchmal wurde die Königin des Himmels und der Erde in die Ecke eines Hofraumes verwiesen. Zuweilen konnte sie selbst dies nicht erhalten und zog sich dann mit ihrem Bräutigam an noch elendere und in den Augen der Welt weniger geziemende Plätze zurück. Aber an jedem, auch dem verächtlichsten Ort standen die himmlischen Geister ihrem höchsten Könige und ihrer erhabenen Königin als Ehrenwache zur Seite. Sie alle stellten sich dann im Kreis um Maria herum, wie mit einer undurchdringlichen Mauer sie umgebend, so dass das Brautgemach Salomons beschützt und gegen die Schrecknisse der Nacht gesichert war (Hld 3, 8). Und da der treueste Bräutigam Joseph die Himmelskönigin von den Heerscharen der Engel so wohlbewacht sah, so überließ er sich ruhig dem Schlafe. Auch war Maria selbst für ihn besorgt, dass er von den Beschwerden der Reise ein wenig ausruhe. Maria aber verweilte in himmlischen Gesprächen mit den zehntausend Engeln, die ihr zur Seite standen.

460. Salomon hat im Hohenlied große Geheimnisse über die Himmelskönigin in verschiedenen Bildern und Gleichnissen ausgedrückt; im dritten Kapitel aber spricht er deutlicher von dem, was der göttlichen Mutter vor der Geburt ihres heiligsten Sohnes, insbesondere während dieser Reise begegnete; denn hierbei erfüllte sich alles buchstäblich, was dort gesagt ist von dem Bett Salomons, von seiner Sänfte, seiner goldenen Lehne, von der dabei aufgestellten Wache der Stärksten Israels, weIche die Anschauung Gottes genießen, sowie alles übrige, was in jener Prophezeiung angedeutet ist. Es genügt jedoch, zum Verständniss derselben die obigen Andeutungen gemacht zu haben, damit ich alle meine Bewunderung dem Geheimniss der unendlichen Weisheit in diesen für das Geschöpf so verehrungswürdigen Werken zuwende. Wer unter den Sterblichen hätte ein so hartes Herz, dass es sich durch diese Geheimnisse nicht erweichen ließ? Wer ist so stolz, dass er sich nicht beschämt fühlte? Wer so zerstreut, dass er nicht staunen sollte, beim Anblick eines Wunders, in welchem die äußersten Gegensätze sich vereinigt finden? Der unendliche Gott, wahrhaft verborgen in dem reinen Schoß einer zarten Jungfrau, die voll Schönheit und Gnade ist, unschuldig, rein, sanft, mild, liebenswürdig in den Augen Gottes und der Menschen, weit mehr als alles, was der Herr erschaffen hat und je erschaffen wird ! Und diese große Herrin, die den Schatz der Gottheit bei sich trägt, wird von der blinden Unwissenheit und Hoffart der Welt gering geschätzt, betrübt, verachtet und abgewiesen! Anderseits aber wird sie auch an den verächtlichsten Orten von der heiligsten Dreifaltigkeit hoch geschätzt, geliebt und mit süßen Tröstungen erfüllt. Die Engel ehren, bedienen und beschützen sie mit mächtiger, wachsamer Hut. O ihr Menschenkinder mit schwerem, hartem Herzen, wie trügerisch ist, um mit den Worten Davids zu reden, wie trügerisch ist eure Waage (Ps 62,10), wie verkehrt euer Urteil ! Ihr schätzet die Reichen und verachtet die Armen; ihr erhöht die Stolzen und erniedrigt die Demütigen; ihr weist die Gerechten ab und nehmt die Eiteln mit Beifall auf ! Blind ist euer Urteil und verkehrt euere Wahl; darum werdet ihr auch in euren Erwartungen getäuscht, ihr Hoffärtigen, die ihr Reichtümer und Schätze sucht, aber arm bleibt und nur Dunst erhascht, hättet ihr die wahre Arche Gottes aufgenommen, dann hättet ihr wie Obededom reichen Segen von der Hand Gottes empfangen; weil ihr sie aber verachtet habt, so ist es vielen von euch ergangen, wie dem Oza, ihr seid gezüchtigt worden (2 Sam 6, 7.11).

461. Unter allen diesen Vorgängen schaute die Himmelskönigin aufs klarste den mannigfachen Seelenzustand derjenigen, welche ab- und zugingen. Sie durchschaute ihre geheimsten Gedanken und sah, in welchem Stand sich jeder einzelne befand, ob im Stand der Gnade oder im Stand der Sünde, und auf welcher Stufe dieser einander entgegengesetzten Zustände. Bei vielen Seelen sah sie, ob sie vorherbestimmt oder verworfen waren, ob sie beharrlich bleiben, fallen oder wieder aufstehen würden, und alles dieses gab ihr mannigfachen Anlass, heroische Tugendakte für die einen wie betreffs der andern zu verrichten. Vielen erlangte sie die Beharrlichkeit. Anderen erbat sie kräftige Hilfe, um sich von der Sünde in den Stand der Gnade zu erheben. Für andere weinte und flehte sie mit großer Inbrunst zum Herrn. Für die Verworfenen konnte sie dies zwar nicht in solch wirksamer Weise tun, fühlte aber den durchdringendsten Schmerz wegen ihres endlichen Verderbens. Durch diese Peinen unvergleichlich mehr erschöpft als durch die Mühen der Reise, fühlte sie manchmal ihre Körperkräfte schwinden; dann ließen die heiligen Engel, von Licht und Schönheit strahlend, die göttliche Mutter sich auf ihre Arme stützen, damit sie so einige Ruhe und Erleichterung finde. Den Kranken, Betrübten und Notleidenden spendete Maria während ihrer Reise Trost, jedoch nur in der Weise, dass sie ihren heiligsten Sohn um Abhilfe für deren Leiden und Nöten bat; denn wegen der großen Volksmenge zog sie sich während dieser Reise ganz und gar zurück und schwieg, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das göttliche Kind richtete. So erwiderte die Mutter der Barmherzigkeit die schlechte Aufnahme, welche sie bei den Menschen fand.

462. Zu noch größerer Beschämung der menschlichen Undankbarkeit geschah es bisweilen, dass Maria und Joseph von Schnee und Regen - es war ja Winter, und der Herr wollte sie dieses Ungemaches nicht entheben - ganz erstarrt bei den Herbergen anlangten, und dass sie sich dann an die gemeinen Ort zurückziehen mussten, wo die Tiere sich befanden, weil die Menschen ihnen keinen besseren Platz gewährten. Doch die Tiere zeigten dann jene höfliche Freundlichkeit, welche den Menschen abging, indem sie aus Ehrfurcht gegen ihren Schöpfer und gegen die Mutter, welche ihn in ihrem jungfräulichen Schoß trug, Platz machten. Freilich hätte die Herrin aller Geschöpfe den Winden, dem Reif und dem Schnee befehlen können, sie nicht zu belästigen; allein sie tat es nicht, um so ihrem heiligsten Sohn schon vor seiner Geburt im Leiden nachzufolgen. So kam es, dass sie durch derartiges Ungemach auf der Reise nicht wenig zu leiden hatte. Doch der hl. Joseph, dieser treue und besorgte Bräutigam, war sehr aufmerksam, um sie dagegen zu schützen. Noch mehr aber waren es die englischen Geister, und vor allem ihr Fürst, der hl. Michael der immer zur Rechten seiner Königin war, ohne sie auch nur einen Augenblick auf dieser Reise zu verlassen; oft war er ihr behilflich, indem er sie, wenn sie ermüdet war, am Arme führte. Und wenn der Herr es so anordnete, schützte er Maria vor den Widrigkeiten der Witterung und leistete der Himmelskönigin und Jesu, der gebenedeiten Frucht ihres Leibes, noch viele andere Dienste.

463. Unter so mannigfachen Wechselfällen wunderbarer Ereignisse langten unsere heiligen Pilger Maria und Joseph vor der Stadt Bethlehem an. Es war an einem Samstag abends vier Uhr, um welche Stunde in dieser Zeit der Wintersonnenwende die Sonne untergeht und die Nacht anbricht. Sie traten in die Stadt ein, eine Herberge zu suchen; allein obwohl sie durch viele Straßen gingen und nicht bloß in öffentlichen Gasthäusern, sondern auch in den Häusern ihrer Bekannten und nächsten Verwandten ein Unterkommen suchten, so wurden sie doch von niemand aufgenommen; im Gegenteil, von vielen wurden sie auf unhöfliche, verächtliche Weise weggeschickt. Die sittsamste Königin folgte unter dem Gewühl der Volksmenge ihrem Bräutigam, der von Haus zu Haus, von Türe zu Türe anfragte. Sie wusste freilich gar wohl, dass die Herzen wie die Häuser der Menschen ihnen verschlossen seien; doch um dem heiligen Joseph zu gehorchen, wollte sie sich dieser Mühe und Beschämung unterziehen, die ihr wegen ihrer Schüchternheit, wegen ihres damaligen Zustandes und wegen ihres zarten Alters noch peinlicher war als der Mangel eines Unterkommens. Auf dem Wege durch die Stadt kamen sie zu dem Haus, wo man in das öffentliche Register einschrieb. Um nicht zurückkehren zu müssen, ließen sie sich einschreiben, zahlten die Steuer und hatten damit diese Sache bereinigt. Dann setzten sie ihre Nachforschungen fort und hielten in mehr als fünfzig Häusern um Aufnahme an, allein überall wurden sie abgewiesen. Die seligen Geister waren voll Verwunderung über die erhabenen Geheimnisse des Herrn, über die Geduld und Sanftmut seiner jungfräulichen Mutter und über die herzlose Härte der Menschen. In den Gefühlen dieser Verwunderung priesen sie den Allerhöchsten in seinen geheimnisvollen Werken, weil er von diesem Tag an die von den Menschen verachtete Demut und Armut zu so großer Herrlichkeit erheben wollte.

464. Es war nachts neun Uhr, als sich der treueste Joseph voll bitteren Seelenschmerzes an seine weiseste Braut wandte und zu ihr sprach: «Meine liebste Herrin, mein Herz bricht vor Schmerz, da ich sehe, dass ich dich nicht nur nicht unterbringen kann, wie du es verdienst und meine Liebe es verlangt, sondern dass ich nicht einmal ein Obdach und eine Zufluchtsstätte für dich finde, die man doch dem ärmsten und verachtesten Menschen selten, ja niemals verweigert. Ohne Zweifel liegt dieser Zulassung des Himmels, dass die Herzen der Menschen sich nicht rühren lassen, um uns in ihre Häuser aufzunehmen, ein Geheimnis zugrunde. Ich erinnere mich aber, meine Herrin, dass sich außerhalb der Stadtmauern eine Höhle befindet, die den Hirten und ihrer Herde als Zufluchtsort zu dienen pflegt. Dahin wollen wir gehen; vielleicht ist sie gerade nicht besetzt, und dann wird dir der Himmel dort den Zufluchtsort gewähren, den die Erde uns verweigert.» Die weiseste Jungfrau antwortete: «Mein Bräutigam und Gebieter, dein mitleidvolles Herz betrübe sich nicht darüber, dass das glühende Verlangen, welches die Liebe zu dem Herrn dir einflößt, nicht verwirklicht wird. Da ich ihn in meinem Schoß trage, so bitte ich dich um seinetwillen, ihm mit mir zu danken, dass er dies so angeordnet hat. Der Ort, von dem du sagst, wird meinen Wünschen ganz entsprechen. Verwandle deine Tränen in Freude; frohlocke, dass du die Armut liebst und besitzest, welche der reiche, unschätzbare Schatz meines heiligsten Sohnes ist. Um diesen zu suchen, kommt er vom Himmel herab; bereiten wir ihm also denselben mit freudigem Herzen; mein Herz kennt keinen anderen Trost; möge ich sehen, dass auch du mir diesen Trost bereitest. Wir wollen zufrieden dahin gehen, wohin der Herr uns führt.» Die heiligen Engel geleiteten die heiligsten Gatten dahin, indem sie ihnen als strahlende Leuchten dienten. Dort angekommen, fanden sie die Höhle unbesetzt. Voll himmlischen Trostes lobten sie den Herrn für diese Wohltat. Alsdann geschah, was ich im folgenden Hauptstücke berichten werde.

LEHRE, welche mir die heiligste Himmelskönigin Maria gab

465. Meine liebste Tochter, wenn dein Herz zur Aufnahme der Gnadenwirkungen des Herrn weich und gelehrig ist, dann werden die göttlichen Geheimnisse, welche du erkannt und beschrieben hast, dich mächtig zu Gefühlen der Liebe gegen den Urheber so großer Wunder anregen. In seiner Gegenwart stelle ich an dich das Verlangen, dass du von nun an den größten Wert darauf legest, dich von der Welt gering geschätzt und verschmäht zu sehen. Sage mir, meine Freundin, wenn der Lohn für diese frohen Mutes ertragene Verachtung und Geringschätzung darin besteht, dass Gott sein Auge auf dich richtet und seine süßeste Liebe in ihrer ganzen Stärke dir zuwendet, warum solltest du dann nicht so wohlfeilen Kaufes dir erwerben, was einen unendlichen Wert hat? Was werden die Menschen mit all ihrer Hochschätzung und ihrem Lobe dir geben? Was wirst du verlieren, wenn du nicht auf sie achtest? Ist nicht alles Lüge und Eitelkeit? Ist es nicht ein flüchtiger Schatten, der in einem Augenblick in den Händen derjenigen verschwindet, die sich bemühen, ihn zu ergreifen? Hättest du aber auch alle diese Achtung und Ehre in den Händen, was würdest du da wohl Großes tun, wenn du sie auch ganz umsonst daran gäbest? Erwäge wohl, wie viel weniger du tust, wenn du diese Ehre verschmähst um die Liebe Gottes und meine und der Engel Liebe zu gewinnen. Verzichte also vollständig und von Herzen darauf. Verachtet dich aber die Welt nicht in dem Grad, wie du es verlangen sollst, so verachte du sie und bleibe frei, losgeschält und einsam, damit das höchste und beste Gut bei dir bleibe und du die seligen Wirkungen seiner Liebe in ihrer Fülle empfangen um mit heiliger Freiheit sie erwidern könnest.

466. Mein heiligster Sohn ist ein so treuer Liebhaber der Seelen, dass er mich als Lehrmeisterin und als lebendiges Vorbild aufgestellt hat, um sie die Liebe zur Demut und die tatkräftige Verachtung der Eitelkeit und Hoffart zu lehren. Es war sein Wille, dass sein Eingeborener und ich, seine Dienerin und Mutter, kein Obdach bei den Menschen finden sollten, damit liebentflammte, gottinnige Seelen späterer Zeit aus unserer Verlassenheit Anlass nähmen, sich selbst ihm anzubieten und durch diesen Kunstgriff der Liebe ihn gleichsam zu nötigen, dass er seine Wohnung in ihnen nehme. Er suchte auch die Armut und die Einsamkeit nicht als hätte er ihrer bedurft, um die Tugenden im vollkommensten Grad zu üben, sondern um die Menschen zu lehren, dass dies der kürzeste und sicherste Weg sei, um zu einer hohen Stufe der göttlichen Liebe und der Vereinigung mit Gott zu gelangen.

467. Du weißt wohl, Teuerste, wie du unablässig durch das himmlische Licht belehrt und ermahnt wirst, das Irdische und Sichtbare zu vergessen, mit Stärke dich zu umgürten und zu meiner Nachfolge dich zu entschließen, indem du nach besten Kräften die Akte und Tugenden in dir nachbildest, welche ich dir aus meinem Leben offenbare. Dies ist das erste Ziel der Erkenntnis, welche dir zur Beschreibung meines Lebens verliehen wird, dass du nämlich an mir ein Vorbild hast, das du vor Augen haben sollst, um dein Leben und deine Handlungen danach einzurichten, gleichwie ich die Handlungen meines süßesten Sohnes nachgeahmt habe. Die Furcht, welche dieser Befehl dir verursacht hat, als übersteige er deine Kräfte, sollst du mäßigen und dich ermutigen durch das Wort meines heiligsten Sohns beim hl. Evangelisten Matthäus: «Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist» (Mt 5, 48). Diesen seinen Willen, den der Allerhöchste seiner heiligen Kirche vorstellt, auszuführen, ist für die Kinder der Kirche durchaus nichts Unmögliches; denn wenn sie ihrerseits tun, was an ihnen ist, so wird der Herr keinem von ihnen die Gnade verweigern, zur Ähnlichkeit mit dem himmlischen Vater zu gelangen; mein heiligster Sohn, hat ihnen ja dieses Glück verdient. Allein der furchtbare Undank, mit dem die Sterblichen das Werk ihrer Erlösung vergessen und verachten, ist schuld, dass die Frucht der Erlösung in ihnen nicht wirksam wird.

468. Von dir aber, meine liebe Tochter, verlange ich diese Vollkommenheit in besonderer Weise, und ich lade dich dazu ein mittelst des sanften Gesetzes der Liebe, welche das Ziel meiner Lehre ist. Erwäge wohl im himmlischen Licht diese Verpflichtung, welche ich dir auferlege; bemühe dich, derselben mit der Klugheit einer treuen und emsigen Tochter nachzukommen, und lass dich durch keine Mühe und Schwierigkeit bewegen, eine wenn auch noch so schwere Übung der Tugend und Vollkommenheit zu unterlassen. Begnüge dich aber auch nicht damit, bloß für dich die Freundschaft Gottes zu erwerben und deine eigene Seele zu retten; denn wenn du mir vollkommen nachfolgen und erfüllen willst, was das Evangelium lehrt, so musst du dir auch das Heil anderer Seelen und die Erhöhung des heiligen Namens meines Sohnes angelegen sein lassen. Du musst in seiner mächtigen Hand ein Werkzeug sein, um große Dinge zu tun und Werke zu vollbringen, welche zu seinem größeren Wohlgefallen und zu seiner größeren Ehre gereichen.

ZEHNTES HAUPTSTÜCK: Die gnadenreiche Geburt Christi

Christus unser Herr wird von Maria der Jungfrau zu Bethlehem in Judäa geboren.

469. Der Palast, welchen der höchste König der Könige und Herr der Herren bereitet hatte, um seinen ewigen, für die Menschen Fleisch gewordenen Sohn in der Welt zu beherbergen, war die ärmste, elendeste Hütte oder Höhle, in welche sich Maria und Joseph zurückgezogen hatten, nachdem sie, wie ich im vorausgehenden Hauptstück erzählt habe, von den Herbergen ebenso wie von dem natürlichen Mitleid eben dieser Menschen ausgeschlossen worden waren. Dieser Platz war so verächtlich, dass, obwohl die Stadt Bethlehem mit Fremden angefüllt war und die Herbergen nicht ausreichten, doch niemand sich herbeiließ, dahin zu gehen; denn sicher konnte er niemand passen und genügen, als nur den Meistern der Demut und Armut Christus unserem Herrn und seiner reinsten Mutter. Darum hat die Weisheit des ewigen Vaters denselben für diese vorbehalten und ihn durch den Schmuck der Einsamkeit, Armut und Entblößung eingeweiht zum ersten Tempel des Lichtes, zum Haus der wahren Sonne der Gerechtigkeit, welche für diejenigen, die geraden Herzens sind, aus Maria, der strahlenden Morgenröte, aufgehen sollte mitten in der nächtlichen Finsternis, dem Sinnbild der Finsternis der Sünde, welche die ganze Welt bedeckte.

470. Maria und Joseph traten also in diese Höhle ein. Im Lichtglanz der sie begleitenden Engel konnten sie mit Leichtigkeit, aber auch zu ihrem großen Trost und unter Tränen der Freude wahrnehmen, dass die Höhle arm und verlassen war, wie sie es wünschten. Die beiden heiligen Wanderer knieten daher alsbald nieder, um den Herrn zu lobpreisen und ihm für diese Wohltat zu danken; denn sie wussten wohl, dass dieselbe durch die geheimen Ratschlüsse der ewigen Weisheit ihnen gewährt worden sei. Maria, die Himmelskönigin, hatte aber eine besonders tiefe Erkenntnis dieses Geheimnisses; denn in demselben Augenblick, da sie den Fuß in diese Höhle setzte und sie dadurch heiligte, wurde sie so von innerer Wonne überströmt, dass ihr ganzes Wesen erhoben und belebt wurde. Sie bat den Herrn, er möge mit freigebiger Hand allen Bewohnern der nahen Stadt Bethlehem es vergelten, dass dieselben sie von ihren Häusern weggewiesen und ihr dadurch zu dem großen Glück, welches in dieser armseligen Hütte ihrer wartete, verholfen hatten. Diese Höhle bestand ganz aus natürlichen, unbehauenen Felsen, ohne jede Einrichtung oder künstliche Veränderung, so dass sie in den Augen der Menschen nur zu einem Zufluchtsort der Tiere sich eignete, während der ewige Vater sie zum Obdach und zur Wohnung seines eigenen Sohnes bestimmt hatte.

471. Die englischen Geister, welche als himmlische Heerschar die Ehrenwache ihrer Königin und Gebieterin bildeten, stellten sich nun, ähnlich wie die Leibgarde im Palast des Königs, in geordneten Reihen auf. Sie zeigten sich in sichtbarer, menschlicher Gestalt auch dem heiligen Bräutigam Joseph; denn es war geziemend, dass auch er bei diesem Anlass sich einer solchen Gnade erfreue, teils zur Erleichterung seines Kummers, indem er nun diese arme Höhle mit den Reichtümern des Himmels so schön geziert sah, teils auch dazu, dass sein Herz gestärkt, ermutigt und vorbereitet würde auf die Ereignisse, welche an diesem so verächtlichen Ort in jener Nacht nach Gottes Willen geschehen sollten. Die große Königin und Beherrscherin des Himmels, welche über das zu feiernde Geheimnis bereits unterrichtet war, schickte sich an, jene Höhle, welche in Bälde ein Königsthron und heiliger Gnadenort sein sollte, mit eigenen Händen zu reinigen. damit ihr selbst keine Übung der Demut. ihrem eingeborenen Sohn aber nicht jener Akt der Verehrung und Huldigung entginge, den sie ihm unter diesen Umständen durch Ausschmückung seines Tempels vorläufig erweisen konnte.

472. Der hl. Bräutigam Joseph bat, auf die erhabene Würde seiner himmlischen Braut, welche diese aus Eifer für die Demut zu vergessen schien, Bedacht nehmend, Maria dringend, ihm doch dies Geschäft, das jetzt ihm zustehe, nicht zu entziehen. Und indem er Maria zuvorzukommen suchte, begann er selbst den Fußboden und die Winkel der Höhle zu reinigen. Die demutsvolle Königin ließ es sich indes nicht nehmen, die Arbeit mit Joseph zu teilen. Angesichts einer so standhaften Demut ihrer Königin waren die heiligen Engel welche in sichtbarer, menschlicher Gestalt zugegen waren, um mich so auszudrücken, gleichsam beschämt und leisteten in heiligem Wetteifer ihre Beihilfe zu dieser Arbeit oder besser gesagt, sie reinigten und säuberten in kürzester Zeit die Höhle, so dass sie ganz rein und mit Wohlgeruch erfüllt war. Dann zündete der heilige Joseph Feuer an, wozu er das Erforderliche mitgebracht hatte. Da es sehr kalt war, näherten sich Maria und Joseph dem Feuer um sich ein wenig zu wärmen. Dann genossen sie in unaussprechlicher Freude ihrer Herzen von dem armen Mundvorrat den sie bei sich hatten. Die Himmelskönigin war freilich wegen der nahe bevorstehenden Geburt des göttlichen Kindes dermaßen in dies Geheimnis versenkt, dass sie nichts genossen hätte, wenn nicht der Gehorsam gegen ihren Bräutigam sie dazu vermocht hätte.

473. Nachdem sie Speise zu sich genommen hatten, sagten sie ihrer Gewohnheit gemäß dem Herrn Dank. Nach Beendigung des kurzen Dankgebetes besprachen sie sich noch ein wenig über die Geheimnisse des menschgewordenen Wortes und nun erkannte die weiseste Jungfrau dass die Stunde der gnadenreichsten Geburt gekommen sei. Sie bat darum ihrer Bräutigam Joseph, er möchte sich zurückziehen, um ein wenig auszuruhen und zu schlafen; denn es war bereits sehr spät in der Nacht. Der Mann Gottes gehorchte seiner Braut und bat sie ein Gleiches zu tun. Zu diesem Zweck richtete er mit den Kleidern, die sie bei sich hatten, eine ziemlich geräumige Krippe zu recht, welche auf dem Boden stand und den Tieren diente, die in die Höhle zu kommen pflegten. Während Maria auf dieser Lagerstätte etwas Ruhe suchte, zog sich der hl. Joseph in eine Ecke des Eingangs zurück, wo er sich in das Gebet begab. Es währte nicht lange, da wurde er vom Geiste Gottes heimgesucht; er fühlte eine überaus liebliche, ungewohnte Kraft, welche ihn ergriff und in eine Entzückung versetzte. In dieser Entzückung wurde ihm alles, was während der Nacht in diese gnadenreichen Höhle vorging, geoffenbart, denn er kehrte erst in dem Augenblick zum Gebrauch der Sinne zurück, als ihr die himmlische Braut rief. Dies war der Schlaf, den Joseph in jener Stunde genoss, ein Schlaf, weit tiefer und seliger als der Schlaf Adams im Paradies.

474. Zu gleicher Zeit wurde auch die Königin der Schöpfung durch eine mächtige Stimme des Allerhöchsten auf ihrem Lager aufgerufen und durch eine wirksame süße Kraft innerlich umgestaltet, so dass sie über alles Erschaffene erhoben war. Sie empfand ganz ungewohnte Wirkungen der Allmacht Gottes denn diese Ekstase war eine der merkwürdigsten und wunderbarsten ihres ganzen heiligsten Lebens. Der Allerhöchste verlieh ihr immer höhere Erleuchtungen und Gnadeneinflüsse, wie ich sie bei anderen Gelegenheiten beschrieben habe, wodurch sie immer höher erhoben ward, um endlich zur klaren Anschauung der Gottheit zu gelangen. Nach diesen Vorbereitungen lüftete sich der Schleier; Maria sah Gott in klarer, unverhüllter Anschauung, und sie schaute ihn in solcher Herrlichkeit und mit solcher Fülle der Erkenntnis, dass weder ein englischer, noch ein menschlicher Verstand es erklären oder vollkommen fassen kann. Sie erhielt aufs neue die Erkenntnis der Geheimnisse der Gottheit und Menschheit ihres heiligsten Sohnes, wie sie sie schon in anderen Visionen erhalten hatte, und überdies wurden ihr noch andere, in dem unerschöpflichen Lichtquell des göttlichen Herzens verborgene Geheimnisse geoffenbart. Mir fehlen aber die Worte und Ausdrücke, welche hinreichend, geeignet und treffend genug wären, um zu offenbaren, was ich über diese Geheimnisse im göttlichen Licht geschaut habe; der Reichtum und die Überfülle dessen macht, dass ich arm werde an Worten.

475. Nun erklärte der Allerhöchste seiner jungfräulichen Mutter, es sei die Zeit gekommen, dass er das Heiligtum ihres Schoßes verlasse und in die Welt eintrete. Er teilte ihr auch die Art und Weise mit, wie dies geschehen sollte. Ferner erkannte die weiseste Königin in dieser Vision die Gründe und erhabensten Ziele dieser geheimnisvollen Wunderwerke, sowohl auf Seiten Gottes, als auch auf Seiten der Geschöpfe, auf welche sich diese Werke unmittelbar bezogen. Sie warf sich vor dem königlichen Thron der Gottheit nieder und brachte dem Herrn in ihrem und aller Geschöpfe Namen die schuldige Ehre, Verherrlichung, Danksagung und Lobpreis dar für diese unaussprechliche Erbarmung und Herablassung seiner unermesslichen Liebe. Sie erflehte von Gott neues Licht und neue Gnade, um das menschgewordene Wort, das sie in ihre Arme schließen und mit ihrer jungfräulichen Milch nähren sollte, in würdiger Weise zu bedienen, zu pflegen und zu erziehen. Und diese Bitte brachte die göttliche Mutter mit der allertiefsten Demut vor; denn sie erkannte gar wohl, welch erhabenes, bisher nie gesehenes Amt es sei, einen menschgewordenen Gott zu ernähren und als Mutter zu behandeln, und sie achtete sich dieses Amtes, welches selbst die höchsten Seraphim nicht gebührend auszuüben vermöchten, für unwürdig. Dies war es, was die Mutter der Weisheit in ihrer Klugheit und Demut erwog und überdachte. Aber eben deshalb, weil sie sich vor dem Angesicht des Allerhöchsten bis in den Staub erniedrigte und ganz vernichtigte, erhöhte sie der Herr und übertrug ihr aufs neue den Titel einer Mutter Gottes, mit dem Auftrag, als wahre, rechtmäßige Mutter dieses Amt auszuüben und ihn als den Sohn des ewigen Vaters und zugleich als den Sohn ihres eigenen Mutterschoßes zu behandeln. Einer solchen Mutter konnte auch alles dieses anvertraut werden (Spr 31,11); damit soll alles gesagt sein, was ich mit weiteren Worten nicht auszudrücken vermag.

476. Die heiligste Jungfrau Maria war unmittelbar vor der Geburt des Sohnes Gottes über eine Stunde in der genannten Verzückung und klaren Anschauung Gottes gewesen. In demselben Augenblick, da sie aus der Verzückung zum Gebrauch der Sinne zurückkehrte, erkannte und schaute sie, wie sich der Leib des göttlichen Kindes in ihrem jungfräulichen Schoß bewegte, wie er sich von seiner natürlichen Stätte, an der er neun Monate verweilt hatte, trennte und gleichsam verabschiedete, und wie er sich anschickte, das Heiligtum des Mutterschoßes zu verlassen. Diese Bewegung des Kindes verursachte aber der jungfräulichen Mutter keinen Schmerz und keine Pein, wie dies bei den andern Töchtern Adams und Evas der Fall ist; im Gegenteil, sie erfüllte sie mit neuer, unaussprechlicher Wonne und Freude und brachte in ihrer Seele und in ihrem jungfräulichen Leib so erhabene, göttliche Wirkungen hervor, dass diese jeden geschaffenen Verstand übersteigen; Maria war dem Leib nach so vergeistigt so schön, so glänzend dass sie keinem menschlichen, irdischen Geschöpfe mehr glich. Ihr Antlitz strömte Lichtstrahlen aus, einer Sonne gleich, welche im schönsten Rot schimmert. Ihr Angesicht war sehr ernst, voll wunderbarer Majestät. Ihr Herz war ganz in Liebesglut entzündet. Sie lag auf ihren Knien an der Krippe, die Augen zum Himmel erhoben, die Hände gefaltet und an die Brust angeschlossen. Ihr Geist war in die Gottheit verzückt, ihr ganzes Wesen in Gott umgestaltet. In diesem Zustand gab die höchsterhabene Herrin am Schluss der genannten Verzückung der Welt den Eingeborenen des Vaters, ihren eigenen Eingeborenen, unseren Erlöser, Jesus, der wahrer Gott und Mensch ist in der Stunde der Mitternacht, an einem Sonntag, in dem Jahre, welches die römische Kirche annimmt, nämlich im Jahre fünftausend einhundert und neunundneunzig nach Erschaffung der Welt.

Dies ist, wie mir geoffenbart wurde, die sichere und wahre Zählung.(Die hier angegebene Zählung stimmt mit dem römischen Martyrologium [Fest. Nativit. D. N. J. Chr.] genau überein. Was den Tag und die Stunde betrifft, so stehen die obigen Angaben mit der Anschauung der Kirche und mit der Überlieferung gleichfalls im Einklang. Vgl. Suarez. de Incarn. II. q. 35. d. 13. s. 4. S. auch oben Nr. 138, Anm. 2. Der Herausgeber).

477. Alle Gläubigen nehmen zwar noch andere wunderbare Umstände der Geburt unseres göttlichen Heilandes an; da aber außer der Himmelskönigin und ihren Engeln niemand Zeuge derselben gewesen ist, so kann man dieselben nicht alle im besonderen wissen, soweit sie nicht der Herr selbst geoffenbart hat, sei es seiner heiligen Kirche im allgemeinen, sei es einzelnen Seelen. Da über diesen Gegenstand, soviel ich weiß, Meinungsverschiedenheit herrscht, der Gegenstand selbst aber sehr erhaben und durchaus ehrwürdig ist, so habe ich die Erkenntnisse, welche ich über die Geheimnisse zum Zweck der Aufzeichnung erhalten habe, meinen Obern und Gewissensführern auseinandergesetzt. Darauf wurde mir im Gehorsam befohlen, diese Geheimnisse noch einmal im himmlischen Licht zu erforschen und meine Mutter und Lehrmeisterin, die Himmelskönigin, sowie auch die heiligen Engel, welche mir beistehen und meine Schwierigkeiten lösen, über einige Besonderheiten zu fragen, welche die heiligste Geburt unseres Erlösers Jesu Christi aus Maria der Jungfrau in helleres Licht setzen. Nachdem ich dies getan, erkannte ich nochmals das nämliche, und es wurde mir erklärt, dass die Geburt in folgender Weise stattgefunden habe.

478. Am Ende der vorerwähnten Anschauung und Entzückung der allzeit jungfräulichen Mutter wurde aus ihr geboren die Sonne der Gerechtigkeit der Sohn des ewigen Vaters, und ihr Sohn, ganz makellos, schön, strahlend und rein: und zwar so, dass er sie in ihrer jungfräulichen Unversehrtheit und Reinheit noch mehr vergöttlichte und heiligte; denn ohne den jungfräulichen Schoß zu öffnen, ging er aus ihm hervor wie die Strahlen der Sonne, welche das Kristallglas durchdringen, ohne es zu zerbrechen, vielmehr es noch schöner und glänzender machen. Bevor ich jedoch die wunderbare Art und Weise, wie dies geschehen ist. erkläre, sage ich, dass das göttliche Kind ohne jene Hülle zur Welt kam, die man Sekundine nennt, und mit welcher die anderen Kinder sowohl im Mutterschoß als bei der Geburt umhüllt sind. Den Grund, warum eine entgegengesetzte Meinung sich bilden und Aufnahme finden konnte, will ich nicht des weiteren ausführen. Es genügt zu wissen und festzustellen, dass der allmächtige Gott bei der Empfängnis und Geburt des menschgewordenen Wortes von der Natur alles dasjenige nahm und auswählte, was wesentlich und notwendig zu menschlichen Empfängnis gehört, damit man von dem Worte welches wahrer Mensch geworden, in Wahrheit sagen könne, es sei empfangen, es sei als Sohn erzeugt und geboren aus der Substanz seiner allzeit jungfräulichen Mutter. Alles andere aber, was für die Empfängnis und Geburt nicht wesentlich, sondern zufällig ist, muss von Christus, unserem Herrn, sowie von seine heiligsten Mutter ausgeschlossen werden; und zwar nicht bloß das, was mit der Sünde, der Erbsünde oder der aktuellen Sünde zusammenhängt, sondern auch vieles andere, was nicht wesentlich und selbst in natürlicher Hinsicht unrein und überflüssig ist, also nicht notwendig war, damit die Himmelskönigin in Wahrheit die Mutter unseres Herrn und dieser in Wahrheit ihr Sohn, von ihr geboren, genannt werde. Denn jene Folgen der Sünde oder der Natur gehörten nicht wesentlich zur heiligster Menschheit unseres Herrn und ebenso wenig zu seinem Amt als Erlöser und Lehrer; wenn aber etwas für diese drei Zwecke nicht notwendig ist, und wenn anderseits das Freisein davon zur größeren Glorie Jesu Christi und seiner heiligsten Mutter gereicht, so müssen beide als davon frei betrachtet werden. Und was die Wunder betrifft, die zu diesem Zweck notwendig waren, so darf man um dieselben nicht feilschen, wo es sich um den Urheber der Natur und der Gnade und um diejenige handelt, welche seine würdige Mutter war und dazu auserlesen, geziert und jederzeit mit Auszeichnungen und Zierden der Gnade bereichert wurde. Denn der Allmächtige hat sie zu allen Zeiten mit Gnaden und Geschenken bereichert und alles an ihr getan, was für ein bloßes Geschöpf möglich war.

479. Dieser Wahrheit gemäß tat es ihrer göttlichen Mutterschaft keinen Eintrag, dass Maria bei der Empfängnis und Geburt durch die Wirkung des Heiligen Geistes Jungfrau war und allzeit Jungfrau blieb. Freilich hätte die Natur dies Vorrecht ohne eine Sünde verlieren können; doch dann hätte die göttliche Mutter einer so kostbaren und einzigen Auszeichnung entbehrt; und damit dem nicht so sei, hat ihr heiligster Sohn ihr dieselbe durch seine Allmacht verliehen. Ebenso hätte das göttliche Kind mit jener Hülle zur Welt kommen können, wie die anderen; doch dies war nicht notwendig, um als wahrer Sohn von seiner rechtmäßigen Mutter geboren zu werden, und darum nahm er sie aus dem jungfräulichen Mutterschoß nicht mit, gleichwie auch andere, weniger geziemende Umstände und Armseligkeiten, welche sonst der Natur als Tribut zu bezahlen sind, bei dieser Geburt ausgeschlossen waren. Es war keineswegs gerecht, dass der menschgewordene Sohn Gottes den gewöhnlichen Gesetzen der anderen Kinder Adams unterworfen sei; vielmehr war es sozusagen eine notwendige Folge der wunderbaren Weise seiner Geburt, dass diese bevorzugt und von allem frei war, was ein Gegenstand der Verwesung oder nicht höchst rein gewesen wäre. Nun war es aber nicht statthaft, dass die Sekundine außerhalb des jungfräulichen Schoßes verwese, da sie mit dem heiligsten Leib unseres Herrn so eng verbunden gewesen und ein Teil des Blutes und der Substanz seiner Mutter war; ebenso wenig geziemte es sich, dieselbe aufzubewahren oder ihr die Vorrechte und Eigenschaften zu verleihen, welche dem heiligsten Leib unseres Herrn mitgeteilt wurden, damit er den Schoß seiner jungfräulichen Mutter durchdringe und verlasse, wie ich alsbald sagen werde. Auch konnte das Wunder, welches für diese heilige Hülle außerhalb des Mutterschoßes hätte stattfinden müssen, in passenderer Weise gewirkt werden, wenn sie in letzterem verblieb.

480. Das göttliche Kind verließ also den jungfräulichen Mutterschoß allein, ohne von irgend einer materiellen oder körperlichen Sache begleitet zu sein. Es kam glorreich und verklärt zur Welt, (Auch in den Offenbarungen der hl. Birgitta wird gesagt dass das göttliche Kind im Zustand der Verklärung geboren wurde und dass von ihm ein solcher Lichtglanz ausging, dass der Glanz der Sonne damit nicht zu vergleichen war. Revel. l. 7. c.21. Der Herausgeber). denn die unendliche Weisheit Gottes hatte angeordnet, dass im Augenblick der Geburt die Glorie der heiligsten Seele auf den Leib des göttlichen Kindes überströme und ihm die Gaben der Glorie mitteile, wie dies später auf dem Tabor in Gegenwart der drei Apostel geschehen ist. Dieses Wunder war zwar nicht erforderlich, um den Mutterschoß zu durchdringen und dabei dessen Jungfräulichkeit unversehrt zu bewahren; denn Gott hätte auch ohne diese Gaben der Glorie durch andere Wunder bewirken können, dass die göttliche Mutter bei der Geburt des Kindes Jungfrau blieb, wie die heiligen Lehrer versichern, welche kein weiteres Wunder in dieser Geburt erkannt haben. Es war aber dennoch der Wille Gottes, dass die seligste Mutter ihren gottmenschlichen Sohn zum ersten Mal auch dem Leib nach verklärt schaue, und zwar aus einem doppelten Grund: erstens damit die weiseste Mutter durch den Anblick ihres göttlichen Kindes von jener tiefen Ehrfurcht durchdrungen würde, mit welcher sie ihren Sohn, der wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich war, behandeln musste. Zwar hatte sie der Herr hierüber schon früher unterrichtet; er wollte aber, dass sie durch dieses Mittel auf dem Weg der Erfahrung neue Gnaden erhalte, wie sie der durch diese Erfahrung erworbenen Erkenntnis der göttlichen Erhabenheit. Majestät und Größe ihres süßesten Sohnes entsprechend waren. Der andere Zweck dieses Wunders war, die Treue und Heiligkeit der göttlichen Mutter zu belohnen, damit nämlich ihre reinsten, keuschesten Augen, die sich ihrem heiligsten Sohn zulieb für alles Irdische geschlossen hatten, ihn gleich bei seiner Geburt in so großer Glorie erblickten und mit dieser Wonne den Lohn ihrer unverletzten Treue empfingen.

481. Der heilige Evangelist Lukas berichtet, die jungfräuliche Mutter habe ihren erstgeborenen Sohn nach seiner Geburt in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt. Wer ihn, nachdem er den jungfräulichen Schoß verlassen, in die Hände Mariä gelegt habe, sagt der Evangelist nicht, weil es nicht zu seinem Plan gehörte. Die Vollzieher dieser Handlung waren aber die zwei erhabenen heiligen Himmelsfürsten Michael und Gabriel. (Obige Angaben sind theologisch sehr wohl begründet. Suarez schreibt: "Verisimilius est manus et brachia B. Virginis fuisse primum locum, quem Christus extra uterum occupavit. Et quia vix paterat decent; modo fieri ut ipsamet Virgo nascentem ex se Infantem susciperet, verisimile est Angelorum ministerio fuisse susceptum et in manibus Virginis positum. Hoc emin totum Christi dignitatem decebat et B. Virgini tale gaudium et amoris significatio debebatur.» [De In. carn. q. 35. d. 13. s. 3.] Der Herausgeber). Sie waren beim Geheimnis in körperlicher, menschlicher Gestalt gegenwärtig, und in dem Augenblick, da das menschgewordene Wort mit eigener Kraft den jungfräulichen Mutterschoß durchdringend ans Licht trat, nahmen sie dasselbe, in geziemender Entfernung weilend, mit unaussprechlicher Ehrfurcht in ihre Hände auf; und ähnlich wie der Priester dem Volk die heilige Hostie zur Anbetung zeigt, so hielten die beiden himmlischen Diener der göttlichen Mutter ihr in Glorie strahlendes Kind vor Augen. Dies alles geschah aber in ganz kurzer Zeitfrist. In dem Augenblick nun, da die heiligen Engel das göttliche Kind seiner Mutter vorhielten, schauten Sohn und Mutter einander an, wobei die Mutter das Herz des süßen Kindes mit Liebe verwundete und zugleich selbst in dieses verzückt und umgewandelt wurde. Dann sprach der König des Himmels, noch auf den Händen der Himmelsfürsten getragen, zu seiner seligsten Mutter: «Mutter, werde mir ähnlich; denn für das menschliche Leben, welches du mir gegeben, will ich dir von heute an ein neues, erhabeneres Leben der Gnade verleihen, ein Leben, welches zwar das eines bloßen Geschöpfes bleiben, allein dem meinigen, der ich Gott und Mensch bin, durch vollkommene Nachahmung ähnlich sein soll». Die weiseste Mutter antwortete: «Zieh mich, so wollen wir dir nachlaufen, dem Geruch deiner Salben nach (Hld 1, 3).» Hier gingen nun viele Geheimnisse des Hohenliedes in Erfüllung. Zwischen dem göttlichen Kind und seiner jungfräulichen Mutter fanden die dort berichteten himmlischen Zwiegespräche statt, wie: «Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, und sein Verlangen geht nach mir. Siehe, du bist schön, meine Freundin, und deine Augen sind Taubenaugen. Siehe, du bist schön, mein Geliebter (Hld 2,16; 7,10; 7,14-15).» - Noch viele andere geheimnisvolle Dinge geschahen damals, die ich aber übergehe, weil ich sonst dieses Hauptstück über Gebühr ausdehnen müsste.

482. Bei den Worten, welche die heiligste Mutter aus dem Munde ihres geliebtesten Sohnes vernahm, wurden ihr zugleich die inneren Akte seiner heiligsten, mit der Gottheit vereinigten Seele sichtbar, damit sie dieselben nachahme und ihm auf diese Weise ähnlich werde. Dies war die größte Gnadenauszeichnung, welche die treueste, glückselige Mutter von ihrem gottmenschlichen Sohn erhielt, nicht nur weil dieselbe von dieser Stunde an ihr ganzes Leben hindurch fortdauerte, sondern weil er von da an das lebendige Vorbild war, welches sie in ihrem eigenen Leben abprägte, und zwar mit aller Ähnlichkeit, die zwischen ihr, einem bloßen Geschöpf, und Jesus Christus, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, nur immer möglich war. Zu gleicher Zeit erkannte und fühlte die Himmelskönigin die Gegenwart der heiligsten Dreifaltigkeit und hörte die Stimme des ewigen Vaters, welcher sprach: «Dieser ist mein geliebter Sohn. an dem ich mein Wohlgefallen habe (Mt 17, 5).» Die weiseste Mutter, inmitten so erhabener Geheimnisse ganz in Gott umgewandelt, antwortete: «Ewiger Vater, höchster Gott, Herr und Schöpfer des Weltalls, gib mir aufs neue deine Erlaubnis und deinen Segen, um den Ersehnten der Völker in meine Arme aufzunehmen, und lehre mich in dem Amt, das ich, obwohl unwürdig, als Mutter und treue Dienerin bekleide, deinen göttlichen Willen erfüllen!» Darauf hörte sie eine Stimme, welche sprach: «Nimm deinen eingeborenen Sohn in deine Arme, folge ihm nach, pflege ihn und wisse, dass du ihn mir aufopfern musst, wann ich dies von dir verlange. Nähre ihn als Mutter und ehre ihn als wahren Gott!» Darauf erwiderte die göttliche Mutter: «Sieh hier das Werk deiner göttlichen Hände; schmücke mich mit deiner Gnade, damit dein Sohn, mein Gott als seine Dienerin mich annehme, und damit ich mit dem Beistand deiner Allmacht ihm würdig diene. Möge es keine Verwegenheit sein, dass ein niedriges Geschöpf seinen Herrn und Schöpfer auf den Händen trage und ihn mit Milch nähre.»

483. Nach diesen Gesprächen voll göttlicher Geheimnisse hob das göttliche Kind das Wunder der Verklärung auf, oder vielmehr, es setzte aufs neue jenes Wunder fort, welches die Gaben der Glorie seinem heiligsten Leib vorläufig noch entzog und die Glorie in seiner Seele zurückhielt und so zeigte sich das göttliche Kind ohne dieselben, in seinem natürlichen, leidensfähigen Zustand. Seine reinste Mutter sah dasselbe auch in diesem Zustand, betete es in tiefer Demut und Ehrfurcht auf den Knien an und empfing es in dieser Stellung aus den Händen der heiligen Engel. Da sie es nun in ihren Händen sah, sprach sie zu ihm: «Meine süßeste Liebe, Licht meiner Augen, Leben meiner Seele, sei willkommen in dieser Welt, du Sonne der Gerechtigkeit, um die Finsternis der Sünde und des Todes zu verbannen. Wahrer Gott vom wahren Gott, erlöse deine Diener; alles Fleisch möge den sehen, der ihm das Heil bringt. Nimm deine Magd zu deinem Dienste an und ersetze meine Unfähigkeit, dir zu dienen. O du mein lieber Sohn, mache mich so, wie du willst dass ich dir gegenüber sei.» Darauf wandte sich die weiseste Mutter an den ewigen Vater, um ihm ihren Sohn aufzuopfern Sie sprach: «Allerhöchster Schöpfer der ganzen Welt, siehe hier den Altar und das deinen Augen wohlgefällige Opfer! Von dieser Stunde an, o mein Herr, schaue mit Barmherzigkeit auf das Menschengeschlecht. Verdienen wir auch deinen Zorn, so ist es doch jetzt Zeit, dass er durch deinen und meinen Sohn besänftigt werde. Möge nun die Gerechtigkeit ruhen und die Barmherzigkeit ihre Größe zeigen; denn deswegen hat sich das göttliche Wort mit der Gestalt des sündigen Fleisches bekleidet (Röm 8, 3) und ist der Bruder der sündhaften Menschen geworden. Auf diesen Titel hin erkenne ich sie als meine Kinder und bitte für sie aus dem tiefsten Grund meines Herzens. Allmächtiger Herr, du hast mich zur Mutter deines Eingebornen gemacht, ohne dass ich es verdiente, denn diese Würde überragt alle Verdienste der Geschöpfe; aber ich verdanke sie zum Teil auch den Menschen, da sie die Veranlassung meines unaussprechlichen Glückes geworden sind. (Diesen tröstlichen Gedanken entwickelt der hl Kirchenlehrer Alphons Maria von Liguori im sechsten Hauptstück der « Die Herrlichkeiten Mariä» (§ 3), Ihren kirchlichen Ausdruck hat diese Wahrheit in den bekannten Worten eines alten Hymnus gefunden.
Non abhorres peccatores,
Sine quibus nunquam fores
Tanto digna Filio.
Der Herausgeber)
Um ihretwillen bin ich ja Mutter des Wortes, welches leidensfähiger Mensch und Erlöser aller geworden ist. Ewiger Vater, nimm an meine Wünsche und Bitten um das, was deinem Willen und Wohlgefallen entspricht!»

484. Die Mutter der Barmherzigkeit wendete sich auch an alle Menschen, indem sie sprach: «Nun mögen die Betrübten sich trösten, die Traurigen sich freuen, die Niedergeschlagenen Mut fassen, die Verwirrten sich beruhigen, die Toten auferstehen, die Gerechten sich freuen, die Heiligen jubeln, die himmlischen Geister neue Wonne empfinden, die Propheten und Patriarchen in der Vorhölle sich trösten! Alle Geschlechter mögen den Herrn loben und preisen, der seine Wunder erneuert hat. Kommet, kommet, ihr Armen! Nahet euch, ihr Kleinen, und fürchtet euch nicht; denn ich halte in meinen Händen denjenigen als ein sanftes Lamm, welcher Löwe genannt wird; den Allmächtigen, der schwach geworden, den Unüberwindlichen, der überwunden ist. Kommet zum Leben, naht eurem Heil, eilet zur ewigen Ruhe; denn ich habe dies für alle in Händen; umsonst werdet ihr es empfangen, ohne Neid teile ich es aus. Seid nicht träge, seid nicht schweren Herzens, o Menschenkinder! Du aber, süßes Gut meiner Seele, erlaube mir, von dir den Kuss zu empfangen, nach dem alle Geschöpfe sich sehnen! (Hld 1,1)» Bei diesen Worten näherte die allerglücklichste Mutter ihre heiligen und keuschesten Lippen dem göttlichen Kind, es mit zärtlichster Liebe zu liebkosen, wie es als wahres Kind solches von seiner Mutter erwartete.

Indem Maria das Kind auf ihren Armen hielt, war sie gleichsam der Altar oder Tabernakel vor welchem die zehntausend Engel in menschlicher Gestalt ihren menschgewordenen Schöpfer anbeteten. Und da auch die allerheiligste Dreifaltigkeit bei der Geburt des fleischgewordenen Wortes in besonderer Weise gegenwärtig war, so war der Himmel sozusagen von seinen Bewohnern verlassen; denn der ganze unsichtbare himmlische Hof hatte sich zur heiligen Grotte von Bethlehem begeben, um da den Schöpfer in seinem neuen, fremden Gewand anzubeten. Cornelius a Lapide sagt: «Angeli omnes Christum Deum ae Dominum suu in terram nascentem comitati sunt ... ae natum infantem adorarunt Hoc enim ~ gnifieat Aposto/us dieens: Et eum iterum introdueit Primogenitum in orbem te rre, dieit: Et adorent eum omnes angeli Dei (Hebr. 1. 6.1. ut ibidem exp/ic S. Chrysost. Quare tune stabu/um et prresepium fuit quasi versum in ern/um e' pyreum.» /n Lue. 2. 7. Der Herausgeber). Dann stimmten die heiligen Engel zu seinem Preis jenen neuen Lobgesang an: «Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden die eines guten Willens sind! (Lk 2,14)» Sie wiederholten denselben mit süßester, wohltönender Harmonie voll Staunen über die großen Wunder, welche sie vollzogen sahen, sowie über die unaussprechliche Weisheit Gnade, Demut und Schönheit einer zarten Jungfrau von fünfzehn Jahren, welche die würdige Bewahrerin und Dienerin so erhabener Geheimnisse war.

485. Nun war es Zeit dass die weiseste, umsichtige Herrin ihren treuesten Bräutigam Joseph rief. Dieser war, wie oben gesagt wurde, in einer hohen Verzückung, in welcher ihm alle Geheimnisse der hochheiligen Geburt, die in dieser Nacht vorgingen, geoffenbart wurden. Es geziemte sich aber, dass er auch im Zustand der körperlichen Sinnestätigkeit das menschgewordene Wort sehe, berühre, anbete und ehre, bevor irgend ein anderer unter den Sterblichen dies tun durfte; war ja er allein unter allen zum treuen Verwalter dieses so erhabenen Geheimnisses auserwählt. Auf den Willen seiner himmlischen Braut trat er aus der Ekstase, und das erste, was er, zu seiner Sinnen zurückgekehrt, erblickte, war das göttliche Kind in den Armen seiner jungfräulichen Mutter, an deren heiliges Gesicht und Brust geschmiegt; da betete er es mit tiefster Demut unter Tränen an; er küsste seine Füße mit so großer Freude und Bewunderung, dass er das Leben verloren hätte, wenn es ihm nicht durch Gottes Allmacht erhalten worden wäre, und dass er die Sinne verloren hätte, wäre ihr Gebrauch bei diesen Anlass nicht notwendig gewesen. Nachdem der hl. Joseph das Kind angebetet hatte, bat die weiseste Mutter es um Erlaubnis, sich setzen zu dürfen; denn bisher war sie auf der Knien gewesen. Der hl. Joseph reichte ihr die mitgebrachten Windeln; in diese wickelte Maria das Kind mit unaussprechlicher Ehrfurcht, Andacht und Sorgfalt. Dann legte sie es auf göttliche Eingebung eingewickelt in die Krippe, wie der heilige Evangefist Lukas sagt (Lk 2, 7), nachdem sie ein wenig Stroh und Heu auf einen Stein gelegt um so den Gottmenschen auf das erste Lager zu betten, das er nächst den Armen seiner Mutter auf Erden hatte. Dann kam auf göttliche Fügung ein Ochse von den naheliegenden Gefilden in raschem Lauf herbeigeeilt; dieser ging in die Höhle und nahte sich dem Eselchen, welches der Himmelskönigin als Lasttier gedient hatte. Maria befahl den beiden Tieren, mit der ihnen möglichen Ehrerbietung ihrem Schöpfer Anbetung und Huldigung darzubringen. Die demütigen Tiere gehorchten dem Befehl ihrer Gebieterin, warfen sich vor dem Kind nieder, erwärmten es mit ihrem Hauche und leisteten ihm so die Huldigung, welche die Menschen ihm verweigerten. So war also der menschgewordene Gott, in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt zwischen den Tieren, und auf wunderbare Weise erfüllte sich die Prophezeiung: «Es kennet der Ochs seinen Eigentümer, und der Esel die Krippe seines Herrn: Israel aber kannte ihn nicht, und sein Volk verstand es nicht (Jes 1, 3).»

LEHRE DER HEILIGSTEN KÖNIGIN MARIA

486. Meine liebe Tochter, wenn die Sterblichen ein losgeschältes Herz und ein gesundes Urteil hätten, um dieses große Geheimnis der Erbarmung, welches Gott für sie vollbracht würdig zu erwägen, so würde das Andenken daran sie mit Macht auf den Weg des Lebens zurückbringen und mit Liebe zu ihrem Schöpfer und Erlöser entzünden. Die Menschen sind ja mit Vernunft begabt; wollten sie diese mit Würde und Freiheit gebrauchen, wie sie es schuldig sind, wer wäre dann so hart so gefühllos, dass er nicht gerührt und erweicht würde beim Anblick seines menschgewordenen Gottes, der sich so tief erniedrigt hat, dass er arm, verachtet, unbekannt in einer Krippe, zwischen unvernünftigen Tieren geboren werden wollte, von niemand gepflegt als von einer Mutter, welche selber arm und von der törichten, hoffärtigen Welt verstoßen war? Wer könnte angesichts einer so erhabenen Weisheit und eines so großen Geheimnisses sich noch erkühnen, die Eitelkeit und den Stolz zu lieben, welche der Schöpfer Himmels und der Erde so sehr hasst und durch sein Beispiel verurteilt? Und wer könnte die Demut Armut und Entblössung verabscheuen, welche der Herr liebte und für sich erwählte, und welche er uns als das wahre Mittel zum Ewigen Leben vorstellte. Nur wenige nehmen sich Zeit diese Wahrheit und dieses Beispiel ernstlich zu erwägen wegen dieser schändlichen Undankbarkeit erlangen aber auch nur wenige die Frucht dieser großen Geheimnisse.

487. Mein heiligster Sohn hat sich gegen dich überaus herablassend und freigebig gezeigt indem er dir so hohe Erkenntnis und so klares Licht über diese wunderbaren, dem Menschengeschlecht erwiesenen Gnaden verliehen hat. Sei darum deiner Pflicht eingedenk, meine Teuerste, und erwäge, wie vieles du tun und wie du diesem erhaltenen Licht entsprechend handeln musst. Damit du diese Schuld abzahlst, erinnere und ermahne ich dich aufs neue, alles Irdische zu vergessen und aus dem Auge zu verlieren und von der Welt nichts zu verlangen und nichts anzunehmen, als was dich von ihr und ihren Bewohnern entfernen und vor ihnen verbergen kann, damit dein Herz von jeder irdischen Anhänglichkeit frei und du wohlbereitet seist, in dem die Geheimnisse der Armut, der Demut und der Liebe deines menschgewordenen Gottes zu feiern. Lerne durch mein Beispiel, mit welch tiefer Ehrfurcht du mit dem Herrn umgehen sollst wie ich es getan, als ich ihn in meiner Armen hielt. Diese Lehre sollst du in Ausübung bringen, wem du ihn in dem allerheiligsten Sakrament des Altars in dein Herz aufnimmst. In diesem Sakrament ist ja derselbe wahre Gott und Mensch zugegen, der aus meinem Schoß geboren wurde und du hast ihn dann wirklich so nahe bei dir, dass er, wem auch in anderer Weise, doch ebenso wahrhaft in dir ist wie er bei mir war, als ich ihn auf den Armen trug.

488. Diese heilige Ehrfurcht musst du dir in hohem Grad zu eigen machen. Auch sollst du wissen und beachten, wie der im allerheiligsten Sakrament gegenwärtige Gott, wenn er bei der heiligen Kommunion in dein Herz eingeht, zu dir dieselben Worte spricht welche er, wie du erkannt und niedergeschrieben hast, zu mir gesprochen hat, nämlich: «Werde mir ähnlich!» Dass er vom Himmel auf die Erde herabsteigen, dass er in Armut und Demut geboren werden, leben und sterben wollte, und durch dieses große Beispiel die Verachtung der Welt und ihre Eitelkeit zu lehren, dass er dir eine außergewöhnlich hohe Erkenntnis und ein tiefes Verständnis dieser Geheimnisse verliehen hat; dieses alles muss dir eine lebendige Stimme sein, die du mit der größten Aufmerksamkeit deiner Seele anhören, und deinem Herzen einprägen sollst, damit du die allen Menschen verliehenen Wohltaten in Weisheit dir zu eigen machest. Verstehe wohl: Mein allerheiligster Sohn und Herr verlangt von dir, dass du diese Wohltaten mit solcher Dankbarkeit aufnehmest, wie wenn er für dich allein vom Himmel herabgestiegen wäre, wie wenn er dich allein erlöst und für dich allein alle die Wunder gewirkt und die Lehre verkündet hätte, welche er seiner heiligen Kirche hinterlassen hat.

ELFTES HAUPTSTÜCK: Anbetung der Hirten

Die heiligen Engel verkünden die Geburt unseres göttlichen Heilandes an verschiedenen Orten. Die Hirten kommen um ihn anzubeten.

489. Nachdem die himmlischen Heerscharen in der Höhle zu Bethlehem die Geburt ihres menschgewordenen Gottes, unseres Erlösers, gefeiert hatten, wurden einige aus ihnen vom Herrn nach verschiedenen Orten abgesandt, um die glückselige Botschaft denjenigen zu verkünden, welche dem Willen Gottes gemäß vorbereitet waren, dieselbe zu vermehren. Der heilige Himmelsfürst Michael begab sich zu den hl. Vätern in der Vorhölle und verkündete ihnen, dass der eingeborene, menschgewordene Sohn des ewigen Vaters bereits geboren und in die Welt gekommen sei, dass er in seiner Krippe zwischen Tieren liege, demütig und sanftmütig, wie sie es vorhergesagt hatten. Er sprach insbesondere mit dem hl. Joachim und der hl. Anna im Namen der glückseligen Mutter, weil diese es ihm aufgetragen hatte, und wünschte ihnen Glück dazu, dass ihre heiligste Tochter bereits denjenigen in ihren Armen hielt, den die Völker erwartet und den alle Patriarchen und Propheten vorherverkündigt hatten. Dies war der trostreichste, freudenvollste Tag, den diese große Versammlung der Gerechten und Heiligen während ihrer langdauernden Verbannung jemals erlebt hatte. Alle anerkannten den neugeborenen Gottmenschen als den Urheber ihres ewigen Heiles, sangen ihm neue Loblieder und brachten ihm ihre Anbetung und Huldigung dar. Joachim und Anna ließen durch den himmlischen Boten, den hl. Michael, ihre heiligste Tochter Maria bitten, das göttliche Kind, die gebenedeite Frucht ihres reinsten Schoßes, auch in ihrem Namen anzubeten. Die große Königin der Welt tat dieses alsbald und hörte mit höchster Wonne an, was ihr der Himmelsfürst über die Väter der Vorhölle berichtete.

490. Ein anderer von den Schutzengeln der göttlichen Mutter wurde zur hl. Elisabeth und zu ihrem Sohn Johannes gesandt. Als er ihnen die Geburt des Erlösers ankündigte, warf sich die weise Matrone mit ihrem Sohn, obwohl dieser noch ein zartes Kind war, zur Erde nieder, und beide beteten ihren menschgewordenen Gott im Geiste und in der Wahrheit an. Das zum Vorläufer des Herrn geheiligte Kind wurde innerlich erneuert und mit einem noch feurigeren Geist erfüllt als der Geist des Elias war, so dass selbst die Engel über diese Geheimnisse staunten und Gott lobten. Auch ließen der hl. Johannes und seine Mutter unsere Königin durch die Engel bitten, in ihrem Namen ihren heiligsten Sohn anzubeten und sie aufs neue seinem Dienst aufzuopfern. Die Himmelskönigin erfüllte unverzüglich ihre Bitte.

491. Die hl. Elisabeth sandte auf diese Nachricht hin alsbald einen eigenen Boten nach Bethlehem und schickte der glückseligen Mutter des göttlichen Kindes Geschenke, nämlich einiges Geld, Linnen und andere Gegenstände, um den Bedürfnissen des neugeborenen Kindes, seiner armen Mutter und des hl. Joseph abzuhelfen. Dieser Bote hatte einzig den Auftrag, die Base Elisabeth und den hl. Joseph zu besuchen, zu sehen, was sie nötig hätten, und hierüber, sowie über deren Befinden sichere Nachricht zu bringen. Von dem Geheimnis hatte dieser Mann keine weitere Kenntnis, als was er äußerlich sah; er kehrte jedoch erstaunt und von einer göttlichen Kraft gerührt und innerlich ganz umgewandelt zurück. Mit unaussprechlicher Freude erzählte er der hl. Elisabeth von der Armut und von der Güte ihrer Base, des Kindes und des heiligen Joseph, sowie von den Wirkungen, welcher ihr bloßer Anblick in ihm hervorgebracht habe. Auf das wohlbereitete Herz der frommen Matrone machte dieser einfache Bericht wunderbaren Eindruck, und sie hätte es sich nicht versagen können, die jungfräuliche Mutter und das neugeborene göttliche Kind zu besuchen, wenn sie nicht der Wille Gottes zurückgehalten hätte, welcher verlangte, dass das Geheimnis verborgen bleibe. Die Himmelskönigin nahm einige der ihr geschickten Gegenstände, um ihrer Armut etwas abzuhelfen, das übrige verteilte sie unter die Armen deren Gesellschaft sie auch während ihres Aufenthaltes in der Grotte der Geburt nicht entbehren wollte.

492. Andere Engel brachten dieselbe Botschaft dem Zacharias, dem Simeon der Prophetin Anna und einigen anderen Gerechten und Heiligen, welchen das neue Geheimnis unserer Erlösung anvertraut werden konnte; denn da der Herr sie würdig vorbereitet fand, um dasselbe mit Lobpreis, sowie mit Frucht für sich selbst aufzunehmen, so war er es ihrer Tugend gewissermaßen schuldig, ihnen die dem Menschengeschlecht erwiesene Wohltat nicht zu verbergen. Zwar erkannten damals nicht alle Gerechten auf Erden dieses Geheimnis; in allen aber brachte es in der Stunde der Geburt des Welterlösers einzelne himmlische Wirkungen hervor. Denn alle, die sich damals im Stand der Gnade befanden, fühlten eine ungewöhnliche, übernatürliche, innere Freude, obwohl sie deren bestimmte Ursache nicht kannten. Ja, nicht bloß bei den Engeln und Gerechten, sondern selbst bei den leblosen Geschöpfen fanden Veränderungen statt; denn alle Einflüsse der Planeten wurden erneuert und vervollkommnet. Die Sonne beschleunigte ihren Lauf, die Sterne strahlten in hellerem Glanz, und für die heiligen drei Könige wurde in dieser Nacht der wunderbare Stern gebildet, welcher sie nach Bethlehem führte. Viele Bäume brachten Blüten, andere brachten Früchte hervor. Mehrere Götzentempel stürzten ein, Götzenbilder fielen um, und die bösen Geister zogen aus ihnen. Alle diese und andere Wunder, welche an jenem Tage der Welt offenbar wurden, schrieben die Menschen verschiedenen Ursachen zu, ohne die wahre Ursache zu erraten. Nur unter den Gerechten vermuteten oder glaubten viele auf göttliche Eingebung hin, dass Gott in die Welt gekommen sei; doch mit Sicherheit wusste dies niemand, außer denjenigen, welchen der Herr selbst es offenbarte. Unter letzteren waren die heiligen drei Könige, zu welchen andere Engel von der Ehrenwache der Himmelskönigin geschickt wurden. Die Engel kamen zu einem jeden von ihnen besonders, in die Gegend des Morgenlandes, in welcher ein jeder wohnte. Sie offenbarten ihnen auf geistige Weise und durch innerliche Ansprache, dass der Erlöser des Menschengeschlechtes in Armut und Demut geboren sei. Durch diese Offenbarung wurde ihnen ein neues Verlangen eingeflößt, denselben zu suchen und anzubeten. Bald darauf sahen sie jenen außerordentlichen Stern, welcher sie nach Bethlehem leitete, wie ich unten sagen werde. (Über die Wunder, welche bei der Geburt Christi geschahen, vergleiche man Baronius [Tom. 1.], Cornelius a Lapide [In Luc. 2]. Hieber [Histor. eccl). Dalmatius Kick [Defensio Revel Agred P. 5. art. ult.] und andere. Der Herausgeber).

493. Doch die glücklichsten von allen waren die Hirten der Umgegend, welche zur Stunde der Geburt wachten und ihre Herden hüteten. Sie wurden vor allen anderen bevorzugt, nicht nur deshalb, weil sie wachend ihrem ehrbaren Geschäfte oblagen und dessen Beschwerden Gott zulieb ertrugen, sondern auch, weil sie arm, demütig, von der Welt verachtet, gerecht und aufrichtigen Herzens waren und zur Zahl derjenigen gehörten, welche unter dem Volk Israels die Ankunft des Messias mit Inbrunst verlangten und erwarteten und oftmals davon sprachen. Sie waren dem Urheber des Lebens um so ähnlicher, je mehr sie der Pracht und Hoffart der Welt und ihrer teuflischen Arglist fern waren. Durch diese edlen Eigenschaften vertraten sie auf würdige Weise das Amt welches der «gute Hirte» ausüben sollte, der seine Schafe kennt und von diesen gekannt ist. Weil sie so wohlbereitet waren, wurden sie gewürdigt als Erstlinge der Heiligen durch den Herrn gerufen und eingeladen zu werden, damit das ewige, menschgewordene Wort sich ihnen vor allen Menschen offenbare und von ihnen Lob, Huldigung und Anbetung entgegennehme. Zu diesem Zwecke wurde der hl. Erzengel Gabriel abgesandt; er fand sie wachend und erschien ihnen in sichtbarer, menschlicher Gestalt, in hellstem Lichtglanz strahlend. (Dass es der Erzengel Gabriel war, welcher als «Botschafter der Menschwerdung» den Hirten die Geburt Christi verkündete, halten Kard;, Toletus. Trombelli und andere für sehr wahrscheinlich. Der Herausgeber).

494. Die Hirten sahen sich plötzlich von himmlischem Glanz umleuchtet und umflossen. Da sie an solche Offenbarungen nicht gewohnt waren, wurden sie beim Anblick des Engels von großer Furcht befallen. Doch der hl. Himmelsfürst ermutigte sie und sprach zu ihnen: «Aufrichtige Männer, fürchtet euch nicht, denn seht, ich verkündige euch eine große Freude: heute ist euch in der Stadt Davlds der Heiland geboren worden, welcher Christus, unser Herr, ist. Und dies gebe ich euch zum Zeichen dieser Wahrheit: ihr werdet ein Kind finden, in Windeln eingewickelt und in einer Krippe liegend (Lk 2,10 ff).» Bei diesen Worten kam plötzlich zu dem heiligen Erzengel eine Menge himmlischer Heerscharen, welche mit süßer Harmonie Gott lobten und sangen: «Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind!» Unter Wiederholung dieses göttlichen, der Welt so neuen Lobgesangs verschwanden die heiligen Engel. Alles dieses fand in der vierten Nachtwache statt. Die demütigen, glücklichen Hirten waren durch diese Erscheinung der Engel mit himmlische Lichte erfüllt; voll Andachtsglut und Inbrunst verlangten sie all zumal ihr Glück zu benützen und hinzugehen, um mit ihren Augen das erhabenste Geheimnis zu schauen, welches ihre Ohren bereits vernommen hatten.

495. Die Zeichen, welche der heilige Erzengel den Hirten angegeben hatte, schienen nicht besonders geeignet, die Augen des Leibes von der Größe des neugeborenen Kindes zu überzeugen. Denn in ärmliche Windeln gewickelt in einer Krippe liegen, dies wäre kein beweiskräftiges Anzeichen gewesen, um die Majestät des Königs zu erkennen, wenn sie nicht vom himmlischen Licht erleuchtet und belehrt gewesen wären, es zu erfassen. Weil sie nämlich von weltlicher Hoffart und weltlicher Weisheit frei waren, wurden sie so schnell in der göttlichen Weisheit unterwiesen. Sie teilten einander mit, was jeder von dieser außerordentlichen Botschaft dachte, und beschlossen, eilends nach Bethlehem zu gehen und das Wunder zu sehen, welches der Herr ihnen verkündet hatte. Sie machten sich unverzüglich auf, traten in die Höhle ein und fanden da, wie der heilige Evangelist sagt, Maria, Joseph und das Kind, das in der Krippe lag. Und indem sie alles dieses sahen, fanden sie wahr, was sie über das Kind gehört hatten. Diese äußere Erfahrung und Anschauung war von einer innerlichen Erleuchtung begleitet, welche sie durch den Anblick des menschgewordenen Wortes erhielten; denn als die Hirten ihre Augen auf es richteten, schaute das göttliche Kind sie gleichfalls an. Von seinem Antlitz ging ein großer Glanz aus, dessen Strahlen die aufrichtigen Herzen aller dieser armen, aber glücklichen Menschen verwundeten. Dadurch wurden sie mit göttlicher Kraft zu einem neuen Leben der Gnade und Heiligkeit umgewandelt und erhöht, und zugleich mit übernatürlicher Erkenntnis der erhabensten Geheimnisse der Menschwerdung und Erlösung des Menschengeschlechtes erfüllt.

496. Alle warfen sich auf die Erde nieder und beteten den menschgewordenen Sohn Gottes an. Nicht mehr als unwissende Landleute, sondern als weise und verständige Männer lobpriesen und verherrlichten sie ihn als wahren Gott und wahren Menschen und als den Erlöser des Menschengeschlechtes. Die Mutter des göttlichen Kindes merkte auf alles, was die Hirten sagten und was sie äußerlich und innerlich taten; denn sie durchschaute ihre Herzen bis auf den Grund. Sie überlegte und bewahrte alle diese Dinge mit höchster Weisheit und Klugheit in ihrem Herzen und verglich dieselben mit den darin verborgenen Geheimnissen, sowie mit den Prophezeiungen der Heiligen Schrift (Lk 2,19). Weil sie damals das Werkzeug des Heiligen Geistes und die Zunge des göttlichen Kindes war, so redete sie mit den Hirten, gab ihnen Lehren und Unterweisungen und ermahnte sie zur Beharrlichkeit in der Liebe und im Dienste Gottes. Die Hirten aber stellten auf ihre Art Fragen an sie und erzählten ihr vieles über die Geheimnisse, welche sie erkannt hatten. Sie blieben in der Höhle von Tagesanbruch bis nach Mittag. Unsere große Königin gab ihnen Speise und entließ sie mit Gnaden und himmlischem Trost erfüllt.

497. Während der Zeit, da Maria, das Kind und Joseph sich in der Grotte aufhielten, kehrten diese heiligen Hirten noch mehrere Male zurück, sie zu besuchen und ihnen einige Geschenke zu bringen, soweit ihre Armut dies gestattete. Was aber der heilige Evangelist Lukas weiter sagt, dass nämlich diejenigen, welche die Hirten über das Geschehene sprechen hörten, sich verwunderten (1), dies geschah erst später, nachdem die Himmelskönigin mit dem Kind und mit Joseph Bethlehem verlassen hatte; denn die göttliche Weisheit hatte es so gefügt, dass die Hirten es nicht eher bekannt machen konnten. Doch nicht alle schenkten den Hirten Glauben. Manche betrachteten sie als unwissende Landleute, während sie doch heilig und voll himmlischer Weisheit waren und bis zu ihrem Tod es blieben. Unter denjenigen, welche ihnen glaubten, war Herodes; doch war er dabei nicht vom heiligen Glauben und von Frömmigkeit geleitet, sondern von weltlicher, höchst verwerflicher Furcht, sein Reich zu verlieren. Unter den Knäblein aber, welche Herodes ermorden ließ, waren auch einige Kinder dieser heiligen Hirten. Auch ihnen wurde dieses große Glück zuteil, und ihre Väter opferten sie mit Freude zum Leiden und Martertod für den Herrn auf, den sie ja kannten und für den sie selbst gern gestorben wären.

LEHREN DER HEILIGSTEN HIMMELSKÖNIGIN MARIA

498. Meine liebe Tochter, ebenso verwerflich wie gewöhnlich und allgemein ist der Undank, mit welchem die Sterblichen die Werke ihres Erlösers vergessen und missachten, währen doch alle so voll sind von Geheimnissen von Liebe und Bamherzigkeit und so reich an Lehren für sie. Du bist berufen und erwählt, dank dem dir verliehenen Licht dieser rohen und gefährlichen Gefühllosigkeit nicht zu verfallen, und darum verlange ich, dass du in den eben beschriebenen Geheimnissen die glühendste Liebe meines heiligsten Sohnes betrachtest und erwägst, mit welcher er sich unmittelbar nach seiner Geburt den Menschen mitteilte, damit sie ohne Verzug an den Früchten seiner Ankunft und an der Freude darüber teil hätten. Die Menschen kennen diese Pflicht nicht, denn nur wenige denken an die Verpflichtungen, welche so außerordentliche Wohltaten ihnen auferlegen, wie auch nur wenige das menschgewordene Wort bei seiner Geburt sahen und ihm für seine Ankunft dankten. Aber auch die Ursache ihres Unglückes und ihrer Blindheit ist ihnen unbekannt; diese lag und liegt nicht auf Seiten des Herrn und seiner Liebe, sondern kommt von den Sünden und der schlimmen Gemütsverfassung der Menschen her. Der Herr hätte allen oder doch vielen von ihnen dasselbe Licht zuteil werden lassen, das er den Gerechten, den Hirten und heiligen Königen verliehen hat wenn nicht ihr schlechter Seelenzustand dies verhindert und sie dessen unwürdig gemacht hätte. Aus dieser geringen Anzahl der auserwählten Gerechten kannst du schließen, in welch traurigem Zustand die Welt sich bei der Geburt des göttlichen Erlösers befunden hat, und wie unglücklich sie jetzt daran ist, jetzt, da diese Geheimnisse offener und bekannter sind und dennoch so wenig beachtet und so wenig mit schuldiger Dankbarkeit vergolten werden.

499. Erwäge nun die schlechte Disposition der Menschen in dem gegenwärtigen Jahrhundert. Das Licht des Evangeliums leuchtet doch so hell und ist bestätigt durch die Wunderwerke, welche Gott in seiner Kirche gewirkt hat; und dennoch ist die Zahl der Vollkommenen sehr klein und nur wenige sind es, welche sich einer reichlicheren Teilnahme an den Früchten der Erlösung würdig zu machen suchen. Freilich sind angesichts der großen Zahl der Toren und der alle Grenzen überschreitenden Laster manche der Meinung, es gebe noch viele Vollkommene, weil sie viele sehen, die nicht gar so verwegen sind gegen Gott. Allein es sind der Vollkommenen nicht so viele, als man glaubt und bei weitem weniger, als es sein sollte zu einer Zeit, da Gott von den Ungläubigen so schwer beleidigt wird, und da er anderseits so sehnlich verlangt, um der Verdienste seines menschgewordenen Sohnes willen die Schätze seiner Gnade der heiligen Kirche mitzuteilen. Denke also, liebste Tochter, an die Verpflichtung, welche die so klare Erkenntnis dieser Wahrheiten dir auferlegt. Sei aufmerksam, wachsam und eifrig bedacht, dich dankbar zu zeigen gegen denjenigen, der dich durch so große Wohltaten verpflichtet. Zu jeder Zeit, an jedem Ort, bei jeder Gelegenheit tue, was du als das Heiligste und Vollkommenste erkennst; denn mit Wenigerem wirst du deiner Pflicht nicht genügen. Sieh, wie ich dich ermahne, ansporne, ja dir befehle, eine so außergewöhnliche Gunst nicht vergeblich zu empfangen; lasse die göttliche Gnade und Erleuchtung nicht müßig sein, sondern handle mit höchster Vollkommenheit und Dankbarkeit.

ZWÖLFTES HAUPTSTÜCK: Die Gottheit Jesu bleibt dem bösen Feind noch verborgen

Was dem bösen Feind vom Geheimnisse der Geburt des göttlichen Heilandes verborgen blieb: andere Begebenheiten bis zur Beschneidung.

500. Die Ankunft des menschgewordenen ewigen Wortes auf Erden war, soweit dies vom Herrn selber abhing, für alle Menschen glückselig und höchst gnadenreich. Er kam ja, um uns allen, die wir in Finsternis und Todesschatten saßen, Leben und Licht zu bringen. Und wenn die Verworfenen und Ungläubigen an diesem Eckstein strauchelten und noch jetzt straucheln, wenn sie ihr Verderben da suchen, wo sie die Auferstehung zum Ewigen Leben finden könnten und sollten, so ist dies nicht die Schuld des Steines, sondern derjenigen, die ihn zum Stein des Anstoßes gemacht haben, indem sie sich daran stießen. Nur für die Hölle war die Geburt des göttlichen Kindes schrecklich; denn es war ja der «Starke», der Unüberwindliche, welcher kam, um den mit der Lüge bewaffneten Starken, der so lange Zeit hindurch seine Burg in ruhigem, aber ungerechtem Besitz bewahrt hatte, seiner tyrannischen Herrschaft wegzunehmen. Um diesen Fürsten der Welt und der Finsternis zu stürzen, wurde ihm mit Recht das Geheimnis dieser Ankunft des göttlichen Heilandes verborgen; denn nicht nur war er seiner Bosheit wegen unwürdig, die Geheimnisse der unendlichen Weisheit zu erkennen, sondern es gebührte sich auch, dass die göttliche Vorsehung diesen bösen Feind durch seine eigene Bosheit verblendet werden ließ, weil er mit dieser Bosheit den Trug und die Verblendung der Sünde in die Welt eingeführt und Adam samt allen seinen Nachkommen zum Fall gebracht hatte.

501. Durch diese göttliche Fügung blieben dem Satan und seinen Dienern viele Dinge, welche sie sowohl bei der Geburt unseres Herrn, als im Verlauf seines heiligsten Lebens natürlicherweise hätten bemerken können, verborgen, wie in dieser Geschichte wiederholt erwähnt werden muss. Hätte nämlich Satan mit Sicherheit gewusst, dass Christus wahrer Gott war, so hätte er offenbar dessen Tod nicht veranlasst sondern verhindert, wie ich an seinem Ort sagen werde. Betreffs des Geheimnisses der Geburt bemerkte er nur, dass die heiligste Mutter einen Sohn geboren hatte in Armut, in einer verlassenen Höhle, ohne ein Obdach zu finden. Ebenso bemerkte er die Beschneidung des Kindes und andere Dinge, die ihm bei seinem Stolz die Wahrheit mehr verhüllen als aufdecken konnten. Dagegen blieb ihm verborgen, auf welche Weise unser Herr geboren wurde; dass die glückselige Mutter dabei Jungfrau blieb, wie sie es vorher war; ferner die Botschaften der Engel an die Gerechten und die Hirten, deren Unterredungen und die Anbetung, welche sie dem göttlichen Kinde darbrachten. Später sah er auch den Stern nicht und wusste nicht, warum die Könige kamen. Allerdings sah er sie auf der Reise, dachte aber, sie gelte weltlichen Zwecken. Ebenso wenig entdeckten die bösen Geister die Ursache jener Veränderungen in den Elementen, Sternen und Planeten, obwohl sie diese Veränderungen selbst gewahrten. Endlich blieb ihnen auch unbekannt die Unterredung der Weisen mit Herodes, ihr Eintritt in die Höhle, die Anbetung und die Darbringung ihrer Geschenke. Die Wut des Herodes gegen die Kinder bemerkten sie zwar und schürten sie; allein seine böse Absicht kannten sie damals nicht und darum nährten sie seine Grausamkeit. Luzifer vermutete zwar wohl, dass Herodes den Messias suche; doch dies schien ihm eine Torheit und er spottete deshalb über Herodes, da er in seinem Stolz dachte, es sei töricht zu meinen, Gottes Sohn werde in Demut und Verborgenheit in die Welt kommen, um sich zum Herrn ihrer zu machen. Er glaubte, derselbe werde mit großer Macht und mit prunkvoller Majestät erscheinen; allein hiervon war das von einer armen, verachteten Mutter geborene göttliche Kind gar weit entfernt.

502. So täuschte sich also Luzifer; indes hatte er doch einige außerordentliche Begebenheiten bei der Geburt unseres Herrn bemerkt. Er versammelte darum seine Diener in der Hölle und sprach zu ihnen: «Ich finde in dem, was wir in der Welt ausgekundschaftet haben, keinen Grund zur Furcht; denn die Frau, welche wir so heftig verfolgten, hat zwar einen Sohn geboren, dieser ist aber so äußerst arm und unbekannt, dass er nicht einmal ein Obdach in einer Herberge finden konnte. Wir wissen aber gar wohl, wie sehr dies der Macht und Größe Gottes fremd ist. Soll dieses Kind gegen uns streiten, wie uns gezeigt worden und wir gesehen haben, so reichen seine Kräfte nicht aus, um unserer Macht zu widerstehen. Es ist also nicht zu befürchten, dass dies der Messias sei, besonders da man davon spricht, das Kind beschneiden zu wollen, wie die andern. Es hat also selbst nötig, von der Sünde befreit zu werden; dies ist aber unvereinbar mit der Bestimmung, Erlöser der Welt zu sein. Alle diese Anzeichen sprechen dagegen, dass Gott auf die Welt gekommen sei, und mich dünkt, wir können sicher sein, dass er noch nicht gekommen ist.» Die Diener der Bosheit stimmten dieser Meinung ihres verworfenen Hauptes bei und waren überzeugt, dass der Messias nicht gekommen sei; denn wie sie alle die Bosheit Luzifers teilten, so wurden sie auch alle durch sie verblendet. Luzifers unversöhnlicher Hochmut dachte nicht daran, dass die Majestät und Herrlichkeit sich verdemütigen werde. Er selbst trachtet nur nach Beifall, Prunk, Ehre und Herrlichkeit. Er würde, wenn es ihm möglich wäre, alle Geschöpfe zwingen, ihn anzubeten. Darum kam es ihm nicht in den Sinn, dass Gott, welcher mächtig genug wäre, in Herrlichkeit zu erscheinen, zum Gegenteil sich herablasse und der Erniedrigung sich unterwerfe, welche diesem stolzen Geist so verhasst ist.

503. O Kinder der Eitelkeit, welche Beispiele habt ihr hier vor Augen, um euch zu enttäuschen! Mächtig muss uns die Demut Christi unseres Herrn anziehen und anspornen; wenn aber sie uns nicht rührt, so soll doch wenigstens der Hochmut Luzifers uns Furcht und Schrecken einflößen. O Laster, fürchterlich über alle menschliche Vorstellung, einen Engel voll Weisheit hast du derart verblendet, dass er sich von Gottes unendlicher Güte keine andere Meinung bilden konnte, als von sich selbst und von seiner eigenen Bosheit. Wie sollte dann der Mensch, der aus sich selbst so unwissend ist, noch verständig sein, wenn sich Hochmut und Sünde zur Unwissenheit gesellt? O unglücklicher, törichter Luzifer, wie hast du so falsch geurteilt über eine Sache, die so voll Weisheit und Schönheit ist. Oder was gibt es Liebenswürdigeres als Demut und Sanftmut vereinigt mit Majestät und Macht? Weißt du denn nicht elendes Geschöpf, dass es Verstandesschwäche ist und von einem niederträchtigen Herzen kommt, wenn man sich nicht zu verdemütigen versteht? Wer edelmütig und wahrhaft groß ist, der begnügt sich nicht mit der Eitelkeit; er kann nicht verlangen nach dem, was so gemein ist; Trug und Schein kann ihn nicht befriedigen. Offenbar bist du ganz und gar blind für die Wahrheit und ein ganz blinder Führer der Blinden, da du nicht hast begreifen können, dass Gottes Liebe und Güte sich in ihrer ganzen Größe gezeigt hat durch die Demut und den Gehorsam bis zum Tod am Kreuz.

504. Die Mutter der Weisheit. U. L. Frau, sah alle diese Täuschungen und Albernheiten des Luzifer und seiner Diener. In würdiger Hochachtung dieser so erhabenen Geheimnisse lobte und pries sie den Herrn, dass er sie den Stolzen verborgen, dagegen den Demütigen und Armen geoffenbart und dadurch begonnen habe, die Tyrannei des Satans zu überwinden. Die mitleidsvolle Mutter verrichtete inbrünstige Gebete für alle Menschen, die wegen ihrer Sünden unwürdig waren, das Licht alsbald zu erkennen, welches zu ihrem Heil in die Welt gekommen war. Diese alle empfahl sie ihrem liebsten Sohn mit unaussprechlicher Liebe und zärtlichstem Mitleid für die Sünder. Hierzu verwendete sie den größten Teil der Zeit, welche sie in der Höhle der Geburt zubrachte. Da jener Ort sehr unbequem und den Widrigkeiten der Witterung ausgesetzt war, so richtete sie auch die größte Aufmerksamkeit darauf, ihr zartes, liebes Kindlein dagegen zu schützen. Zu diesem Zweck hatte sie in ihrer Weisheit außer den gewöhnlichen Windeln noch ein Mäntelchen mitgebracht, mit welchem sie das Kind bedeckte. Auch trug sie es beständig in dem heiligen Tabernakel ihrer Hände, außer wenn sie es ihrem Bräutigam Joseph gab; denn um sein Glück zu erhöhen, wollte sie, dass er ihr hierbei helfe und dem menschgewordenen Gott die Dienste eines Vaters leiste.

505. Als der heilige Bräutigam zum ersten Mal das göttliche Kind auf seine Arme nahm, sagte Maria zu ihm: «Mein Bräutigam und Beschützer, nimm in deine Arme den Schöpfer Himmels und der Erde, genieße seine liebenswürdige Gesellschaft und seine Süßigkeit, damit mein Herr und Gott seine Freude finde an deinem Dienste. Empfange den Schatz des ewigen Vaters und nimm teil an der Wohltat des Menschengeschlechtes.» Darauf sprach sie innerlich zu dem göttlichen Kind: «Süßeste Liebe meiner Seele, Licht meiner Augen, ruhe in den Armen deines Dieners und Freundes, meines Bräutigams Joseph; erfreue dich mit ihm und vergiss um seinentwillen meine Nachlässigkeiten. Wohl empfinde ich es schmerzlich, auch nur einen Augenblick ohne dich zu sein; doch demjenigen, der dessen würdig ist, will ich das höchste Gut, das ich in Wahrheit empfangen, ohne Neid mitteilen (Weish 7,13).» Der treueste Bräutigam verbeugte sich voll Dankbarkeit für dieses übergroße Glück bis zur Erde und sprach: «Herrin, Königin der Welt meine Braut, wie soll ich Unwürdiger mich erkühnen, Gott in meinen Armen zu halten, vor welchem die Säulen des Himmels Eltern (Job 26,11) ? Wie soll ich armer Wurm den Mut haben, so außerordentliche Gnaden anzunehmen? Ich bin Staub und Asche; du aber, o Herrin, ergänze meine Niedrigkeit und bitte den Allerhöchsten, dass er mich mit Milde und Gnade anschaue.»

506. Schwankend zwischen dem Verlangen, das göttliche Kind zu empfangen, und der Ehrfurcht welche ihn zurückhielt, erweckte der heilige Bräutigam heldenmütige Akte des Glaubens, der Liebe, der Demut und tiefer Verehrung. Zitternd vor heiliger Ehrfurcht empfing er dann kniend das Kind aus den Händen seiner heiligsten Mutter, indem er dabei die süßesten Tränen der Freude vergoss, einer Freude, die ebenso groß war, als das ihm beschiedene Glück. Das göttliche Kind blickte ihn mit zärtlicher Liebe an und erneuerte ihn zu gleicher Zeit innerlich durch Gnaden, deren Größe auszudrücken nicht möglich ist. Der heilige Bräutigam dankte mit neuen Lobliedern, da er sich so reich beschenkt und begünstigt sah, und genoss einige Zeit das süßeste Glück, welches seine Seele durchdrang. während er den Herrn in seinen Händen hielt, der Himmel und Erde mit seiner Hand umfasst; dann gab er das Kind seiner glückseligen Mutter zurück. Beide lagen hierbei auf den Knien: Joseph, um es hinzugeben, Maria, um es zu empfangen. Es war dies eine Ehrenbezeigung, welche die weiseste Mutter dem göttlichen Kind jedes Mal erzeigte, so oft sie es auf ihre Arme nahm oder hingab; und dasselbe tat ihr Bräutigam, wenn ihm dies glückliche Los beschieden war. Ehe sie sich aber dem menschgewordenen Gott nahten, machten sie drei Kniebeugungen und küssten die Erde unter heldenmütigen Akten der Demut, Anbetung und Ehrfurcht welche die große Königin und der glückselige hl. Joseph erweckten, so oft sie das göttliche Kind einander gaben oder voneinander empfingen.

507. Als die göttliche Mutter glaubte, es sei Zeit, ihrem Kind die mütterliche Nahrung zu reichen, bat sie es mit demütiger Ehrfucht um Erlaubnis dazu; denn wiewohl sie es als ihr Kind und als wahren Menschen nähren musste, so betrachtete sie es doch gleichzeitig als ihren wahren Gott und Herrn; sie wusste ja, welcher Abstand sei zwischen dem unendlich großen Gott und einem bloßen Geschöpf, wie sie es war. Diese Erkenntnis war aber bei der weisesten Jungfrau ohne Gebrechen und Unvollkommenheit und eben darum ununterbrochen und frei von jeder, auch der geringsten Unachtsamkeit. Immer dachte Maria an alles, sie erkannte in allem das Erhabenste und Vollkommenste und vollbrachte es. So war sie auch bedacht, das Kind zu nähren, zu bedienen und zu bewachen, aber nicht mit unruhiger Sorge, sondern mit beständiger Aufmerksamkeit, Ehrfurcht und Klugheit. Hierdurch erregte sie selbst die größte Verwunderung der Engel, deren Verstand nicht hinreichte, um die heroischen Handlungen einer so zarten Jungfrau zu erfassen. Da die Engel immer in körperlicher Gestalt bei ihr in der Grotte der Geburt waren, so dienten und halfen sie in allem, was zum Dienste des göttlichen Kindes und seiner Mutter nötig war. Alle diese Geheimnisse sind so lieblich und wunderbar, unserer Aufmerksamkeit und unseres Andenkens so würdig, dass wir nicht leugnen können, es ist verwerflicher Undank, sie zu vergessen, und wir sind uns selbst feind, wenn wir uns dieses Andenkens und damit der wunderbaren Wirkungen berauben, welche es in treuen, dankbaren Kindern hervorbringt.

508. Was ich über die Ehrfurcht der heiligsten Jungfrau Maria und des glorreichen hl. Joseph dem göttlichen Kind gegenüber, sowie über die Ehrfurcht der Engelchöre hierbei erkannt habe, würde Stoff genug bieten, um diesen Bericht weit auszudehnen. Ich will dies zwar nicht tun, will aber bekennen, dass ich mitten in diesem Licht bestürzt und beschämt bin, wenn ich an die geringe Ehrfurcht denke, mit welcher ich bisher mit Gott umzugehen wagte. Die vielen Fehler, die ich hierin begangen habe, sind mir ganz klar geworden.

Alle heiligen Engel, welche der Himmelskönigin zur Seite waren, um ihr in allem zu helfen, erschienen von der Geburt des göttlichen Kindes bis zur Flucht nach Ägypten, wovon weiter unten die Rede sein wird, stets in sichtbarer, menschlicher Gestalt. Die Sorgfalt der demütigen, liebevollen Mutter für ihr göttliches Kind war eine so beständige, dass sie es nur dann, wenn sie etwas Speise zu sich nehmen wollte, aus den Händen ließ. Sie gab es dann entweder dem hl. Joseph oder den heiligen Himmelsfürsten Michael und Gabriel; denn diese beiden Erzengel hatten sie gebeten, während des Essens oder während der hl. Joseph arbeitete, es ihnen zu geben. In diesen Fällen übergab sie es also den Händen der Engel, und so erfüllte sich auf wunderbare Weise, was David gesagt hat: «Auf den Händen werden sie dich tragen» (Ps 91,12). Um die Sorge für ihr heiligstes Kind nicht zu unterbrechen, überließ sich die aufmerksamste Mutter niemals dem Schlaf, bis es selbst sie ermahnte, sich Schlaf und Ruhe zu gönnen. Um ihr dies zu ermöglichen und zugleich ihre Sorgfalt zu belohnen, verlieh ihr der Herr eine noch wunderbarere Art des Schlafs, als sie bis dahin gehabt hatte; denn bisher schon wachte ihr Herz, während sie schlief, und sie war fortwährend beschäftigt, himmlische Dinge zu erkennen und zu beschauen. Aber von diesem Tage an fügte der Herr zu diesem einen Wunder ein neues hinzu, in der Weise, dass die große Königin, soweit es nötig war, schlief, zugleich aber die Kraft der Arme bewahrte, um das Kind zu halten, wie wenn sie wach wäre. Zugleich schaute sie das Kind im Geist, als ob sie es mit leiblichen Augen sähe, und wusste durch geistige Wahrnehmung alles, was sie selbst und das göttliche Kind äußerlich taten. Durch dieses Wunder erfüllte sich das Wort des Hohenliedes : «Ich schlafe, aber mein Herz wacht (Hld 5, 2)»

509. Es ist unmöglich, mit meinen schwachen Worten die Loblieder wiederzugeben, welche unsere himmlische Königin, mit den heiligen Engeln und ihrem Bräutigam Joseph wechselweise singend, dem göttlichen Kinde zu seiner Ehre darbrachte. Man könnte darüber allein vieles schreiben, denn diese Lobgesänge waren sehr häufig; doch ist deren Kenntnis den Auserwählten zu ihrer besonderen Freude vorbehalten. Unter den Sterblichen war der heilige Joseph in dieser Hinsicht besonders glücklich und bevorzugt; denn er hörte oft diese Lobgesänge und stimmte in dieselben ein. Außer dieser Gunst erfreute er sich noch einer anderen, die seiner Seele überaus kostbar und tröstlich war; seine weiseste Braut bereitete ihm dieselbe, indem sie von dem göttlichen Kind sprechend sich oftmals des Ausdruckes bediente: «Unser Sohn»; nicht als ob derjenige, der nur den ewigen Vater zum Vater und nur die Jungfrau Maria zur Mutter hatte, der leibliche Sohn Josephs gewesen wäre, sondern weil er in der Meinung der Menschen als Sohn Josephs galt. Dieses Vorrecht war ihm überaus kostbar und bereitete ihm unaussprechliche Freude; darum erneuerte ihm seine Braut, die himmlische Königin, oftmals diesen Trost.

LEHRE, welche mir die heiligste Himmelskönigin Maria gab

510. Meine liebe Tochter, ich bemerke in dir eine heilige Eifersucht über das Glück, welches ich, mein Bräutigam und meine Engel in der Pflege der Gesellschaft meines heiligsten Kindes genossen! Wir hatten dasselbe vor Augen, wie auch du, falls es möglich wäre, es vor Augen zu haben wünschest. Ich will dich darum trösten und dein Herz auf das lenken, was du in deinem Stand tun sollst und kannst, um unser Glück soweit möglich zu erlangen. Erwäge also, Teuerste, das, was du in reichlichem Maß von den verschiedenen Wegen erfahren konntest, auf welchen Gott in seiner Kirche die Seelen leitet, die er wie ein Vater liebt und sucht. Du konntest dies erfahren durch die zahlreichen Einsprechungen und besonderen Erleuchtungen, welche du erhalten hast; du findest ja den Herrn beständig an der Türe deines Herzens. Er ruft und wartet da so lange Zeit. Er bemüht sich, dein Herz durch wiederholte Gnaden und die erhabenste Lehre zu wecken, damit du wissest und sicher seist, dass er dich gütigst bereitet und erwählt hat zur innigsten Liebesvereinigung und zum vertrautesten Verkehr mit ihm; damit du aber auch mit größter Sorgfalt nach der großen Reinheit strebest, welche für diesen Beruf erfordert ist.

511. Ebenso weißt du - der Glaube lehrt es dich ja -, dass Gott an jedem Ort sich befindet durch die Gegenwart, Wesenheit und Macht seiner Gottheit und dass alle deine Gedanken, Wünsche und Seufzer, kein einziger ausgenommen, offen vor seinen Augen daliegen. Wenn du nun dieser Wahrheit gemäß als treue Dienerin dich bemühst, die Gnade zu bewahren, welche du mittelst der heiligen Sakramente, sowie auf anderen von Gott bestimmten Wegen erhältst, dann wird der Herr noch auf eine andere, besondere Weise bei dir sein und dir beistehen. Er wird dich als seine teure Braut lieben und behandeln. Wenn du aber dieses alles weißt und verstehst sage mir, was bleibt dir da noch zu verlangen oder eifersüchtig zu begehren übrig, da all dein Wünschen und Sehnen vollkommen erfüllt ist? Was dir noch übrig bleibt, und was ich von dir verlange, ist dies, dass du dich mit heiliger Eifersucht bemühen sollst im Wandel und in der Vollkommenheit den Engeln, in der Reinheit meinem Bräutigam nachzuahmen und, soweit es möglich ist, mein Leben in dem deinigen abzubilden, damit du eine würdige Wohnung des Allerhöchsten seist. Auf Ausführungen dieser Lehre musst du all das Verlangen und all den Eifer richten, mit welchem du so gerne meinen heiligsten Sohn bei seiner Geburt und während seiner Kindheit gesehen und angebetet hättest; denn wenn du mir nachahmst, kannst du sicher sein, dass du mich als Lehrmeisterin und Beschützerin hast, den Herrn selbst aber unzweifelhaft in deiner Seele besitzest. In dieser Gewissheit kannst du mit ihm sprechen, dich in ihm erfreuen und ihm die Zärtlichkeit deiner Liebe beweisen, wie wenn du ihn auf den Armen hättest; denn um solche Freuden reinen, lauteren Seelen mitzuteilen, hat er menschliches Fleisch angenommen und ist ein Kind geworden. Wenn du ihn aber auch als Kind betrachtest, so sollst du doch immer den großen, unendlichen Gott in ihm sehen, damit die Vertraulichkeit mit Ehrerbietung und die Liebe mit heiliger Furcht gepaart sei; denn das eine ist man ihm schuldig, zum andern lässt er sich herab aus unendlicher Güte und großer Barmherzigkeit.

512. Diesen Verkehr mit dem Herrn musst du beharrlich üben und sollst ihn nicht aus Lauheit unterbrechen; denn die Lauheit ist dem Herrn ein Ekel. Den unendlich großen Gott lieben und loben, dies muss deine eigentliche und beständige Beschäftigung sein. Alles übrige sollst du wie im Vorbeigehen abmachen, so dass die sichtbaren, irdischen Dinge dich kaum einen Augenblick beschäftigen können. Dein Geist muss sich in dieser Höhe halten und darf auf nichts ernstlich achten, als auf das höchste, wahre Gut, welches du suchst. Mich allein hast du nachzuahmen, für Gott allein hast du zu leben; alles andere soll für dich nicht da sein, wie auch du für anderes tot sein sollst. Indes verlange ich, dass du die Gnaden und Gaben, welche du empfängst, auch zum Besten des Nächsten mitteilest und verwendest, und zwar nach der Ordnung der vollkommenen Liebe; denn dadurch wird die Liebe nicht geschwächt, sondern vermehrt. Dies musst du auf die Art und Weise tun, wie es deiner Lage und deinem Stand entspricht, und wie ich dir bei anderen Gelegenheiten gezeigt und erklärt habe.

DREIZEHNTES HAUPTSTÜCK: Wille Gottes zur Beschneidu�ng und Namen Jesu

Maria erkennt, es sei der Wille Gottes, dass sein eingeborener Sohn beschnitten werde. Sie spricht hierüber mit dem hl. Joseph. Der heiligste Name Jesus kommt vom Himmel herab.

513. Sobald die weiseste Jungfrau durch die Menschwerdung des ewigen Wortes in ihrem Schoß Mutter geworden war, hatte sie angefangen, die Mühsale und Leiden bei sich zu erwägen, welche zu dulden ihr süßester Sohn gekommen war. Da sie das tiefste Verständnis der Heiligen Schrift besaß und darum alle darin enthaltenen Geheimnisse kannte, so beschäftigte sie sich damit, kraft dieser Erkenntnis mit unaussprechlichem Mitleidsgefühl alles das zum voraus zu erwägen, was ihr Sohn leiden sollte, um die Menschen zu erlösen. Dieses klare, schmerzvolle Vorherwissen und Mitleiden war für die zarteste Mutter des Lammes, das geschlachtet werden sollte, ein langedauerndes Martyrium. Was aber das Geheimnis der Beschneidung betrifft, welche der Geburt folgen sollte, so hatte die Himmelskönigin noch keinen ausdrücklichen Befehl und überhaupt keine Kenntnis von dem Willen des ewigen Vaters erhalten. Der Herr ließ sie unschlüssig, um durch diesen Verzug die mitleidsvollen Gefühle und das süße Flehen der zärtlichen, liebevollen Mutter anzuregen. So erwog sie denn in ihrer Klugheit, dass ihr heiligster Sohn gekommen sei, um sein Gesetz zu ehren, zu bekräftigen und in Aufnahme zu bringen, indem er selbst es beobachte und erfülle; sie erwog, dass er außerdem gekommen sei, um für die Menschen zu leiden, und dass seine glühendste Liebe die Schmerzen der Beschneidung nicht zurückweise, und dass letztere auch um anderer Gründe willen zulässig und geziemend sein könne.

514. Anderseits hätte sie ihrem süßesten Kind diesen Schmerz womöglich gerne erspart, sowohl aus mütterlicher Liebe und Mitleid, als auch weil das Geheimnis der Beschneidung die Bestimmung hatte, von der Erbsünde zu reinigen, von der das göttliche Kind so ganz und gar frei war, und die es in Adam sich keineswegs zugezogen hatte. Schwankend zwischen der Liebe zu ihrem heiligsten Sohn und dem Gehorsam gegen den ewigen Vater, verrichtete die weiseste Königin zahlreiche, heldenmütige Akte der Tugenden, zum unaussprechlichen Wohlgefallen der göttlichen Majestät. Sie hätte sich zwar gleich anfangs dieses Zweifels entledigen und den Herrn fragen können, was sie zu tun habe, allein sie enthielt sich dessen, weil sie ebenso demütig wie weise war. Auch ihre Engel befragte sie nicht, weil sie mit wunderbarer Weisheit in allen Dingen den geeigneten, von der göttlichen Vorsehung bestimmten Zeitpunkt abwartete und niemals voreilig, aus Unruhe oder Neugierde, die Dinge auf außerordentlichem, übernatürlichem Weg erforschen wollte; am allerwenigsten dann, wenn es dazu gedient hätte, ihr irgend eine Pein zu erleichtern. Handelte es sich aber um eine wichtige, zweifelhafte Sache, in welcher Gott beleidigt werden konnte, oder um einen dringenden Schritt zum Besten des Nächsten, wobei es notwendig war, den Willen Gottes zu kennen, dann bat sie zuerst um Erlaubnis, ihn um Kundgebung seines Willens anflehen zu dürfen.

515. Das Gesagte widerspricht keineswegs dem, was ich im ersten Band (Buch 2, Hauptstück 10) geschrieben habe, dass nämlich die seligste Jungfrau nichts tat, ohne den Herrn um Erlaubnis zu bitten und um Rat zu fragen; denn diese Beratung und Erforschung des göttlichen Willens geschah nicht in der Weise, dass sie dabei eine außergewöhnliche Offenbarung begehrt hätte - in dieser Hinsicht war sie, wie gesagt zurückhaltend und äußerst vorsichtig und bat um solches nur in seltenen Fällen -, vielmehr wandte sie sich, ohne eine besondere Offenbarung zu begehren, an das habituelle übernatürliche Licht des Heiligen Geistes, welches sie bei allen ihren Handlungen leitete und regierte; zu diesem erhob sie ihren inneren Blick und erkannte darin, was im vorliegenden Fall, sowie bei den gewöhnlichen Handlungen das Vollkommenste und Heiligste sei. Sicherlich hatte die Himmelskönigin verschiedene Gründe und gewissermaßen ein besonderes Recht, den Herrn um die Kundgebung seines Willens auf jedwedem Weg zu bitten; da sie aber das Musterbild der Heiligkeit und Klugheit war, wollte sie diese außerordentliche Leitung nicht, ausgenommen in einzelnen Fällen, wo solches am Platz war. Im übrigen verhielt sie sich so, dass durch sie buchstäblich in Erfüllung ging, was David gesagt hat: «Wie die Augen der Magd auf die Hände ihrer Gebieterin, so schauen unsere Augen auf den Herrn, bis er sich unser erbarmt (Ps 123, 2).» Indes war bei der Königin der Welt das gewöhnliche Licht größer, als bei allen Menschen zusammen, und in diesem Licht erforschte sie, was der göttliche Wille ihr zu tun vorschreibe.

516. Das Geheimnis der Beschneidung war eine ganz besondere, in ihrer Art einzige Angelegenheit, welche auch eine besondere Erleuchtung des Herrn erforderte; und die weise Mutter erwartete sie für den geeigneten Augenblick. Inzwischen wandte sie sich an das Gesetz, welches die Beschneidung vorschrieb, und sagte bei sich selbst: «O allgemeines Gesetz, du bist gerecht und heilig; aber du bist sehr hart für mein Herz, wenn du es verwundest in demjenigen, der sein Leben und sein wahrer Herr ist! Du darfst wohl streng sein, um diejenigen von der Sünde zu reinigen, welche solche auf sich haben, dies ist gerecht; dass du aber deine Macht an dem Unschuldigen ausübest welcher eines Fehlers unfähig ist scheint mir übermäßige Strenge, falls seine Liebe dir nicht das Recht dazu gibt. O, dass es doch meinem geliebten Sohn gefiele, diesem Schmerz sich zu entziehen! Doch wie sollte er demselben ausweichen, da er kommt um Leiden zu suchen, das Kreuz zu umarmen und das Gesetz zu erfüllen und zu vervollkommnen? 0 grausames Werkzeug, wenn du doch mein eigenes Leben träfest, und nicht den Herrn, der mir dasselbe gegeben! O mein teurer Sohn, süße Liebe, Licht meiner Seele, ist es möglich, dass du so bald schon das Blut vergießest, welches kostbarer ist als Himmel und Erde? Mein Liebesschmerz drängt mich, deinen Schmerz zu verhüten und dich von dem allgemeinen Gesetz zu befreien; denn als dessen Urheber bist du ihm nicht unterworfen. Doch das Verlangen, dasselbe zu erfüllen, bestimmt mich, dich seiner Strenge zu überlassen, wenn du, mein süßes Leben, mich nicht an deiner Statt leiden lässt. Ich habe dir, mein Herr, die menschliche Natur, welche du von Adam hast, gegeben, aber ohne den Makel der Sünde; deswegen hat deine Allmacht mich ausgenommen von dem allgemeinen Gesetz, nach welchem ich mir diesen Makel zugezogen hätte. Als Sohn des ewigen Vaters aber und als Ebenbild seiner Wesenheit, was du durch die ewige Zeugung bist, stehst du der Sünde unendlich ferne. Warum willst du dich dann, mein Herr, dem Gesetz unterwerfen, welches von der Sünde befreien soll? Doch, ich sehe wohl, mein Sohn, dass du der Lehrer und Erlöser der Menschen bist und dass du deine Lehre durch dein Beispiel bekräftigen und hierin kein Pünktlein unterlassen willst. O ewiger Vater, ist es möglich, so verliere jetzt das Messer seine Schärfe und das Fleisch seine Empfindsamkeit; der Schmerz möge mich armen Erdenwurm treffen. Dein eingeborener Sohn möge das Gesetz erfüllen, aber ich allein dessen schmerzliche Qual empfinden! O grausame, unmenschliche Sünde, wie schnell reichst du deine Bitterkeit dem, der dich nicht begehen konnte! O Kinder Adams, verabscheut und fürchtet doch die Sünde, zu deren Sühne Gott der Herr bluten und leiden muss!»

517. Dieser Schmerz der mitleidsvollen Mutter mischte sich in ihre Freude, den Eingeborenen des Vaters geboren und in ihren Armen zu sehen, und ihr keuschester Bräutigam Joseph teilte denselben bis zum Tag der Beschneidung; denn nur mit ihm sprach sie über dieses Geheimnis, und zwar mit wenigen Worten, weil beide dadurch zu Tränen des Mitleids gerührt wurden. Ehe die acht Tage nach der Geburt verflossen waren, wandte sich die weiseste Königin ihres Zweifels wegen an der Herrn und sprach zu ihm: «Allerhöchster König, Vater meines Herrn, siehe hier deine Dienerin, das wahre Opfer in ihren Händen haltend ! Mein Seufzen und dessen Ursache ist deiner Weisheit nicht verborgen. Gib mir, o Herr, deinen göttlichen Willen kund, was ich mit deinem und meinem Sohn tun muss, um das Gesetz zu erfüllen. Kann ich mein süßestes Kind, meinen wahren Gott, davon befreien, indem ich selbst alle seine Schmerzen und noch größere leide, so ist mein Herz dazu bereit. Ist es aber dein Wille, dass dein Sohn beschnitten werde so will ich ihn nicht davon befreien.»

518. Der Allerhöchste antwortete ihr: «Meine Tochter, meine Taube, dein Herz sei nicht betrübt, weil du deinen Sohn dem Messer und den Schmerzen der Beschneidung hingeben sollst; denn ich habe ihn in die Welt gesendet, damit er der Welt ein Beispiel gebe und das Gesetz des Moses zu Ende führe, indem er es vollständig erfüllt. Muss dabei das Gewand der Menscheit, welches du ihm als wahre Mutter gegeben hast, zerrissen werden, indem sein Leib und zugleich deine Seele verwunde wird, so muss auch seine Ehre leiden; denn wiewohl er durch die ewige Zeugung mein wahrer Sohn und das Ebenbild meiner Wesenheit ist wiewohl er in der Natur, Majestät und Herrlichkeit mir gleich ist, so überliefere ich ihn dennoch dem Gesetz und dem Sakrament, welches die Sünde wegnimmt, ohne de Menschen zu offenbaren, dass er keine Sünde auf sich habe kann. Du weißt wohl, meine Tochter, dass du mir dienen und meinen Eingeborenen zu diesen und anderen, noch größeren Leiden aufopfern musst. Lass ihn also sein Blut vergießen und mir die Erstlinge des ewigen Heils der Menschen darbringen.»

519. Als Gehilfin bei unserer Erlösung unterwarf sich die Himmelskönigin dieser Entscheidung des ewigen Vaters mit einer Heiligkeit, die mit Worten nicht auszusprechen ist. Sie opferte ihm ihren göttlichen Sohn alsbald mit unterwürfigem Gehorsam und mit glühendster Liebe auf, indem sie sprach: «Allerhöchster Herr und Gott, ich opfere dir von ganzer Herzen das dir wohlgefällige Schlachtopfer auf, obwohl schmerzliches Mitleid mich durchdringt, weil die Menschen deine unermessliche Güte so sehr beleidigt haben, dass die Genugtuung einer göttlichen Person nötig ist. Auf ewig lobe ich dich, weil du mit unendlicher Liebe auf die Menschen siehst und um ihrer Erlösung willen selbst deines eigenen Sohnes nicht schonest. Da deine Güte mich zu seiner Mutter erwählt hat, so muss ich mehr als alle Menschen, mehr als alle anderen Geschöpfe deinem Willen unterworfen sein; und so opfere ich dir denn das sanftmütigste Lamm auf, welches die Sünden der Welt durch seine Unschuld hinweg nehmen soll. Ist es aber zulässig, dass die Schärfe des Messers an meinem süßen Kind gemildert und der Schmerz in meinem Herzen dafür vermehrt werde, so ist dein Arm mächtig genug, um diesen Tausch zu bewerkstelligen.»

520. Nachdem Maria dieses Gebet vollendet hatte, wandte sie sich an den hl. Joseph und stellte, ohne ihm zu offenbaren, was ihr im Gebet mitgeteilt worden war, mit unbeschreiblicher Klugheit und mit den liebevollsten Worten an ihn die Bitte, die nötigen Vorbereitungen für die Beschneidung des göttlichen Kindes zu treffen. Gleich als wollte sie ihn um Rat fragen und seine Meinung einholen, sagte sie zu ihm: da die gesetzliche Zeit für die Beschneidung des göttlichen Kindes nahe, so scheine es notwendig, das Gesetz zu erfüllen, da sie keinen Befehl erhalten hätten, das Gegenteil zu tun; sie beide seien dem Herrn mehr verpflichtet als alle Geschöpfe zusammen, und darum müssten sie auch, um eine so unvergleichliche Schuld abzutragen, seine Gebote pünktlicher befolgen, ihm zuliebe williger leiden und auf diese Weise dem göttlichen Sohn ganz nach seinem heiligsten Willen dienen. Der heilige Bräutigam antwortete hierauf mit tiefster Ehrfurcht und mit großer Weisheit, dass er sich gänzlich dem Willen Gottes unterwerfe, wie er durch das allgemeine Gesetz kundgegeben sei; denn er habe vom Herrn keine andere Weisung erhalten. Das menschgewordene Wort sei zwar als Gott dem Gesetz nicht unterworfen; da er sich aber mit der Menschheit bekleidet habe und in allem der vollkommenste Lehrmeister und Erlöser sei, so werde er wohl gleich den anderen Menschen das Gesetz erfüllen wollen. Er fragte dann seine himmlische Braut, wie die Beschneidung vollzogen werden sollte.

521. Die heiligste Jungfrau antwortete, nach ihrer Meinung sei das Gesetz wie in der Hauptsache, so auch in derselben Weise zu erfüllen, wie bei anderen Kindern; sie dürfe aber auch das göttliche Kind nicht aus der Hand lassen und einer anderen Person übergeben, sondern werde es selbst in ihren Armen halten. Da das Kind seines zarten Körperbaues wegen für den Schmerz empfindsamer sein werde als andere Kinder, so müsse man das Heilmittel bereit halten, welches bei anderen Kindern zur Heilung der Wunde angewendet werde. Außerdem bat sie den hl. Joseph, er möge sich alsbald ein Fläschchen von Kristall oder Glas verschaffen, um die heilige Reliquie der Beschneidung des göttlichen Kindes darin aufzunehmen, damit sie dieselbe bei sich bewahren könne. Unterdessen bereitete die aufmerksame Mutter einige Tücher, um das erste Blut, welches als Preis unserer Erlösung vergossen werden sollte, aufzufangen, damit auch nicht ein Tropfen dabei auf die Erde falle und verloren gehe. Nachdem alles bereit war, beauftragte die Himmelskönigin den hl. Joseph, den Priester zu bitten, er möge in die Grotte kommen, damit das Kind dort bleiben könne und er als würdigster Diener eines so großen Geheimnisses die Beschneidung vornehme.

522. Danach besprachen sich Maria und Joseph darüber, welchen Namen sie dem göttlichen Kind bei der Beschneidung geben sollten. Der heilige Bräutigam sagte: «Meine Herrin, als der Engel des Allerhöchsten mir dieses große Geheimnis offenbarte, hat er mir auch befohlen, dass wir deinem heiligen Sohn den Namen Jesus geben sollen.» Die jungfräuliche Mutter antwortete: «Denselben Namen hat der Engel auch mir angegeben, als der Sohn Gottes in meinem Schoß Mensch wurde. Da wir nun den Namen aus dem Munde des Allerhöchsten durch den Dienst seiner Engel kennen, so müssen wir die verborgenen, unerforschlichen Ratschlüsse seiner unendlichen Weisheit in diesem heiligen Namen mit demütiger Ehrfurcht verehren und meinem Sohn und Herrn den Namen Jesus geben. Dieses werden wir auch dem Priester sagen, damit er diesen göttlichen Namen in das Register der Kinder, welche die Beschneidung empfangen, einschreibe.»

523. Während die erhabene Himmelskönigin mit dem hl. Joseph hierüber sprach, stiegen unzählbare Engel in menschlicher Gestalt vom Himmel hernieder, angetan mit weißen, glänzenden Gewändern, auf welchen rote Verzierungen von wunderbarer Schönheit sichtbar waren. In den Händen trugen sie Palmen und auf den Häuptern Kronen, von denen jede größeren Glanz verbreitete als viele Sonnen. Mit der Schönheit dieser Himmelsfürsten verglichen erscheint alles, was in der Natur zu sehen ist, als hässlich. Was aber in dieser Schönheit besonders hervorleuchtete, war ein Abzeichen in der Form eines Schildes, welches sie unter einem Kristallglas eingelegt auf ihrer Brust trugen, und auf welchem ein jeder den süßesten Namen Jesus geschrieben hatte. Der Lichtglanz, welcher von jeder einzelnen dieser Namensschriften ausging, übertraf den Glanz aller Engel zusammen. Darum war auch die Schönheit und Mannigfaltigkeit dieser zahlreichen Engelschar so groß und außerordentlich, dass wir sie weder mit Worten beschreiben, noch mit unserer Einbildungskraft uns vorstellen können. Diese heiligen Engel teilten sich in der Höhle in zwei Chöre, und alle schauten auf ihren König und Herrn in den jungfräulichen Armen seiner seligsten Mutter. Die Anführer dieser Schar waren die beiden großen Himmelsfürsten, der hl. Michael und der hl. Gabriel. Diese waren strahlender als die übrigen und trugen außerdem in ihrer Hand den heiligsten Namen Jesus, mit größeren Buchstaben auf einer Art größerer Schilde geschrieben, welche in unaussprechlicher Schönheit erglänzten.

524. Die beiden Himmelsfürsten stellten sich ihrer Königin besonders vor und sprachen zu ihr: «Herrin, dies ist der Name deines Sohnes; er ist geschrieben im Geist Gottes von Ewigkeit her. Die ganze heiligste Dreifaltigkeit hat ihn deinem Sohn, unserem Herrn, gegeben, mit der Macht, das Menschengeschlecht zu erlösen (Mt 1, 21 - 2). Sie gibt ihm den Thron Davids, auf dem er herrschen wird (Jes 9, 7). Er wird seine Feinde züchtigen, besiegen und demütigen (Kol 2,15; Ps 55,19), bis er sie zum Schemel seiner Füße gelegt haben wird (Ps 110,1). Er wird richten mit Gerechtigkeit seine Freunde erhöhen und sie in der Glorie zu seiner Rechten stellen. Dies wird aber nur um den Preis von Leiden und Blut geschehen. Jetzt schon, da er diesen Namen erhält, wird er sein Blut vergießen; denn es ist der Name des Heilandes und Erlösers. Seine Schmerzen werden die Erstlinge sein von dem, was er aus Gehorsam gegen den ewigen Vater zu leiden hat. Wir alle, die wir als Diener und Geister des Allerhöchsten hierher gekommen sind, sind von der göttlichen Dreifaltigkeit gesendet und angewiesen, deinem und des Vaters Eingeborenen zu dienen, bei allen Geheimnissen des Gesetzes der Gnade gegenwärtig zu sein und ihn zu begleiten, bis er triumphierend zum himmlischen Jerusalem emporsteigt, um dessen Pforten dem Menschengeschlecht zu öffnen. Dort werden wir in ihm eine besondere, außerwesentliche Glorie genießen, welche den übrigen Seligen, die einen so beglückenden Auftrag nicht erhalten haben, keineswegs zuteil wird.»

Alles dieses sah und hörte der hl. Joseph und die Himmelskönigin, doch hatten nicht beide das gleiche Verständnis davon; die Mutter der Weisheit erkannte und durchschaute dabei die tiefsten Geheimnisse der Erlösung; der hl. Joseph dagegen erkannte zwar verhältnismäßig viele, jedoch nicht so viele, wie seine Braut. Beide aber waren voll Freude und Bewunderung und priesen den Herrn mit neuen Lobgesängen. Ich kann aber nicht alles beschreiben, was bei diesen verschiedenen wunderbaren Ereignissen in ihnen vorging; denn ich finde die geeigneten Worte nicht um meine Gedanken auszudrücken.

LEHRE, welche mir unsere Herrin, die heiligste Jungfrau Maria gab

525. Meine liebe Tochter, ich will dir nochmals die Lehre und Erleuchtung mitteilen, welche du bereits erhalten hast, um mit deinem Herrn und Bräutigam in tiefster Ehrfurcht umzugehen; denn die Demut und Ehrfurcht müssen in den Seelen in demselben Maß zunehmen, als sie besondere, außerordentliche Gnaden erhalten. Viele verstehen dies aber nicht, und daher kommt es, dass die einen sich so großer Gnaden unwürdig und unfähig machen, andere aber, welche solche Gnaden empfangen, sich einer gefährlichen und verwerflichen Anmaßung überlassen, durch welche sie den Herrn sehr beleidigen. Wegen der sanften, liebevollen Milde, mit welcher der gütige Gott sie manchmal erfreut und behandelt, nehmen sie eine gewisse Keckheit oder vermessene Leichtfertigkeit an, so dass sie mit der unendlichen Majestät nicht in der schuldigen Ehrfurcht verkehren und aus eitler Neugierde auf außerordentlichen Wegen erforschen möchten, was über ihren Verstand geht, und was sie nicht wissen sollen. Diese Keckheit kommt daher, weil sie den vertraulichen Umgang mit dem Allerhöchsten nach irdischer Unwissenheit beurteilen und pflegen, indem sie meinen, der Mensch dürfe mit Gott umgehen, wie mit seinesgleichen.

526. Die Seele täuscht sich gar sehr, wenn sie die der unendlichen Majestät schuldige Ehrfurcht nach der gegenseitigen Vertraulichkeit bemisst, welche die Liebe bei den Menschen herbeiführt. Die Menschen sind der Natur nach alle gleich, wenn sie auch ihrer Stellung und den äußeren Verhältnissen nach verschieden sind. Aus Liebe und vertrauter Freundschaft können sie selbst diesen Unterschied vergessen und in ihrem freundschaftlichen Umgang sich ganz durch die menschlichen Gefühle leiten lassen. Die Liebe zu Gott aber darf niemals die unaussprechliche Hoheit des unendlichen Gutes aus den Augen verlieren. Gleichwie die Liebe die unendliche Güte im Auge hat und in dieser Hinsicht kein Maß und keine Schranke kennt, so schaut die Ehrfurcht auf die Majestät der göttlichen Wesenheit. Wie nun in Gott die Güte und die Majestät unzertrennlich miteinander verbunden sind, so dürfen im Menschen Ehrfurcht und Liebe nicht voneinander getrennt sein. Das Licht des göttlichen Glaubens muss immer vorausgehen und dem Liebenden zeigen, wer derjenige ist den er liebt. Dieser Glaube muss die Ehrfurcht wecken und nähren und auf der anderen Seite jene unpassenden Gefühle mäßigen und regeln, welche die blinde, unbedachte Liebe hervorruft, wenn sie die unendliche Erhabenheit des Geliebten in ihrem Wirken aus den Augen verliert.

527. Wer großmütigen Herzens ist und sich an die heilige Ehrfurcht gegen Gott gewöhnt hat, läuft nicht Gefahr, die dem Allerhöchsten schuldige Ehrerbietung zu vergessen, wenn er auch häufige und große Gnaden erhält; denn er gibt sich den geistlichen Freuden nicht unbedacht hin und lässt nicht ab von der klugen Aufmerksamkeit auf die höchste Majestät Gottes; im Gegenteil, je mehr er sie liebt und erkennt, desto größer wird auch seine Ehrfurcht. Mit solchen Seelen verkehrt dann der Herr wie ein Freund mit dem andern. Dies gelte dir also als unverletzliche Regel, meine Tochter: erfreust du dich der süßesten Tröstungen, der erfreulichsten Liebesbeweise des Allerhöchsten, so musst du um so mehr bedacht sein, seiner unendlichen und unveränderlichen Größe Ehrfurcht zu bezeigen, ihn also zu gleicher Zeit zu verherrlichen und zu lieben. Verstehst du dies, dann wirst du auch seine Gnadengaben besser würdigen und von der Vermessenheit jener fern bleiben, welche in jedwedem Anliegen, sei es wichtig oder unwichtig, die Geheimnisse des Herrn erforschen wollen und verlangen, dass seine weiseste Vorsehung auf ihre eitle Neugierde Rücksicht nehme, zu welcher sie eine ungeordnete Leidenschaft treibt, deren Wurzel nicht wahrer Eifer und heilige Liebe, sondern menschliche und fehlerhafte Neigungen sind.

528. Beachte in diesem Stück, mit welcher Überlegung und Zurückhaltung ich in meinen Zweifeln verfuhr. Kein Mensch hat in dem Maß Gnade gefunden in den Augen Gottes, wie ich, alle bleiben unermesslich weit hinter mir zurück. Überdies trug ich Gott selbst in meinen Armen und war in Wahrheit seine Mutter; allein gleichwohl wagte ich nie, ihn zu bitten, dass er auf außerordentlichem Weg mir etwas zu erkennen gebe. Weder Wissbegierde, noch das Verlangen, mir einen Schmerz zu erleichtern, noch irgend eine andere menschliche Absicht konnte mich dazu bewegen; denn dies alles wäre menschliche Schwachheit. eitle Neugierde oder ein tadelnswerter Fehler gewesen; aber nichts von dem konnte bei mir Platz finden. War es aber notwendig für die Ehre des Herrn oder sonst unvermeidlich, dann bat ich Seine Majestät zuerst um Erlaubnis, ihm mein Verlangen vorzustellen. Obwohl er mir hierauf immer sehr gnädig und liebreich antwortete und mich fragte, was ich von seiner Barmherzigkeit wünsche, so erniedrigte und verdemütigte ich mich doch vor ihm bis in den Staub und bat ihn nur, mir kundzugeben, was ihm am angenehmsten und wohlgefälligsten sei.

529. Meine Tochter, präge diese Lehre deinem Herzen ein und hüte dich, mit ungeordneter Neugierde etwas zu erforschen, was über den menschlichen Verstand geht. Denn abgesehen davon, dass der Herr auf ein solches unverständiges Verlangen nicht antwortet, weil es ihm sehr missfällt, so ist der Satan bei Personen, welche ein geistliches Leben führen, auf diesen Fehler sehr aufmerksam, ja gewöhnlich ist er es, welcher in seiner Arglist diese fehlerhafte Neugierde erregt und dann, in einen Engel des Lichtes verkleidet, mit derselben Arglist darauf antwortet, wodurch er die Unvollkommenen und Unvorsichtigen täuscht. Gesetzt aber, es kämen solche Fragen auch nur von der natürlichen Neigung, so darf man sie doch nicht beachten, noch auf sie eingehen; denn in einer so erhabenen Sache, wie der Verkehr mit Gott ist, darf die Vernunft nicht den natürlichen Neigungen folgen. Die von der Sünde angesteckte, verdorbene Natur ist in großer Unordnung, ihre Regungen sind verkehrt und ungeregelt und darum ist es nicht recht, auf sie zu hören und sich nach ihnen zu richten. Ebenso wenig darf man zu göttlichen Offenbarungen seine Zuflucht nehmen, um sich von Peinen und Mühen zu befreien; denn Bräute Christi und wahre Diener des Herrn sollen seine Gnaden nicht dazu gebrauchen, um das Kreuz zu fliehen, sondern vielmehr dazu, es zu suchen, es mit dem Herrn zu tragen und in dem Kreuz, welches er schickt sich ganz seiner göttlichen Fügung zu überlassen. Alles dieses sollst du beobachten, du sollst in demütiger Furcht leben und hierin eher zuviel tun, um dich von dem Gegenteil fern zu halten.

Es ist auch mein Wille, dass du von heute an den Beweggrund deiner Handlungen vervollkommnest und alle deine Werke aus Liebe verrichtest; denn die Liebe ist der vollkommenste aller Beweggründe. Die Liebe kennt weder Maß noch Schranke; darum verlange ich, dass du Gott ohne Maß liebest, aber mit Maß ihn fürchtest, soweit nämlich, als nötig ist, damit du seine Gebote nicht übertretest und deine inneren und äußeren Akte wohl ordnest. Sei hierin sorgfältig und eifrig, wenn es dir auch viele Mühe und Schmerz bereitet. Ich habe ja bei der Beschneidung meines heiligsten Sohnes auch gelitten und habe sie gleichwohl vornehmen lassen, weil uns durch die heiligen Gesetze der Wille Gottes kundgegeben war, dem wir in allem und um jeden Preis gehorchen müssen.

VIERZEHNTES HAUPTSTÜCK: Beschneidung Christi. Der heiligste Name Jesus

Das göttliche Kind wird beschnitten und erhält den Namen Jesus.

530. In der Stadt Bethlehem war, wie in anderen Städten Israels, eine eigene Synagoge, in welcher sich das Volk versammelte, um zu beten (daher auch der Name Bethaus für die Synagoge) und um das Gesetz des Mose zu hören, welches ein Priester auf dem Lehrstuhl mit lauter Stimme vorlas und erklärte, damit das Volk dessen Vorschriften verstehe. In dieser Synagoge wurden aber keine Opfer dargebracht; denn dies durfte nur im Tempel von Jerusalem geschehen, falls der Herr nicht anders verfügte. Gott hatte nämlich, wie aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 12, 5 ff) ersichtlich ist, diese Sache nicht der freien Wahl des Volkes überlassen, um es vor Abgötterei zu bewahren. Der Priester nun, welcher Lehrer des Gesetzes war, pflegte auch die Beschneidung vorzunehmen, nicht als ob in dieser Hinsicht ein Gebot bestanden hätte, denn ein jeder konnte die Beschneidung vornehmen, auch ohne Priester zu sein, sondern weil die Mütter diesen frommen Gebrauch angenommen hatten, indem sie vielfach meinten, dass die Kinder weniger der Gefahr ausgesetzt seien, wenn sie durch Priesterhand beschnitten würden. Unsere große Königin hatte zwar in dieser Hinsicht nichts zu fürchten; allein in Ansehung der Würde des göttlichen Kindes wünschte sie, dass der Priester von Bethlehem die Beschneidung vornehme. Darum ließ der hl. Joseph den Priester kommen.

531. Der Priester kam also zur Grotte der Geburt, wo ihn der menschgewordene Sohn Gottes und dessen Mutter erwarteten. Mit dem Priester kamen zwei Diener, welche ihm gewöhnlich bei der Beschneidung behilflich waren. Das Abschreckende des verächtlichen Ortes versetzte den Priester in einige Verwunderung und Missstimmung. Doch die weiseste Königin empfing und begrüßte ihn mit solcher Sittsamkeit und Freundlichkeit, dass sein Unwille sich schnell in fromme Bewunderung für die sittsamste, majestätische Haltung dieser Mutter verwandelte. Ohne zu wissen warum, wurde er von tiefer Ehrfurcht gegen eine so außerordentliche Mutter erfüllt. Als er die Augen auf das Antlitz der Mutter und des Kindes, das sie in den Armen hielt, richtete, fühlte er eine ungewöhnliche Rührung in seinem Herzen, die ihn zu großer, zärtlicher Andacht stimmte, so dass er über das, was er bei solcher Armut und an einem so verächtlichen Ort gewahrte, mit Bewunderung erfüllt wurde. Als er aber den mit der Gottheit vereinigten Leib des göttlichen Kindes berührte, wurde er durch eine geheime Kraft erneuert, vervollkommnet und geheiligt, so dass er in der Folge, zu einem neuen Leben der Gnade erhoben, ein Heiliger und dem Allerhöchsten sehr wohlgefällig wurde.

532. Damit die Beschneidung mit all der äußeren Ehrerbietigkeit. die an einem solchen Platz möglich war, geschehe, zündete der hl. Joseph zwei Wachskerzen an. Dann sagte der Priester zur jungfräulichen Mutter, sie möge sich ein wenig entfernen und das Kind den Dienern übergeben, damit nicht der Anblick des Opfers sie in Betrübnis versetze. Die Himmelskönigin war infolge dieses Befehles etwas unentschieden. Ihrer demütigen Unterwürfigkeit wegen hätte sie nämlich gern dem Priester gehorcht; anderseits aber hielt sie die Liebe und Ehrfurcht gegen das göttliche Kind zurück. Damit sie nicht gegen diese beiden Tugenden verstoße, bat sie den Priester mit demütiger Unterwürfigkeit, er möge womöglich gestatten, dass sie bei der Beschneidung anwesend sei, da sie eine große Ehrfurcht für dieses Geheimnis trage, auch Mut genug habe, ihr Kind in den Armen zu halten, und es nicht gerne verlasse. Nur bat sie ihn, die Beschneidung mit möglichster Schonung vorzunehmen, weil das Kind so zart sei. Der Priester versprach dies und erlaubte auch, dass die Mutter das Kind während der Zeremonie in ihren Händen hielt. So war Maria der heilige Altar, auf welchem die durch die alten Opfer vorgebildeten Wahrheiten sich zu verwirklichen begannen. Sie brachte eigenhändig dieses neue Morgenopfer dar, damit es dem ewigen Vater in jeder Hinsicht wohlgefällig wäre.

533. Die göttliche Mutter nahm die Tücher weg, in welche ihr heiligster Sohn gewickelt war, und zog aus ihrem Busen ein Linnentuch, welches sie der strengen Kälte wegen gewärmt hatte. Mit diesem Tuch nahm sie nun das Kind in der Weise in ihre Hände, dass die Reliquie und das Blut der Beschneidung auf das Tuch fielen. Der Priester vollzog nun sein Amt und nahm die Beschneidung vor. Das Kind, wahrer Gott und wahrer Mensch, brachte dabei dem ewigen Vater drei Opfer dar, alle so kostbar, dass jedes für sich allein genügt hätte, um tausend Welten zu erlösen. Das erste bestand darin dass es, obwohl unschuldig und Sohn des lebendigen Gottes, die Gestalt eines Sünders annahm; denn es empfing das Sakrament, (Es ist einleuchtend dass die Beschneidung nicht in dem Sinne «Sakrament» genannt wird in welchem die Sakramente des Neuen Bundes so genannt werden. Sie war sowohl hinsichtlich der Wirkung wie der Wirkungsweise von letzteren weit verschieden. Inwiefern sie aber «Sakrament» genannt werden könne, ist beim hl. Alphons Maria von Liguori (Theol moral. I 6. tr. 1. c. 1. n. 4) nachzulesen. Der Herausgeber). welches bestimmt war, von der Erbsünde zu reinigen, und unterwarf sich einem Gesetz, das es nicht verpflichtete. Das zweite Opfer war der Schmerz, den es als wahrer, vollkommener Mensch empfand. Das dritte endlich war die glühende Liebe, mit welcher es zum ersten Mal sein Blut als Lösepreis für das Menschengeschlecht vergoss. Auch sagte es dem himmlischen Vater Dank, dass er ihm einen menschlichen Leib gegeben, um für seine Verherrlichung leiden zu können.

534. Der ewige Vater nahm das Gebet und Opfer unseres Heilandes Jesu Christi wohlgefällig an und begann damit, um nach unserer Vorstellungsweise zu sprechen, die Schuld des Menschengeschlechtes als abgetragen zu betrachten. Das fleischgewordene Wort aber opferte diese ersten Tropfen seines Blutes als ein Unterpfand, dass es dieses einstens vollständig hingeben werde, um die Erlösung zu vollenden und die Schuld der Kinder Adams zu tilgen. Die heiligste Mutter schaute alle innerlichen Akte ihres göttlichen Kindes. In ihrer hohen Weisheit hatte sie das vollkommenste Verständnis dieses Geheimnisses und schloss sich den Akten ihres Sohnes und Herrn, soweit es ihre Aufgabe war, in ihrer Weise an. Das göttliche Kind weinte. Es war ja wahrer Mensch, und die Wunde war sehr schmerzlich, teils weil das Kind sehr zart und empfindsam war, teils weil das steinerne Messer große Pein verursachte.(Aus verschiedenen Stellen der Heiligen Schrift z. B. aus Exodus 4. 25. und Josue 5, 2, ist ersichtlich, dass sich die Juden zuweilen steinerner Messer zur Beschneidung bedient haben. Der Herausgeber). Doch war nicht so sehr dieser natürliche Schmerz, als vielmehr die Härte der Menschen die Ursache seiner Tränen. Denn es schaute auf übernatürliche Weise, wie die Menschen, härter als Stein, seiner süßesten Liebe, sowie dem Feuer, das es in der Welt und in den Herzen der Gläubigen zu entzünden gekommen war, widerstehen würden. Auch die zarte, liebevolle Mutter weinte, wie ja auch das Schaf ohne Falsch mit seinem unschuldigen Lämmlein die klagende Stimme erhebt. Mit gegenseitiger Liebe und Mitleiden schmiegte das Kind sich an die Mutter, und diese drückte es mit süßer Liebkosung an ihre jungfräuliche Brust; dann nahm sie das Tuch mit der heiligen Reliquie und dem vergossenen Blut und gab es dem hl. Joseph, damit sie selbst das göttliche Kind pflegen und einwickeln konnte. Der Priester wunderte sich etwas über die Tränen der Mutter; doch, obwohl er das Geheimnis nicht kannte, dachte er, dass wohl die Schönheit des Kindes das Herz seiner Mutter zu so großer Liebe und zu solch bitterem Schmerz bewegen könnte.

535. Bei allen diesen Vorgängen zeigte die Königin des Himmels eine solche Klugheit, Umsicht und Großherzigkeit, dass die Engelchöre mit Staunen, Gott der Herr aber mit höchstem Wohlgefallen auf sie schaute. Aus allem, was sie tat, leuchtete die göttliche Weisheit, von der sie geleitet war, hervor. Jede einzelne Handlung verrichtete sie mit höchster Vollkommenheit, wie wenn sie nur diese allein zu verrichten gehabt hätte. Sie war unüberwindlich stark, um das Kind bei der Beschneidung zu halten; sorgfältig, um die Reliquie aufzunehmen; mitleidsvoll um mit dem Kind zu weinen und seinen Schmerz zu teilen; liebevoll es zu liebkosen; aufmerksam, ihm Freude zu machen; eifrig, sein Verhalten nachzuahmen; allezeit gottesfürchtig, es mit höchster Ehrfurcht zu behandeln; und alle diese Akte verrichtete sie ohne irgendwelche Unvollkommenheit oder Unterbrechung, und ohne dass der eine die Aufmerksamkeit auf den anderen gestört oder dessen Vollkommenheit gemindert hätte. Wunderbares Schauspiel, welches eine Jungfrau von fünfzehn Jahren darbot. ein Schauspiel, das selbst den Engeln gewissermaßen zur Lehre diente und ihre höchste Verwunderung erregte!

Unterdessen fragte der Priester, welchen Namen die Eltern dem beschnittenen Kind geben wollten. Die heiligste Jungfrau, immer bedacht, ihren Bräutigam zu ehren, bat ihn, den Namen zu sagen. Doch der hl. Joseph wandte sich mit gebührender Ehrfurcht an sie und gab ihr zu verstehen, dass ein so süßer Name aus ihrem Mund kommen müsse. Durch göttliche Fügung sagten nun beide, Maria und Joseph, zu gleicher Zeit: «Jesus ist sein Name.» Darauf antwortete der Priester: «Die Eltern sind vollkommen miteinander einverstanden, und groß ist der Name, welchen sie dem Kind geben.» Dann schrieb er diesen in das allgemeine Register ein; dabei empfand er eine große innere Rührung, so dass er reichliche Tränen vergoss. Voll Verwunderung über seine Gefühle, die er sich nicht erklären konnte, sprach er: «Ich halte für gewiss, dass dieses Kind ein großer Prophet des Herrn sein wird; zieht es mit großer Sorgfalt auf und sagt mir, worin ich eurer Not abhelfen kann.» Die seligste Jungfrau und der hl. Joseph dankten ihm demütig und verabschiedeten sich von ihm, nachdem sie ihm die Kerzen und einige andere Gegenstände geschenkt hatten.

536. Da nun Maria und Joseph mit dem Kind allein waren, feierten sie aufs neue das Geheimnis der Beschneidung, indem sie unter süßen Tränen darüber sprachen und zu Ehren des süßen Namens Jesus Loblieder sangen, deren Offenbarung für den Himmel zur Vermehrung der akzidentellen Glorie der Heiligen vorbehalten ist, wie ich von anderen wunderbaren Dingen bereits früher ein gleiches gesagt habe. Die umsichtigste Mutter heilte die Wunde des Kindes mit den sonst gebräuchlichen Mitteln und ließ es keinen Augenblick, weder bei Tag noch bei Nacht, aus ihren Armen, so lange der Schmerz und die Heilung dauerten. Kein Mensch ist imstande, die besorgte Liebe der göttlichen Mutter zu erfassen und auszusprechen. Denn ihre natürliche Liebe zu ihrem Sohn war größer als die aller anderen Mütter zu ihren Kindern; an übernatürlicher Liebe aber übertraf sie alle Engel und Heiligen zusammen. Ebenso war die Ehrfurcht mit welcher sie das göttliche Kind behandelte, über allen Vergleich erhaben. Dies war jene «Wonne», welche der menschgewordene Sohn Gottes bei den Menschenkindern suchte und fand (Spr 8, 31). In den Schmerzen, die das göttliche Kind bei der beschriebenen Handlung litt, fand sein liebendes Herz seine Freude an der erhabenen Heiligkeit seiner jungfräulichen Mutter. Und obwohl es an ihr allein mehr Wohlgefallen hatte als an allen Menschen und in ihrer Liebe seine Ruhe fand, so bemühte sich die demütige Königin dennoch, seine Schmerzen durch alle Mittel zu lindern, die ihr zu Gebote standen. So bat sie die heiligen Engel ihr hierbei behilflich zu sein und ihrem Gott, der ein leidendes Kind geworden, himmlische Musik zu machen. Die Diener des Allerhöchsten gehorchten ihrer Königin und sangen mit vernehmbaren Stimmen in himmlischer Harmonie dem göttlichen Kind die Loblieder, welche Maria mit ihrem Bräutigam zu Ehren des wunderbaren, süßen Namens Jesus verfasst hatte.

537. Die himmlische Königin machte ihrem süßesten Kind Freude durch diese Musik, welche so lieblich war, dass jede menschliche Musik im Vergleich damit nur lästige Disharmonie wäre. Weit mehr aber machte sie ihm Freude durch die Harmonie ihrer heroischen Tugenden, welche in ihrer heiligsten Seele «Chöre von Heerlagern» bildeten, wie der göttliche Bräutigam selbst im Hohenlied bezeugt (Hld 7, 1).

O wie hart ist doch das Herz der Menschen, ja mehr als langsam und schwerfällig ist es, wenn es gilt, so erhabene Geheimnisse, welche ihr Schöpfer und Erlöser mit unermesslicher Liebe zu ihrem Heil bestimmt hat, mit Dankbarkeit anzuerkennen! O mein höchstes Gut, du Leben meiner Seele, wie schlecht erwidern wir die zarten Erfindungen deiner ewigen Liebe! O Liebe, die du weder Grenze noch Maß kennst, da selbst die vielen Gewässer unserer groben Untreue und Undankbarkeit dich nicht zu löschen vermögen! Er, dessen Wesen Güte und Heiligkeit ist, konnte sich nicht tiefer erniedrigen und uns keine größere Liebe erweisen, als dass er die Gestalt eines Sünders annahm, indem er, die Unschuld selbst, das Heilmittel gegen die Sünde gebrauchte, die ihm doch nicht nahen konnte. Wenn nun die Menschen ein solches Beispiel verachten, wenn sie einer solchen Wohltat vergessen, wie mögen sie noch zu behaupten wagen, dass sie Verstand haben? Wie mögen sie in ihrem Stolze sich rühmen, weise, klug und verständig zu sein? O undankbarer Mensch, Klugheit wäre es, wenn du, falls solche Werke Gottes dich nicht rühren, jammern und weinen würdest über eine so beklagenswerte Torheit und Gefühllosigkeit, da selbst das Feuer der göttlichen Liebe das Eis deines Herzens nicht zu schmelzen vermag !

LEHRE, welche mir Maria, unsere heiligste Königin gab

538. Meine Tochter, erwäge mit Aufmerksamkeit, welch große, außerordentliche Gnade es für dich ist, wenn ich dir die liebevolle Sorgfalt und zärtliche Hingebung zu erkennen gebe, mit welcher ich meinem heiligsten und süßesten Sohn in den eben beschriebenen Geheimnissen gedient habe. Gott schenkt dir ein so besonderes Licht, nicht etwa bloß dazu, dass du die Freude genießest, dies alles zu wissen sondern damit du als treue Dienerin in allem mir nachfolgst und wie in der Erkenntnis der Geheimnisse meines Sohnes, so auch in der Dankbarkeit für sie die anderen überragst. Erwäge also, Teuerste, wie schlecht die Liebe meines Sohnes und Herrn von den Menschen erwidert wird, und wie wenig selbst die Gerechten mit Dankbarkeit an sie denken. Betrachte es als deine Aufgabe, dieses Unrecht nach deinen schwachen Kräften gutzumachen, indem du ihn liebst, ihm dankst und ihm dienst, sowohl für deine eigene Person, als für alle, welche dies nicht tun. Zu diesem Zweck sollst du im Gehorchen schnell sein wie ein Engel, glühend im Eifer und pünktlich bei jeder Gelegenheit; du musst allem Irdischen vollkommen absterben und die Bande der menschlichen Neigungen lösen und zerreißen, um dich dahin emporzuschwingen, wohin der Herr dich ruft.

539. Du weißt, meine Tochter, welch liebliche Kraft das lebendige Andenken an die Werke besitzt, welche mein heiligster Sohn für die Menschen vollbracht hat. Diese Erkenntnis ist zwar sehr geeignet, dich zur Dankbarkeit zu bewegen; damit du aber die Gefahr, jene Liebe zu vergessen, noch mehr fürchtest, sage ich dir, dass die Seligen des Himmels, welche diese Geheimnisse in dem göttlichen Licht schauen, über sich selbst verwundert sind, dass sie während ihrer irdischen Wanderschaft so wenig an sie gedacht haben. Könnten sie noch einen Schmerz empfinden, so würden sie aufs äußerste die Nachlässigkeit beklagen, mit welcher sie die Werke der Erlösung zu wenig geschätzt und meinem göttlichen Sohn zu wenig nachgefolgt sind. Alle Engel und Heiligen aber sind von einem den Sterblichen unbekannten Staunen ergriffen über die Grausamkeit von welcher die Herzen der Menschen sowohl gegen sich selbst als gegen ihren Schöpfer und Erlöser in Besitz genommen sind; denn sie haben kein Mitgefühl, weder für das Leiden ihres Herrn, noch für die Peinen, denen sie selbst entgegengehen. Wenn aber die Verworfenen mit unheilbarer Bitterkeit einmal einsehen, wie schrecklich dieses Vergessen und Verachten der Wohltaten ihres Erlösers ist, so wird die Bestürzung und der Gram darüber ihnen eine unerträgliche Qual sein, und es wird für sie schon eine allen Begriff übersteigende Züchtigung sein, wenn sie sehen, dass die Erlösung überreich war, sie aber sie verachtet haben. Höre also, meine Tochter, und neige dein Ohr, höre auf meinen Rat und auf die Lehre des Ewigen Lebens ! Verbanne aus deinem Innern jede Erinnerung und jede Zuneigung zu irdischen Dingen. Wende dein ganzes Herz und deinen ganzen Geist den Geheimnissen und Wohltaten der Erlösung zu. Ihnen gib dich gänzlich hin; an sie denke, sie erwäge, sie betrachte, für sie danke, wie wenn du allein auf der Welt wärst und sie dir allein und jedem Menschen im besonderen erwiesen worden wären (Gal 2, 20). In ihnen wirst du das Leben, die Wahrheit und den Weg zur Ewigkeit finden (Joh 14, 6); folgst du ihnen, so kannst du nicht irren, vielmehr wirst du das «Licht der Augen und den Frieden ( Bar 3,14)» finden.

FÜNFZEHNTES HAUPTSTÜCK: Maria bleibt in der Höhle

Die heiligste Jungfrau Maria verweilt mit dem göttlichen Kinde in der Höhle der Geburt bis zur Ankunft der Heiligen Drei Könige.

540. Unsere große Königin wusste durch die ihr eingegossene Kenntnis der Heiligen Schrift (Ps 72,10; Jes 60, 6), wie durch erhabene Offenbarungen, dass die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland kommen würden, um ihren heiligsten Sohn als wahren Gott anzuerkennen und anzubeten. Insbesondere war ihr dies Geheimnis durch die Botschaft näher enthüllt worden, welche, wie ich oben berichtete (Hauptstück 11, Nr. 492), ein Engel diesen Königen von der Geburt des göttlichen Heilandes brachte; die jungfräuliche Mutter hatte hiervon genaue Kenntnis. Dem hl. Joseph dagegen war dieses Geheimnis verborgen; denn Gott hatte es ihm nicht geoffenbart, und die weiseste Braut hatte ihm ihr Geheimnis nicht mitgeteilt, weil sie, in allem weise und umsichtig, abwartete, was der göttliche Wille in seiner lieblichen und weisen Anordnung in Betreff dieser Geheimnisse verfügen würde. Der heilige Bräutigam stellte darum der Himmelskönigin nach der Beschneidung vor, dass es wohl nötig sei, diesen armen Ort zu verlassen, da derselbe weder für das göttliche Kind, noch für sie geeignet sei und man jetzt zu Bethlehem ein freies Obdach finden werde, wohin sie sich bis zu der Zeit zurückziehen könnten, wo das Kind zur Darstellung im Tempel nach Jerusalem zu bringen wäre. Der treueste Bräutigam schlug dies vor, da er immer fürchtete, seiner Armut wegen möchte dem Kind und der Mutter die vollständige Pflege abgehen, welche er für beide wünschte; doch fügte er sich in allem dem Willen seiner himmlischen Braut.

541. Die demütige Königin antwortete ihm, ohne ihm das Geheimnis zu entdecken: «Mein Bräutigam und Gebieter, ich gehorche deinem Befehl und werde dir mit größter Freude folgen, wohin du willst; bestimme, was du für das beste hältst.» Maria, hatte aber eine gewisse Zuneigung für die Höhle, weil sie so arm und elend und vom menschgewordenen Gott durch die Geheimnisse seiner Geburt und Beschneidung geheiligt worden war; und überdies sollte sie noch geheiligt werden durch die bevorstehende Ankunft der heiligen Könige. Zu welcher Zeit diese Ankunft erfolgen sollte, war übrigens der seligsten Jungfrau noch nicht bekannt. Die Zuneigung Mariä zur Krippenhöhle war durch Frömmigkeit und Ehrfurcht geheiligt; gleichwohl zog sie den Gehorsam gegen ihren Bräutigam ihrer persönlichen Zuneigung vor und fügte sich ihm, um in allem das Muster und Vorbild der höchsten Vollkommenheit zu sein. Doch gerade diese gleichmütige Ergebung versetzte den hl. Joseph in noch größere Sorge; denn er hätte gewünscht, dass seine Braut entscheide, was zu tun sei. Da antwortete Gott durch die beiden Himmelsfürsten Michael und Gabriel welche in körperlicher Gestalt zum Dienst ihres Gottes und ihrer großen Königin gegenwärtig waren. Sie sagten: «Der göttliche Wille hat angeordnet, dass an diesem Ort der menschgewordene Sohn Gottes angebetet werde von den drei Königen der Erde, welche, um den König des Himmels zu suchen, aus dem Morgenland kommen werden. Sie sind bereits zehn Tage auf dem Weg; denn sie wurden alsbald von der heiligen Geburt benachrichtigt und machten sich sogleich auf den Weg. Sie werden in kurzem hier ankommen, und so erfüllen sich die Weissagungen der Propheten, welche dies aus weiter Ferne erkannt und vorhergesagt haben.»

542. Der hl. Joseph war voll Freude, dass er durch diese Mitteilung den Willen Gottes erkannte. Maria aber sagte zu ihm: «Mein Gebieter, dieser Ort, welchen Gott für so erhabene Geheimnisse auserwählt hat, ist zwar arm und unpassend in den Augen der Welt, in den Augen der göttlichen Weisheit aber ist er reich, kostbar, schätzenswert, ja der erhabenste auf Erden, da der König des Himmels sich mit ihm begnügt und ihn durch seine göttliche Gegenwart geheiligt hat. Er kann durch seine Allmacht bewirken, dass wir an diesem Ort, der wahrlich ein Land der Verheißung ist, seiner Anschauung uns erfreuen. Ist es sein heiliger Wille, so wird er uns während der wenigen Tage, die wir hier noch zubringen, gegen die Widrigkeiten der rauen Witterung schützen.» Diese Worte der weisesten Königin gaben dem hl. Joseph großen Trost und Mut. Er antwortete, das göttliche Kind werde wohl das Gesetz der Darstellung im Tempel erfüllen, wie es auch das der Beschneidung erfüllt habe. Darum könnten sie bis zum Tag der Darstellung an diesem heiligen Ort bleiben, ohne erst nach Nazareth zurückzukehren, weil dieses so ferne und die Zeit so ungünstig sei. Wenn etwa die raue Witterung sie zwinge, sich in die heilige Stadt zurückzuziehen, so könnten sie dies leicht tun, da Bethlehem nur zwei Stunden von Jerusalem entfernt sei.

543. Maria fügte sich gänzlich dem Willen ihres besorgten Bräutigams. Ihr Verlangen ging ohnehin immer dahin, dieses «heilige Zelt», welches heiliger und ehrwürdiger war als das Allerheiligste des Tempels, nicht zu verlassen, bis die Zeit zur Darstellung ihres Eingeborenen im Tempel gekommen wäre. Unterdessen tat sich alles mögliche, um das göttliche Kind gegen die raue und kalte Witterung zu schützen. Sie reinigte auch die Grotte aufs neue und bereitete dieselbe für die Ankunft der Könige vor, so weit der arme, niedrige Ort dies zuließ. Doch ihre Hauptsorge ging dahin, das göttliche Kind immer in ihren Armen zu halten wenn sie nicht gezwungen war, es zu verlassen. Vor allem aber machte sie, wenn der Winter seine Strenge besonders fühlen ließ, von ihrer Macht als Herrin und Königin aller Geschöpfe Gebrauch; sie gebot dann der Kälte, den Winden, dem Schnee und dem Eis, ihrem Schöpfer nicht wehe zu tun, sondern ihre rauen Einflüsse an ihr geltend zu machen. Die Himmelskönigin sagte dann: «Haltet euren Zorn zurück vor eurem Schöpfer und Erhalter, vor eurem Herrn, der euch Dasein, Kraft und Wirksamkeit verliehen hat. Beachtet, ihr Geschöpfe meines liebsten Sohnes, dass ihr eure Strenge durch die Sünde erhalten habt, und dass sie bestimmt ist, den Ungehorsam des ersten Adam und seiner Nachkommenschaft zu strafen. Dem zweiten Adam gegenüber, der da kommt, um diesen Fall gut zu machen, und der an ihm keinen Teil haben kann, müsst ihr ehrfurchtsvoll und höflich sein und dürft ihm, dem ihr unterwürfigen Gehorsam schuldet, kein Leid antun. Ich gebiete euch dies in seinem Namen; bereitet ihm keine Beschwerde und keine Unannehmlichkeit !»

544. Der bereitwillige Gehorsam dieser vernunftlosen Geschöpfe gegen Gottes Willen, den ihnen die göttliche Mutter verkündete, verdient von uns bewundert und nachgeahmt zu werden; denn wenn sie es befahl, blieben Schnee und Wasser zehn Ellen weit von ihr entfernt, die Winde hielten sich zurück, die Luft in der Umgebung milderte sich und nahm eine gemäßigte Wärme an. Zu diesem Wunder gesellte sich ein anderes; während die Elemente dem göttlichen Kind auf den Armen seiner Mutter diesen Dienst erwiesen, so dass es Linderung fühlte, empfand die jungfräuliche Mutter die Kälte und die Widrigkeiten der Witterung in dem hohen Grad, als die Elemente durch ihre natürliche Kraft solche hervorbringen konnten. Dies geschah, weil dieselben ihr in allem gehorchten; sie selbst aber wollte sich dem Leiden, von welchem sie als liebevolle Mutter und als Gebieterin der Geschöpfe ihr zartes Kind, den großen Gott, bewahrte, nicht entziehen. Der hl. Joseph genoss dasselbe Vorrecht, wie das göttliche Kind; auch er fühlte die Milderung der rauen Elemente, doch wusste er nicht, dass sie auf Befehl seiner himmlischen Braut eingetreten und das Werk ihrer Macht war; denn sie sagte ihm von diesem ihrem Vorrecht nichts, da sie von Gott keinen Auftrag hierzu erhalten hatte.

545. Was die Ordnung und Weise betrifft, in welcher die große Himmelskönigin ihrem Kind Jesus Nahrung reichte, so bot sie ihm dreimal im Tag ihre jungfräuliche Milch. Dies tat sie aber stets mit solcher Ehrfurcht, dass sie zuvor ihr Kind um Erlaubnis und um Verzeihung ihrer Unwürdigkeit bat, indem sie sich hierbei verdemütigte und sich als unwürdig bekannte. Viele Zeit brachte sie, ihr Kind auf den Armen haltend, auf den Knien zu, um es anzubeten, und musste sie sich setzen, so bat sie es immer um Erlaubnis. Dieselbe Ehrfurcht bezeigte sie, wie bereits oben gesagt wurde, ihrem Kind dann, wenn sie es dem hl. Joseph übergab oder es von ihm entgegennahm. Oft küsste sie ihm die Füße; wollte sie aber dies im Gesicht tun, so bat sie innerlich um seine wohlwollende Zustimmung. Das süßeste Kind aber erwiderte die Liebkosungen seiner Mutter nicht nur, indem es sie mit freundlicher Miene, aber voll Majestät annahm, sondern auch durch Gebärden, die es nach Art der übrigen Kinder, nur mit mehr Ernst und Würde, machte.

Gewöhnlich schmiegte es sich liebevoll an die Brust seiner reinsten Mutter, zuweilen an die Schultern, wobei es ihren Hals mit seinen göttlichen Ärmchen umfasste. In Bezug auf diese Liebkosungen benahm sich die erhabene Königin Maria mit solcher Umsicht und Überlegung, dass sie das göttliche Kind weder durch kindische Zärtlichkeiten, wie andere Mütter, dazu anlockte, noch durch Furcht davon abhielt. In allem war sie ganz weise und vollkommen, ohne je zu wenig oder zuviel zu tun. Die größte Liebe, die ihr heiligstes Kind ihr kundgab, hatte nur die Wirkung, sie bis in den Staub zu verdemütigen und mit tiefster Ehrfurcht zu erfüllen. Und eben diese Ehrfurcht war es, welche alle ihre Gefühle regelte und ihnen den Glanz der höchsten Vollkommenheit verlieh.

546. Es fand aber noch eine andere, erhabenere Art von Liebesbezeigungen zwischen dem göttlichen Kind und seiner jungfräulichen Mutter statt. Abgesehen davon nämlich, dass Maria, wie bereits gesagt wurde, die inneren Akte der heiligsten Seele ihres Eingebornen im göttlichen Licht schaute, wurde ihr, während sie ihr Kind auf den Armen trug, oftmals noch eine andere, neue Gnade zuteil, indem sich ihr die Menschheit Christi wie ein Kristall zeigte. Durch die heiligste Menschheit und in ihr schaute sie dann die persönliche Vereinigung der Gottheit und Menschheit die Seele des göttlichen Kindes und alle Akte, welche es, zum himmlischen Vater für das Menschengeschlecht betend, verrichtete. Diese Akte und Bitten ahmte dann die himmlische Herrin nach, wobei sie in ihren Sohn ganz versenkt und umgestaltet wurde. Das göttliche Kind aber genoss im Anschauen der Mutter eine, wenn auch außerwesentliche Seligkeit und Wonne. Es fand sozusagen seinen Trost darin, eine solche Reinheit in einem Geschöpf zu erblicken, und freute sich, dass es Maria erschaffen, und dass seine Gottheit sich mit der Menschheit vereinigt hatte, um ein so lebendiges Abbild nicht nur seiner Gottheit, sondern auch seiner Menschheit, die es aus ihrer jungfräulichen Substanz angenommen hatte, zu schaffen. Bei diesem Geheimnis fiel mir ein, was die Hauptleute zu Holofernes sagten, da sie die schöne Judith auf den Gefilden von Bethulien sahen: «Wer soll das Volk der Hebräer verachten, die so schöne Frauen haben, dass wir nicht schon um dieser willen gegen sie streiten müssten (Jud 10,18) ?» Diese Rede scheint geheimnisvoll und wahr im Mund des menschgewordenen Gottes; denn er konnte mit viel mehr Recht dies zu seinem ewigen Vater und zu allen Geschöpfen sagen: «Wer wollte leugnen, dass ich recht getan, vom Himmel auf die Erde zu kommen, die menschliche Natur anzunehmen, den Satan, die Welt und das Fleisch zu überwinden und zu vernichten, da unter den Kindern Adams sich eine solche Frau findet, wie meine Mutter?» - O meine süße Liebe! Du Kraft meiner Kraft, du Leben meiner Seele, liebevoller Jesus ! Sieh, wie Maria, die heiligste Jungfrau, allein so große Schönheit in der menschlichen Natur besitzt. Sie ist die Einzige, die Auserwählte, dir, o mein Herr, so vollkommen wohlgefällig, dass sie deinem ganzen übrigen Volk nicht nur gleichkommt, sondern dasselbe unvergleichlich übertrifft, und dass sie allein die Hässlichkeit der ganzen Nachkommenschaft Adams aufwiegt.

547. Während das göttliche Kind solche Freuden genoss, wurde seine jungfräuliche Mutter ganz vergeistigt und aufs neue in Gott umgestaltet. Ihre reinste Seele nahm einen so hohen Aufschwung, dass sie gar oft die Bande des irdischen Leibes zerrissen und durch die Glut der Liebe sein Leben verzehrt und ihn verlassen hätte, wenn sie nicht durch ein Wunder gestärkt und erhalten worden wäre. Sie sprach zu ihrem heiligsten Sohn innerlich und äußerlich so erhabene und inhaltsschwere Worte, dass unsere Sprache zu niedrig ist, um dieselben wiederzugeben. Was immer ich auch davon sage, wird weit zurückbleiben hinter dem, was mir geoffenbart wurde. «O meine süße Liebe», sprach sie zu ihm, «du Leben meiner Seele, wer bist du und wer bin ich? Was willst du aus mir machen, dass du in deiner unermesslichen Größe dich herablässest, unnützen Staub so sehr zu begünstigen? Was soll deine Sklavin dir zuliebe tun, wie soll sie dir den schuldigen Dank abstatten? Was soll ich dir vergelten für so vieles, das du mir gegeben hast? Mein Wesen, mein Leben, meine Kräfte, meine Sinne, meine Wünsche und Seufzer, alles ist dein. Tröste deine Dienerin und Mutter, damit sie angesichts ihres Unvermögens, dir zu dienen, wie sie es glühend verlangt, nicht verschmachte und vor Liebe zu dir sterbe! O wie beschränkt ist die Fähigkeit des Menschen, wie eingeengt ist sein Vermögen, wie schwach sind seine Gefühle, da sie deine Liebe nicht nach Gebühr erwidern können ! Immer wirst du deinen Geschöpfen gegenüber Sieger bleiben durch deine Großmut und Barmherzigkeit. Immer wirst du Triumphe der Liebe feiern. Wir aber müssen uns dir dankbar unterwerfen und uns als durch deine Macht besiegt erklären. Wir werden uns erniedrigen bis in den Staub, deine Größe aber wird erhöht und verherrlicht werden in alle Ewigkeit.»

Manchmal schaute die Himmelskönigin in der Erkenntnis ihres heiligsten Sohnes die Seelen, welche sich während der Zeit des Neuen Bundes der Gnade durch die göttliche Liebe besonders auszeichnen würden: sie schaute die Werke, welche sie vollbringen und die Martern, die sie in der Nachfolge des Herrn leiden sollten. Bei diesem Schauen wurde ihr Herz im Wetteifer von solch gewaltiger Liebe entzündet, dass das Martyrium der Sehnsucht der Himmelskönigin schmerzlicher war als das tatsächliche Martertum aller übrigen Martyrer. So erfuhr sie an sich selbst, was der Bräutigam im Hohenlied gesagt hat, dass der Eifer der Liebe stark sei wie der Tod und hart wie die Hölle (Hld 8, 6). Auf dieses Liebessehnen seiner Mutter, zu sterben, weil sie nicht sterben konnte, antwortete ihr heiligster Sohn mit den dort angeführten Worten: «Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm (Hld 5, 6 )», indem er ihr zugleich das Verständnis und die Wirkung dieser Worte mitteilte. Durch dieses heilige Martyrium war Maria Martyrin vor allen anderen Martyrern. Jesus aber, das sanfteste Lamm, «weidete unter diesen Lilien, bis der Tag der Gnade anbrach und die Schatten des alten Gesetzes sich neigten (Hld 2,16+17)».

548. Das göttliche Kind genoss, so lange es an der jungfräulichen Brust seiner heiligsten Mutter genährt wurde, keine andere Speise, die Milch war seine einzige Nahrung. Diese war ebenso süß, lieblich und kräftig, als der Leib der seligsten Jungfrau rein, vollkommen, von jedem Fehler, von jeder Unordnung, von jedem Übermaß frei war. Kein anderer Leib kam ihm gleich an Gesundheit und Vollkommenheit. Bei solcher Beschaffenheit hätte sich darum diese heilige Milch lange Zeit unverdorben erhalten; ja durch ein besonderes Vorrecht wäre sie niemals verändert, niemals verdorben worden, während die der anderen Mütter der Erfahrung gemäß bald verdirbt.

549. Joseph, der glückseligste Bräutigam, freute sich nicht nur als Augenzeuge über die Liebkosungen, welche zwischen der heiligsten Mutter und ihrem göttlichen Kinde stattfanden, sondern er selbst wurde auch gewürdigt, solche von Jesus unmittelbar zu empfangen; denn die himmlische Braut gab ihm sehr oft das Kind in die Arme, wenn eine Arbeit es ihr unmöglich machte, es zu behalten, z. B. wenn sie das Essen bereitete, das Linnenzeug für das Kind zurecht richtete, das Haus scheuerte usw. Bei diesen Gelegenheiten hielt der hl. Joseph das Jesuskind und empfand dabei immer göttliche Einwirkungen in seiner Seele. Äußerlich zeigte ihm das Jesuskind eine sehr freundliche Miene, schmiegte sich an seine Brust und liebkoste ihn, zwar mit königlicher Würde und Majestät, aber doch auch mit liebevoller Zärtlichkeit, wie andere Kinder bei ihren Eltern tun. Indes tat es dies bei dem hl. Joseph nicht so häufig und auch nicht mit solcher Zärtlichkeit, wie bei seiner jungfräulichen Mutter.

LEHRE, welche mir Maria, die heiligste Königin gab

550. Meine liebe Tochter, im vorletzten Hauptstück wurdest du ermahnt, nichts auf übernatürlichem Weg vom Herrn auszuforschen, weder um einem Leiden zu entgehen, noch aus natürlicher Neigung, am allerwenigsten aus eitler Neugierde. Jetzt ermahne ich dich, dass du ebenso wenig aus irgend einem dieser Beweggründe deinen Neigungen gestattest, etwas Natürliches oder Äußerliches zu verlangen oder zu tun; denn so oft du deine geistigen Kräfte oder deine leiblichen Sinne betätigst, musst du deine Neigungen bezähmen, unterwerfen und ihnen niemals geben, was sie verlangen, wenn auch unter dem Schein der Tugend und Frömmigkeit. Für mich bestand wegen meiner Unschuld keine Gefahr, meinen Neigungen zu viel nachzugeben. Mein Verlangen, in der Höhle zu bleiben, wo die Geburt und Beschneidung meines heiligsten Sohnes stattgefunden, war von Frömmigkeit beseelt. Trotzdem wollte ich dieses Verlangen nicht kundgeben, selbst als mein Bräutigam mich fragte; denn ich zog den Gehorsam dieser Frömmigkeit vor und wusste, dass es für die Seelen sicherer und Gott wohlgefälliger ist, wenn wir seinen heiligen Willen nach dem Rat und Gutdünken anderer suchen, als nach unserer eigenen Neigung. Bei mir war dieses Verhalten verdienstlicher und vollkommener, als bei andern; dagegen ist für dich und für andere Seelen die Verpflichtung hierzu eine strengere, damit ihr mit Umsicht und Sorgfalt die Gefahr vermeidet, durch euer eigenes Gutdünken irregeleitet zu werden; denn der unwissende und engherzige Mensch hängt sich mit seinen Neigungen und kleinlichen Wünschen gar leicht an geringfügige Dinge, er lässt sich oft von einer Kleinigkeit so ganz einnehmen, als wäre sie eine wichtige Sache, und was nichts ist, scheint ihm etwas Großes zu sein. Hierdurch beraubt er sich aber großer geistlicher Güter, nämlich vieler Gnaden, Erleuchtungen und Verdienste, und macht sich zu deren Empfang unfähig.

551. Diese und alle anderen Lehren, welche ich dir noch geben werde, präge deinem Herzen ein. Lege dir in deinem Herzen ein Gedenkbuch an von allem, was ich getan, um dies vor Augen zu haben und nachzuahmen. Achte namentlich auf die Ehrfurcht, Liebe, Sorgfalt, auf die heilige Furcht und Umsicht, womit ich meinen heiligsten Sohn behandelte. Diese Sorgfalt war mir immer eigen gewesen; nachdem ich aber den Sohn Gottes in meinem Schoß empfangen hatte, verlor ich ihn niemals aus den Augen und ließ niemals die Liebe erschlaffen, welche er mir damals mitteilte. Bei diesem glühenden Verlangen, ihm stets mehr zu gefallen, ruhte mein Herz nicht, bis ich manchmal in der innigsten Vereinigung mit meinem höchsten Gut und letzten Ziele, gleichwie in meinem Mittelpunkt, zeitweilig ausruhte. Doch alsbald kehrte ich zu meiner beständigen Sorge zurück, wie jemand, der seinen Weg verfolgt, ohne bei dem zu verweilen, was ihn nicht fördert oder gar vom ersehnten Ziel zurückhält. Mein Herz war so weit entfernt, sich an etwas Irdisches zu hängen oder einer sinnlichen Neigung zu folgen, dass ich in dieser Hinsicht lebte, als ob ich nicht von der allgemeinen, menschlichen Natur wäre. Wenn aber die anderen Menschen von Leidenschaften nicht frei sind oder dieselben nicht in dem Grad überwinden, wie sie könnten, so sollen sie sich nicht über ihre Natur beklagen, sondern über ihren eigenen Willen: die schwache Natur könnte sich vielmehr über sie beklagen, da sie mit ihrer Vernunft dieselbe leiten und beherrschen könnten und dies nicht tun, im Gegenteil sie ihren Unordnungen nachgehen lassen, ja mit ihrem freien Willen sie unterstützen und mit ihrem Verstand gefährliche Gegenstände und Gelegenheiten aufsuchen, die zum Verderben führen. Angesichts dieser Abgründe, welche das menschliche Leben darbietet. warne ich dich, meine Teuerste: begehre und suche nichts Irdisches, mag es auch notwendig sein oder ganz gerecht erscheinen. Und was du aus Notwendigkeit gebrauchst, wie die Kleidung, Nahrung; die Zelle, das gebrauche alles im Gehorsam, mit Gutheißung der Obern; denn der Herr verlangt dies, und ich billige es, damit du alles zum Dienste des Allmächtigen gebrauchest. Nach diesen meinen Regeln muss sich dein ganzes Verhalten richten.

SECHZEHNTES HAUPTSTÜCK: Anbetung der Waisen

Die Heiligen Drei Könige kommen aus dem Morgenland und beten das menschgewordene Wort zu Bethlehem an.

552. Die drei Könige, welche kamen, um das neugeborene göttliche Kind zu suchen, waren gebürtig aus Persien, Arabien und Saba, aus Ländern, die östlich von Palästina liegen. Ihre Ankunft hatte David vorhergesagt (Ps 72,10), und vor ihm schon Bileam (Num 23 und 24), da er nach Gottes Willen das Volk Israel segnete, obwohl der Moabiterkönig Balak ihn gerufen hatte, damit er es verfluche. Bei diesem Segen hatte Bileam gesagt, er werde Christus den König sehen, aber nicht sogleich; er werde ihn schauen, aber nicht nahe. Er sah ihn nämlich nicht in eigener Person, sondern durch seine Nachkommen, die Weisen, nicht sogleich, sondern nach mehreren Jahrhunderten. Er sagte auch, dass ein Stern aus Jakob aufgehen werde, um denjenigen anzuzeigen, der geboren werde, um ewig im Hause Jakobs zu herrschen.

553. Diese drei Könige waren in den Naturwissenschaften sehr bewandert und in den heiligen Schriften des Volkes Gottes sehr belesen. Dieser großen Wissenschaft wegen wurden sie «Weise» genannt. Durch ihre Kenntnis der Heiligen Schrift und durch Unterredungen mit einigen Hebräern waren sie zu einem gewissen Glauben an die Ankunft des Messias gelangt, welchen dieses Volk erwartete. Sie waren außerdem aufrichtige, wahrheitsliebende Männer und äußerst gerecht in der Regierung ihrer Staaten. Da diese nicht so ausgedehnt waren, wie die Reiche heutzutage es sind, so konnten sie sie leicht selbst regieren. Als weise, kluge Könige handhabten sie die Gerechtigkeit; denn dies ist die eigentliche Aufgabe eines Königs; und darum sagt der Heilige Geist, dass Gott des Königs Herz in seiner Hand habe, um es wie Wasserleitungen auf das hinzulenken, was er will (Spr 21,1). Sie waren auch großherzig, edelmütig und frei von der Habsucht, welche das Herz der Fürsten so tief erniedrigt und herabdrückt. Da die Staaten dieser Weisen aneinander grenzten und sie so nahe beieinander wohnten, so kannten sie sich gegenseitig und förderten einander in den sittlichen Tugenden, sowie in ihren Kenntnissen, indem sie sich alles Wichtige mitteilten, das sie erfuhren. Kurz, sie standen im treuesten, freundschaftlichsten Verkehre.

554. Wie im elften Hauptstück (Nr. 492) gesagt worden ist, waren diese Könige durch den Dienst der heiligen Engel von der zeitlichen Geburt des menschgewordenen Wortes in der Heiligen Nacht benachrichtigt worden. Dies geschah in folgender Weise. Einer von den Schutzengeln unserer Königin, von höherem Rang als die Schutzengel dieser drei Könige, wurde von der Grotte abgesandt. Als höherstehender Engel erleuchtete er die drei Schutzengel der drei Könige und teilte ihnen den Willen und die Botschaft des Herrn mit, auf dass sie, ein jeder seinem Schutzbefohlenen, das Geheimnis der Menschwerdung und der Geburt Christi unseres Erlösers kundgeben möchten. Diese taten es alsbald, und zwar zur Stunde, während die Könige schliefen. In dieser Ordnung gehen die Offenbarungen der Engel gewöhnlich vor sich; sie gelangen von Gott durch die Engel an die Seelen. Die Könige erhielten dabei ein umfassendes, klares Licht über die Geheimnisse der Menschwerdung. Sie wurden belehrt, dass der König der Juden als wahrer Gott und Mensch geboren sei; dass er der Messias und Erlöser sei, den sie erwarteten, und den die Prophezeiungen ihrer heiligen Schriften verhießen, und dass ihnen, um ihn zu suchen, jener Stern gegeben werde, welchen Bileam vorher verkündigt. Jeder der drei Könige wurde auch inne, dass die beiden anderen dieselbe Nachricht erhielten, und dass diese wunderbare Gnade ihnen nicht verliehen sei, um fruchtlos zu bleiben, sondern da mit sie nach der Weisung des göttlichen Lichtes handelten. Sie erglühten dabei von großer Liebe und von sehnsüchtigem Verlangen, den menschgewordenen Gott kennen zu lernen, ihn als ihren Schöpfer und Erlöser anzubeten und ihm mit höchster Vollkommenheit zu dienen. Hierzu verhalfen ihnen die ausgezeichneten sittlichen Tugenden, welche sie erworben hatten; denn durch diese waren sie wohl vorbereitet. um das göttliche Licht zu empfangen.

555. Auf diese himmlische Offenbarung hin erwachten die drei Könige. Sogleich warfen sie sich zur selben Stunde auf die Erde nieder, und in den Staub gebeugt beteten sie den unveränderlichen Gott im Geist an. Sie priesen seine unendliche Barmherzigkeit und Güte, dass das göttliche Wort von einer Jungfrau Fleisch angenommen, um die Welt zu erlösen und den Menschen das ewige Heil zu verleihen. Dann fassten alle drei, von dem nämlichen Geist geleitet, den Entschluss, ohne Verzug nach Judäa abzureisen, um das göttliche Kind zu suchen und anzubeten. Sie richteten die drei Gaben her, welche sie ihm darbringen wollten: Gold, Weihrauch und Myrrhen, von jedem gleich viel; denn sie waren in allem auf geheimnisvolle Weise geleitet und trafen dieselben Anordnungen, ohne sich darüber verständigt zu haben. Um rasch abreisen zu können, versahen sie sich noch am selben Tag mit den für die Reise nötigen Kamelen, Vorräten und Bediensteten. Sie achteten nicht darauf, dass das Volk verwundert sein werde, noch dass sie in ein fremdes Reich zögen mit so wenig Ansehen und Pracht. Ohne genau den Ort zu wissen und ohne Zeichen, um das Kind zu erkennen, beschlossen sie alsbald voll brennenden Eifers und glühender Liebe, abzureisen und es zu suchen.

556. Der heilige Engel. welcher von Bethlehem zu den Königen gekommen war, bildete zu gleicher Zeit aus Luftstoff einen Stern, welcher sehr hell schimmerte, aber nicht so groß war, wie die Sterne des Firmamentes; denn derselbe erhob sich nicht höher, als nötig war für den Zweck, für den er gebildet worden, und er blieb in der Luftregion, um die heiligen Könige zu der Grotte zu führen, in welcher sich das göttliche Kind befand. Sein Glanz war außergewöhnlich und von dem Glanz der Sonne und der anderen Sterne verschieden. Er leuchtete mit seinem wunderschönen Licht in der Nacht wie eine hellbrennende Fackel; bei Tag aber zeigte er sich im Licht der Sonne mit außerordentlicher Lebhaftigkeit. Jeder der drei Könige sah beim Heraustreten aus seinem Haus, obwohl von verschiedenen Orten aus, diesen neuen Stern, und zwar einen und denselben; denn er befand sich in solcher Entfernung und Höhe, dass er für alle drei zu gleicher Zeit sichtbar war. Sie folgten ihm und trafen darum in kurzer Zeit zusammen. Dann näherte sich ihnen der Stern, indem er um viele Grad in der Luftregion herabstieg, so dass sie in noch größerer Nähe seines Glanzes sich erfreuen konnten. Sie besprachen die ihnen zuteil gewordenen Offenbarungen, sowie ihre Absichten und stimmten in allem überein. Dabei wurde ihr frommes Verlangen, das neugeborene göttliche Kind anzubeten, noch glühender, und voll Staunen priesen sie den Allmächtigen in seinen erhabenen, geheimnisvollen Werken.

557. Die Weisen setzten, von dem Stern geleitet, ihre Reise fort. Sie verloren den Stern nie mehr aus dem Gesicht, bis sie nach Jerusalem kamen. Da er hier verschwand und diese große Stadt die Hauptstadt der Juden war, so vermuteten sie, dass deren wahrer, rechtmäßiger König hier geboren sei. Sie traten also in die Stadt ein und fragten öffentlich: «Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben im Morgenland den Stern gesehen, welcher seine Geburt verkündet, und wir kommen, um ihn zu sehen und anzubeten (Vgl. Mt 2, 1 ff).» Diese Neuigkeit gelangte auch zu den Ohren des Herodes, welcher damals, obwohl widerrechtlich, in Judäa regierte und zu Jerusalem lebte. Da der ungerechte König hörte, dass ein anderer, rechtmäßiger König geboren sei, erschrak er und ward sehr verwirrt und erzürnt. Und die ganze Stadt wurde mit ihm unruhig, die einen aus Schmeichelei gegen Herodes, die anderen aus Furcht vor Wirren. Herodes ließ, wie der hl. Matthäus berichtet, sogleich die Hohenpriester und Schriftgelehrten zusammenkommen und fragte sie, wo Christus, den sie gemäß ihren Schriften erwarteten, geboren werden sollte. Sie antworteten ihm, dass er nach der Vorhersagung eines Propheten, des Micha (Mich 5, 2), zu Bethlehem geboren werde; denn es stehe geschrieben, dass von da der Fürst hervorgehen werde, welcher das Volk Israel regieren soll.

558. Nachdem Herodes den Geburtsort des neuen Königs der Juden erfahren hatte, dachte er alsbald daran, denselben durch List aus dem Weg zu räumen. Er entließ also die Priester und berief heimlich die weisen Könige, um die Zeit zu erforschen, da sie den Stern gesehen, welcher die Geburt dieses Königs verkündete. Diese gaben ihm die Zeit aufrichtig an. Nun wies sie Herodes nach Bethlehem und sprach mit verstellter Bosheit: «Geht hin und forscht nach dem Kind; und wenn ihr es gefunden habt, so zeigt es mir alsbald an, damit auch ich hinkomme, um ihm zu huldigen und es anzubeten.» So reisten die Weisen ab; der heuchlerische König aber war wegen dieser unfehlbaren Anzeichen, dass der rechtmäßige Herr der Juden geboren sei, in Unruhe und Angst. Er hätte sich im Besitz seiner Herrlichkeit mit dem Gedanken beruhigen können, dass ein neugeborenes Kind nicht so bald zur Regierung gelangen könne; allein so schwach und trügerisch ist das irdische Glück, dass selbst ein Kind es umstürzt, oder eine von fern drohende, ja nur eingebildete Gefahr allen Trost und alle Freude verdirbt, welche sie zu bieten scheint.

559. Als die Weisen Jerusalem verließen, sahen sie den Stern wieder, den sie beim Eintritt in diese Stadt aus den Augen verloren hatten. Sie folgten seinem Licht und gelangten nach Bethlehem zur Grotte der Geburt; über dieser stand der Stern still, ließ sich dann nieder, schwebte, sich verkleinernd, in die Höhle hinein über das Haupt des Jesuskindes und überströmte dasselbe mit seinem Licht. Darauf verschwand er, indem der Luftstoff, aus welchem er gebildet worden war, sich auflöste. Unsere große Königin war über die Ankunft der Könige vom Herrn unterrichtet worden. Als sie nun hörte, dass sie sich der Grotte näherten, teilte sie dies dem hl. Joseph mit, nicht, damit dieser sich entferne, sondern damit er ihr zur Seite stehe, was er auch tat. Zwar sagt das heilige Evangelium dies nicht, weil es nicht notwendig zu dem Geheimnis gehörte, ebenso wenig als andere Dinge, über welche die Evangelisten schweigen; es ist aber gewiss, dass der hl. Joseph zugegen war, als die Könige das Jesuskind anbeteten. Es war auch nicht nötig, dass er sich vorsichtshalber entferne; denn die Weisen wussten bereits durch die himmlische Erleuchtung, dass die Mutter des neugebornen Kindes eine Jungfrau, das Kind selbst aber wahrer Gott und nicht der Sohn des hl. Joseph sei. Wie hätte sie auch Gott zu dessen Anbetung herführen und dabei zulassen können, dass sie aus Mangel an Unterweisung sich in einer so wesentlichen Sache geirrt und gemeint hätten, dies Kind sei der Sohn Josephs und einer Mutter, die nicht Jungfrau sei? Nein, sie waren bei ihrer Ankunft über alles erleuchtet und von den erhabensten, solch großen Geheimnissen entsprechenden Gefühlen beseelt.

560. Das göttliche Kind auf den Armen, erwartete die heiligste Mutter die frommen Könige. Unaussprechlich war die Sittsamkeit und Anmut der göttlichen Mutter; bei all ihrer Demut und Armut war doch eine mehr als menschliche Majestät an ihr bemerkbar, und auf ihrem Antlitz leuchtete Glanz. In weit höherem Grad war dies bei dem göttlichen Kind der Fall; es verbreitete einen solchen Lichtglanz, dass die ganze Höhle in einen Himmel umgewandelt wurde. Als die drei morgenländischen Könige eintraten, waren sie beim ersten Anblick des Kindes und der Mutter eine geraume Zeit hindurch von Bewunderung hingerissen. Sie warfen sich zur Erde nieder und beteten in dieser Haltung das Kind mit Ehrfurcht an, indem sie es als wahren Gott und wahren Menschen und als den Erlöser des Menschengeschlechtes anerkannten. Durch den Anblick und die Gegenwart des süßesten Jesuskindes und dessen göttlicher Macht wurden sie aufs neue innerlich erleuchtet. Sie schauten die Menge der himmlischen Geister, welche als Diener des großen Königs der Könige, des Herrn der Herren mit Ehrfurcht und Zittern zugegen waren. Dann richteten sie sich auf und brachten ihrer und unserer Königin ihre Glückwünsche dar, dass sie die Mutter des Sohnes des ewigen Vaters geworden war. Sie bezeigten ihr auch ihre Ehrfurcht, indem sie die Knie beugten. Sie wollten ihr auch die Hand küssen, wie dies in ihrem Reich Königinnen gegenüber Sitte war; allein die weiseste Herrin zog ihre Hand zurück und bot ihnen die des Erlösers der Welt an mit den Worten: «Mein Geist frohlockt in dem Herrn, und meine Seele lobpreist ihn, weil er unter allen Nationen euch auserwählt und berufen hat, mit euren Augen denjenigen zu sehen, den viele Könige und Propheten vergebens zu sehen verlangten, den menschgewordenen, ewigen Sohn Gottes. Lasst uns seinen Namen loben und preisen wegen der geheimnisvollen Erbarmungen, die er seinem Volk erwiesen hat; lasset uns die Erde küssen, die er durch seine königliche Gegenwart geheiligt hat!»

561. Auf diese Worte der heiligsten Jungfrau warfen sich die drei Könige nochmals nieder, beteten das Jesuskind an und dankten für die große Wohltat, dass ihnen die Sonne der Gerechtigkeit so frühzeitig erschienen war, um ihre Finsternis zu erleuchten. Darauf sprachen sie mit dem hl. Joseph, priesen ihn glücklich, dass er der Bräutigam der Mutter Gottes sei, und wünschten ihm Glück dazu, voll Staunen und zugleich voll Mitleid wegen der so großen Armut, in welcher die größten Ge heimnisse des Himmels und der Erde verborgen waren. Nach dem sie auf diese Weise drei Stunden zugebracht, baten sie die heiligste Jungfrau um Erlaubnis, sich in der Stadt ein Obdach zu suchen, da die Grotte nicht geräumig genug war, um dort zu bleiben. Sie hatten einiges Gefolge; allein das Licht und die Gnade waren nur in den Königen wirksam. Die anderen hatten nur acht auf das Äußere, sahen den geringen, armen Stand der Mutter und ihres Bräutigams, und obwohl sie etwas verwundert waren über dieses ungewöhnliche Schauspiel, erkannten sie doch das Geheimnis nicht. Nachdem die Könige sich entfernt hatten und Maria und Joseph mit dem Kind wieder allein waren, priesen sie den Herrn mit neuen Lobgesängen, weil nun zum ersten Mal sein Name von den Heiden erkannt und angebetet worden war. Was die Könige ferner getan haben, werde ich im folgenden Hauptstück erzählen.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin gab

562. Meine Tochter, die in diesem Hauptstück beschriebenen Ereignisse, bieten den Königen und Fürsten, sowie den übrigen Kindern der heiligen Kirche große Lehren, einerseits in der bereitwilligen Frömmigkeit und Demut der drei Weisen, welche man nachahmen soll, und anderseits in der gottlosen Verhärtung des Herodes, die man fürchten muss. Sie alle ernteten die Frucht ihrer Werke; die Könige ernteten die Frucht ihrer Gerechtigkeit und ihrer vielen Tugenden, Herodes die seines blinden Ehrgeizes und Stolzes, wodurch er ungerecht regierte, sowie anderer Sünden, zu welchen ihn seine ungezügelte Leidenschaft fortriss. Diese Lehre nebst den anderen, welche die heilige Kirche gibt, genügt für diejenigen, die in der Welt leben. Du aber musst die Lehre, die sich aus obigem ergibt, auf dich anwenden und beachten, dass alle Vollkommenheit des christlichen Lebens sich auf die Wahrheiten des katholischen Glaubens gründen muss und auf deren feste und standhafte Anerkennung, wie dies die heilige Kirche lehrt. Um sie deinem Herzen desto tiefer einzuprägen, musst du dir alles zunutze machen, was du aus der Heiligen Schrift und aus anderen frommen Büchern, die zur Tugend anleiten, lesen oder hören wirst. Diesem heiligen Glauben muss dann die Ausführung folgen, indem du reich zu werden trachtest an allen guten Werken, in beständiger Hoffnung auf die Ankunft und die Heimsuchung des Allerhöchsten (Tit 2,13).

563. Bei solcher Gesinnung wird dein Wille bereit und schnell sein, wie ich ihn wünsche, damit Gottes Wille in dir die Gefügigkeit und Unterwerfung finde, die nötig ist, um seinen Einsprechungen nicht zu wiederstehen, sondern ohne Rücksicht auf die Menschen sie auszuführen, sobald du sie erkannt hast. Tust du hierin deine Schuldigkeit, dann werde ich dein Stern sein und dich auf den Pfaden des Herrn leiten, damit du schnell voranschreitest, bis du auf Sion das Angesicht deines Gottes schauen und das höchste Gut genießen wirst.

In dem, was den frommen Königen des Morgenlandes begegnete, ist eine für das Heil der Seelen entscheidende Wahrheit enthalten, die jedoch sehr wenig gekannt und noch weniger befolgt wird. Diese Wahrheit ist, dass die Einsprechungen Gottes gewöhnlich folgende Ordnung einhalten: die ersten treiben an, einige Tugenden zu üben; entspricht man denselben, dann sendet Gott neue und größere Gnaden, um in der Tugend noch mehr Fortschritte zu machen; indem man also die einen benützt, bereitet man sich zu anderen vor und erhält immer neue, kräftigere Gnadenhilfen. Und in dieser Ordnung nehmen die Gnaden des Herrn in dem Maß zu, als die Seele denselben entspricht. Hieraus wirst du zwei Dinge abnehmen: erstens, welch großen Verlust es bringt, wenn man die Akte irgend einer Tugend geringschätzt und sie nicht vollbringt, wie die göttlichen Einsprechungen es verlangen; zweitens, dass Gott den Seelen gar oft große Gnaden gäbe, wenn diese zuerst mit den geringeren mitwirken würden; denn er ist hierzu bereit, ja er wartet sozusagen, dass man es ihm möglich mache, seinen gerechten Ratschlüssen gemäß zu handeln. Weil man aber auf diese Ordnung und dieses Verhalten Gottes in seinen Einsprechungen nicht achtet, darum hält Gott seinen Gnadenstrom zurück und gibt nicht, was er geben möchte, und was die Seelen empfangen würden, wenn sie kein Hindernis entgegenstellten. Auf diese Weise stürzen sie von einem Abgrund in den andern.

564. Die Heiligen Drei Könige und Herodes gingen ganz entgegengesetzte Wege. Jene entsprachen den ersten Gnadenhilfen und Eingebungen durch gute Werke und machten sich durch Übung vieler Tugenden fähig, durch göttliche Offenbarung zur Erkenntnis der Geheimnisse der Menschwerdung, der Geburt des göttlichen Wortes, der Erlösung des Menschengeschlechtes berufen und geleitet zu werden. Von diesem Glück stiegen sie zu dem weiteren empor, heilig und vollkommen zu werden auf dem Weg zum Himmel. Das Gegenteil war bei Herodes der Fall. Hartherzig vernachlässigte er es, mit der Gnade Gottes Gutes zu tun; und dies führte ihn zu so maßlosem Stolz und Ehrgeiz. Diese Laster aber stürzten ihn in den tiefsten Abgrund der Grausamkeit; denn er war der erste unter allen Menschen, welcher dem Erlöser der Welt das Leben nehmen wollte, wobei er noch Frömmigkeit und Liebe heuchelte. Und um den Herrn zu treffen, ermordete er in seiner Zorneswut so gar die unschuldigen Kinder, damit seine fluchwürdigen Pläne nicht vereitelt würden.

SIEBZEHNTES HAUPTSTÜCK: Darbringung der Geschenke und Heimkehr

Die Heiligen Drei Könige kommen zum zweiten Mal, um das Jesuskind anzubeten. Sie bringen ihm ihre Geschenke dar, verabschieden sich und kehren auf einem anderen Wege in ihre Länder zurück.

565. Von der Grotte der Geburt, in welche die drei Könige unmittelbar bei ihrer Ankunft eingetreten waren, begaben sie sich in eine Herberge in der Stadt Bethlehem. Dort zogen sie sich in ein Zimmer zurück und besprachen sich während eines großen Teiles der Nacht unter Tränen über das, was sie gesehen hatten, und was ein jeder in seinem Herzen empfunden und an dem göttlichen Kind, sowie an dessen heiligster Mutter bemerkt hatte. Dadurch wurden sie noch mehr von Liebe zu Gott entzündet. Sie staunten über die Majestät und den Glanz des Jesuskindes, über die Weisheit, den Ernst und die heilige Sittsamkeit der Mutter, über die Heiligkeit des Bräutigams Joseph, über die Armut aller drei, sowie über die Niedrigkeit des Ortes, an welchem der Herr Himmels und der Erde hatte geboren werden wollen. Die heiligen Könige fühlten ihre Herzen von solcher Liebesglut zu Gott entflammt, dass sie dieselbe nicht zurückhalten konnten und sie durch süßeste Worte, durch Akte tiefster Verehrung und Liebe äußerten. «Was ist doch dies für ein Feuer, das wir fühlen?» sagten sie. «Wie groß ist die Macht dieses Königs, der solches Sehnen, solche Gefühle in uns wachruft? Was werden wir tun im Verkehr mit den Menschen? Wie werden wir unsere Seufzer, unsere Tränen zurückhalten? Was sollen diejenigen tun, die ein so tiefes, neues erhabenes Geheimnis erkannt haben? O Größe des Allmächtigen, die du den Menschen verborgen und in solche Armut gehüllt bist! O Demut, an welche kein Sterblicher gedacht hätte! O könnten wir doch alle Menschen hierher bringen, damit niemand dieses Glückes beraubt wäre!»

566. Bei diesen himmlischen Unterredungen gedachten die Könige auch der großen Not, welche Jesus, Maria und Joseph in ihrer Grotte litten. Sie beschlossen daher, ihnen unverzüglich ein Geschenk zu schicken, um ihnen ihre zarte Zuneigung zu beweisen und wenigstens auf diese Weise ihr Verlangen, ihnen zu dienen, zu befriedigen, da sie sonst nichts tun konnten. Sie ließen ihnen also durch ihre Diener viele von den Geschenken überbringen, welche sie bereit hielten, nebst anderen, welche sie sich verschafften. Maria und Joseph nahmen dieselben mit demütigem Dank an. Ihr Dank bestand aber nicht, wie es bei anderen Menschen der Fall zu sein pflegt, in leeren Worten, sondern in reichlichen Segnungen, die in den Herzen der Heiligen Drei Könige geistlichen Trost bewirkten. Mit diesen Geschenken konnte unsere große Königin ihren gewöhnlichen Gästen, den Armen, ein reichliches Mahl bereiten; denn die Armen waren gar oft bei Maria, angezogen durch die häufigen Almosen, die sie von ihr empfingen, noch mehr aber durch die freundlichen Worte, die sie zu ihnen sprach. Von unvergleichlicher himmlischer Freude erfüllt begaben sich die Könige zur Ruhe, und im Traum gab ihnen der Engel die Weisung bezüglich der Heimreise.

567. Am anderen Tag kehrten die drei Könige früh morgens zur Grotte der Geburt zurück, um dem Könige des Himmels die Geschenke anzubieten, welche sie mitgebracht. Zur Erde niedergeworfen, beteten sie den Sohn Gottes mit tiefster Demut an, öffneten, wie das Evangelium sagt ihre Schätze und brachten ihm Gold Weihrauch und Myrrhen dar. Sie legten auch der göttlichen Mutter mancherlei Fragen vor über die Geheimnisse des Glaubens, sowie über den Zustand ihres Gewissens und über die Regierung ihrer Staaten; denn sie wollten nicht zurückkehren, ohne vollständig über alles unterrichtet zu sein, was zu einem heiligen Leben gehört. Die große Königin hörte sie mit größtem Wohlwollen an, und während sie zu ihr redeten, beriet sie sich innerlich mit dem göttlichen Kind über die Antworten und Belehrungen, die sie diesen neuen Söhnen seines heiligen Gesetzes geben sollte. Als Lehrerin und Organ der göttlichen Weisheit antwortete sie dann auf alle vorgelegten Zweifel und ihre Antworten waren so weise, so belehrend und heiligend, dass die Heiligen Drei Könige, von Bewunderung der Weisheit und Güte der Himmelskönigin hingerissen, sich nicht von ihr trennen konnten. Darum musste ein Engel des Herrn ihnen ankündigen, es sei der Wille Gottes und unumgänglich notwendig, dass sie in ihre Heimat zurückkehrten. Es ist nicht zu verwundern, dass die heiligen Könige so erstaunt waren; denn bei den Worten Mariä wurden sie vom Heiligen Geist erleuchtet und nicht nur über das, worüber sie fragten, sondern auch über viele andere Dinge mit himmlischem Lichte erfüllt.

568. Die göttliche Mutter nahm die Geschenke der Könige in Empfang und bot sie in deren Namen dem Jesuskind an. Das göttliche Kind gab durch die Freundlichkeit seines Angesichtes zu erkennen. dass es die Geschenke annehme. Es erteilte den Königen seinen Segen, und zwar in einer Weise, dass sie erkennen konnten, das Kind spende ihnen den Segen, um sie für die dargebrachten Gaben mit überreichen himmlischen Gütern mehr als hundertfach zu belohnen. Der Himmelskönigin boten sie, der Sitte ihres Landes gemäß, einige sehr kostbare Kleinodien an; allein Maria gab alles, was keine geheimnisvolle Bedeutung und keine Beziehung zu dem heiligen Geheimnisse hatte, den Königen wieder zurück und behielt nur die drei Gaben, Gold Weihrauch und Myrrhen. Um die heiligen Könige um so getrösteter zu entlassen, gab ihnen Maria einige Windeln, in welche sie das göttliche Kind gewickelt hatte; denn andere sichtbare Kostbarkeiten, mit welchen sie dieselben hätte bereichern können, besaß Maria nicht und konnte auch keine kostbareren besitzen. Die Heiligen Drei Könige empfingen diese Reliquien mit solcher Hochachtung und Ehrfurcht, dass sie dieselben in Gold und Edelsteine fassen ließen und sorgfältig aufbewahrten. Die Reliquien aber verbreiteten zum Zeugnis ihrer hohen Heiligkeit einen so lieblichen und starken Wohlgeruch, dass man denselben fast eine Stunde weit verspürte. Dieser Wohlgeruch hatte aber die Eigenschaft, dass nur diejenigen ihn wahrnahmen, welche an die Ankunft Gottes in der Welt glaubten. Die Ungläubigen waren von dieser Gnade ausgeschlossen; sie gewahrten von dem Wohlgeruch dieser kostbaren Reliquien nichts. Die drei Könige aber wirkten mittels derselben in ihrer Heimat große Wunder.

569. Die Könige machten auch der Mutter des lieben Jesuskindes das Anerbieten, ihr mit all ihren Gütern und Besitztümer zu dienen; oder falls sie dies nicht annehme und lieber am Geburtsort ihres heiligsten Sohnes bleiben wolle, wollten sie ihr dort zur größeren Bequemlichkeit ein Haus bauen. Die weiseste Mutter dankte für diese Anerbietungen, nahm sie aber nicht an. Zum Abschied stellten die Könige mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens an die heiligste Jungfrau die Bitte, sie doch niemals zu vergessen. Maria versprach dies und hielt auch ihr Versprechen. Dieselbe Bitte stellten sie auch an den hl. Joseph. Nachdem sie von Jesus, Maria und Joseph den Segen empfangen hatten, verabschiedeten sie sich mit so zärtlicher Rührung, dass man hätte glauben können, sie ließen ihre Herzen, in Tränen und Seufzer aufgelöst, an jener Stätte zurück. Sie schlugen einen anderen Weg ein, um nicht zu Herodes nach Jerusalem zurückzukommen; denn der Engel hatte sie in der verflossenen Nacht im Traum ermahnt, dies nicht zu tun. So wurden sie denn von Bethlehem an auf einem anderen Weg geführt, und zwar durch den nämlichen Stern, der ihnen früher erschienen war, oder durch einen anderen, der ihnen zu diesem Zweck erschien und sie bis zu dem Ort leitete, wo sie zusammengetroffen waren. (Nec minus enim, et forte plus erat in reditu quam in itu periculi, quod ut declinarent [Magi] opportune stella certum iis, securum et brevissimum iter debuit praemonstrare, ne quid eis nocerent Herodis insidire. Crombach. Hist. SS. Reg. III. I. 2. c. 9). Von da kehrte dann jeder in sein Heimatland zurück.

570. Das übrige Leben dieser höchst glücklichen Könige entsprach ihrer göttlichen Berufung; denn sie lebten in ihren Staaten als Schüler der Lehrmeisterin der Heiligkeit und regierten nach deren Lehren sowohl ihre Seelen, als ihre Reiche. Auch führten sie viele Seelen zur Erkenntnis Gottes und auf den Weg des Heiles, teils durch ihr Beispiel und ihr Leben, teils durch Belehrungen über den Erlöser der Welt. Reich an Jahren und Verdiensten beschlossen sie endlich ihre Laufbahn in Heiligkeit und Gerechtigkeit, wie im Leben, so im Tod von der Mutter der Barmherzigkeit begünstigt.

Nach der Abreise der Könige brachten die Himmelskönigin und Joseph dem Allerhöchsten neue Loblieder für seine Wunderwerke dar; sie verglichen dieselben mit der Heiligen Schrift und mit den Weissagungen der Patriarchen und sahen, wie die Weissagungen an dem Jesuskinde in Erfüllung gingen. Die weiseste Mutter, welche in diese erhabenen Geheimnisse tief eindrang, bewahrte und erwog sie alle in ihrem Herzen. Die heiligen Engel endlich, welche beim Vollzuge dieser Geheimnisse anwesend waren, wünschten ihrer Königin Glück, dass ihr heiligster Sohn von den Menschen erkannt und angebetet wurde, und sie priesen ihn durch neue Loblieder wegen der Erbarmungen, die er den Menschen erzeigte.

LEHRE, welche mir Maria, die heiligste Himmelskönigin gab

571. Meine Tochter, groß waren die Geschenke, welche die Könige meinem heiligsten Sohn darbrachten; noch größer aber war die Liebe, mit welcher sie diese hingaben, und das Geheimnis, welches sie andeuteten. Durch all dies waren sie der göttlichen Majestät höchst wohlgefällig. Auch du sollst dem Herrn ein Opfer bringen du sollst Dank sagen, dass er dich zum Stand der Armut berufen hat; denn ich versichere dich, meine Freundin, dass es vor Gott kein kostbareres Geschenk und kein wertvolleres Opfer gibt als die freiwillige Armut. Heutzutage gibt es in der Welt nur sehr wenige Menschen, welche von ihren zeitlichen Gütern einen guten Gebrauch machen und sie mit der Großmut und Liebe dieser heiligen Könige ihrem Gott und Herrn aufopfern. Die Armen des Herrn, deren Zahl so groß ist, erfahren wohl und bezeugen, wie grausam und geizig das Menschenherz geworden ist, da von den zahlreichen Notleidenden so wenige bei den Reichen Hilfe finden. Diese Hartherzigkeit der Menschen schmerzt die Engel und betrübt den Heiligen Geist, der da sehen muss, wie die Würde der Seelen so tief erniedrigt ist, und wie alle mit ihren Kräften und Fähigkeiten der schändlichen Geldgier dienen. Sie eignen sich die Reichtümer an, als wären sie für sie allein geschaffen, und verweigern sie den Armen, ihren Brüdern, die dasselbe Fleisch und dieselbe Natur mit ihnen gemein haben. Ja nicht einmal Gott dem Herrn opfern sie diese Reichtümer, da doch er es ist, welcher sie geschaffen hat, sie erhält und sie geben oder nehmen kann, wie es ihm gefällt. Das Beklagenswerteste aber ist, dass die Reichen, während sie mit ihrem Vermögen das ewige Leben erkaufen könnten, sich damit ihr Verderben zuziehen weil sie von dieser Gabe des Herrn einen Gebrauch machen, wie nur törichte und unverständige Menschen ihn machen können.

572. Diese unselige Verfahrungsweise ist unter den Kindern Adams etwas ganz Allgemeines. Darum ist aber auch die freiwillige Armut so erhaben und gewährt so große Sicherheit. Und wenn jemand in diesem Stand der Armut frohen Herzens das Wenige mit dem Armen teilt, dann bringt er dem Herrn aller Menschen ein großes Opfer. Du kannst dies Opfer von dem bringen, was zu deinem Unterhalt bestimmt ist, indem du den Armen einen Teil gibst und dabei das Verlangen hast, wenn es möglich wäre, allen mit deiner Arbeit und deinem Schweiß zu Hilfe zu kommen. Dein beständiges Opfer aber müssen sein: die Werke der Liebe - dies ist das Gold; beständiges Gebet das ist der Weihrauch; und ruhiges Ertragen der Leiden und wahre Abtötung in allen Stücken - das ist die Myrrhe. Übrigens musst du alles, was du für den Herrn tust, mit feuriger Liebe und bereitwilligem Herzen darbringen, ohne Lauheit und Zagen; denn nachlässig verrichtete oder tote Werke sind kein wohlgefälliges Opfer in den Augen des Herrn. Damit du aber dem Herrn beständig das Opfer deiner Werke bringst, muss der Glaube und das Licht immer in deinem Herzen leuchten und dich auf Gott hinweisen, um ihn zu loben und zu verherrlichen. Ebenso musst du achten auf den Sporn der Liebe, durch welchen Gott dich immer antreibt, nicht abzulassen von dieser Übung, welche den Bräuten des Allerhöchsten so eigen ist, da dieser Titel die Liebe bedeutet und zu beständiger, liebevoller Hingebung verpflichtet.

ACHTZEHNTES HAUPTSTÜCK: Aufenthalt der Heiligen Familie in Betlehem

Maria und Joseph verteilen die Geschenke der Heiligen Drei Könige. Ihr Aufenthalt zu Bethlehem bis zur Darstellung des Jesuskindes im Tempel.

573. Nach der Abreise der heiligen Könige und nach der Feier des großen Geheimnisses der Anbetung des Jesuskindes in der Grotte hatten Maria und Joseph an diesem armen, aber heiligen Ort nichts mehr zu erwarten; sie sollten ihn nun verlassen. Darum sagte die weiseste Mutter zum hl. Joseph: «Mein Herr und Bräutigam, das Opfer, welches die Könige unserem göttlichen Kind dargebracht haben, darf nicht unbenützt bleiben; es muss Seiner Majestät dienen und sogleich nach seinem Willen verwendet werden. Ich verdiene nichts, auch nicht von zeitlichen Dingen; verfüge du über alles, als über dein und meines Sohnes Besitztum.» Der treueste Bräutigam antwortete mit gewohnter Demut und Höflichkeit, dass er es seiner Braut überlasse, diese Geschenke zu verteilen. Maria aber drang aufs neue in ihn und sagte: «Möchtest du, mein Gebieter, aus Demut dies ausschlagen, so tue es doch aus Liebe zu den Armen; denn sie verlangen den Teil, der ihnen zukommt, da sie ein Recht haben auf die Dinge, welche ihr himmlischer Vater zu ihrem Unterhalt erschaffen hat.» Nun kamen Maria und Joseph miteinander überein, drei Teile zu machen, einen für den Tempel zu Jerusalem, nämlich den Weihrauch und die Myrrhe samt einem Teil des Goldes; einen Teil für den Priester, welcher das Kind beschnitten hatte, damit er es für sich und für die Synagoge oder das Bethaus zu Bethlehem verwende; endlich den dritten Teil als Spende für die Armen. So taten sie auch mit freigebigem und liebevollem Herzen.

574. Damit sie die Grotte verlassen, fügte es der Allmächtige, dass eine arme, ehrsame und fromme Frau mehrmals unsere Königin in der Grotte besuchte; denn ihr Haus war bei den Mauern der Stadt nicht fern von diesem heiligen Ort. Diese fromme Frau hatte von den Königen sprechen hören, wusste aber nicht, was sie getan hatten. Sie kam nun am folgenden Tag zur heiligsten Jungfrau und fragte, ob sie wisse, dass Weise, Könige, wie man sage, von ferne gekommen seien, um den Messias zu suchen. Da die Himmelskönigin das gute Herz dieser Frau kannte, unterrichtete sie sie im Glauben an den Erlöser im allgemeinen, ohne ihr im besondern das Geheimnis zu erklären, welches in ihr und dem süßesten Kind auf ihren Armen verborgen war. Sie gab ihr auch einen Teil des für die Armen bestimmten Goldes, um ihrer Not abzuhelfen. Durch diese Wohltaten besserte sich das Los dieser glücklichen Frau vollständig, und sie blieb ihrer Herrin und Wohltäterin von Herzen zugetan. Darum bot sie der göttlichen Mutter ihr Haus an, welches, weil arm, das passendste war, um die Stifter der heiligen Armut zu beherbergen. Die arme Frau bat dringend darum, da sie sah, wie unbequem die Grotte war, in welcher Maria und Joseph mit dem Kind lebten. Die Himmelskönigin wies das Anerbieten nicht zurück, sondern antwortete der Frau mit freundlichem Dank, dass sie ihr später ihren Beschluss mitteilen werde. Sie beriet sich mit dem hl. Joseph, worauf sie beschlossen, in das Haus der frommen Frau überzusiedeln und dort die Zeit der Reinigung und Darstellung im Tempel abzuwarten. Zu diesem Entschluss bewog sie auch der Umstand, dass dieses Haus nahe bei der Grotte der Geburt war, und dass bereits viele Leute zur Grotte zu kommen begannen, weil das Gerücht von der Ankunft der Könige sich immer mehr verbreitete.

575. So verließen denn Maria und Joseph, weil die Zeit dazu gekommen war, mit dem Kind die heilige Grotte, jedoch nicht ohne zarte Rührung. Jene glückliche Frau nahm sie mit größter Liebe als Gäste auf und überließ ihnen den besten Platz ihres Hauses. Alle Engel begleiteten sie, und zwar in der menschlichen Gestalt, in der sie stets an ihrer Seite waren. Auch dann, wenn die göttliche Mutter und ihr Bräutigam von diesem Hause aus das Heiligtum der Grotte besuchten, gingen diese himmlischen Fürsten mit. Außerdem stellte Gott, als Maria mit dem Kind die Grotte verließ, dort einen Engel auf, damit er dieselbe bewache, wie der Engel das Paradies bewacht. Dieser Engel stand und steht noch jetzt mit seinem Schwerte am Eingang der Geburtsgrotte, und nie mehr ist ein Tier an diesen heiligen Ort gekommen. Und wenn der heilige Engel die Ungläubigen, in deren Gewalt dieser und die übrigen heiligen Orte sich befinden, nicht am Eintritt hindert, so geschieht dies nach den Ratschlüssen Gottes, welcher die Menschen nach den Absichten seiner Weisheit und Gerechtigkeit handeln lässt. Zudem wäre dieses Wunder nicht nötig, wenn die christlichen Fürsten, von Eifer für die Ehre Jesu Christi beseelt, trachten würden, diese heiligen Ort, welche durch das Blut und die Fußstapfen unseres Herrn und seiner heiligsten Mutter, sowie durch die Werke unserer Erlösung geweiht sind, wiederherzustellen. Und gesetzt, es wäre dies nicht möglich, so finden sie doch keine Entschuldigung, wenn sie nicht wenigstens mit gläubiger Sorgfalt für den diesen geheimnisvollen Orten geziemenden Anstand sorgen: denn wer glaubt, würde große Berge versetzen, weil demjenigen, der glaubt, alles möglich ist (Mk 8, 22). Es wurde mir zu erkennen gegeben, dass die andächtige Verehrung für das Heilige Land eines der kräftigsten und wirksamsten Mittel ist, um den Bestand der katholischen Monarchien zu sichern. Auch kann kein Fürst leugnen, dass er andere, über mäßige und überflüssige Ausgaben vermeiden und sie diesem frommen Unternehmen zuwenden könnte, welches Gott und den Menschen so wohlgefällig wäre: denn um solche Ausgaben zu rechtfertigen, braucht man die Gründe nicht in der Ferne zu suchen.

576. Nachdem sich Maria mit ihrem göttlichen Kind in jenes Haus bei der Grotte zurückgezogen hatte, blieb sie dort bis zur Zeit, da sie sich dem Gesetz gemäß mit ihrem Erstgeborenen im Tempel zur Reinigung darstellen musste. Die Königin aller Heiligen beschloss, sich auf dieses Geheimnis würdig vorzubereiten, unter glühendem Verlangen, dem ewigen Vater ihr Kind im Tempel aufzuopfern und nach dessen Beispiel sich selbst mit ihm darzubringen, geschmückt mit großen Tugendakten, durch welche sie ein des Allerhöchsten würdiges Opfer würde. Zu diesem Zweck verrichtete die Himmelskönigin während dieser Tage bis zur Reinigung so heroische Akte der Liebe und aller anderen Tugenden, dass weder die Zungen der Engel noch die der Menschen sie zu beschreiben vermöchten, wie viel weniger also ein ganz und gar unnütze, unwissende Frau. Wer sich durch christliche Frömmigkeit zu einer ehrfurchtsvollen Beschauung dieser Geheimnisse befähigt, wird der Gnade gewürdigt werden, sie zu erkennen und zu kosten. Auch kann man von einigen leichter verständlichen Gnaden, welche die jungfräuliche Mutter erhielt, auf andere schließen, die sich nicht in Worten beschreiben lassen.

577. Ich habe schon oben im zehnten Hauptstück erzählt, wie das Jesuskind gleich nach seiner Geburt mit vernehmbarer Stimme zu seiner süßesten Mutter sprach: «Folge mir nach meine Braut, und werde mir ähnlich !» Von dieser Zeit an sprach das göttliche Kind mit seiner Mutter stets in deutlichen Worten, doch nur dann, wenn es mit Maria allein war. Der hl. Joseph hörte es niemals sprechen, bis das Kind ein Jahr alt geworden war, wo es auch mit ihm sprach. Die Himmelskönigin sagte ihrem Bräutigam nichts von dieser Gnade: denn sie wusste, dass dieselbe ihr allein vorbehalten war. Die Worte des göttlichen Kindes waren so würdevoll, wie es seiner Hoheit, und so wirksam, wie es seiner Allmacht entsprach. Es waren Worte, wie sie der Herr nur zu derjenigen sprechen konnte, welche nächst ihm reiner, heiliger, weiser und erleuchteter als alle übrigen Kreaturen, und dazu noch seine wahre Mutter war. Manchmal sprach das Kind zu seiner Mutter: «Meine Taube, meine Geliebte, meine liebste Mutter (Hld 2,10; 7, 6) ! » Dies waren die liebevollen Unterredungen, die zwischen dem heiligsten Sohn und der heiligsten Mutter stattfanden, und die im Hohenlied beschrieben sind. Dazu kam noch der innere Verkehr zwischen beiden, welcher mehr andauernd war. Hierbei empfing die Himmelskönigin so außerordentliche Gnaden und hörte solch süße Worte, dass sie alles übertreffen, was im Hohenlied Salomons gesagt ist, ja was alle gerechten und heiligen Seelen je gesagt haben und noch sagen werden vom Beginn der Welt bis zu deren Ende. Bei diesen liebenswürdigen Geheimnissen wiederholte das Jesuskind gar oft jene Worte: «Werde mir ähnlich meine Mutter, meine Taube!» Dies waren aber Worte des Lebens, Worte von unendlicher Kraft, und ihnen entsprach die himmlische Kenntnis, welche die heiligste Jungfrau von allen inneren Akten der Seele ihres eingebornen Sohnes besaß. Darum kann keine Zunge es aussprechen, kein Verstand es erfassen, welche Wirkungen diese verborgenen und kräftigen Worte im reinsten, liebeglühenden Herzen derjenigen hervorbrachten, welche Mutter des menschgewordenen Gottes war.

578. Unter den höchsten Gnadenauszeichnungen der reinsten Jungfrau ist die erste, dass sie Mutter Gottes ist: dies ist das Fundament aller anderen. Die zweite ist ihre unbefleckte Empfängnis; die dritte, dass sie schon während ihres irdischen Lebens öfters die zeitweilige Anschauung der Seligen genoss. Die vierte ist die vorhin genannte Gnade, vermöge welcher sie ununterbrochen die klare Anschauung der heiligsten Seele ihres Sohnes genoss und beständig deren innere Akte schaute, um sie nachzuahmen. Sie hatte die heiligste Seele Jesu von sich, wie einen höchst reinen, klaren Spiegel, in welchem sie sich immer wieder beschaute, indem sie sich mit den kostbarer Zierden dieser heiligsten Seele schmückte, die sie in sich selber abbildete. Sie schaute, wie die Seele Jesu mit dem ewigen Worte vereinigt war und wie sie in tiefster Demut anerkannte, dass sie ihrer menschlichen Natur nach unter dem Worte stehe. Sie schaute aufs klarste die Akte des Dankes und der Lobpreis, welche diese Seele Gott darbrachte, sowohl dafür, dass er sie wie alle anderen Seelen aus nichts geschaffen, als auch für alle Gnaden, welche sie als Geschöpf vor allen anderen erhalten, namentlich dass er ihre menschliche Natur zur unauflöslicher Vereinigung mit der Gottheit erhoben hatte. Die seligste Jungfrau betrachtete, wie ihr heiligster Sohn beständig innerlich betete und flehte und seine Gebete dem ewigen Vater für das Menschengeschlecht aufopferte. Sie schaute, wie er in allen anderen Handlungen die Erlösung und Belehrung vorbereitete und einleitete, als einziger Heiland und Lehrer des ewigen Lebens.

579. Die reinste Mutter nun ahmte alle diese Werke der heiligsten Menschheit Jesu Christi nach. Über das große Geheimnis ist in dieser ganzen Geschichte viel zu sagen; denn von der Menschwerdung und Geburt ihres Sohnes an hatte Maria dieses Beispiel und Vorbild beständig vor Augen; sie richtete nach demselben all ihre Handlungen ein und bereitete, wie eine geschäftige Biene die Honigscheibe, dem menschgewordenen Worte die süßeste Wonne. Gott Sohn, vom Himmel gekommen, um unser Erlöser und Lehrer zu sein, wollte, dass seine heiligste Mutter, von welcher er das menschliche Dasein empfangen hatte, in einziger und erhabenster Weise an den Früchten der allgemeinen Erlösung teilnehme. Er wollte, dass sie die einzig ausgezeichnete Schülerin sei, in welcher seine Lehre sich lebendig ausprägte, indem er ihr eine solche Ähnlichkeit mit sich selbst verlieh, wie sie einem reinen Geschöpfe nur möglich war. Aus diesen Gnadengaben und Absichten des menschgewordenen Wortes muss man abnehmen, wie erhaben die Werke seiner heiligsten Mutter und wie groß die Wonnen waren, die er auf ihren Armen genoss, gelehnt an ihre Brust, die das «Brautgemach und Blumenbettlein (Hld 1, 15)» dieses wahren Bräutigams war.

580. Während der Zeit, welche die heiligste Königin bis zur Reinigung in Bethlehem zubrachte, kamen manche Personen, sie zu besuchen. Dieselben gehörten fast alle der ärmsten Klasse an. Einige kamen des Almosens wegen, welches sie von ihr empfingen; andere, weil sie erfahren hatten, dass die Weisen in der Grotte gewesen seien. Alle sprachen von diesem außerordentlichen Ereignis und von der Ankunft des Messias. Denn nicht ohne göttliche Fügung ging in jenen Tagen bei den Juden das Gerücht, dass die Zeit seiner Geburt nahe. Diese Unterredungen boten der weisesten Mutter wiederholt Gelegenheit zu großen Tugendwerken; nicht nur bewahrte sie dabei das Geheimnis ihres Herzens und erwog alles, was sie sah und hörte, sondern sie leitete auch viele Seelen zur Erkenntnis Gottes, bestärkte dieselben im Glauben, unterrichtete sie über die Tugenden und über die Geheimnisse des Messias, den sie erwarteten, und zog sie aus der Unwissenheit, in der sie sich als gemeine und in göttlichen Dingen schlecht unterrichtete Leute befanden. Diese Leute führten hierüber manchmal so einfältige, weibliche Reden, dass der gute hl. Joseph darüber lächelte. Anderseits aber bewunderte er die hohe Weisheit und göttliche Kraft atmenden Antworten, mit welchen die Himmelskönigin alle diese Leute belehrte, sowie die Geduld, die tiefe Demut, den ruhigen Ernst, womit sie sie ertrug und zur Erkenntnis der Wahrheit führte. Maria entließ alle zufrieden, getröstet und im nötigen unterrichtet; denn sie sprach zu ihnen Worte des Ewigen Lebens, welche in ihre Herzen drangen und sie mit Eifer und Mut erfüllten.

LEHRE UNSERER HIMMLISCHEN KÖNIGIN

581. Meine Tochter, in der Klarheit des göttlichen Lichtes erkannte ich besser als alle Menschen, welch geringen Wert die irdischen Reichtümer vor Gott besitzen. Darum fiel es mir in meiner heiligen Freiheit schwer und lästig, mich mit den Schätzen beladen zu sehen, welche die Könige meinem heiligsten Sohn geopfert hatten. Da jedoch die Demut und der Gehorsam alle meine Handlungen beseelen mussten, so wollte ich jene Schätze weder mir aneignen, noch sie nach meiner Wahl austeilen, sondern ich wollte dem Willen meines Bräutigams Joseph folgen. Und bei dieser Entäußerung dachte ich mir, dass ich seine Dienerin sei, und dass diese zeitlichen Geschenke mich nichts angingen. Denn es ist eine hässliche und für euch schwache Geschöpfe sehr gefährliche Sache, wenn ihr euch irdische Güter, wie Reichtum oder Ehre, zueignet: dies geschieht nur aus Habsucht, Ehrgeiz und eitler Prunksucht.

582. Ich wollte dir, Teuerste, dieses sagen, damit du vollständig darüber unterrichtet seist, dass du weder Geschenke noch Ehrenbezeigungen annehmen und dir zueignen darfst, als ob sie dir etwa gebührten: am allerwenigsten darfst du dies tun, wenn dieselben von mächtigen, hochstehenden Personen kommen. Bewahre deine innere Freiheit und brüste dich nicht mit dem, was nichts wert ist und dich nicht rechtfertigen kann vor Gott. Schenkt man dir etwas, so sage nicht: «Dies hat man mir gegeben: dies hat man mir gebracht», sondern: «Der Herr sendet dies für die Klostergemeinde: betet zu ihm für das Werkzeug dieser seiner Barmherzigkeit.» Nenne dann den AImosengeber, damit man im besondern für ihn bete und er so in seiner Absicht nicht getäuscht werde. Nimm auch die Almosen nicht eigenhändig in Empfang, denn dies wäre ein Zeichen, dass du danach verlangst: tue es vielmehr durch diejenigen, welchen dieses Amt aufgetragen ist. Musst du wegen deines Amtes als Oberin im Kloster ein empfangenes Almosen derjenigen übergeben, welche dasselbe für die Gemeinde zu verteilen hat, so zeige dich dabei vollkommen gleichgültig für diese Sache. Gleichwohl musst du dem Herrn sowohl, als den Wohltätern danken und anerkennen, dass du die Wohltat nicht verdienst. Für das, was anderen Nonnen gebracht wird, sollst du gleichfalls als Oberin danken und alsbald Sorge tragen, dass es für die ganze Gemeinde verwendet wird, ohne etwas für dich zu nehmen. Ja, schau nicht einmal neugierig an, was ins Kloster gebracht wird, damit die Sinne nicht daran Freude finden oder solche Geschenke zu besitzen verlangen: denn die Natur ist gebrechlich und voll verkehrter Neigungen, und darum fällt sie in viele Fehler, welche sehr wenig beachtet werden. Man kann der verderbten Natur in nichts trauen, denn immer verlangt sie noch mehr, als sie hat: niemals sagt sie, es ist genug: und je mehr sie erhält, desto größer wird ihr Durst, noch mehr zu bekommen.

583. Worauf du aber vor allem anderen bedacht sein musst, das ist der innige, häufige Verkehr mit Gott durch beständige Liebe und ehrfurchtsvollen Lobpreis. Zu diesem Zweck musst du all deine Kräfte, all deine Fähigkeiten und Sinne gebrauchen, und zwar voll Eifer und ohne Unterlass: denn sonst wird der niedere Teil, welcher die Seele beschwert, unvermeidlich die letztere bemeistern, herabdrücken, zerstreuen und zum Fall bringen, indem er bewirkt, dass sie das höchste Gut aus dem Auge verliert. Dieser liebevolle Verkehr des Herrn ist so zart, dass man ihn schon verliert, wenn man auf die Vorspiegelungen des bösen Feindes auch nur achtet oder sie hört; darum gibt sich auch der Feind große Mühe, zu bewirken, dass man auf ihn achte; denn er weiß, dass zur Strafe dafür das höchste Gut sich vor der Seele verbirgt. Sobald aber die Seele unachtsamerweise Gottes Schönheit aus den Augen verliert (Hld 1, 7), so schreitet sie, des göttlichen Trostes beraubt, auf diesen Pfaden der Sorglosigkeit fort. Und wenn sie dann zu ihrem Schrecken durch den Schmerz ihres Verlustes gewahr wird, so will sie wohl umkehren und nach dem verlornen Gut suchen, allein nicht immer wird sie es wieder finden. Dann bietet ihr der Satan, der sie betrogen hat, andere Vergnügungen, die aber tief unter jenen stehen, an deren inneren Genuss sie gewöhnt war. Daraus folgt dann neue Traurigkeit, Verwirrung, Niedergeschlagenheit, Lauheit und Überdruss; und in dieser Verwirrung ist sie dann auch allen Gefahren bloßgestellt.

584. Meine Teuerste, wie wahr dies ist, hast du teilweise schon erfahren, wenn du nachlässig und träge gewesen bist, die Wohltaten Gottes gläubig und dankbar anzunehmen. Es ist Zeit, dass du jetzt bei deiner Einfalt auch klug und standhaft seist, um das Feuer des Heiligtums zu bewahren und keinen Augenblick das höchste Gut aus dem Auge zu verlieren, auf welches ich beständig alle Kraft und alle Vermögen meiner Seele gerichtet hielt. Freilich ist der Abstand zwischen dir, einem armen Wurm, und dem, was ich dir zur Nachahmung vorstelle, sehr groß. Auch kannst du das wahre Gut nicht so unmittelbar genießen, noch mit solcher Vollkommenheit handeln, wie ich; aber da ich dir zeige, was ich in der Nachfolge meines heiligsten Sohnes getan habe, so kannst du doch nach deinen Kräften mir nachfolgen, indem du dabei erwägst, dass du den Herrn wie in einem Spiegel schaust. Denn ich schaute ihn durch den Spiegel seiner heiligsten Menschheit, du aber siehst ihn durch den Spiegel meiner Seele und meiner Person. Wenn aber der Allmächtige zu dieser hohen Vollkommenheit alle einlädt, wenn sie ihr nur folgen wollen, so erwäge, was du für sie tun musst, da die Rechte des Allerhöchsten sich so freigebig und mächtig zeigt, um dich an sich zu ziehen.

NEUNZEHNTES HAUPTSTÜCK: Maria und Joseph gehen nach Jerusalem, um das Kind aufzuopfern

Maria und Joseph gehen mit dem Jesuskind von Bethlehm nach Jerusalem, um dasselbe der Vorschrift des Gesetzes gemäß im Tempel darzustellen.

585. Die vierzig Tage waren beinahe vorüber, während weIcher dem Gesetze gemäss jede Frau, welche einen Sohn geboren hatte, als unrein betrachtet wurde, bis sie sich zur Reinigung in den Tempel begab. Die Mutter der Reinigkeit wollte dieses Gesetz erfüllen, und ebenso das andere, welches im zweiten Buche des Mose (Ex 13,12) gegeben ist und durch welches Gott befahl, ihm alle Erstgebornen aufzuopfern und zu heiligen. Sie beschloss daher, nach Jerusalem zu gehen, wo sie sich im Tempel mit ihrem und des ewigen Vaters Eingeborenen darstellen und gleich den anderen Müttern sich reinigen sollte. Wegen des ersteren dieser beiden Gesetze, welches U. L. Frau selbst anging, hatte sie weder Zweifel noch Schwierigkeit. das Gesetz zu erfüllen wie die übrigen Mütter, nicht als ob ihre Unschuld und Reinigkeit ihr unbekannt gewesen wären; denn seit der Menschwerdung des Sohnes Gottes erkannte sie klar, dass sie unschuldig und ohne Erbsünde empfangen war. Sie wusste desgleichen, dass sie durch die Wirkung des Heiligen Geistes empfangen und ohne Schmerz geboren hatte und dass sie allzeit Jungfrau geblieben war, reiner als die Sonne. Gleichwohl hegte sie in ihrer Weisheit keinen Zweifel, dass sie sich dem allgemeinen Gesetz unterwerfen solle; überdies wurde sie dazu angetrieben durch das glühende Verlangen, sich zu demütigen und bis in den Staub zu erniedrigen, ein Verlangen, das beständig in ihrem Herzen wohnte.

586. Hinsichtlich der Darstellung aber, welche ihren heiligsten Sohn betraf, konnte ein ähnlicher Zweifel entstehen, wie bei der Beschneidung; denn sie wusste, dass er wahrer Gott und darum erhaben über die Gesetze war, die er selbst gegeben hatte. Sie hatte aber den Willen des Herrn erkannt, teils durch himmlische Erleuchtung, teils durch die Akte der heiligsten Seele des menschgewordenen Wortes; denn sie sah in derselben sein Verlangen, sich dem ewigen Vater als lebendiges Opfer darzubringen, zum Dank dafür, dass er seinen reinsten Leib gebildet, seine heiligste Seele erschaffen und ihn zum wohlgefälligen Opfer für das Heil der Menschen bestimmt hatte. Zwar verrichtete die heiligste Menschheit des Wortes immerwährend diese Akte und war stets dem Willen Gottes gleichförmig, nicht nur sofern der Herr bereits beseligt, sondern auch sofern er Erdenpilger und Erlöser war; nichtsdestoweniger wollte der Herr dieses Opfer dem Gesetz gemäß dem ewigen Vater auch in seinem heiligen Tempel darbringen, wo alle ihn anbeteten und verherrlichten, als in einem Haus des Gebetes, der Sühne und der Opfer.

587. Die Himmelskönigin besprach sich mit ihrem Bräutigam über die Reise. Sie wurde so festgesetzt, dass sie an dem vom Gesetz bestimmten Tage in Jerusalem eintreffen konnten. Nachdem sie das Nötige zubereitet hatten, verabschiedeten sie sich von der frommen Frau, deren Gastfreundschaft sie genossen. Diese hatte von ihnen reiche himmlische Segnungen erhalten, aus welchen sie auch reichliche Früchte zog, obwohl ihr das Geheimnis ihrer Gäste unbekannt blieb. Dann besuchten sie die Geburtsgrotte, um von dort aus ihren Weg anzutreten, nachdem sie zum letzten Mal dieses Heiligtum verehrt, das zwar unscheinbar und den Menschen noch nicht bekannt, aber reich an Segnungen war. Hier übergab die reinste Mutter das Jesuskind dem hl. Joseph, um sich zur Erde niederzuwerfen und diesem Boden, welcher Zeuge so anbetungswürdiger Geheimnisse gewesen war, ihre Verehrung zu bezeigen. Nachdem sie dies mit unaussprechlicher Andacht und Rührung getan, sprach sie zu ihrem Bräutigam: «Mein Herr und Gebieter, gib mir den Segen, damit ich mit demselben diese Reise antrete; du gibst mir ihn ja jedes mal, so oft ich dein Haus verlasse. Ich bitte dich auch, erlaube mir, dass ich diesen Weg zu Fuß, und zwar mit bloßen Füßen mache, da ich auf meinen Armen das Opfer tragen muss, welches dem ewigen Vater dargebracht werden soll; dies ist eine geheimnisvolle Handlung, und ich wünsche sie, soweit es mir möglich ist, mit all der Vollkommenheit und Ehrfurcht zu verrichten, welche sie erfordert.» Unsere Königin trug nämlich der Sittsamkeit wegen eine Fußbekleidung, welche die Füße bedeckte und zugleich die Stelle der Strümpfe vertrat; dieselbe war aus einer Pflanzenart, wie Hanf oder Malven, verfertigt, deren sich die Armen zu diesem Zweck bedienten. Sie war zwar ärmlich, grob und stark gewoben, doch reinlich und anständig.

588. Der hl. Joseph hieß Maria aufstehen; denn sie war immer noch auf den Knien. Darauf sprach er zu ihr: «Der höchste Sohn des ewigen Vaters, den ich auf meinen Armen halte, gebe dir seinen Segen ! Ich gebe zu, dass du zu Fuß gehst und das Kind auf deinen Armen trägst; doch sollst du nicht barfuss gehen, denn dies lässt die Jahreszeit nicht zu. Dein Verlangen wird dem Herrn, der es dir eingegeben hat. wohlgefällig sein.» So machte der heilige Joseph von seinem Ansehen, der heiligsten Jungfrau als ihr Haupt zu befehlen, Gebrauch. Er tat es aber mit der größten Ehrfurcht und in der Absicht, die Himmelskönigin nicht der Freude zu berauben, welche sie in der Verdemütigung und im Gehorsam fand. Und da der heilige Bräutigam ihr nur aus Gehorsam befahl und das Befehlen für ihn eine Abtötung und Verdemütigung war, so übten hierbei beide gegenseitig Gehorsam und Demut. Der hl. Joseph schlug ihr das Gehen mit bloßen Füßen deshalb ab, weil er fürchtete, die Kälte möchte ihrer Gesundheit schaden. Diese Furcht aber kam daher, weil er von der wunderbaren Beschaffenheit ihres vollkommensten, jungfräulichen Körpers und von anderen Privilegien, welche ihr Gott verliehen hatte, nichts wusste. Die gehorsame Königin wendete kein Wort mehr ein und tat wie Joseph befohlen. Um von dessen Händen das Jesuskind zu empfangen, warf sie sich auf die Erde nieder, betete es an und dankte ihm für alle Wohltaten, welche es in dieser heiligen Grotte ihr und dem ganzen Menschengeschlecht erwiesen hatte. Sie bat auch das göttliche Kind, es möge dieses Heiligtum bewahren, dass es mit Ehrfurcht behandelt werde, im Besitz der Katholiken verbleibe und von diesen allzeit geachtet und verehrt werde. Dem heiligen Engel, welcher zu dessen Schutz bestimmt war, empfahl sie dasselbe aufs neue an. Dann bedeckte sie sich mit einem langen Schleier für die Reise, nahm den Schatz des Himmels auf ihre Arme, und indem sie das göttliche Kind an ihre Brust lehnte, bedeckte sie es mit großer Vorsicht, um es gegen die Winterkälte zu schützen.

589. Bevor Maria und Joseph die Grotte verließen, baten beide das göttliche Kind um seinen Segen. Das Kind gab ihnen denselben auf sichtbare Weise. Dann legte der hl. Joseph dem Lasttier das Päckchen mit dem Linnenzeug für das göttliche Kind auf, sowie den Teil der Geschenke der Könige, welchen sie für den Tempel bestimmt hatten. Darauf setzte sich die feierlichste Prozession, die man je im Tempel gesehen, von Bethlehem nach Jerusalem in Bewegung; denn in Begleitung Jesu, des Fürsten der Ewigkeit, seiner königlichen Mutter und ihres Bräutigams Joseph zogen von der Geburtsgrotte aus nicht bloß die zehntausend Engel, welche ohnedies beim Vollzug dieser Geheimnisse anwesend gewesen waren, sondern auch jene Engel, welche bei der Beschneidung mit dem heiligen und süßen Namen Jesus vom Himmel herabgekommen waren. Alle diese Fürsten des himmlischen Hofes gingen in sichtbarer, menschlicher Gestalt mit, und zwar so schön und strahlend, dass im Vergleich zu ihrer Schönheit alles Kostbare und Reizende auf Erden geringer ist, als Lehm und Schlacke im Vergleich zum feinsten Gold. Sie würden die Sonne in ihrem höchsten Glanz verfinstert und, wenn nötig, die Nacht in den hellsten Tag verwandelt haben. Die Himmelskönigin und ihr Bräutigam Joseph erfreuten sich beim Anblick dieser Engel. Sie alle feierten das Geheimnis mit neuen, höchst erhabenen Lobliedern zu Ehren des göttlichen Kindes, das zum Tempel gebracht wurde, um sich dort aufzuopfern. So legten sie die zwei Stunden zurück, welche Bethlehem von Jerusalem entfernt ist.

590. Bei dieser Gelegenheit herrschte, nicht ohne göttliche Fügung, eine sehr strenge Kälte, die selbst ihres Schöpfers, der ein zartes Kind geworden war, nicht schonte, sondern ihm solche Pein verursachte, dass er als wahrer Mensch zitternd auf den Armen seiner liebevollen Mutter weinte, und Maria noch mehr in ihrem Herzen durch Mitleid als am Leib durch die Ungunst der Witterung litt. Da wandte sich die mächtige Königin an die Winde und Elemente und wies sie als ihre Herrin mit heiliger Entrüstung zurecht, dass sie ihrem Schöpfer Pein verursachten. Dann gab sie ihnen den Befehl, dem göttlichen Kind gegenüber ihre Strenge zu mildern, für sie selbst aber nicht. Die Elemente gehorchten dem Befehl ihrer wahren und rechtmäßigen Gebieterin; die kalte Luft verwandelte sich für das Kind in milden, sanften Frühlingswind, während sie für die Mutter ihre strenge Kälte beibehielt, so dass wohl Maria, aber nicht ihr süßes Kind die Kälte empfand. Ähnliches habe ich schon früher bei anderen Gelegenheiten berichtet und werde auch in der Folge noch davon zu erzählen haben.

Maria wendete sich auch gegen die Sünde, von der sie allzeit frei geblieben war, und sprach: «O Sünde, wie bist du so verkehrt, wie bist du so ganz unmenschlich, da zu deiner Sühne der Schöpfer aller Dinge von den Geschöpfen leiden muss, von den Geschöpfen, denen er das Dasein gegeben hat und die er erhält ! Ein fürchterliches Ungeheuer bist du, denn du beleidigest Gott, zerrüttest die armen Menschen, verwandelst sie vor Gott in Gegenstände des Abscheues und beraubst sie des höchsten Glückes, Freunde Gottes zu sein! O ihr Menschenkinder, wie lange ist noch schwer euer Herz, wie lange noch liebt ihr die Eitelkeit und die Lüge (Ps 4, 3) ? Seid doch nicht so undankbar gegen den allerhöchsten Gott, nicht so grausam gegen euch selbst. Öffnet die Augen und schaut eure Gefahr. Verachtet nicht die Gebote eures himmlischen Vaters und vergesst nicht die Lehre eurer Mutter (Spr 1, 8), die euch durch Liebe das Leben gegeben; denn da der Eingeborene des Vaters in meinem Schoß die menschliche Natur annahm, hat er mich zur Mutter des ganzen Menschengeschlechtes gemacht; als solche liebe ich euch; und wenn es mir möglich und dem Herrn wohlgefällig wäre, so würde ich alle Peinen, die von Adam an bis auf den heutigen Tag erduldet worden sind, gerne für euer Heil auf mich nehmen.»

591. Während die Himmelskönigin mit dem göttlichen Kind auf dem Weg war, wurde der Hohepriester Simeon zu Jerusalem vom Heiligen Geiste erleuchtet, dass der menschgewordene Sohn Gottes komme, um sich auf den Armen seiner Mutter im Tempel darzustellen. Dasselbe wurde der heiligen Witwe Anna geoffenbart. Beide erfuhren auch, dass das Kind und seine reinste Mutter in Begleitung des heiligsten Bräutigams Joseph in Armut und Not daherkämen. Die beiden Heiligen teilten sich alsbald die Offenbarung mit, riefen den Verwalter des Tempels, der für das Zeitliche zu sorgen hatte, bezeichneten ihm die erwarteten Personen und trugen ihm auf, er solle an das Tor des Weges nach Bethlehem gehen und dieselben voll Liebe und Wohlwollen in sein Haus aufnehmen. Der Verwalter tat so und dies gereichte der Himmelskönigin und ihrem Bräutigam zu großem Trost, da sie in Sorgen gewesen waren, ob sie eine für ihr göttliches Kind geziemende Herberge finden würden. Der glückliche Gastgeber ließ sie in seinem Haus und kehrte zum Hohenpriester zurück, um diesem Nachricht zu geben.

592. Noch an demselben Abend besprachen sich Maria und Joseph, was sie zu tun hätten. Die weiseste Königin bemerkte, dass Joseph die Geschenke der Könige ohne Verzug noch an demselben Abend zum Tempel tragen solle, um sie im stillen und ohne Aufsehen darzubringen, wie dies bei Almosen und Opfergaben geschehen soll; zugleich solle er bei dieser Gelegenheit die Turteltäubchen kaufen, welche sie am folgenden Tag öffentlich mit dem Jesuskinde aufopfern mussten. Der hl. Joseph tat so; er übergab als unbekannter Fremdling das Gold, den Weihrauch und die Myrrhen demjenigen, welcher die Geschenke für den Tempel in Empfang nahm, ohne dass er ihm Zeit ließ, zu beobachten, wer ein so großes Almosen gegeben. Joseph hätte mit dem Almosen auch ein Lamm kaufen können, wie es die Reichen mit ihren Erstgebornen opferten. Allein er tat es nicht: denn öffentlich die Geschenke der Reichen darzubringen, hätte nicht gepasst zu der Niedrigkeit und Armut, in welcher die Mutter, das Kind und der Bräutigam erschienen. Auch war es nicht gut, in irgend einer Handlung von der Armut und Demut abzuweichen, selbst nicht mit frommer, ehrbarer Absicht; denn die Mutter der Weisheit war in allem die Lehrmeisterin der Vollkommenheit, wie ihr heiligster Sohn der Lehrmeister der Armut war, indem er in Armut geboren wurde und in Armut lebte und starb.

593. Simeon war, wie der hl. Lukas sagt (Lk 2, 25 ff ), gerecht und gottesfürchtig, und wartete auf den Trost Israels. Der Heilige Geist, welcher in ihm war, hatte ihm geoffenbart, dass er nicht sterben werde, ehe er den Gesalbten des Herrn gesehen. Er kam aus Antrieb des Geistes in den Tempel; denn während der Nacht war er, abgesehen von der bereits früher erhaltenen Offenbarung, aufs neue durch göttliches Licht erleuchtet worden: er erkannte in demselben mit größerer Klarheit alle Geheimnisse der Menschwerdung und Erlösung; er sah, wie in Maria der heiligsten Jungfrau die Prophezeiungen des Jesaja erfüllt waren, wonach eine Jungfrau empfangen und einen Sohn gebären und eine Blume hervorgehen sollte aus der Wurzel Jesse, nämlich Christus der Herr: kurz, er schaute die Erfüllung dieser und anderer Weissagungen (Jos 7,14; 11,1). Er erhielt auch sehr klares Licht über die Vereinigung der beiden Naturen in der Person des ewigen Wortes, sowie über die Geheimnisse des Leidens und Sterbens des Erlösers. Durch die Erkenntnis so erhabener Dinge wurde der hl. Simeon ganz emporgehoben und von dem glühendsten Verlangen beseelt, den Erlöser der Welt zu sehen. Da er nun bereits wusste, dass dieser komme, um sich dem ewigen Vater darzustellen, wurde er am folgenden Tag im Geist, d. h. kraft dieses göttlichen Lichtes, zum Tempel geführt. Dort geschah, was ich im folgenden Hauptstück erzählen werde. Auch die hl. Anna erhielt in dieser Nacht Offenbarung über viele dieser Geheimnisse, und groß war die Freude ihres Geistes; denn, wie im ersten Teil gesagt wurde, war sie die Lehrmeisterin unserer Königin gewesen, als diese im Tempel weilte. Sie kam, wie der Evangelist sagt (Lk 2, 36 ff), nimmer vom Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht. Sie war eine Prophetin, eine Tochter Phanuels aus dem Stamme Aser, und nachdem sie sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt, war sie nun eine Witwe von 84 Jahren. Auch sie redete prophetisch von dem göttlichen Kind, wie wir sehen werden.

LEHRE, welche mir die heiligste Jungfrau Maria gab

594. Meine Tochter, eine der beklagenswerten Ursachen, welche die Seelen unglücklich machen oder doch ihr Glück verringern, ist diese, dass sie sich begnügen, die Werke der Tugend nachlässig und ohne Eifer zu verrichten, gleich als handle es sich um etwas Unwichtiges oder um eine Nebensache. Diese törichte und unedle Handlungsweise ist schuld, dass nur wenige Seelen zum vertrauten, freundschaftlichen Umgang mit dem Herrn gelangen; denn zu diesem gelangt man nur durch die feurige Liebe. Die Liebe heißt man aber feurig, glühend, weil, wie das Feuer das Wasser in Wallung bringt, so diese Liebe mit der sanften Gewalt des göttlichen Feuers des Heiligen Geistes die Seele emporhebt über sich selbst, über alles Geschaffene und über ihre eigenen Werke. Je mehr die Seele liebt, desto mehr wird sie entzündet; und aus dieser Liebe entsteht ein unersättliches Verlangen, in welchem die Seele nicht nur das Irdische verachtet und vergisst, sondern selbst durch alle guten Werke nicht befriedigt noch gesättigt wird. Und wie das Menschenherz, wenn es nicht erreicht, was es heftig liebt vorausgesetzt, dass dessen Erreichung ihm überhaupt möglich ist -, von noch glühenderem Verlangen ergriffen wird, es durch neue Mittel zu erreichen, ebenso ist auch die Seele, welche Gott glühend liebt, durch diese Liebe gedrängt, für den Geliebten immer noch mehr zu verlangen und zu tun. Alles, was sie tut, scheint ihr gering. Darum strengt sie sich an und schreitet so vom guten Willen zum vollkommenen fort, von diesem zu dem, was Gott am wohlgefälligsten ist, bis sie endlich zur vollkommensten, innigsten Vereinigung mit Gott und zur Umwandlung in ihn gelangt.

595. Hieraus wirst du, Teuerste, den Grund ersehen, warum ich mit bloßen Füßen zum Tempel zu gehen wünschte, um meinen heiligsten Sohn dahin zur Darstellung zu bringen, und warum ich auch das Gesetz der Reinigung erfüllen wollte. Ich gab nämlich allen meinen Werken die höchstmögliche Vollkommenheit, kraft der Liebe, welche immer das Vollkommenste und Gottgefälligste von mir verlangte. Dieses glühende Liebesverlangen trieb mich an, alle Tugenden in der höchstmöglichen Vollkommenheit zu üben. Trachte, in diesem Eifer mir nachzufolgen; denn wisse, meine Freundin, diese Art zu lieben und zu wirken ist es, wonach der Allerhöchste mit sehnsüchtigem Verlangen begehrt. Er schaut nach den Worten der Braut im Hohenlied (Hld 2, 9) «durch die Gitter», um zu sehen, wie die Seele alle ihre Werke tut. Er ist ihr so nahe, dass nur ein «Gitter» sie trennt, damit er ihres Anblicks sich erfreuen könne. Denn jene Seelen, welche ihm in allen ihren Werken mit solcher Liebe dienen, begleitet er voll Hingebung und Liebe, während er von den Lauen und Nachlässigen sich entfernt oder ihnen nur mit der allgemeinen, gewöhnlichen Vorsehung beisteht. Strebe also in Übung der Tugenden immer nach dem Vollkommensten und Reinsten. Sinne stets auf neue Mittel und Wege, deine Liebe an den Tag zu legen, so dass alle deine äußeren und inneren Kräfte und Fähigkeiten stets mit dem Erhabensten, Ausgezeichnetsten und Gottgefälligsten beschäftigt seien. Versäume aber nicht, alle diese Begierden deinem geistlichen Vater und Seelenführer mitzuteilen und sie seinem Rat und Befehl zu unterwerfen. Dann tue, was er dir befiehlt; denn dies ist das Wichtigste und Sicherste.

ZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Die Darstellung des Jesuskindes im Tempel

596. Die heiligste Menschheit Jesu Christi war das Eigentum des ewigen Vaters nicht allein kraft der Schöpfung, gleichwie die übrigen Geschöpfe, sondern sie gehört ihm auch auf besondere, unmittelbare Weise an, kraft der hypostatischen Vereinigung mit der Person des Wortes, welches von dessen eigenem Wesen erzeugt war als eingeborener Sohn und wahrer Gott vom wahren Gott. Nichtsdestoweniger ordnete Gott der Vater an, dass ihm sein Sohn im Tempel aufgeopfert werde, sowohl wegen des hierin beschlossenen Geheimnisses, als zur Erfüllung seines heiligen Gesetzes, dessen Endziel Christus war (Röm 10, 4). Denn um seinetwillen war es geboten, dass die Juden alle ihre Erstgeborenen Gott heiligten und aufopferten, damit sie denjenigen erwarteten, welcher der Erstgeborene des ewigen Vaters, sowie seiner heiligsten Mutter sein sollte. Hierbei handelte der himmlische Vater, um nach unserer Vorstellungsweise zu reden, nach Art der Menschen, die ja auch ihre Freude daran haben, von einer ihnen angenehmen Sache wiederholt sprechen zu hören. So hatte auch Gott der Vater, obwohl er in seiner Allwissenheit alles erkannte, doch Freude an der Aufopferung seines menschgewordenen Sohnes, welcher ihm aus so vielen Gründen angehörte.

597. Die Mutter des Lebens kannte diesen Willen des ewigen Vaters, welcher auch der ihres heiligsten Sohnes war, sowohl seiner Gottheit als seiner Menschheit nach. Maria sah, wie die Seele Christi und alle ihre Akte dem Willen des Vaters vollkommen gleichförmig waren. Demzufolge brachte die Himmelskönigin die Nacht vor der Darstellung in Jerusalem in Unterredungen mit Gott zu. Sie sprach zum himmlischen Vater: «Allerhöchster Herr und Gott, Vater meines Herrn! Ein Festtag für Himmel und Erde wird der morgige Tag sein, an dem ich zu deinem heiligen Tempel trage und dir darbringe das lebendige Opfer, welches der Schatz deiner Gottheit ist. Diese Gabe ist reich, mein Herr und Gott; für diese kannst du wohl dem Menschengeschlecht deine Erbarmungen schenken, den Sündern, die vom rechten Weg abgeirrt, verzeihen, die Betrübten trösten, den Bedrängten zu Hilfe kommen, die Armen bereichern, die Verlassenen beschützen, die Blinden erleuchten und den Verirrten den Weg weisen. Dieses ist es, um was ich dich, o Herr, bitte, indem ich dir deinen Eingebornen aufopfere, welcher durch deine Güte und Gnade auch mein Sohn ist. Du hast ihn mir gegeben als Gott; ich aber stelle ihn dir dar als Gott und als Mensch zugleich. Sein Wert ist unendlich groß und weit über dem, was ich verlange. Arm habe ich deinen heiligen Tempel verlassen; reich kehre ich zu ihm zurück, um meine Seele wird dich ewig preisen, da deine Rechte sich an mir so freigebig und mächtig gezeigt hat.»

598. Als der Morgen gekommen war, an welchem die Sonne des Himmels auf den Armen der reinsten Morgenröte sich der Welt zeigen sollte, nahm die Himmelskönigin die Turteltäubchen und zwei Kerzen, richtete das Jesuskind in den Windeln zurecht und ging mit dem hl. Joseph von der Herberge zum Tempel. Die Prozession ordnete sich; denn es gingen hierbei jene heiligen Engel mit, welche, wie ich oben gesagt habe (Nr. 589), in wunderbar schöner, körperlicher Gestalt von Bethlehem mitgekommen waren; sie sangen aber diesmal mit lieblichster Harmonie dem göttlichen Kind viele, überaus süße Loblieder, welche die reinste Jungfrau allein hörte. Außer diesen zehntausend Engeln stiegen andere unzählige vom Himmel nieder, gesellten sich zu denen, die den heiligen Namen Jesus auf der Brust geschrieben trugen, und begleiteten den menschgewordenen Sohn Gottes zu seiner Darstellung. Doch gingen die letzteren nicht in körperlicher Gestalt mit, sondern so, wie sie an sich sind, weswegen nur die Himmelskönigin sie sehen konnte. An der Tempelpforte angekommen, fühlte die seligste Mutter eine außerordentliche, überaus süße Andacht. Sie schritt bis zum Platz der anderen Mütter vor und verneigte sich. Dann betete sie kniend den Herrn in seinem heiligen Tempel im Geist und in der Wahrheit an und stellte sich, ihren Sohn auf den Armen, Seiner höchsten Majestät dar. Dann offenbarte sich ihr die heiligste Dreifaltigkeit in geistiger Vision, und Gott der Vater sprach mit einer Stimme, welche nur Maria vernahm, die Worte: «Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe (Mt 17, 5).» Joseph, der glücklichste unter allen Männern, fühlte hierbei eine außerordentlich liebliche Gnadenwirkung des Heiligen Geistes, die ihn mit übernatürlichem Licht und himmlischer Wonne erfüllte.

599. Nun trat der Hohepriester Simeon in den Tempel. Auch er war, wie gesagt, vom Heiligen Geist geleitet. Er ging zu der Stätte, an welcher sich die Himmelskönigin mit dem Jesuskind auf ihren Armen befand. Hier erblickte er den Sohn und die Mutter, jedes in seiner Weise, voll Glanz und Herrlichkeit. Dieser Priester war hochbetagt und überaus ehrwürdig; ebenso die Prophetin Anna, welche, wie der Evangelist sagt, zur selben Stunde dahin kam. Auch sie schaute die Mutter und den Sohn in wunderbarem, himmlischem Lichtglanze Sie kamen in heiligem Jubel zur Himmelskönigin, und der Priester empfing das Jesuskind aus ihren Händen in seine Arme. Er erhob die Augen zum Himmel, opferte das Kind dem ewigen Vater auf und sprach folgenden geheimnisvollen Lobgesang: «Nun entlässest du, o Herr, nach deinem Worte deinen Diener in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker, als ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel (Lk 2, 29-32).» Die Bedeutung dieser Worte war: Jetzt, o Herr, wirst du mich frei und im Frieden scheiden lassen, erlöst aus den Ketten dieses sterblichen Leibes, in welchem mich die Erwartung deiner Verheißung und das Verlangen zurückgehalten hatte, deinen menschgewordenen Sohn zu sehen. Nun werde ich sicheren, wahren Frieden geniessen; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, d. h, deinen eingeborenen Sohn, der Mensch geworden und sich mit unserer Natur vereinigt hat, um ihr das ewige Heil zu verleihen, welches vor allen Jahrhunderten in dem Geheimnis deiner göttlichen Weisheit und unendlichen Barmherzigkeit beschlossen worden ist. Nun, o Herr, hast du ihn bereitet und allen Menschen vor Augen gestellt, damit alle, wenn sie nur wollen, sich seiner erfreuen und von ihm das Heil erlangen und das Licht, welches jeden Menschen in der Welt erleuchten wird; denn er ist das Licht, welches sich den Heiden offenbaren wird, zur Verherrlichung deines auserwählten Volkes Israel.

600. Maria und Joseph vernahmen diesen Lobgesang Simeons voll Staunen über das, was er mit erhabenem Geist sagte. Der Evangelist bedient sich an dieser Stelle des Ausdruckes «die Eltern des Kindes (Lk 2, 27)». Damit bezeichnet er die Meinung des Volkes, da dieser Vorgang öffentlich geschah. Darauf wandte sich Simeon mit Ehrerbietung an die heiligste Mutter des Jesuskindes und sprach: «Sieh, dieser ist gesetzt zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel, und zu einem Zeichen, dem widersprochen werden wird; und auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen, damit die Gedanken vieler Herzen offenbar werden (Lk 2, 34 f).» So sprach Simeon, und als Priester segnete er die Eltern des Kindes. Darauf lobpries auch die Prophetin Anna den menschgewordenen Sohn Gottes. Vom Heiligen Geiste erleuchtet, redete sie viel von seinen Geheimnissen zu denen, welche auf die Erlösung Israels warteten (Lk 2, 38). So wurde die Ankunft des Messias zur Erlösung seines Volkes durch diese beiden hochbetagten Heiligen öffentlich bezeugt.

601. In dem Augenblick, da der Priester Simeon das Leiden und Sterben des Herrn mit dem Wort «Schwert» andeutete und vorhersagte, verneigte das göttliche Kind sein Haupt. Durch diese äußere Handlung und durch zahlreiche Akte des innerlichen Gehorsams nahm es die Weissagung des Priesters als den Urteilsspruch des ewigen Vaters an, verkündet durch dessen Diener. Die liebevolle Mutter aber sah und verstand dies alles, und durch das Verständnis dieser schmerzreichen Geheimnisse begann sie schon jetzt die Wahrheit der Prophezeiung Simeons zu fühlen; denn von diesem Augenblick an wurde ihr Herz von jenem Schwert verwundet, welches ihr Simeon für die Zukunft in Aussicht stellte. Alle Geheimnisse nämlich, welche diese Weissagung in sich schloss, standen wie in einem klaren Spiegel deutlich vor ihrem inneren Blick. Sie sah, dass ihr heiligster Sohn ein Stein des Anstoßes sein werde, zum Fall für die Ungläubigen, zum Leben für die Gläubigen. Sie sah, dass die Synagoge gestürzt und die Kirche sich unter den Heiden erheben werde; dass ihr Sohn triumphieren werde über Tod und Hölle, aber um den teuren Preis seines eigenen schmählichen und schmerzvollen Todes am Kreuz. Sie sah, welchen Widerspruch das Jesuskind sowohl in seiner Person, als in seiner Kirche leiden werde von Seiten derjenigen, welche in so großer Zahl verloren gehen. Endlich sah sie das hohe Glück der Auserwählten. Dies alles schaute Maria. Schwankend zwischen Freude und Schmerz über diese Geheimnisse und die Weissagung Simeons, erweckte sie die erhabensten Tugendakte. Und alles, was sie durch himmlisches Licht und durch die prophetischen Worte Simeons gesehen und erkannt hatte, bewahrte sie in ihrem Gedächtnis, ohne es auch nur einen Augenblick zu vergessen. Mit demselben lebhaften Schmerz betrachtete sie ihren heiligsten Sohn immerdar in stets neuer Bitterkeit der Seele; denn als Mutter, und als Mutter eines gottmenschlichen Kindes wusste sie allein auf würdige Weise zu empfinden, was wir Menschen in unserem undankbaren Herzen nicht zu fühlen wissen. Auch der hl. Joseph erkannte beim Hören dieser Prophezeiungen vieles von den Geheimnissen der Erlösung und von dem Leiden des süßesten Jesuskindes, doch nicht in der Klarheit und Fülle, mit welcher seine himmlische Braut in dieselben eindrang; denn die Gründe dieser Offenbarungen waren für beide verschieden, da der hl. Joseph nicht alles während seines Lebens erfüllt sehen sollte.

602. Nachdem diese heilige Handlung beendigt war, küsste die Himmelskönigin dem Priester die Hand und bat ihn nochmals um seinen Segen. Dasselbe tat sie bei Anna, ihrer ehemaligen Lehrmeisterin; denn obwohl sie Mutter Gottes war und dies die höchste Würde ist, die es unter allen Frauen, unter allen Männern und allen Engeln je gab und geben wird, so ließ sie sich doch von den Akten tiefer Demut nicht zurückhalten. Dann kehrte sie mit dem göttlichen Kind, ihrem Bräutigam und den vierzehntausend Engeln, welche sie in Prozession begleiteten, zur Herberge zurück. Wie ich weiter unten sagen werde, verweilte Maria aus Andacht einige Tage in Jerusalem und sprach während dieser Zeit mit dem Priester Simeon noch öfter über die Geheimnisse der Erlösung und über die Prophezeiungen, die er zu ihr gesprochen hatte. Die Worte der weisesten Mutter waren kurz, gemessen und ernst, doch so voll Weisheit und Kraft, dass sie den Priester in Staunen setzten und in seiner Seele ungewöhnliche Freude und die erhabensten und lieblichsten Gnadenwirkungen hervorbrachten. Dasselbe war bei der heiligen Prophetin Anna der Fall. Diese beiden Heiligen verschieden nicht lange danach im Herrn. Die heilige Familie wurde in der Herberge auf Kosten des Priesters verpflegt. Unsere Königin besuchte während ihres Aufenthaltes zu Jerusalem oftmals den Tempel und erhielt dort neue Tröstungen, durch welche ihr Schmerz über die Vorhersage des Priesters gemildert wurde. Um diese Tröstungen noch zu erhöhen, sprach ihr heiligster Sohn einmal zu ihr: «Liebste Mutter, meine Taube! Trockne die Tränen deiner Augen, erweitere dein unschuldiges Herz; denn es ist der Wille meines Vaters, dass ich am Kreuz sterbe. Er will auch, dass du meine Schmerzen teilst und ich will sie leiden für die Seelen, die das Werk meiner Hände sind, geschaffen nach meinem Bild und Gleichnis. Ich will sie, triumphierend über meine Feinde, in mein Reich einführen, damit sie dort ewig mit mir leben. Dies ist es ja, was auch du mit mir begehrst.» Die Mutter antwortete: «Meine süßeste Liebe, Sohn meines Schoßes! Mein größter Trost wäre es gewesen, wenn ich dich begleiten dürfte, nicht bloß, um mitleidsvoll dich leiden zu sehen, sondern um mit dir zu sterben; denn mein größter Schmerz wird sein, zu leben, nachdem ich dich sterben gesehen.» In solchen Ergüssen der Liebe und des Mitleidens brachte Maria einige Tage zu, bis der heilige Joseph die Weisung erhielt, nach Ägypten zu fliehen. wovon ich im folgenden Hauptstück sprechen werde.

LEHRE, welche mir die heiligste Himmelskönigin Maria gab

603. Meine Tochter, was du geschrieben hast, muss dir zur Lehre und Unterweisung dienen, um zu erkennen, mit welcher Standhaftigkeit und Großherzigkeit du bereit sein sollst, Glück und Unglück, Süsses und Bitteres gleichmütig anzunehmen. O Teuerste, wie eng und kleinmütig ist doch das Menschenherz, wenn es gilt, etwas anzunehmen, was peinlich und den irdischen Neigungen zuwider ist ! Wie unwillig wird der Mensch über die Widerwärtigkeiten! Mit welcher Ungeduld trägt er dieselben ! Wie unerträglich scheint ihm alles, was seiner Neigung zuwiderläuft ! Wie vergisst er, dass sein Herr und Meister zuerst gelitten und an sich selbst das Leiden geehrt und geheiligt hat ! Eine große Schande, ja Verwegenheit ist es, dass die Gläubigen das Leiden verabscheuen, nachdem mein heiligster Sohn für sie gelitten hat. Haben ja doch schon vor seinem Tod viele Heilige das Kreuz mit Liebe umarmt, einzig und allein in der Erwartung, dass Christus an demselben leiden werde, obwohl sie dies noch nicht sahen. Ist aber diese Undankbarkeit bei allen Menschen hässlich, so erwäge, Teuerste, wie schändlich sie bei dir wäre, die du solchen Eifer zeigst, die Gnade und Freundschaft des Allerhöchsten zu erwerben, den Titel seiner Braut und Freundin zu verdienen und ganz ihm anzugehören, damit auch er ganz dein sei, und die du gleichfalls sehnlichst verlangst, meine Schülerin zu sein, mich als Lehrmeisterin zu haben und mir, deiner Mutter, als treue Tochter nachzufolgen. Es ist nicht recht, dieses alles damit abzumachen, dass du Anmutungen erweckst und oft sagst: «Herr, Herr!», dabei aber dich betrübst, wenn sich die Gelegenheit bietet, den Kelch und das Kreuz der Schmerzen zu kosten, und wenn du das Leiden fliehst, in welchem sich das wahre Verlangen und die aufrichtige Liebe eines Herzens erproben muss.

604. Auf diese Weise würdest du durch die Tat verleugnen, was du mit Worten versprichst: das hieße aber den Weg des Ewigen Lebens verlassen; denn du kannst Christus nicht nachfolgen, wenn du nicht das Kreuz umfängst und dich darüber erfreust. Ebenso wenig kannst du mich auf einem anderen Weg finden. Wenn die Menschen dich verlassen, wenn Versuchung dich bedroht, wenn Trübsal dich heimsucht und die Schmerzen des Todes dich umringen, so darfst du aus keinem dieser Gründe dich verwirren lassen, noch dich feigherzig zeigen; denn es missfällt meinem heiligsten Sohn und mir gar sehr, wenn du auf solche Weise seine mächtige Gnade hinderst, dich zu beschützen, sie vergeudest und vergeblich empfängst. Überdies würdest du dem bösen Feind einen großen Triumph bereiten; denn er rühmt sich sehr, diejenige verwirrt und besiegt zu haben, welche sich als Schülerin Christi, meines Herrn, und als meine Schülerin betrachtete. Beginnst du aber im Kleinen nachzugeben, so wird der Feind dich auch im Großen überwinden. Vertraue also auf den Schutz des Allerhöchsten und auf meine Fürsorge für dich. Kommt dann die Trübsal, so sprich voll Vertrauen: «Der Herr ist mein Licht und mein Heil, wen sollte ich fürchten? Er ist mein Beschützer, vor wem sollte ich zittern (Ps 27,1) ? Ich habe eine Mutter, Lehrmeisterin, Königin und Herrin; diese wird mich beschützen und in meiner Trübsal für mich sorgen.»

605. In diesem Vertrauen trachte den inneren Frieden zu bewahren und stets mich vor Augen zu haben, um meine Werke nachzuahmen und meinen Fußstapfen zu folgen. Denke an den Schmerz, der bei der Prophezeiung Simeons mein Herz durchbohrt hat. Bei dieser Pein bewahrte ich die ruhige Ergebung, ohne irgendwie verwirrt oder aufgeregt zu werden, obwohl Herz und Seele vom Schmerz durchbohrt waren. Von allem nahm ich Anlass, den Herrn zu preisen und seine wunderbare Weisheit anzubeten. Wenn der Mensch die Leiden und Trübsale, die doch vorübergehend sind, mit ruhigem, freudigem Herzen annimmt, dann vergeistigen sie ihn, erheben ihn und erfüllen ihn mit himmlischer Weisheit. In diesem Licht schätzt er dann das Leiden nach Gebühr und findet alsbald den Trost und die Frucht davon, dass er die Leidenschaften abgetötet und sich nicht von ihnen hat verblenden lassen. Diese Wissenschaft erlernt man aber nur in der Schule des Erlösers; sie ist denjenigen verborgen, welche zu Babylon wohnen und die Eitelkeit lieben. Ich will auch, dass du mir in der Ehrfurcht gegen die Priester und Diener des Herrn nachfolgst. Denn jetzt ist ihre Würde viel erhabener als im Alten Bund, seitdem das göttliche Wort sich mit der menschlichen Natur vereinigt hat und ewiger Priester geworden ist nach der Ordnung Melchisedechs. Höre ihre Lehre an als von Gott kommend, denn sie vertreten seine Stelle. Bedenke, weIche Macht und welches Ansehen ihnen der Herr im Evangelium überträgt mit den Worten: «Wer euch hört, der hört mich (Lk 10,16); wer euch gehorcht, gehorcht mir.» Tue das Heiligste, wie sie es dich lehren werden und betrachte beständig, was mein heiligster Sohn gelitten hat, so dass deine Seele seine Schmerzen teile und mit solchem Ekel und Widerwillen gegen alle irdischen Genüsse erfüllt werde, dass du alles Sichtbare verachtest und vergissest, um dem Urheber des ewigen Lebens zu folgen.

EINUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Maria und Joseph erhalten den Befehl nach Ägypten zu fliehen

Der Herr bereitet die heiligste Jungfrau auf die Flucht nach Ägypten vor. Der Engel spricht zu dem hl Joseph. Einzelne Bemerkungen hierüber.

606. Nachdem die heiligste Jungfrau Maria und der glorreiche hl. Joseph von der Darstellung des Jesuskindes im Tempel zurückgekehrt waren, beschlossen sie, noch neun Tage in Jerusalem zu bleiben, um während derselben den Tempel neunmal zu besuchen und täglich dem ewigen Vater seinen heiligsten Sohn aufs neue darzubringen, als heiliges Dankopfer für die große Gnade, welche sie vor allen anderen Geschöpfen erhalten hatten. Die Himmelskönigin hatte nämlich eine besondere Andacht für die Zahl neun zum Andenken an die neun Tage, während welcher sie auf die Menschwerdung des göttlichen Wortes vorbereitet worden war, wie im Anfang dieses Teiles, in den ersten zehn Kapiteln erzählt worden ist, sowie an die neun Monate, während welcher sie das göttliche Kind in ihrem jungfräulichen Schoß getragen. Darum war es ihr Wunsch, mit ihrem göttlichen Kind diese neuntägige Andacht zu halten und dasselbe neunmal dem ewigen Vater als wohlgefälliges Opfer für die erhabenen Zwecke aufzuopfern, welche sie im Auge hatte. Sie begaben sich also täglich vor neun Uhr zum Tempel und blieben dort im Gebete bis zum Abend. Dabei wählten sie mit dem Jesuskind den letzten Platz, so dass sie jene ehrenvollen Worte zu hören verdienten, welche der Herr des Gastmahls im Evangelium an den demütigen Gast richtete: «Freund rücke weiter hinauf ! (Lk 14,10)» Diese Worte hörte auch unsere demütigste Königin, und zwar aus dem Mund des ewigen Vaters, vor dessen Angesicht sie ihre Seele ausgoss. An einem dieser Tage betete sie also:

607. «Höchster Herr und König, Schöpfer aller Wesen! Siehe hier in deiner göttlichen Gegenwart den unnützen Staub, die unnütze Asche, welche deine unaussprechliche Güte allein zu der Gnade erhoben hat, die zu verdienen mir unmöglich war. Der gewaltige Strom deiner Wohltaten, o Herr, drängt mich, dankbar zu sein. Doch welch würdige Vergeltung kann ich dir anbieten, die ich nichts war und nur von deiner freigebigsten Hand Dasein und Leben und überdies solch unvergleichliche Gnaden und Erbarmungen erhalten habe? Welchen Dienst kann ich dafür deiner unermesslichen Größe erweisen, welche Verehrung deiner Majestät bezeigen, welche Gabe deiner unendlichen Gottheit darbringen, ich, die ich nur ein beschränktes Geschöpf bin? Meine Seele, mein Leben. mein Vermögen, alles habe ich erhalten und erhalte ich noch von deiner Hand; schon oft habe ich dieselben deiner Ehre geweiht und aufgeopfert. Ich bin dir verpflichtet nicht nur für das, was du mir geschenkt, sondern auch für die Liebe, mit welcher du mir alles verliehen hast. Deine unendliche Güte hat mich unter allen Geschöpfen vor dem Makel der Sünde bewahrt und mich erwählt, deinen Eingeborenen mit der menschlichen Gestalt zu bekleiden und ihn in meinem Schoß und an meiner Brust zu tragen, da ich doch eine Tochter Adams bin, aus niedrigem Erdenstoff gebildet. Allerhöchster Herr, dankbar erkenne ich diese deine unaussprechliche Güte an; mein Herz verschmachtet in Dankbarkeit, mein Leben löst sich auf im Gefühl der Liebe zu dir, da ich nichts habe, um dir zu vergelten, was deine Allmacht mir, deiner Dienerin, verliehen. Doch nein! Mut und Freude beseelt schon mein Herz, da ich deiner Größe denjenigen aufopfern kann, der mit dir eins ist in der Wesenheit, dir gleich in der Majestät und Vollkommenheit, von deinem Verstand erzeugt, das Ebenbild deines Wesens, die Fülle deines Wohlgefallens, dein geliebtester, eingeborener Sohn ! Er ist die Gabe, welche ich dir, ewiger Vater, höchster Gott, anbiete, er ist das Opfer, das ich dir darbringe, in der festen Zuversicht, dass du dasselbe annehmen wirst. Ich habe ihn als Gott empfangen, als Gottmenschen gebe ich ihn dir zurück. Ich und alle Geschöpfe, wir haben nichts Größeres dir zu opfern, o Herr, und deine Majestät kann kein kostbareres Geschenk verlangen. So groß ist er, dass er genügt zur Vergeltung alles dessen, was ich erhalten habe. In seinem und meinem Namen opfere ich ihn deiner Majestät auf. Da ich aber deinem Eingeborenen als seine Mutter den menschlichen Leib gegeben und ihn dadurch zum Bruder der Menschen gemacht habe und da er kommen wollte, um ihr Erlöser und Lehrer zu sein, so obliegt es mir, für dieselben Fürsprache einzulegen. ihre Sache zur meinigen zu machen und für sie um Rettung zu flehen. Darum opfere ich ihn dir von ganzem Herzen auf, o Gott der Erbarmungen, Vater meines Eingeborenen. Mit ihm und durch ihn flehe ich, du wollest den Sündern verzeihen, deine ewigen Erbarmungen über das Menschengeschlecht ausgießen und neue Zeichen tun, um deine Wunderwerke zur Ausführung zu bringen (Sir 36, 6). Siehe hier den Löwen von Juda: er ist zum Lamm geworden, um die Sünden der Welt wegzunehmen; siehe hier den Schatz deiner Gottheit!»

608. Solche und ähnliche Gebete verrichtete die Mutter der Barmherzigkeit in den ersten Tagen der Novene. Der ewige Vater antwortete ihr auf alle; er nahm sie mit der Hingabe seines Eingebornen als wohlgefälliges Opfer an und sah mit zärtlicher Liebe und mit Wohlgefallen auf die Reinheit und Heiligkeit seiner einzigen, auserwählten Tochter. Seine göttliche Majestät verlieh ihr auf diese Bitten hin neue, große Vorrechte, nämlich bis ans Ende der Welt alles zu erlangen, um was sie für ihre Verehrer bittet; dass auch die größten Sünder gerettet werden, wenn sie ihre Fürsprache anrufen; dass sie in der christlichen Kirche die Gehilfin ihres heiligsten Sohnes und Lehrmeisterin sein werde, und besonders nach dessen Himmelfahrt als Schutz und Werkzeug der göttlichen Macht bei der Kirche verbleiben solle, wie im dritten Teil gesagt werden wird. Und noch viele andere geheimnisvolle Gnadenauszeichnungen verlieh der Allerhöchste der göttlichen Mutter während dieser Gebete; sie sind aber zu erhaben, als dass sie in Worte gefasst oder mit meinen schwachen und beschränkten Ausdrücken geschildert werden könnten.

609. U. L. Frau setzte diese Gebete bis zum fünften Tag nach der Darstellung fort und befand sich wiederum im Tempel, das göttliche Kind auf den Armen; da zeigte sich ihr die Gottheit, obwohl nicht in klarer, intuitiver Anschauung. Sie ward dadurch verzückt und ganz vom Heiligen Geist erfüllt. Freilich war sie dies schon vorher; aber da Gottes Macht und Reichtum unendlich sind, so gibt er niemals soviel, dass er einem bloßen Geschöpfe nicht noch mehr zu geben hätte. Der Allerhöchste wollte seine Braut in dieser abstraktiven Vision auf die ihr bevorstehenden Leiden vorbereiten. Er ermutigte sie mit den Worten: «Meine Braut, meine Taube, deine Wünsche und Absichten sind mir allezeit wohlgefällig; doch du kannst die neuntägige Andacht, welche du begonnen, nicht vollenden. Ich will, dass du eine andere Übung verrichtest, nämlich mir zuliebe leidest. Um deinen Sohn zu erziehen und sein Leben zu retten, musst du dein Haus und dein Vaterland verlassen, mit ihm und deinem Bräutigam nach Ägypten gehen und dort bleiben, bis ich einen andern Befehl gebe; denn Herodes sucht das Kind zu töten. Die Reise ist lang, voll Mühen und Beschwerden; ertrage dieselben aus Liebe zu mir, denn ich bin mit dir und werde immer mit dir sein.»

610. Jede andere Heiligkeit, jeder andere Glaube hätte, wie dies in hohem Grad bei den Ungläubigen der Fall war, verwirrt werden können angesichts der Tatsache, dass ein allmächtiger Gott vor einem elenden, aus Erdenstaub gebildeten Menschen flieht, dass er entweicht und sich entfernt, als wäre er der Furcht zugänglich und nicht Mensch und Gott zugleich. Doch die weiseste und gehorsamste Mutter machte deswegen keine Einwendung, hatte keinen Zweifel; sie war nicht im mindesten verwirrt, sondern blieb bei dieser unerwarteten Kunde in vollkommener Ruhe. «Mein Herr und Gott!» antwortete sie, «siehe hier deine Dienerin; ihr Herz ist bereit, wenn nötig, dir zuliebe zu sterben. Verfüge über mich nach deinem Willen. Nur um eines bitte ich deine unermessliche Güte: schaue nicht auf meinen Mangel an Verdiensten und auf meine Undankbarkeiten, und lasse ihretwegen nicht zu, dass mein Sohn leiden müsse; die Leiden mögen mich allein treffen, denn ich bin schuldig, sie zu tragen.» Der Herr wies sie an den hl. Joseph, damit sie diesem während der Reise in allem gehorche. Dann trat sie aus der Vision, während welcher sie den Gebrauch der äußeren Sinne nicht verloren hatte; denn sie hatte das Jesuskind in ihren Armen gehalten und war nur dem höheren Teil der Seele nach entzückt gewesen; doch strömten von derselben gewisse andere Gaben auf die Sinne über, durch welche diese vergeistigt wurden, gleichsam zum Zeugnis, dass die Seele mehr dort sei, wo sie liebte, als wo sie lebte.

611. Doch die unvergleichliche Liebe, welche die Himmelskönigin für ihren heiligsten Sohn hegte, erfüllte ihr Mutterherz mit Mitleiden beim Gedanken an die Leiden, welche dieser Vision gemäß ihrem göttlichen Kind bevorstanden. Sie vergoss darum reichliche Tränen und ging aus dem Tempel zu ihrer Herberge, ohne ihrem Bräutigam die Ursache ihrer Schmerzen mitzuteilen; dieser meinte, die Prophezeiung Simeons sei allein schuld daran. Doch da dieser treueste Heilige Maria so zärtlich liebte und von Natur aus sehr dienstfertig und besorgt war, verwirrte es ihn etwas, zu sehen, dass seine Braut so bitterlich weine, ohne ihm zu offenbaren, ob hierfür ein neuer Grund vorliege. Diese Unruhe des hl. Joseph war eine der Ursachen, warum der heilige Engel ihm im Traum erschien, gerade wie früher aus Anlass der Mutterschaft der heiligsten Jungfrau. Denn in derselben Nacht, während der hl. Joseph schlief, erschien ihm derselbe heilige Engel und sagte zu ihm, wie der heilige Matthäus berichtet: «Steh auf und nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten und bleibe dort, bis ich dir es sage; denn es wird geschehen dass Herodes das Kind sucht, um es zu töten (Mt 2,13).» Der heilige Bräutigam stand sogleich auf, voll Sorge und Kummer, da er den Schmerz seiner liebevollsten Braut voraussah. Er begab sich zu ihrem Betkämmerchen, wo sie allein war, und sagte zu ihr: «Meine Herrin, es ist der Wille Gottes, dass wir leiden: denn sein heiliger Engel hat mir mitgeteilt Gott wolle und befehle, dass wir mit dem Kind nach Ägypten fliehen, weil Herodes es zu töten sucht. Fasse Mut, meine Herrin, für dieses Leiden und sage mir, was ich zu deiner Erleichterung tun kann, denn ich habe Dasein und Leben nur dazu, um unserem süßen Kinde und dir zu dienen.»

612. Die Himmelskönigin antwortete: «Mein Bräutigam und Herr, wenn wir aus der freigebigsten Hand Gottes so viele Güter der Gnade empfangen haben, so ist es angemessen, dass wir auch die vergänglichen Leiden mit Freude annehmen. Wir nehmen den Schöpfer des Himmels und der Erde mit uns: haben wir ihn so nahe bei uns, dann ist keine Hand stark genug, um uns ein Leid zuzufügen, auch nicht die Hand des Herodes. Dort, wohin wir all unseren Reichtum, das höchste Gut, den Schatz des Himmels, unseren Herrn, unseren Führer und unser wahres Licht mitnehmen, dort können wir nicht in Verbannung sein. Er ist ja unsere Ruhe, unser Anteil, unser Vaterland. Mit ihm haben wir alles. Erfüllen wir also seinen heiligen Willen!» Dann gingen Maria und Joseph zur Wiege des Jesukindes, welches schlief, und zwar nicht ohne besondere Fügung. Die göttliche Mutter deckte es auf, ohne es zu wecken, denn es erwartete die zärtlichen, schmerzvollen Worte seiner lieben Mutter: «Fliehe, mein Geliebter! und werde gleich einem Reh und jungen Hirschen auf den Gewürzbergen (Hld 8,14 ). Komm, mein Geliebter, lasst uns hinausgehen, lasst uns weilen in den Dörfern (Hld 7,11). Meine süße Liebe», fügte die zärtlichste Mutter hinzu, «sanftmütigstes Lamm, deine Macht ist durch die Gewalt irdischer Könige nicht beschränkt: du willst sie aber in höchster Weisheit aus Liebe zu den Menschen verbergen. Wie kann doch ein Mensch daran denken, dir, mein höchstes Gut, das Leben zu nehmen, da doch deine Macht das seinige vernichten kann? Wenn du allen das Leben gibst warum wollen sie dir es nehmen? Wenn du sie suchst um ihnen das ewige Leben zu geben, warum suchen sie dich zu töten? Doch wer kann die Geheimnisse deiner Vorsehung begreifen? Wohlan, mein Herr, du Licht meiner Seele: erlaube, das ich dich wecke: denn wenn du schläfst, wacht dein Herz.»

613. Einige ähnliche Worte sprach auch der hl. Joseph. Dann kniete die göttliche Mutter nieder, weckte das süßeste Kind und nahm es in ihre Arme. Um seine Mutter noch mehr zu rühren und seine wahre Menschheit zu zeigen, weinte das Kind ein wenig -, o wie groß sind doch die Wunder des Allerhöchsten in Dingen, die unserem schwachen Verstand klein erscheinen ! - allein bald schwieg es wieder und gab seiner reinsten Mutter und dem hl. Joseph auf ihre Bitte sichtbar den Segen. Darauf legten diese das ärmliche Linnenzeug in das Kistchen, in welchem sie es gebracht hatten, nahmen das Eselein, auf welchem die Himmelskönigin von Nazareth gekommen war, und begaben sich ohne Verzug ein wenig nach Mitternacht eiligst auf den Weg nach Ägypten. Von ihrer Reise dahin werde ich aber im folgenden Hauptstück sprechen.

614. Zum Schluss dieses Hauptstücks ist mir erklärt worden, wie die heiligen Evangelisten Matthäus und Lukas in ihrem Bericht über dieses Geheimnis übereinstimmen. Alle vier Evangelisten schrieben ja mit dem Beistand und dem Licht des Heiligen Geistes, und durch dieses Licht wusste ein jeder, was die anderen drei schrieben oder ausließen. Daher kommt es, dass manchmal alle vier dasselbe Ereignis aus dem Leben Christi unseres Herrn und aus der Geschichte des Evangeliums erzählen, während sie in anderen Fällen nur das berichten, was die anderen ausgelassen haben, wie aus dem Evangelium des heiligen Johannes und aus den übrigen erhellt. So hat der heilige Matthäus die Anbetung der Könige und die Flucht nach Ägypten beschrieben, während der heilige Lukas nichts darüber erzählt. Umgekehrt berichtet der Letztere die Beschneidung und Darstellung im Tempel, welche der heilige Matthäus ausließ. Wenn also der heilige Matthäus nach der Abreise der heiligen drei Könige sogleich berichtet, der Engel habe dem heiligen Joseph befohlen, nach Ägypten zu fliehen, ohne dass er die Darstellung erwähnt, so folgt daraus keineswegs, dass das göttliche Kind nicht zuvor dargestellt worden wäre; denn dies geschah ganz sicher nach der Abreise der Könige und vor der Flucht nach Ägypten, wie der heilige Lukas berichtet. Wenn andererseits der heilige Lukas nach der Darstellung im Tempel sagt. Maria und Joseph seien nach Nazareth gegangen, so folgt hieraus ebenso wenig, dass sie nicht vorher nach Ägypten flohen; denn sie taten dies ohne Zweifel. wie der heilige Matthäus berichtet, obwohl der heilige Lukas dieses übergeht. Letzterer spricht weder vorher noch nachher von der Flucht, weil der heilige Matthäus sie schon beschrieben hatte. Dieselbe fand aber unmittelbar nach der Darstellung im Tempel statt, ohne dass Maria und Joseph zuvor nach Nazareth zurückgekehrt wären. Da jedoch der heilige Lukas die Reise nach Ägypten nicht zu berichten hatte, musste er, um den Faden seiner Geschichte nicht zu unterbrechen, unmittelbar nach der Darstellung von ihrer Rückkehr nach Nazareth sprechen. Sagt er also, sie seien nach Erfüllung des Gesetzes nach Galiläa zurückgekehrt, so stellt er damit ihre Flucht nach Ägypten keineswegs in Abrede, sondern er lässt sie nur beiseite, um in seiner Erzählung fortzufahren. Übrigens kann man aus dem Texte des heiligen Lukas selber schließen, dass die Rückkehr nach Nazareth erst auf die Flucht nach Ägypten folgte: denn er sagt, das Kind sei gewachsen, habe an Weisheit zugenommen, und es sei an ihm die Gnade bemerkbar geworden. Dies war aber offenbar erst dann möglich, als die Jahre der Kindheit vollendet waren, d. h. erst nach der Rückkehr aus Ägypten: denn um diese Zeit war das göttliche Kind in dem Alter, in welchem man an den Kindern den Gebrauch der Vernunft zu bemerken beginnt.

615. Auch wurde mir erklärt, wie töricht das Ärgernis der Ungläubigen war, die an dem Eckstein, Jesus Christus unserem Herrn, schon in seiner Kindheit strauchelten, da sie ihn nach Ägypten fliehen sahen, um dem Herodes zu entgehen: als wäre dies eine Folge seiner Schwäche gewesen und nicht vielmehr ein Geheimnis, dem viel höhere Absichten zugrunde lagen als die, sein Leben gegen die Grausamkeit eines sündigen Menschen zu schützen. Für die Beruhigung eines gutgesinnten Herzens hätte die Versicherung desselben Evangelisten genügt, es habe die Prophezeiung des Hoseas erfüllt werden müssen, welcher im Namen des ewigen Vaters sagt: «Aus Ägypten rief ich meinen Sohn (Hos 11,1).» Die Absichten, welche der himmlische Vater hatte, da er seinen Sohn nach Ägypten sendete und von dort zurückrief, sind, wie ich später erklären werde, sehr geheimnisvoll. Wenn aber auch die Werke des menschgewordenen Wortes nicht alle so wunderbar und geheimnisvoll wären, so kann doch niemand die liebliche Vorsehung tadeln oder verkennen, mit welcher Gott die «zweiten oder erschaffenen Ursachen» lenkt und die Menschen nach ihrem freien Willen handeln lässt. Aus diesem Grund, nicht aber aus Mangel an Macht lässt er so viele Frevel der Abgötterei, der Häresie und andere Sünden zu, die nicht geringer sind als die des Herodes. Aus demselben Grund ließ er die Sünde des Judas und die Sünden derjenigen zu, welche unseren Herrn misshandelten und kreuzigten. Offenbar konnte er alles dieses verhindern; aber er tat es nicht, und zwar nicht allein, damit wir erlöst würden, sondern auch um den Menschen das Glück zu verschaffen, nach ihrem freien Willen zu handeln. Er verleiht ihnen die Gnadenhilfen, wie es seiner göttlichen Vorsehung gut scheint, auf dass sie mit seinem Beistand Gutes tun, wenn sie ihre Freiheit für das Gute gebrauchen wollen, wie sie dies tun für das Böse.

616. Mit derselben lieblichen Vorsehung gibt er auch den Sündern Zeit zur Bekehrung und wartet auf diese, sowie er bei Herodes getan. Wollte er aber seine unumschränkte Macht gebrauchen und große Wunder tun, um die Wirkungen der «erschaffenen Ursachen» aufzuhalten, so würde die natürliche Ordnung gestört, und Gott wäre als Urheber der Gnade gewissermaßen im Widerspruch mit sich selbst als Urheber der Natur. Darum müssen die Wunder selten und nur aus einer ganz besonderen Ursache stattfinden. Gott hat dieselben hierzu vorbehalten, um zur gelegenen Zeit zu zeigen, dass er allmächtig, der Urheber von allem und unabhängig ist von eben diesen Ursachen, welche er erschaffen hat und erhält. Ebenso wenig soll man sich wundern, dass er den Mord der unschuldigen Kinder durch Herodes zuließ. Es war nicht gut, sie durch ein Wunder davor zu bewahren; denn der Tod verschaffte ihnen das ewige Leben mit überreicher Belohnung. Das ewige Leben ist aber unvergleichlich mehr wert als das zeitliche, welches man ja für ersteres opfern und hingeben muss; zudem, wären alle diese Kinder am Leben geblieben und später eines natürlichen Todes gestorben, so wären wohl nicht alle selig geworden. Die Werke des Herrn sind durchaus gerecht und heilig, wenn wir auch jetzt die Gründe nicht einsehen, warum sie es sind; wir werden dieselben einstens in Gott sehen, wenn wir ihn von Angesicht zu Angesicht schauen werden.

LEHRE, welche mir Maria, die heiligste Himmelskönigin gab

617. Liebe Tochter, das Erste, was du aus diesem Hauptstück lernen sollst, sei die demütige Dankbarkeit für die Wohltaten, welche du empfängst; denn vor vielen Menschen bist du ausgezeichnet und bereichert durch die Gnaden, welche mein Sohn und ich dir ohne dein Verdienst erweisen. Ich habe oftmals die Worte Davids wiederholt: «Was soll ich dem Herrn vergelten für alles, was er mir gegeben hat (Ps 116,12) ?» Mit diesem Gefühl der Dankbarkeit verdemütigte ich mich bis in den Staub, indem ich mich als ganz unnütz unter den Geschöpfen betrachtete. Wenn du aber weißt, dass ich, die wahre Mutter Gottes, so getan habe, dann bedenke wohl, wie sehr du hierzu verpflichtet bist, da du mit voller Wahrheit bekennen musst, dass du nicht verdienst, was du empfängst, dass du vielmehr dessen unwürdig und überdies unfähig bist, es dankbar zu vergelten. Um diesem Unvermögen und diesem Elend abzuhelfen, sollst du dem ewigen Vater das lebendige Opfer seines menschgewordenen Sohnes darbringen, namentlich dann, wenn du ihn im heiligsten Sakrament empfängst und in deinem Herzen trägst. Auch hierin musst du David nachahmen, der auf seine Frage, was er dem Herrn vergelten solle für alle Wohltaten, antwortete: «Ich will den Kelch des Heiles nehmen und den Namen des Herrn anrufen (Ps 116,13).» Du musst das dir angebotene Heil deiner Seele annehmen und wirken: du musst tun, was dazu führt, und diese Gnaden durch ein vollkommenes Leben erwidern: du musst den Namen des Herrn anrufen und ihm seinen Eingeborenen aufopfern: dieser hat ja die «Kraft und das Heil gewirkt» und verdient. Er allein kann der gebührende Dank sein für alles Gute, das Gottes allmächtige Hand dem Menschengeschlecht und insbesondere dir erwiesen hat. Ich habe ihm die menschliche Gestalt gegeben, auf dass er mit den Menschen umgehe und allen als ihr Eigentum angehöre. Seine Majestät hat sich aber auch noch unter den Gestalten des Brotes und Weines verborgen, um sich noch mehr jedem einzelnen als eigen zu geben, damit jeder im besondern ihn genieße und als sein Eigentum dem ewigen Vater aufopfere. Durch diese Opfergabe ersetzen die Seelen, was sie allein nicht geben könnten; der Allerhöchste ist dadurch sozusagen vollständig bezahlt, da er von seinen Geschöpfen nichts Wohlgefälligeres erwarten oder verlangen kann.

618. Nächst diesem Opfer gibt es noch ein anderes, Gott sehr wohlgefälliges Opfer, welches die Seelen Gott darbringen können; dieses besteht darin, dass sie die Leiden dieses sterblichen Lebens mit Gleichmut annehmen und mit Geduld ertragen. Mein heiligster Sohn und ich waren in erhabenster Weise die Lehrmeister dieser Wahrheit. Seine Majestät hat begonnen, diese Lehre zu geben, sobald ich ihn in meinem Schoß empfangen hatte; denn alsbald begannen wir als Erdenpilger zu leiden. Nach seiner Geburt litten wir die Verfolgung durch Herodes und infolge ihrer die Verbannung, und so dauerte das Leiden meines Sohnes fort bis zu seinem Tod am Kreuz. Auch ich habe gelitten bis zum Ende meines Lebens, wie du im ganzen Verlauf desselben sehen und schreiben wirst. Da nun wir soviel für das Heil der Menschen gelitten haben, verlange ich, dass du uns hierin nachfolgst, als Braut meines göttlichen Sohnes und als meine Tochter. Leide mit großmütigem Herzen und mühe dich ab, deinem Herrn und Gebieter Seelen zu gewinnen, diesen Schatz, der so kostbar in seinen Augen ist, dass er ihn um sein Blut und Leben erkauft hat. Niemals darfst du vor einer Mühe und Beschwerde, vor Bitterkeit oder Schmerz zurückweichen, wenn du dadurch Gott eine Seele gewinnen oder einer solchen helfen kannst, die Sünde zu verlassen und ihr Leben zu bessern. Werde auch nicht mutlos, dass du so arm und unnütz bist und dein Verlangen und Bemühen wenig Erfolg hat; denn du weißt nicht, wie der Herr das Mühen annimmt und wie er durch deinen Dienst zufriedengestellt wird. Wenigstens sollst du dienstfertig für ihn arbeiten und dein Brot nicht müßig in seinem Haus essen.

ZWEIUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Ihre Abreise. Ihre Ankunft in Gaza

Jesus, Maria und Joseph treten in Begleitung der heiligen Engel die Reise nach Ägypten an. Ihre Ankunft in der Stadt Gaza.

619. Unsere heiligen Wanderer verließen Jerusalem im Schweigen und Dunkel der Nacht, voll Sorgen für den Schatz des Himmels, den sie mit sich nahmen in ein fremdes, unbekanntes Land. Wohl flößte ihnen der Glaube und die Hoffnung Mut ein, denn bei niemandem konnten diese Tugenden vollkommener und stärker sein als bei der seligsten Jungfrau und ihrem treuesten Bräutigam, allein der Herr ließ sie dennoch in Leiden; und Leiden war ja unvermeidlich bei ihrer Liebe zum Jesuskind, besonders da sie nicht wussten, was alles ihnen bei einer so langen Reise begegnen werde; sie wussten nicht, wann sie ein Ende habe und wie sie als Fremdlinge in Ägypten aufgenommen würden, noch wie es ihnen möglich sein werde, das Kind zu ernähren und es auf der ganzen Reise ohne Beschwerden zu tragen. Darum war das Herz der heiligsten Eltern von vielen Sorgen und Kümmernissen bestürmt, da sie in aller Eile ihre Herberge verlassen mussten. Doch dieser Schmerz wurde durch den Beistand der himmlischen Geister bedeutend gelindert; denn die schon genannten zehntausend Engel zeigten sich alsbald in sichtbarer, menschlicher Gestalt, in gewohnter Schönheit und in solchem Glanz, dass sie für die heiligen Wanderer die Nacht in den hellsten Tag verwandelten. Beim Auszug aus den Stadttoren beteten die Engel den menschgewordenen Sohn Gottes auf den Armen seiner jungfräulichen Mutter demütigst an. Dann sprachen sie Maria Mut zu, indem sie sich aufs neue anboten, ihr gehorsam zu dienen und sie auf dem Weg zu begleiten und zu führen, wohin immer der Herr es wolle.

620. Jeder Trost ist kostbar für ein betrübtes Herz; doch dieser Trost war groß und verlieh darum der Himmelskönigin und ihrem Bräutigam Joseph großen Mut, so dass sie mit ungebrochener Kraft ihre Reise antraten. Sie verließen Jerusalem durch das Tor und auf dem Weg, die nach Nazareth führten. Die göttliche Mutter fühlte wohl das Verlangen, die Geburtsgrotte zu besuchen, um die Krippe und jene heilige Stätte zu verehren, an der ihr heiligster Sohn sein erstes Obdach in der Welt gefunden hatte. Doch die heiligen Engel antworteten auf diesen Gedanken, noch ehe sie ihn ausgesprochen hatte: «Unsere Königin und Gebieterin, Mutter unseres Schöpfers, wir müssen uns beeilen und unsere Reise fortsetzen, ohne uns aufzuhalten; denn das Volk ist aufgeregt, teils deshalb, weil die Könige nicht über Jerusalem, sondern auf einem anderen Weg zurückgekehrt sind, teils wegen der Worte des Priesters Simeon und der Prophetin Anna. Einige haben bereits gesagt, du seist die Mutter des Messias, andere sagen, du kennst ihn; wieder andere, dein Sohn sei ein Prophet. Auch darüber, dass die Könige dich in Bethlehem besucht haben, gibt es verschiedene Ansichten. Herodes aber ist von allem unterrichtet und hat befohlen, dich mit großer Sorgfalt zu suchen. Dieser Befehl wird aufs genaueste ausgeführt werden; darum hat der Herr dir befohlen, noch in der Nacht in höchster Eile abzureisen.»

621. Die Himmelskönigin gehorchte dem Willen des Allmächtigen, welchen seine Diener, die heiligen Engel, ihr kundgegeben hatten. Sie bezeigte vom Weg aus jener heiligen Stätte der Geburt ihres Eingeborenen ihre Verehrung und rief sich nochmals die Geheimnisse, welche dort stattgefunden, und die Gnaden, welche sie dort erhalten hatte, in das Gedächtnis zurück. Der heilige Engel, welcher jenes Heiligtum behütete, nahte in sichtbarer Gestalt und betete den menschgewordenen Sohn Gottes auf den Armen seiner Mutter an; dies gab ihr aufs neue Trost und Freude, denn sie sah den Engel und redete mit ihm. Die liebevolle Herrin wäre auch gerne nach Hebron gegangen; denn ihr Weg führte nahe vorbei, und ihre Base, die heilige Elisabeth, hielt sich mit ihrem Kind, dem heiligen Johannes, gerade dort auf. Doch der heilige Joseph hegte größere Besorgnis und wollte diesen Umweg und Aufenthalt nicht haben. Er sagte darum zu seiner heiligen Braut: «Meine Herrin, ich glaube, dass viel daran gelegen ist, unsere Reise um keinen Augenblick zu verzögern, sondern sie so viel wie möglich zu beschleunigen, um alsbald außer Gefahr zu sein. Wir können darum nicht nach Hebron gehen, denn dort wird man uns eher suchen als irgendwo anders.» Die demütige Königin antwortete: «Dein Wille geschehe; aber mit deiner Erlaubnis werde ich einen Engel bitten, meiner Base Elisabeth die Ursache unserer Abreise mitzuteilen, damit sie ihr Kind in Sicherheit bringe; denn die Wut des Herodes wird sich bis dorthin erstrecken.»

622. Der Himmelskönigin war nämlich die Absicht des Herodes, die Kinder zu ermorden, gar wohl bekannt, obgleich er sie noch nicht geäußert hatte. Was mich aber hier mit Staunen erfüllt, ist die Demut und der Gehorsam der heiligsten Jungfrau Maria, Tugenden, die in ihr so außerordentlich groß und mit solcher Weisheit verbunden waren. Sie gehorchte dem heiligen Joseph nicht bloß in dem, was er selbst verordnete, sondern sie wollte ohne seinen Willen nicht einmal das tun, was ausschließlich ihre Sache war, nämlich einen Engel an die heilige Elisabeth abzusenden, obwohl ein innerlicher Befehl hierzu genügt hätte. Ich bekenne meine Schande und Nachlässigkeit, da ich die reinste Wasserquelle vor mir sehe und doch meinen Durst nicht lösche und das mir gebotene Licht und Beispiel nicht benütze, obwohl dasselbe alle mit lebendiger, milder und lieblicher Macht antreibt, den verderblichen Eigenwillen zu verleugnen. Unsere Liebe Frau beauftragte also mit Erlaubnis ihres Bräutigams einen der vornehmsten sie begleitenden Engel, die heilige Elisabeth von dem, was vorging, zu benachrichtigen. Als Königin der Engel teilte sie diesem ihrem Gesandten innerlich mit, was er der heiligen Matrone und dem kleinen Johannes sagen solle.

623. Der heilige Engel begab sich alsbald zu der glückseligen Elisabeth und gab ihr alle erforderlichen Nachrichten, gemäß dem Auftrag seiner Königin. Er sagte ihr, dass die Mutter Gottes mit ihrem Kind vor der Wut des Herodes nach Ägypten fliehe; dass Herodes das Kind sorgfältigst suche, um es zu töten; und dass auch sie den kleinen Johannes verbergen und in Sicherheit bringen müsse, um dessen Leben zu retten. Er erklärte ihr endlich noch andere Geheimnisse bezüglich des menschgewordenen Wortes, gemäß dem Auftrag der göttlichen Mutter. Die heilige Elisabeth war voll Verwunderung und Freude über diese Botschaft; sie sagte dem heiligen Engel, dass sie gerne hingehen würde, um das Jesuskind anzubeten und seine seligste Mutter zu sehen; sie fragte daher, ob sie Jesus und Maria treffen könne. Doch der heilige Engel antwortete ihr, sein menschgewordener König sei mit seiner glückseligen Mutter fern von Hebron, und es sei nicht gestattet, sie aufzuhalten. So musste die Heilige auf ihre Hoffnung verzichten. Mit vieler Zärtlichkeit und unter Tränen gab sie dem Engel die liebevollsten Empfehlungen für Sohn und Mutter mit und der Engel überbrachte sie seiner Königin. Die heilige Elisabeth aber sandte alsbald einen Boten mit größter Eile ab, damit er den heiligen Wanderern einige Geschenke überbringe, nämlich Nahrungsmittel, Geld und Stoff zu Windeln für das Kind; denn sie sah voraus, welche Not sie in einem unbekannten Land leiden müssten. Dieser Bote erreichte sie in Gaza, einer Stadt, welche nicht ganz zwanzig Stunden von Jerusalem entfernt ist. Sie liegt am Ufer des Flusses Besor, am Weg von Palästina nach Ägypten und nicht weit vom mittelländischen Meer.

624. In der Stadt Gaza ruhten sie zwei Tage aus; denn der heilige Joseph war ermüdet und ebenso auch das Lasttier, welches die Himmelskönigin trug. Von hier aus sandten sie den Boten der heiligen Elisabeth zurück. Der heilige Joseph versäumte nicht, dem Boten einzuschärfen, dass er niemand sage, wo er sie getroffen habe. Doch Gott war noch mehr besorgt, dies zu verhüten; denn er bewirkte, dass dieser Mann vollständig vergaß, was er nach Josephs Mahnung verschweigen musste, und sich nur der Antwort erinnerte, die er seiner Herrin Elisabeth zu überbringen hatte. Die heiligste Jungfrau Maria teilte die Geschenke Elisabeths mit den Armen; sie war ja ihre Mutter und konnte sie darum nicht vergessen. Vom Linnen machte sie eine Decke für das göttliche Kind und für den heiligen Joseph einen Reisemantel zum Schutz gegen das Wetter. Sie bereitete auch noch einige andere Gegenstände, welche sie mit ihrem ärmlichen Gepäck mitnehmen konnten; denn soweit die weiseste Königin den Unterhalt ihres Kindes und des heiligen Joseph durch Arbeit und Emsigkeit besorgen konnte, wollte sie es nicht durch Wunder tun; sie richtete sich hierin, soweit ihre Kräfte es zuließen, nach der gewöhnlichen, natürlichen Ordnung. Um aber die Stadt nicht zu verlassen, ohne ihr große Wohltaten gespendet zu haben, wirkte Maria während ihres zweitägigen Aufenthaltes dort einige Wunder; sie gab nämlich zwei Todkranken die Gesundheit und heilte eine gichtbrüchige Frau. In den Seelen aber brachte sie himmlische Gnadenwirkungen hervor; denn viele von denen, welche sie sahen und sprachen, wurden durch sie zur Erkenntnis Gottes und zur Besserung geführt, und alle fühlten sich mächtig zum Lob ihres Schöpfers angetrieben. Doch niemand entdeckten Maria und Joseph ihr Vaterland und den Zweck ihrer Reise; denn hätte man hiervon Kenntnis erhalten, so hätte das Aufsehen, das ihre wunderbaren Werke ohnedies erregten, bewirken können, dass die Nachforschungen des Herodes ihnen auf die Spur gekommen wären.

625. Um zu beschreiben, was ich über die Handlungen des Jesuskindes und seiner jungfräulichen Mutter auf diesem Weg erkannt habe, fehlen mir die Worte, noch viel mehr aber die Andacht und Hochschätzung, welche so wunderbare Geheimnisse erfordern. Die Arme der reinsten Jungfrau dienten immer als «angenehmes Ruhebettlein» für den neuen, wahren König Salomon (Hld 3, 7). Da Maria die Geheimnisse der heiligsten menschlichen Seele Jesu schaute, so geschah es manchmal, dass Mutter und Sohn süße Unterredungen miteinander führten und abwechslungsweise Lobgesänge sprachen, bei denen das göttliche Kind den Anfang machte, und wobei beide ganz besonders die unendliche Wesenheit Gottes mit all ihren Vollkommenheiten und Eigenschaften verherrlichten. Zu diesem Zweck verlieh unser Herr seiner heiligsten Mutter neues Licht und intellektuelle Visionen, in welchen sie das erhabenste Geheimnis der Einheit des göttlichen Wesens in der Dreiheit der Personen erkannte; sodann die Tätigkeiten Gottes nach innen (operationes ad intra), die Zeugung des Wortes und das Ausgehen des Heiligen Geistes, wie nämlich das Wort gezeugt ist und immer gezeugt wird durch den Verstand, und wie der Heilige Geist «ausgeht» durch die Tätigkeit des Willens; nicht als gäbe es da eine Zeitfolge von vorher und nachher - denn in der Ewigkeit besteht alles zugleich -, sondern weil wir dies nach Weise einer Zeitfolge auffassen. Die Himmelskönigin sah auch, wie die drei göttlichen Personen durch einen und denselben Erkenntnisakt sich gegenseitig erkennen, und wie alle drei die mit der Menschheit vereinigte Person des Wortes und die Wirkungen schauen, welche die Vereinigung mit der Gottheit in jener hervorbringt.

626. Mit dieser erhabenen Kenntnis stieg sie dann von der Gottheit zur Menschheit nieder und brachte Gott neue Lob- und Danklieder dar, dass er diese heiligste Menschheit nach Leib und Seele im höchsten Grad vollkommen erschaffen hatte, die Seele voll Weisheit, Gnade und Gaben des Heiligen Geistes in der möglichsten Fülle; den Leib ganz rein und im höchsten Grad wohlgebildet. Dann schaute Maria alle die heroischen und ausgezeichneten Akte der Seelenkräfte Jesu und ahmte sie soviel als möglich nach. Sofort fing sie an, ihren Sohn zu preisen und ihm zu danken, dass er sie zu seiner Mutter gemacht, dass er sie ohne Sünde empfangen werden ließ, dass er sie aus Tausenden auserwählt und bereichert hatte mit allen Auszeichnungen und Gaben seines mächtigen Armes, deren ein bloßes Geschöpf fähig ist. Um diese und andere Geheimnisse zu verherrlichen, sprachen das Kind und, ihm antwortend, die Mutter so erhabene Worte, dass weder eine englische Zunge sie auszusprechen, noch irgend ein erschaffener Verstand sie zu fassen vermag. Während dessen ermangelte die Himmelskönigin nicht, das Kind zu pflegen, ihm dreimal täglich Milch zu reichen und es zu liebkosen mit größerer Aufmerksamkeit und zärtlicherer Mutterliebe, als alle Mütter zusammen für ihre Kinder haben.

627. Manchmal sprach sie zu ihm: «Mein Sohn, meine süßeste Liebe, erlaube mir, dass ich dich frage und mein Verlangen, das dir zwar wohlbekannt ist, dir ausdrücke, damit ich den Trost habe, deine Antwort zu vernehmen. O du Leben meiner Seele, du Licht meiner Augen, sage mir, ob die mühevolle Reise dich ermüdet, ob du durch die Strenge der Witterung und der Elemente leidest und was ich tun kann, um dir zu dienen und deine Leiden zu erleichtern!» Das göttliche Kind antwortete: «Meine liebe Mutter, alle Beschwerden und alle Ermüdung wird mir gar leicht und süß durch die Liebe zu meinem ewigen Vater und durch die Liebe zu den Menschen, die ich belehren und erlösen will und in deiner Gesellschaft.» Das Kind weinte auch manchmal. aber ernst und würdevoll, wie ein erwachsener Mann; dann suchte die liebevolle, betrübte Mutter in der Seele ihres Kindes, die ja ihren Blicken offen lag, die Ursache seiner Tränen zu entdecken. Sie erkannte dort, dass es Tränen der Liebe und des Mitleids waren, vergossen für die Erlösung der Menschen und wegen ihrer vielfachen Undankbarkeit. Die süße Mutter pflegte dann, einer klagenden Turteltaube gleich, dessen Schmerzen und Klagen zu teilen; sie liebkoste und küsste das Kind voll zärtlichen Mitleids und zugleich mit unvergleichlicher Ehrfurcht. Der glückselige Joseph war oft Zeuge dieser göttlichen Geheimnisse und erhielt dadurch manche Erleuchtungen, welche ihm die Beschwerden der Reise erleichterten. Zuweilen redete er seine Braut an und fragte sie, wie es gehe, und ob sie für sich oder für das göttliche Kind etwas begehre. Dann nahte er sich wieder dem Kind, betete es an, küsste ihm die Füße, bat um seinen Segen und nahm es manchmal auf die Arme. Durch solche Tröstungen wurden dem großen Patriarchen alle Beschwerden der Reise leicht und süß. Auch seine jungfräuliche Braut ermutigte und stärkte ihn, indem sie mit großmütigem Herzen auf alles achtgab; denn ihre innere Sammlung hinderte sie nicht an der Sorge für die äußeren Bedürfnisse, und diese Sorge störte sie nicht in ihren erhabenen Gedanken und häufigen Affekten; war sie ja in allem höchst vollkommen.

LEHRE DER GÖTTLICHEN MUTTER

628. Meine liebste Tochter, damit du meinem Verlangen gemäß verstehest und nachahmst, was du geschrieben hast, müssen dir zum Muster dienen die Bewunderung und die Anmutungen, die in meiner Seele hervorgerufen wurden, als ich im himmlischen Licht erkannte, wie sich mein heiligster Sohn freiwillig der unmenschlichen Wut der Bösewichte preisgegeben hat. Dies hat er dem Herodes gegenüber getan, da wir vor dessen Zorn flohen, und später tat er es den bösen Dienern der Priester und Beamten gegenüber. Aus allen Werken des Allerhöchsten leuchtet seine unendliche Größe, Güte und Weisheit hervor. Am allermeisten aber ward mein Geist mit Staunen erfüllt, als ich zu gleicher Zeit die göttliche Majestät meines Sohnes und sein Verhalten gegen Herodes im erhabensten Licht schaute. Ich sah die Wesenheit Gottes in der mit der Menschheit vereinigten Person des Wortes; ich sah, wie mein heiligster Sohn der ewige, allmächtige, unendliche Gott, Schöpfer und Erhalter aller Dinge war; ich sah, wie das Leben jenes ungerechten Königs von der Güte meines Sohnes abhing, und wie trotzdem die heiligste Menschheit den ewigen Vater bat, er möge ihm gute Einsprechungen, Gnaden und viele Wohltaten verleihen; ich sah, wie er den Herodes damals nicht züchtigte, was ihm doch so leicht gewesen wäre, sondern wie er vielmehr durch seine Bitten erlangte, dass Herodes in der Tat nicht nach dem Maß seiner Bosheit gestraft wurde. Freilich ist Herodes zuletzt durch seine Hartnäckigkeit verloren gegangen; aber seine Strafe ist doch nicht so groß, als sie gewesen wäre, wenn mein heiligster Sohn nicht für ihn gebeten hätte. Diese unaussprechliche Barmherzigkeit und Sanftmut meines heiligsten Sohnes trachtete ich nachzuahmen; denn er lehrte mich hierdurch schon durch jene Tat Feindesliebe, zu welcher er später durch Wort und Beispiel ermahnt hat. Da ich sah, wie er seine unendliche Allmacht verbarg und wie er, der unüberwindliche Löwe, sich wie ein demütiges und sanftmütiges Lamm der Wut reißender Wölfe überließ, da brach mein Herz, und meine Kräfte schwanden vor Verlangen, ihn zu lieben und ihm in seiner Liebe, Geduld und Sanftmut nachzufolgen.

629. Dieses Beispiel stelle ich dir vor, damit du es immer vor Augen hast und lernst, wie und bis zu welcher Grenze du die Beleidiger ertragen, ihnen verzeihen und sie lieben musst; denn weder du noch die anderen Menschen sind unschuldig und sündelos; im Gegenteil, es gibt viele, welche zahlreiche und schwere Sünden begehen, wodurch sie eine üble Behandlung gar wohl verdienen. Wenn dir aber die Verfolgungen die kostbare Gelegenheit verschaffen, dies unser Beispiel nachzuahmen, warum solltest du sie dann nicht als ein großes Glück schätzen und jene nicht lieben, welche dir Anlass geben zur Übung der höchsten Vollkommenheit? Warum solltest du nicht dankbar sein für eine solche Wohltat und die Beleidiger, weit entfernt, sie als Feinde anzusehen, vielmehr als Wohltäter betrachten, da sie dir Gelegenheit bieten zu einer Übung, die für dich so wichtig ist? Wenn du in diesem Stück fehlst, so bist du angesichts des dir vorgehaltenen Beispiels nicht zu entschuldigen; denn das göttliche Licht und das dir verliehene Verständnis macht, dass dieses Beispiel dir gleichsam vor den Augen steht.

DREIUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Reise der Heiligen Familie von Gaza bis Heliopolis in Ägypten

630. Unsere heiligen Wanderer reisten am dritten Tage nach ihrer Ankunft in Gaza nach Ägypten ab. Sie verließen nun die bewohnten Gegenden Palästinas und kamen in die Sandwüste von Berseba. Mehr als sechzig Stunden weit zogen sie durch unbewohnte Strecken, bis sie nach Heliopolis, dem heutigen Kairo in Ägypten, gelangten, um dort ihren Aufenthalt zu nehmen. Ihr Weg durch die genannte Wüste dauerte mehrere Tage; denn ihre Tagesmärsche waren kurz, sowohl weil der sandige Weg sehr beschwerlich war, als auch deshalb, weil ihnen Obdach und Lebensmittel mangelten. Ich will von ihren vielen Erlebnissen in dieser Wüste nur einige erzählen, aus denen man auf andere schließen kann; alle zu erzählen ist nicht notwendig. Um sich aber von der Größe der Beschwerden, welche Maria und Joseph und mit ihnen das Jesuskind auf dieser Reise ausstanden, einen Begriff zu machen, muss man vor allem bedenken, es war der Wille des Allerhöchsten, dass sein eingeborener Sohn mit Maria und Joseph die Beschwerden und Peinen dieser Verbannung fühlten. Die himmlische Herrin ertrug sie allerdings in Ruhe, aber ihre Betrübnis war dabei doch sehr groß, und dasselbe war verhältnismäßig auch beim heiligen Joseph der Fall. Beide litten persönlich viele Unbequemlichkeiten und Mühsale; größer aber waren die Leiden, welche Maria in ihrem Herzen erduldete, wegen der Leiden ihres Kindes und des heiligen Joseph. Letzterer aber war betrübt über die Leiden Jesu und Mariä und über seine Unfähigkeit, ihnen durch seine Sorgfalt und Mühe zu helfen.

631. Die Nächte mussten sie in dieser sechzig Stunden langen Wüste obdachlos unter freiem Himmel zubringen, und dies zur Winterszeit; ihre Reise fiel ja in den Monat Februar, da sie, wie aus dem vorletzten Hauptstück ersichtlich ist, sechs Tage nach der Reinigung angetreten hatten. Während der ersten Nacht die sie einsam in jener Sandwüste zubrachten, blieben sie am Abhang eines Hügels; es war dies die einzige Zuflucht, die sie fanden. Die Himmelskönigin setzte sich, ihr göttliches Kind auf den Armen, zur Erde nieder. Dann ruhten sie ein wenig aus und genossen von den Lebensmitteln, die sie aus Gaza mitgebracht hatten. Die Königin des Himmels reichte ihrem Kind Jesus die Brust. Das göttliche Kind aber spendete durch ein freundliches Lächeln seiner Mutter und ihrem Bräutigam Trost. Der heilige Joseph machte mit seinem Mantel und einigen Stöcken eine Art Zelt, damit Jesus, wenn auch klein und ärmlich, den Sohn Gottes und die heiligste Jungfrau einigermaßen gegen die Kälte schütze. Die zehntausend Engel, welche voll Bewunderung unsere heiligen Reisenden begleiteten, bildeten während dieser Nacht die Leibwache ihres Königs und ihrer Königin, indem sie, in sichtbarer, menschlicher Gestalt einen Kreis bildend, sie in ihre Mitte nahmen. Die Himmelskönigin sah, wie ihr heiligster Sohn seine Hilflosigkeit und seine Leiden, sowie die Leiden seiner Mutter und die des heiligen Joseph dem ewigen Vater aufopferte, und sie brachte den größten Teil der Nacht damit zu, sich diesem Gebet und den übrigen Akten der mit der Gottheit vereinigten Seele ihres Sohnes anzuschließen. Das göttliche Kind schlief ein wenig in ihren Armen; sie selbst aber war beständig wach und in heiligen Unterredungen mit Gott und den Engeln. Der heilige Joseph legte sich auf die Erde nieder, das Haupt auf das Kistchen gelehnt, in welchem sich die Linnenstoffe samt den übrigen armen Gerätschaften befand.

632. Am folgenden Tag setzten sie die Reise fort. Der geringe Vorrat von Brot und Früchten, den sie mitgenommen, ging bald zu Ende, so dass die Herrin des Himmels und der Erde mit ihrem heiligen Bräutigam in große, ja in die äußerste Not geriet und selbst Hunger leiden musste. Es war dies besonders für den heiligen Joseph sehr beschwerlich, wiewohl übrigens beide empfindlich zu leiden hatten. Einmal - es war in den ersten Tagen der Reise - geschah es, dass sie bis neun Uhr nachts ohne jegliche Nahrung blieben; selbst die arme und raue Kost, die sie bis dahin nach den Mühen und Beschwerden der Reise zu sich genommen hatten, war ihnen ausgegangen, und doch hätte gerade damals die Natur einer Stärkung am meisten bedurft. Da dieser Not auf menschliche Weise nicht abzuhelfen war, wandte sich die Himmelskönigin an den Herrn und sprach: «Ewiger, großer, allmächtiger Gott, ich danke dir und preise dich für die großen Werke, welche du an mir vollbracht hast; du hast mir, ohne mein Verdienst, aus lauter Güte das Leben gegeben und erhalten, da ich doch nur Staub und ein unnützes Geschöpf bin. Ich habe dir nicht den gebührenden Dank für diese Wohltaten dargebracht; wie soll ich also für mich verlangen, was ich nicht vergelten kann? Doch, mein Herr und mein Vater, schaue auf deinen eingeborenen Sohn und gib mir das Nötige, um sein natürliches Leben, sowie das Leben meines Bräutigams zu erhalten, damit er es zum Dienste deiner Majestät anwende und damit auch ich deinem göttlichen Sohn diene, der für das Heil der Menschen Fleisch angenommen hat.»

633. Damit dieses Flehen der liebevollsten Mutter durch noch größere Trübsal ausgepresst würde, ließ Gott zu, dass sie außer dem Hunger, der Ermüdung und der Verlassenheit auch noch die Strenge der Elemente zu leiden hatten; denn es kam ein starker Regen mit so heftigem Sturmwind, dass sie fast nichts mehr sahen und äußerst ermüdet wurden. Die mitleidsvoIle Mutter war hierüber besonders des göttlichen Kindes wegen betrübt, da es so zart und noch nicht fünfzig Tage alt war. Freilich bedeckte und schützte sie es, so gut sie nur konnte; allein sie war nicht imstande zu verhindern, dass es als wahrer Mensch das raue Wetter schmerzlich empfand und dies durch Tränen und Zittern zu erkennen gab, gerade wie andere Kinder getan hätten. Da machte die besorgte Mutter von ihrer Macht als Königin der Geschöpfe Gebrauch und erteilte den Elementen den strengen Befehl, ihren Schöpfer nicht zu peinigen, sondern ihn zu schützen und zu erquicken, an ihr selbst aber ihre Strenge auszulassen. Dies geschah gerade so, wie in den oben erwähnten Fällen bei der Geburt unseres Herrn und auf dem Weg nach Jerusalem; denn der Sturm hörte alsbald auf, und der Wind kam dem Kind und seiner Mutter nicht mehr nahe (oben Nr. 543 f und 590). Zum Dank für diese liebreiche Sorge befahl das Jesuskind seinen Engeln, seiner liebevollen Mutter zu Hilfe zu kommen und sie wie durch einen Vorhang gegen die rauen Elemente zu schützen. Die Engel taten es sogleich; sie bildeten eine hellstrahlende, wunderschöne und undurchdringliche Kugel, in welche sie ihren menschgewordenen Gott, seine Mutter und den heiligen Joseph in der Weise einschlossen, dass sie besser verwahrt und geborgen waren, als sie es in den Palästen und in den kostbaren Gewändern der Mächtigen der Erde gewesen wären. Dasselbe taten die Engel noch mehrmals in dieser Wüste.

634. Es fehlte den heiligen Wanderern aber auch an Nahrung, und so litten sie eine Not, welcher durch menschliche Bemühung nicht abzuhelfen war. Doch der Herr, welcher sie in diese äußerste Not hatte kommen lassen, hörte auf die gerechten Bitten seiner Braut und schickte ihnen wiederum durch die Hände der Engel Hilfe; denn diese brachten ihnen alsbald sehr gutes Brot, sehr schöne, schmackhafte Früchte und ein überaus süßes Getränk. Die Engel selbst reichten es ihnen und bedienten sie. Darnach brachten sie alle miteinander Lob- und Danklieder dem Herrn dar, welcher «Speise gibt allem Fleisch zu rechter Zeit (Ps135, 25 und 144,15)», damit die Armen, welche ihre Augen und ihre Hoffnung auf Gottes freigebige Vorsehung richten, «essen und satt werden (Ps 22, 27)». Das waren die köstlichen Gerichte, mit denen der Herr von seiner Tafel seine drei verbannten Wanderer in der Wüste Berseba erquickt hat. Es war dies dieselbe Wüste, in welcher einst Elias, vor Jezabel fliehend, vom Engel des Herrn das in der Asche gebackene Brot erhielt, welches ihn so sehr stärkte, dass er bis zum Berg Horeb gelangte (1 Kön 19, 6 ff). Allein weder dieses Brot, noch dasjenige, welches ihm früher die Raben am Bach Kerit gebracht hatten, wo sie ihn morgens und abends auf wunderbare Weise mit Fleisch und Brot versahen (1 Kön 17, 6), noch das Manna, welches den Israeliten vom Himmel fiel und welches doch «Brot der Engel» und «Himmelsbrot» genannt wurde (Ps 78, 24 f), noch die vom Südwestwind herbeigeführten Wachteln (Ex 16,13), noch die gleich einem Zelt kühlenden Wolken (Num 10, 34), keine von all diesen Speisen und Wohltaten kann verglichen werden mit dem, was der Herr bei dieser Reise für seinen menschgewordenen Sohn, für dessen Mutter und ihren Bräutigam getan hat. Diese Wohltaten waren ja nicht bestimmt, einen Propheten oder ein unverständiges, undankbares Volk zu nähren; sie sollten dem menschgewordenen Gott und seiner wahren Mutter Speise bieten und ein leibliches Leben erhalten, von welchem das ewige Leben des ganzen Menschengeschlechtes abhing. Und gleichwie die himmlische Speise dem erhabenen Rang der Gäste entsprechend war, so stand auch deren Dankbarkeit im vollkommenen Verhältnis zur Größe dieser Wohltat. Damit aber die Hilfe desto gelegener komme, ließ der Herr zu, dass die Not immer den Gipfelpunkt erreichte und also von selbst die Hilfe des Himmels herbeirief.

635. Im Hinblick auf dieses Beispiel mögen die Armen sich erfreuen, die Hungrigen Mut fassen, die Verlassenen hoffen; niemand klage über die göttliche Vorsehung, so betrübt und bedrängt er auch sein mag. Wann hat der Herr diejenigen verlassen, die auf ihn vertrauten? Wann hat er sein väterliches Angesicht abgewendet von seinen armen, betrübten Kindern? Wir sind Brüder seines menschgewordenen Sohnes, also seine Kinder, Erben seiner Güter, und auch Kinder seiner mitleidsvollsten Mutter. O Kinder Gottes, o Kinder Mariä, warum habt ihr denn in eurer Armut Misstrauen gegen einen solchen Vater, gegen eine solche Mutter? Warum raubt ihr ihnen die Ehre eures Vertrauens und euch selbst das Recht, von ihnen ernährt und unterstützt zu werden? Kommet, kommet doch mit Demut und Vertrauen ! Die Augen eures Vaters und eurer Mutter sehen auf euch, ihre Ohren hören das Geschrei eurer Not. Die Hände dieser Herrin sind «ausgestreckt nach dem Armen und geöffnet dem Dürftigen (Spr 31, 20». Ihr aber, ihr Reichen dieser Welt warum «vertraut ihr auf euren unbeständigen Reichtum», so dass ihr in Gefahr kommt «vom Glauben abzufallen und euch alsbald in viele Sorgen und Schmerzen verwickelt», wie der Apostel euch androht (1 Tim 6,17; 9+10). Durch eure Habgier bekennt ihr euch nicht als Kinder Gottes und seiner Mutter; ihr leugnet es vielmehr durch eure Werke und zeigt euch als unechte Kinder, oder als Kinder anderer Eltern; denn nur der wahre, rechtmäßige Sohn weiß auf die liebevolle Sorge seiner wahren Eltern zu vertrauen; er würde dieselben betrüben, falls er sein Vertrauen auf andere setzte, die nicht nur Fremde, sondern sogar seine Feinde sind. Das himmlische Licht belehrt mich über diese Wahrheit, und die Liebe bewegt mich, dieselbe auszusprechen.

636. Der himmlische Vater war aber nicht nur bedacht, unsere heiligen Pilger zu speisen, sondern auch durch andere sichtbare Erquickungen ihnen die Beschwerden des Weges und die langdauernde Einsamkeit zu erleichtern. Wenn nämlich die göttliche Mutter mit ihrem Kind auf der Erde saß und ausruhte, kamen manchmal von den Bergen herab Scharen von Vögeln, wie schon bei einer andern Gelegenheit erwähnt worden ist (oben Nr. 185). Diese ergötzten und erfreuten durch ihren lieblichen Gesang und durch ihr buntes Gefieder die göttliche Mutter; sie flogen ihr auf Schultern und Hände, um sich mit ihr zu freuen. Die weiseste Königin nahm sie liebevoll auf und befahl ihnen, ihren Schöpfer zu loben und zu ehren, zum Dank dafür, dass er sie so schön erschaffen und mit Federn bekleidet habe, damit sie der Erde und der Luft sich erfreuen könnten, und dass er ihnen Tag für Tag mit den Früchten der Erde den nötigen Lebensunterhalt schenke. Die Vögel leisteten Gehorsam durch freudige Bewegungen und liebliche Lieder. Doch noch süßer und wohlklingender waren die Loblieder, welche die liebende Mutter dem Jesuskind darbrachte, indem sie es als ihren Gott, ihren Sohn und als den Urheber aller dieser Wunder lobpries und verherrlichte. An diesen lieblichen Unterredungen nahmen auch die Engel teil; sie wechselten mit der Königin des Himmels und mit den einfältigen Vögelein ab, und alles dieses bildete eine mehr geistige als sinnlich wahrnehmbare Harmonie, deren Wohlklang jedes vernünftige Geschöpf mit höchster Bewunderung hätte erfüllen müssen.

637. Manchmal sprach die göttliche Mutter zu ihrem Kind: «Meine Liebe, du Licht meiner Seele, wie soll ich dir deine Mühen erleichtern, wie dich den Beschwerden entziehen? Wie soll ich es machen, dass diese mühevolle Reise dir nicht lästig fällt? O könnte ich dich nicht bloß auf meinen Armen, sondern in meinem Herzen tragen und aus demselben ein weiches Bettlein machen, in welchem du ohne Beschwerden ruhen könntest !» Das süßeste Jesuskind antwortete: «Meine liebe Mutter, ich finde große Erleichterung in deinen Armen, ich ruhe in deinem Herzen, ich freue mich über deine zarte Liebe und ergötze mich an deinen Worten.» Manchmal sprachen beide innerlich miteinander; ihre Unterredungen waren aber so erhaben und göttlich, dass sie nicht in Worte gefasst werden können. Der heilige Joseph hatte an vielen dieser geheimnisvollen Tröstungen teil, so dass ihm die Reise leicht wurde. Er vergaß die Beschwerden und fühlte die Süßigkeit und das Glück seiner Gesellschaft. Doch hörte und wusste er nicht, dass das Kind auf vernehmbare Weise mit seiner Mutter redete; denn diese Gnade war, wie ich oben gesagt habe, damals der Mutter allein vorbehalten. Auf diese Weise setzten unsere Verbannten ihre Reise nach Ägypten fort.

LEHRE der heiligsten Himmelskönigin Maria

638. Meine Tochter, wer den Herrn kennt, der hofft auch auf ihn; und umgekehrt, wer nicht auf seine unendliche Güte und Liebe hofft, der kennt ihn nicht vollkommen. Vom Mangel an Glauben und Hoffnung aber kommt es, dass man ihn nicht liebt; denn wir schenken alsbald unsere Liebe demjenigen, auf den wir vertrauen und den wir sehr hochachten. In diesem Fehler hat das ganze Verderben der Menschen seinen Grund; sie haben von Gottes unendlicher Güte, die ihnen das Leben gibt und erhält, eine so niedrige Vorstellung, dass sie infolgedessen nicht verstehen, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen: mit dem Vertrauen fehlt ihnen aber auch die Liebe, welche sie Gott schulden, und so wenden sie sie den Geschöpfen zu. An diesen schätzen sie und von diesen hoffen sie, was sie verlangen, nämlich Macht, Reichtum, Glück und Eitelkeit. Freilich könnten die Gläubigen durch die ihnen eingegossenen Tugenden des Glaubens und der Hoffnung diesem Verderben vorbeugen; allein sie lassen diese Tugenden unbenützt, müßig und tot und hängen sich an irdische Dinge. Besitzen sie Reichtümer, so setzen sie ihre Hoffnung auf dieselben; besitzen sie keine, so verlangen sie darnach. Andere verschaffen sich Reichtum durch ganz verkehrte Mittel und Wege. Andere hinwiederum vertrauen auf die Mächtigen, weshalb sie denselben schmeicheln. Und so sind es nur sehr wenige, welche der liebevollen Vorsehung Gottes sich würdig machen, auf dieselbe vertrauen und Gott als einen Vater erkennen, der für seine Kinder sorgt, sie ernährt, erhält und keines in der Not verlässt.

639. Diese arge Verblendung ist es, welche der Welt so viele Liebhaber gegeben und sie, ganz gegen Gottes Willen und Wohlgefallen, mit Habsucht und Begierlichkeit erfüllt hat. Sie hat bewirkt, dass die Menschen selbst in Bezug auf das, was sie verlangen oder verlangen sollten, blind sind. Denn alle sagen insgemein, dass sie den Reichtum und die zeitlichen Güter nur deshalb verlangen, um ihrer Not abzuhelfen; sie sagen dies, weil sie nichts anderes verlangen sollten. Allein in der Tat sagen viele die Unwahrheit, indem sie nicht bloß das Notwendige, sondern Überflüssiges begehren, damit es der Hoffart der Welt, nicht aber ihren wirklichen Bedürfnissen diene. Wenn die Menschen nur das wahrhaft Notwendige verlangen würden, so wäre es eine Torheit, sein Vertrauen auf die Geschöpfe zu setzen, und nicht auf Gott, dessen unaussprechliche Vorsehung selbst für die jungen Raben sorgt, als riefen sie durch ihr Gekrächze zu ihrem Schöpfer. Da ich dieser Vorsehung versichert war, so blieb mir während meiner langen Verbannung jede Furcht fern; und da ich auf den Herrn vertraute, so hat seine Vorsehung zur Zeit der Not geholfen. Auch du, meine Tochter, kennst diese große Vorsehung; darum bekümmere dich nicht übermäßig wegen der Not; werde deinen Pflichten nicht untreu, um einer Not abzuhelfen; vertraue nicht auf Menschen und auf menschliche Bemühungen; hast du getan, was dir obliegt, dann ist das wirksame Hilfsmittel dies, dass du auf den Herrn vertraust und zwar ohne Verwirrung und Unruhe. Vertraue, wenn auch die Hilfe etwas zögert; denn sie wird immer zur geeignetsten Zeit kommen, wo die väterliche Liebe des Herrn sich am deutlichsten zeigen wird, wie dies bei mir und meinem Bräutigam in unserer Not und Armut der Fall war.

640. Alle, die nicht mit Geduld leiden und keine Not ertragen wollen; die durchlöcherten Zisternen nachgehen, indem sie auf die Mächtigen bauen; die sich nicht mit Mäßigem begnügen und mit brennender Gier verlangen, was sie zum Leben nicht nötig haben; die zähe behalten, was sie besitzen, damit ihnen nichts fehlen könne, und deswegen den Armen das schuldige Almosen verweigern, alle diese haben mit Recht zu fürchten, dass ihnen das mangeln werde, was sie von der göttlichen Vorsehung nicht erwarten könnten, wenn diese ebenso karg wäre im Geben, als sie es sind im Vertrauen und in der Unterstützung der Armen aus Liebe zu Gott. Doch der wahre Vater, der im Himmel ist, «lässt seine Sonne aufgehen über die Guten und Bösen; er lässt regnen über die Gerechten und Ungerechten» (Mt 5, 45); er gibt allen Leben und Unterhalt. Weil er aber seine Wohltaten sowohl den Guten als den Bösen spendet, so kann das Verfahren, welches er bei Verteilung der zeitlichen Güter einhält und vermöge dessen er den einen mehr, den andern weniger spendet, keineswegs als Maßstab der Liebe gelten, die er zu den Menschen trägt. Im Gegenteil ist es sein Wille, dass die Auserwählten und zum Ewigen Leben Vorherbestimmten arm seien, teils damit sie größere Verdienste und Belohnungen erwerben, teils damit sie sich nicht von der Liebe zu den zeitlichen Gütern umstricken lassen; denn nur wenige verstehen es, dieselben gut zu gebrauchen und sie ohne ungeordnetes Verlangen zu besitzen. Für meinen heiligsten Sohn und mich bestand zwar diese Gefahr nicht; aber dennoch wollte mein Sohn durch das Beispiel die Menschen diese göttliche Weisheit lehren, von welcher ihr Ewigen Leben abhängt.

VIERUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Wunder, welche bei der Ankunft in Ägypten geschahen

Jesus, Maria und Joseph kommen auf Umwegen zur Stadt Heliopolis. Große Wunder welche bei dieser Gelegenheit geschahen.

641. Wie schon oben angedeutet wurde (oben Nr. 615), lagen der Flucht des göttlichen Heilandes noch andere Geheimnisse und höhere Absichten zugrunde als die, dem Zorn des Herodes zu entgehen; letzteres war vielmehr ein Mittel, dessen sich der Herr bediente, um nach Ägypten zu gehen und dort seine Wunder zu wirken von welchen die alten Propheten gesprochen haben. Besonders deutlich hat Jesajas dieselben vorausverkündet, da er sagte, der Herr werde sich auf eine leichte Wolke setzen und nach Ägypten kommen, dann werden die Götzen Ägyptens vor seinem Antlitz beben und der Ägypter Herz in ihrer Brust verzagen (Jes 19,1). Noch andere Ereignisse hat Jesajas geweissagt, welche sich zur Zeit der Geburt unseres Herrn erfüllt haben. Indem ich aber übergehe, was nicht zu meinem Plan gehört, sage ich nur, dass Jesus, Maria und Joseph ihre Wanderung in der beschriebenen Weise fortsetzten und endlich in den bewohnten Gegenden Ägyptens ankamen. Sie waren aber vor ihrer Ankunft in Heliopolis von den Engeln auf einigen Umwegen geführt worden. Gott fügte es so, damit sie zuvor an viele andere Orte kämen, an welchen er einige von den zahlreichen Wundern wirken wollte, mit denen er Ägypten beglücken sollte. So brachten sie auf diesen Wegen mehr als fünfzig Tage zu und legten von Bethlehem oder Jerusalem mehr als zweihundert Stunden zurück, obwohl sie auf geradem Wege viel schneller hätten zum Ziel kommen können.

642. Die Ägypter waren der Abgötterei und dem Aberglauben welcher der ersteren gewöhnlich zur Seite geht, sehr ergeben. Selbst die kleinsten Ortschaften dieses Landes waren voll Götzenbilder. Viele derselben hatten Tempel, in welchen verschiedene böse Geister wohnten. Die unglücklichen Bewohner gingen dorthin, um denselben durch Opfer und Zeremonien, welche von den bösen Geistern selbst angeordnet waren, ihre Anbetung zu bezeigen. Die bösen Geister antworteten auf ihre Anfragen durch Orakelsprüche, von denen das törichte und abergläubische Volk sich blindlings leiten ließ. Durch diese Betrügereien waren die Ägypter derart verblendet und der Anbetung Satans ergeben, dass der starke Arm des Herrn (d. i. das menschgewordene Wort) nötig war, um dieses verlassene Volk von einer Tyrannei zu erlösen, welche härter und gefährlicher war als jene, in welcher es einst das Volk Gottes bedrückt hatte. Damit nun Satan besiegt und diejenigen, die im Land und Schatten des Todes lebten, erleuchtet würden und dies Volk jenes große Licht sehe, von dem Jesajas gesprochen (Jes 9, 2), wollte Gott, dass die Sonne der Gerechtigkeit Christus unser Herr, wenige Tage nach seiner Geburt in Ägypten auf den Armen seiner seligsten Mutter erscheine und dieses Land sozusagen im Kreis umziehe, damit es ganz mit der Kraft seines göttlichen Lichtes erleuchtet würde.

643. Das Jesuskind kam also mit seiner Mutter und dem heiligen Joseph in die bevölkerten Landstriche Ägyptens. Beim Eintritt in die Ortschaften erhob es auf den Armen seiner Mutter seine Augen zum Himmel faltete die Hände und betete zum himmlischen Vater für das Heil dieser vom Satan beherrschten Bewohner. Dann machte es gegen die bösen Geister, welche in den Götzenbildern waren, von seiner unumschränkten, göttlichen Macht Gebrauch und stürzte sie in den Abgrund. Schnell wie der Blitzstrahl aus einer Wolke, fuhren sie aus den Bildern hinab in den tiefsten Abgrund der finstern Hölle. Im nämlichen Augenblick fielen die Götzenbilder mit großem Getöse um und die Götzentempel und Altäre stürzten ein. Die Ursache dieser wunderbaren Wirkungen war der heiligsten Jungfrau wohl bekannt; sie vereinigte ihr Gebet mit dem ihres heiligsten Sohnes, da sie in allem die Mitwirkerin des menschlichen Heiles war. Auch der heilige Joseph wusste, dass diese Vorgänge das Werk des menschgewordenen Sohnes Gottes waren. Voll heiliger Bewunderung lobpries er den Herrn in seinen Werken. Die bösen Geister dagegen fühlten zwar die Macht Gottes, wussten aber nicht, von wem diese Kraft ausging. (Die hier erwähnten wunderbaren Vorgänge sind durch die Zeugnisse der heiligen Väter und durch die konstante und allgemein bekannte Überlieferung bestätigt. Man vgl P. Dalm. Kick [l c. p. 4. a. 2. § 10.] und Trombelli (Marire sanc. tissimre Vita et Gesta. Diss. 24. q. 6.), wo die verschiedenen VätersteIlen zitiert sind. Der Herausgeber).

644. Das ägyptische Volk war über diese unerwarteten und ungewöhnlichen Ereignisse sehr erstaunt. Unter den Weisesten bestand zwar eine Überlieferung, die sich von alters her, seit Jeremias in Ägypten gewesen, fortgepflanzt hatte, dass nämlich ein König der Juden in dieses Reich kommen und die Götzentempel Ägyptens zerstören würde. Doch das Volk wusste hiervon nichts; und auch die Gelehrten wussten nicht, auf welche Weise dies geschehen sollte. Darum waren alle in Furcht und Verwirrung, wie Jesaja vorhergesagt hatte. Sie fragten einander, und einige kamen aus Neugierde, die Ankömmlinge zu sehen, zu unserer großen Königin und zum heiligen Joseph und redeten mit ihnen über den Sturz ihrer Tempel und ihrer Götter. Die Mutter der Weisheit benützte diese Fragen und begann diese Leute zu enttäuschen; sie sprach zu ihnen vom wahren Gott und belehrte sie, dass nur einer der wahre Gott sei, der Schöpfer Himmels und der Erde, und dass man ihn allein als Gott anerkennen und anbeten dürfe; alle anderen dagegen seien falsch und unterschieden sich nicht vom Holz, Ton oder Metalle, aus welchem sie gebildet seien; sie hätten weder Augen, noch Ohren, noch irgendwelche Macht; die Künstler könnten sie zerstören, gerade so gut, wie sie dieselben gemacht hätten und ebenso jeder andere; denn alle Menschen seien edler und mächtiger als diese Götzen; die Antworten aber, welche sie erteilten, kämen von den bösen Geistern, welche in denselben wohnten, um zu lügen und zu betrügen; sie hätten keine wahre Kraft, da Gott allein wahrhaft sei.

645. Die Worte der Himmelskönigin waren so lieblich und zugleich so lebendig und wirksam, ihr Angesicht war so freundlich und liebenswürdig, die Wirkungen ihrer Unterredungen waren so heilsam, dass in den Orten, wo die heiligen Pilger ankamen, sich alsbald die Kunde von ihnen verbreitete und viel Volk zusammenströmte, um sie zu sehen und zu hören. Zu gleicher Zeit wirkte auch das Gebet des göttlichen Kindes und erlangte ihnen große Gnaden. Dazu kam noch das Umstürzen der Götzenbilder. Die Folge von all dem war, dass das Volk unglaublich ergriffen und die Herzen vieler umgeändert wurden, indem sie sich zum Glauben an den wahren Gott bekehrten und für ihre Sünden Buße taten, ohne indes zu wissen, woher und auf weIchem Wege ihnen dies Glück gekommen sei. Diese und ähnliche Wunder wirkten Jesus und Maria an vielen Orten; sie trieben die bösen Geister nicht nur aus den Götzenbildern, sondern auch aus den Besessenen und heilten viele von schweren, gefährlichen Krankheiten. Viele Bewohner wurden erleuchtet und von der Himmelskönigin und dem heiligen Joseph über den Weg der Wahrheit und des ewigen Lebens belehrt. Namentlich durch jene zeitlichen Wohltaten, die bei dem unwissenden, irdisch gesinnten Volk soviel gelten, ließen sich viele bewegen, jene Lehren zum Heile ihrer Seelen anzuhören. (Der hl. Chrysostomus sagt, Ägypten sei von Christus in ein Paradies verwandelt worden. [Homil B. in Matth.] Der Herausgeber).

646. Sie kamen zur Stadt Hermopolis. welche gegen die Thebais hin gelegen ist und von einigen die Stadt Merkurs genannt wird. Daselbst waren einige Götzenbilder und sehr mächtige böse Geister. Namentlich wohnte ein solcher in einem Baum beim Eingang in die Stadt. Da nämlich die Bewohner der Umgegend diesen Baum seiner Größe und Schönheit wegen verehrten, nahm der böse Geist davon Anlass, in demselben seinen Sitz aufzuschlagen, um sich darin anbeten zu lassen.

Als nun das göttliche Kind in die Nähe des Baumes kam, verließ nicht nur der Satan diesen Sitz und stürzte in den Abgrund, sondern der Baum neigte sich auf den Boden, als wollte er für das Glück, das ihm zuteil geworden, Dank sagen. So mussten selbst die vernunftlosen Geschöpfe Zeugnis geben, wie hart die Tyrannei des bösen Feindes ist. Dieses Wunder, dass die Bäume sich verneigten, erneuerte sich auf dem Weg, den der Schöpfer der Natur machte, noch öfters; indes sind nicht alle diese Fälle im Andenken der Nachwelt bewahrt geblieben. Das erwähnte Wunder von Hermopolis aber lebte viele Jahrhunderte lang im Andenken fort; denn die Blätter und Früchte dieses Baumes hatten in der Folge die Kraft, verschiedene Krankheiten zu heilen. Mehrere Schriftsteller haben über dieses Wunder geschrieben und auch andere Wunder erwähnt, welche bei der Ankunft und dem Aufenthalt des menschgewordenen Wortes und seiner heiligsten Mutter in den Städten jenes Landes geschehen (Das oben genannte Wunder berichten Sozomenus [l 5. c. 20. al 21.] Nice, phorus II 10. c. 31.] Burchardus [Descript Terrae sanct. p. 2. c: 4.] und Cassidor [Hist tripart. l 6. c. 42.]). sind. So berichten sie z. B. von einer Quelle in der Nähe von Kairo, aus welcher die Himmelskönigin Wasser holte, teils um davon zu trinken und dem göttlichen Kind davon zu geben, teils um das Linnen zu waschen. Diese Begebenheiten sind in der Tat wahr, und bis auf den heutigen Tag hat sich das Andenken an diese wunderbaren Tatsachen und die Verehrung derselben forterhalten, und zwar nicht bloß bei den Gläubigen; denn auch sie empfangen zuweilen an diesen Orten vom Herrn zeitliche Wohltaten, teils damit das Verhalten Gottes gegen sie gerechtfertigt, teils damit das Andenken an diese Wunder forterhalten werde. Die Überlieferung bezeichnet noch andere Orte, an welchen die heiligen Verbannten waren und große Wunder wirkten; es ist aber nicht nötig, dieselben hier anzuführen; denn ihr Hauptaufenthaltsort in Ägypten war die Stadt Heliopolis. Und es ist nicht ohne Geheimnis, dass diese Stadt den Namen «Sonnenstadt» trug. Jetzt heißt sie «Groß-Kairo».

647. Während ich diese Wunder niederschrieb, fragte ich voll Verwunderung die große Himmelskönigin, warum sie mit dem göttlichen Kinde so viele unbekannte Gegenden durchreist habe; denn es schien mir, dass dadurch ihre Mühen und Leiden bedeutend vergrößert worden seien. Die seligste Jungfrau aber gab mir zur Antwort: «Wundere dich nicht, dass mein heiligster Sohn und ich gereist sind, um so viele Seelen zu gewinnen; denn wenn es nötig gewesen und kein anderes Heilsmittel zu Gebote gestanden wäre, hätten wir, um eine einzige Seele zu retten, die ganze Welt durchwandert.» Wenn es uns zu viel scheint, was Jesus und Maria für das Heil der Menschen getan haben, so kommt dies daher, weil wir die unermessliche Liebe, mit der sie uns geliebt haben, nicht kennen und weil wir es nicht verstehen, eine solche Liebe durch Gegenliebe zu erwidern.

648. Als Luzifer die beschriebenen Vorgänge gewahrte und sah, wie so viele böse Geister mit einer ihnen ganz ungewohnten Kraft in die Hölle geschleudert worden waren, wurde er höchst aufgebracht. Von Zornesglut entbrannt, begab er sich auf die Erde und streifte weit umher, um die Ursache dieser außerordentlichen Ereignisse zu erforschen. Er zog durch ganz Ägypten, wo die Tempel und Altäre mit ihren Götzenbildern umgestürzt waren; und als er nach Heliopolis kam, welches eine der größeren Städte war, und wo deshalb das Reich des Satans in größerem Umfang zerstört worden war, bemühte er sich mit großer Aufmerksamkeit zu untersuchen, was für Leute dort seien. Er entdeckte jedoch nichts Neues in diesem Betreff, außer dass Maria, die heiligste Jungfrau, dorthin gekommen sei; denn um das Jesuskind kümmerte er sich nicht, da er es als ein Kind wie die übrigen betrachtete; der Unterschied aber war ihm nicht bekannt. Da er aber durch die Tugenden und die Heiligkeit der weisesten Mutter und Jungfrau schon so oft besiegt worden war, so kam er doch wieder in Besorgnis. Zwar meinte er, eine Frau sei zu gering, so große Werke zu verrichten; trotzdem beschloss er aufs neue, sie zu verfolgen und hierzu die Diener seiner Bosheit aufzubieten.

649. Er kehrte darum sogleich in die Hölle zurück, berief eine Versammlung der Fürsten der Finsternis und berichtete ihnen den Sturz der Götzenbilder und Tempel in Ägypten; denn als die bösen Geister dieselben verließen, wurden sie durch Gottes Macht mit solcher Schnelligkeit, Beschämung und Qual in die Hölle gestürzt, dass sie gar nicht bemerkten, was mit den Götzenbildern und den Orten geschah, welche sie verließen. Luzifer nun setzte sie von allem in Kenntnis. Er sagte, dass seiner Herrschaft in Ägypten der Untergang drohe, dass er aber die Ursache dieses Sturzes nicht entdecken könne; denn er habe in jenem Land nichts anderes angetroffen als die ihm feindliche Frau (so nannte der Drache die heiligste Jungfrau Maria), deren Tugend ihm zwar als ausgezeichnet bekannt sei, die aber doch nicht jene große Kraft besitzen könne, welche sie eben an sich erfahren. Trotzdem habe er einen neuen Krieg gegen diese Frau beschlossen und alle sollten sich dazu bereit halten. Die Diener Luzifers erklärten sich bereit ihm zu gehorchen, trösteten ihn in seiner verzweifelten Wut und versprachen ihm den Sieg, als ob ihre Macht ihrem Stolz gleich käme.

650. Viele Legionen verließen nun miteinander die Hölle und begaben sich nach Ägypten; sie meinten, wenn sie die Himmelskönigin besiegten, wäre ihr Verlust durch diesen Triumph allein wieder gut gemacht und sie würden alles zurückerobern, was sie in jenem unglücklichen Land durch Gottes Macht verloren hatten; denn sie vermuteten, die heiligste Jungfrau sei das Werkzeug der göttlichen Macht. Sie wollten ihr also nahen, um sie ihrem teuflischen Vorhaben gemäß zu versuchen. Doch - o Wunder ! - sie konnten ihr bloß auf zweitausend Schritt nahe kommen; denn eine göttliche Kraft hielt sie zurück, und sie fühlten, dass diese Kraft von der heiligsten Jungfrau ausgehe. Luzifer und die anderen bösen Geister strengten sich zwar aus allen Kräften an, doch sie waren unvermögend und wie mit starken Ketten gebunden und gequält, so dass es ihnen unmöglich war, zur unüberwindlichen Königin zu gelangen; diese aber sah, den allmächtigen Gott auf ihren Armen haltend, alles mit an. Während nun Luzifer fortfuhr, sich anzustrengen, wurde er samt allen seinen höllischen Rotten plötzlich noch einmal in den Abgrund geschleudert. Diese neue demütigende Niederlage bereitete dem Drachen große Qual und Unruhe, und da solches seit der Menschwerdung, wie gesagt schon mehrmals stattgefunden hatte, kam ihm die Vermutung, der Messias könnte schon in die Welt gekommen sein. Da ihm aber das Geheimnis verborgen war und er meinte, der Messias werde in Pracht und Herrlichkeit kommen, so blieb er immer noch voll Verwirrung und Unentschiedenheit, voll Wut und Raserei und war furchtbar gequält. Er verging vor Begierde, die Ursache seiner Qual ausfindig zu machen; allein je mehr er nachforschte, desto größer wurde seine Blindheit und desto geringer sein Verständnis.

LEHRE, der heiligsten Himmelskönigin Maria

651. Meine Tochter, groß und überaus kostbar ist der Trost der gläubigen Seelen, die meinen heiligsten Sohn lieben, wenn sie mit lebendigem Glauben erwägen, dass sie einem Herrn dienen, welcher der höchste Gott der Herr der Herren ist, einem Herrn, der allein Macht und Herrschaft über alles Geschaffene besitzt und der über seine Feinde herrscht und triumphiert. An dieser Wahrheit erfreut sich der Verstand, erquickt sich das Gedächtnis, ergötzt sich der Wille; alle Fähigkeiten der andächtigen Seele geben sich der Wonne hin, welche sie bei der Betrachtung der Güte, Heiligkeit und unendlichen Macht dieses Herrn fühlen, dieses Herrn, welcher keines Menschen bedarf und von dessen Willen alle Geschöpfe abhängen. O wie vieler Güter gehen die Menschen verlustig, die, ihres Glückes vergessend, alle Zeit ihres Lebens und all ihre Kräfte dazu verwenden, auf das Sichtbare zu achten, das Vergängliche zu lieben und eitle Scheingüter zu suchen. Ich möchte, meine Tochter, dass du mit dem dir verliehenen Licht diese Gefahr vermeidest, und dass dein Verstand wie dein Gedächtnis sich immerdar mit dem Geheimnis der göttlichen Wesenheit beschäftigen. In dieses unermessliche Meer versenke und verabgründe dich, indem du beständig die Worte wiederholst: «Wer ist wie der Herr, unser Gott der in der Höhe wohnt und auf das Niedrige schaut im Himmel und auf Erden? (Ps 113, 5 und 6)» Wer ist wie er, allmächtig und von niemand abhängig? Wer ist wie er, der die Hochmütigen erniedrigt und diejenigen stürzt, welche von der blinden Welt «Mächtige» genannt werden? Wer ist wie er, der über den Satan triumphiert und ihn in die Tiefe schleudert?

652. Damit dein Herz durch diese Wahrheiten mehr erweitert und du den Feinden des Allerhöchsten noch überlegener werdest, sollst du, nach Möglichkeit meinem Beispiele folgend, dich freuen über die Siege und Triumphe des allmächtigen Gottes und dich bemühen an den Siegen die er zu jeder Zeit über den grausamen Drachen davonzutragen wünscht, einigen Anteil zu haben. Keine erschaffene Zunge, selbst kein Seraph vermag die Gefühle zu beschreiben, die ich in meinem Herzen empfand, als ich sah, wie mein allerhöchster Sohn, den ich auf meinen Armen trug, zum Heil jener blinden und von den Täuschungen des Satans umstrickten Seelen so großartige Wunder gegen seine Feinde wirkte, und wie durch den menschgewordenen Sohn Gottes die Ehre des göttlichen Namens immer mehr erhöht und ausgebreitet wurde. Im Jubel hierüber lobpries meine Seele den Herrn, und ich brachte mit meinem heiligsten Sohn als seine Mutter und als Braut des Heiligen Geistes dem Herrn neue Loblieder dar. Du aber bist eine Tochter der heiligen Kirche, die Braut meines gebenedeiten Sohnes und von ihm mit Gnaden bereichert; darum ist es gerecht, dass auch du eifrig bemüht seist seine Glorie zu erhöhen, indem du gegen seine Feinde wirkst und streitest damit so dein Bräutigam in dir triumphiere.

FÜNFUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Lebensweise Mariä und Josephs in Heliopolis

Jesus, Maria und Joseph schlagen nach Gottes Willen ihre Wohnung in der Stadt Heliopolis auf; sie regeln dort ihr Leben für die Zeit ihrer Verbannung.

653. Das Andenken an die Wunder des göttlichen Kindes hat sich an vielen Orten Ägyptens erhalten; daher kommt es, dass von den Heiligen und anderen Schriftstellern die einen sagen, die heiligen Verbannten seien in dieser Stadt gewesen, während andere eine andere Stadt als Aufenthaltsort bezeichnen. Indes können alle die Wahrheit sagen und miteinander übereinstimmen, indem sie nämlich von verschiedenen Zeitpunkten reden, in denen die Heilige Familie zu Hermopolis, zu Memphis (dem Babyion Ägyptens) und zu Mataria weilte; denn die Heilige Familie kam nicht nur in diese, sondern auch in andere Städte. Mir ist mitgeteilt worden, dass die heiligen Wanderer, nachdem sie in obigen Städten gewesen, nach Heliopolis kamen und dort ihre Wohnung aufschlugen; denn ihre Führer, die heiligen Engel, sagten ihrer Königin und dem heiligen Joseph, dass sie sich in dieser Stadt bleibend niederlassen sollten. Der Herr hatte beschlossen, hier außer dem Zusammenstürzen der Götzenbilder und Tempel, welches bei seiner Ankunft wie in den übrigen Städten erfolgte, zu seiner Ehre und zum Heil vieler Seelen noch andere Wunder zu wirken, damit für die Bewohner dieser Stadt, entsprechend der glücklichen Vorbedeutung ihres Namens, welcher «Sonnenstadt» bezeichnet, die Sonne der Gerechtigkeit und Gnade aufgehe und sie noch mehr erleuchte als die Sonne am Himmelsgewölbe. Auf diese Weisung hin machten sie dort Halt. Der hl. Joseph suchte alsbald eine Wohnung, indem er versprach, den gerechten Mietpreis dafür zu bezahlen. Der Herr fügte es, dass er ein einfaches, armes Häuschen fand, welches indes groß genug war, um ihnen als Wohnung zu dienen; es war ein wenig von der Stadt abgelegen, gerade wie die Himmelskönigin es wünschte.

654. Nachdem sie so in Heliopolis eine Wohnung gefunden hatten, ließen sie sich darin nieder. Die himmlische Herrin begab sich mit ihrem heiligsten Kind und mit ihrem heiligen Bräutigam Joseph unverzüglich in diese einsame Stätte, warf sich dort auf das Angesicht nieder, küsste in tiefer Demut und mit innigem Dankgefühl den Boden und brachte dem Allerhöchsten ihre Danksagung dar, dass sie nach einer so langen und beschwerlichen Wanderung diese Ruhestätte gefunden. Ja, sie dankte sogar der Erde und den Elementen, dass sie zu ihrem Unterhalte mitwirkten; denn bei ihrer unvergleichlichen Demut hielt sie sich alles dessen, was sie empfing, stets für unwürdig. In dieser Haltung betete sie den unveränderlichen Gott an und weihte alles, was sie dort tun sollte, seiner Ehre und seinem Dienste. In ihrem Herzen aber opferte sie dem Herrn alle ihre Seelenkräfte und ihre Sinne auf und bot sich an, willig und freudig alle Leiden anzunehmen, welche der Allmächtige ihr in dieser Verbannung schicken würde; denn ihre Klugheit sah dieselben voraus, ihre Liebe aber umfasste sie. Maria schätzte die Leiden im Licht ihrer himmlischen Weisheit; in diesem Licht sah sie, dass die Leiden vor Gottes Richterstuhl gar viel gelten, und dass ihr heiligster Sohn sie als seinen kostbarsten Schatz und als sein Erbteil betrachtete. Nach dieser erhabenen Übung machte sie sich daran, mit Hilfe der heiligen Engel voll Demut das arme Häuschen zu scheuern, wozu sie aber das nötige Werkzeug entlehnen musste. Unsere heiligen Fremdlinge fanden zwar diese armen Mauern bequem genug zu ihrem Obdach, allein alles andere, auch die Lebensmittel und die notwendigste Einrichtung ging ihnen ab. Da sie zudem an einem bevölkerten Ort waren, blieb auch die wunderbare Mahlzeit aus, welche ihnen in der Wüste von den Engeln bereitet worden war, und Gott wies sie an die gewöhnliche Tafel der Ärmsten, d. h. an das erbetene Almosen. Nachdem die Not so weit gekommen war, dass sie bereits Hunger litten, ging der heilige Joseph aus und bat um Almosen aus Liebe zu Gott. Angesichts eines solchen Beispiels dürfen die Armen nicht mehr über ihre Not klagen, auch nicht sich schämen, derselben auf diesem Weg abzuhelfen, wenn es auf andere Weise nicht möglich ist da ja das Bitten um Almosen sogar angewendet wurde, um dem Herrn aller Geschöpfe das Leben zu erhalten und er sich dabei verpflichten wollte, das Almosen alsbald hundertfältig zu vergelten.

655. Während der ersten drei Tage hatte die Himmelskönigin zu Heliopolis, wie dies auch an anderen Orten Ägyptens der Fall gewesen war, keine andern Lebensmittel für sich und ihr göttliches Kind als die, welche dessen Nährvater als Almosen erhielt, bis er anfing, etwas mit seiner Arbeit zu verdienen. Mittelst seines Verdienstes verfertigte er dann eine Lagerstätte aus Brettern für die heiligste Mutter und eine Wiege für das göttliche Kind, während er selbst die bloße Erde zur Lagerstätte hatte. Eine weitere Einrichtung hatte das Haus nicht, bis der heilige Joseph mit seinem Schweiß einiges zum Leben der drei Personen unentbehrliche Geräte erwerben konnte. Ich will hier nicht mit Stillschweigen übergehen, was mir mitgeteilt wurde; in dieser äußersten Armut und Not erwähnten Maria und Joseph niemals ihres Hauses zu Nazareth, noch ihrer Verwandten und Freunde, noch der Geschenke der Heiligen Drei Könige, welche sie hätten behalten können, anstatt dieselben auszuteilen. Niemals klagten sie über ihre große Not und Verlassenheit. Sie dachten nicht an das Vergangene, sie fürchteten nicht wegen der Zukunft, sondern waren in allem unvergleichlich ruhig und freudig, indem sie sich in ihrer größten Not und Armut der göttlichen Vorsehung überließen. Wie kleinlich sind dagegen unsere ungläubigen Herzen, von welchen Sorgen sind wir bestürmt und gequält. wenn wir in Armut sind oder irgendwie Not leiden! Alsbald klagen wir, dass wir eine Gelegenheit versäumt, dieser Not zu entgehen; dass, wenn wir dieses oder jenes getan hätten, wir nicht in dieser oder jener Bedrängnis wären. Alle diese Bekümmernisse sind töricht, da sie nicht im mindesten helfen. Sicher wäre es gut gewesen, wenn wir unsere Leiden nicht verursacht hätten durch unsere Sünden, durch welche wir uns dieselben oftmals zuziehen; allein gewöhnlich kümmern wir uns nur um den zeitlichen Schaden, der daraus erfolgt ist, nicht aber um die Sünde, durch welche wir denselben verdient haben. Wir sind zu schwerfälligen, törichten Herzens, um das geistige Anliegen unserer Heiligung und unseres Wachstums in der Gnade zu verstehen; dagegen sind wir irdisch gesinnt und verwegen genug, uns den irdischen Anliegen und Sorgen hinzugeben. Das Beispiel der Heiligen Familie in Ägypten gibt dieser unserer niedrigen, irdischen Gesinnung eine strenge Zurechtweisung.

656. So waren also die weiseste Königin und ihr Bräutigam, allein und von allem Zeitlichen entblößt, doch froh in ihrem armen Häuschen. Von den drei Gemächern, welche es hatte, wurde eines als Heiligtum bestimmt für den Aufenthalt des Jesuskindes und seiner reinsten Mutter; dort wurde die Wiege und die Lagerstätte aufgestellt, die aus bloßen Brettern bestand, bis sie einige Tage später durch die Arbeit des heiligen Bräutigams und durch die Güte einiger frommen, der Himmelskönigin geneigten Frauen hinreichenden Stoff erhielten, um sie zu bedecken. Das zweite Zimmer wurde für den heiligen Joseph bestimmt als Schlaf- und Betkammer: das dritte diente ihm als Werkstätte. Da U. L. Frau sah, dass sie in äußerster Armut waren und der heilige Joseph zuviel arbeiten musste, um sie in einem Land, wo sie nicht bekannt waren, zu ernähren, entschloss sie sich, ihm durch die Arbeit ihrer Hände soviel als möglich behilflich zu sein. Dies tat sie auch; denn sie fand Arbeit durch Vermittlung jener frommen Frauen, die, durch ihre Sittsamkeit und Sanftmut angezogen, mit ihr verkehrten, Und weil jede Arbeit, die aus der Hand Mariä kam, höchst vollkommen war, so wurde ihre Kunstfertigkeit bald bekannt und es fehlte ihr niemals an Arbeit, um ihren göttlichen Sohn zu ernähren.

657. Um alles zu verdienen, was für die Nahrung und Kleidung des heiligen Joseph, für die wenn auch nur ärmliche Einrichtung des Hauses und für Bezahlung des Mietzinses erforderlich war, fand unsere Königin für gut, den ganzen Tag hindurch zu arbeiten und während der ganzen Nacht ihren geistlichen Übungen obzuliegen. Sie entschloss sich dazu, nicht als ob sie eine Anhänglichkeit an das Zeitliche gehabt oder während des Tages auch nur einen Augenblick die Beschauung unterlassen hätte; sie war immer in ihr und in der Gegenwart des göttlichen Kindes, wie ich schon früher öfters gesagt habe und in der Folge noch sagen werde. Doch verlegte sie einige Übungen, welche sie sonst bei Tage verrichtet hatte, auf die Nacht, um mehr arbeiten zu können und nicht durch ein Wunder von Gott zu verlangen und zu erwarten, was sie durch Fleiß und Vermehrung der Arbeit erwerben konnte; denn in einem solchen Fall würde man mehr aus Bequemlichkeit als aus Notwendigkeit ein Wunder verlangen. Die weiseste Königin betete wohl zum ewigen Vater, er möge sie in seiner Barmherzigkeit mit dem zum Unterhalt seines göttlichen Sohnes Nötigen versehen; doch zugleich arbeitete sie, und weil sie nicht auf sich selbst und ihren Fleiß vertraute, bat sie arbeitend um das, was der Herr durch dieses Mittel uns anderen Geschöpfen verleiht.

658. Das göttliche Kind hatte großes Wohlgefallen an dieser Klugheit seiner Mutter und an ihrer Ergebung in ihrer äußersten Armut. Zum Lohn für diese mütterliche Treue wollte es ihr die begonnene Arbeit etwas erleichtern. Darum sprach es eines Tages von der Wiege aus zu ihr: «Meine liebe Mutter, ich will die Ordnung deines Lebens und deiner Handarbeit feststellen.» Die göttliche Mutter warf sich auf die Knie und antwortete: «Meine süßeste Liebe, Herr meines ganzen Wesens, ich lobe und preise dich, weil du dich herabgelassen hast zu meinem Wunsch und Verlangen, welches dahin ging, dass dein göttlicher Wille meine Schritte lenken, meine Werke leiten und festsetzen möge, welche Beschäftigung ich in jeder Stunde des Tages zu deinem Wohlgefallen verrichten soll. Da also deine Gottheit Mensch geworden ist und deine Hoheit sich gewürdigt hat, meine Wünsche zu gewähren, so rede, o Licht meiner Augen; denn deine Dienerin hört.» Der Herr sprach darauf: «Meine liebste Mutter, vom Beginn der Nacht an (d. i. von einundzwanzig Uhr an nach unserer Zeitrechnung) sollst du etwas ruhen und schlafen; von Mitternacht an bis zum Morgen wirst du dann mit mir der Beschauung obliegen und den ewigen Vater loben. Dann wirst du für dich und für Joseph die nötige Speise bereiten und darauf mir Nahrung reichen und mich auf deinen Armen tragen bis zur Terz (9 Uhr); um diese Stunde sollst du mich in die Arme deines Bräutigams legen, damit er von seiner Arbeit ausruhe. Du aber wirst dich in deine Kammer zurückziehen, bis es Zeit ist, ihm das Mittagsmahl zu reichen. Nach ihm sollst du wieder an die Arbeit gehen. Da du die Heilige Schrift, deren Lesung sonst dein Trost gewesen ist, nicht hier hast, so wirst du in mir die Lehre des Ewigen Lebens lesen, damit du in allem mir vollkommen nachfolgst. Bete allezeit zu meinem ewigen Vater für die Sünder!»

659. Dies war die Tagesordnung, welche Maria während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in Ägypten befolgte. Täglich reichte sie dreimal dem göttlichen Kind die Brust. Freilich hatte es nur angegeben, wann dies zum ersten Mal geschehen solle; allein damit hatte es nicht verboten, dass es noch zweimal geschehe, wie es auch seit der Geburt der Fall gewesen war. Wenn die göttliche Mutter arbeitete, war sie in Gegenwart des Jesuskindes immer auf den Knien. Ihre wechselseitigen Unterredungen aber bestanden für gewöhnlich darin, dass sie miteinander geheimnisvolle Lobgesänge sprachen, der König des Himmels von seiner Wiege aus, die Königin bei ihrer Arbeit. Wären diese Lobgesänge niedergeschrieben, sie würden zahlreicher sein als alle Psalmen und Lobgesänge der Kirche, ja als alle ihrer Bücher; denn ohne Zweifel hat Gott durch seine Menschheit und durch seine heiligste Mutter auf erhabenere und wunderbarere Weise gesprochen, als er dies durch David, Moses, Maria, Anna und alle Propheten getan hat. Bei dieser Lobgesängen wurde die göttliche Mutter immer wie umgewandelt, mit neuen Liebesflammen zu Gott entzündet und mit heftiger Sehnsucht nach der Vereinigung mit seiner unveränderlichen Wesenheit erfüllt; denn sie allein war der Phönix, welche aus diesem Feuer neugeboren hervorging. Sie allein war der königliche Adler, welcher die Sonne des unaussprechlichen Lichtes mit unverwandtem Auge ansehen konnte, und zwar in eine Nähe, zu der sich kein anderes Geschöpf emporzuschwingen vermochte. Sie entsprach dem Ziel, für welches das göttliche Wort in ihrem jungfräulichen Schoß Fleisch angenommen hatte, nämlich die Menschen zu seinem ewigen Vater zu führen. Sie allein war nicht aufgehalten durch ein Hindernis der Sünder oder deren Folgen, durch Leidenschaften und verkehrten Neigungen. Sie war frei von allem Irdischen und von dem niederdrückenden Einfluss der Natur; darum flog sie ihrem höchster Gute zu, schwang sich zu seiner erhabenen Wohnung empor ohne stille zu stehen, bis sie zu ihrem Mittelpunkt, zur Gottheit gelangt war. Und da sie denjenigen, der die «Wahrheit und der Weg» ist, nämlich das menschgewordene Wort immerdar vor Augen hatte und all ihr Verlangen, all ihre Zuneigung auf die unwandelbare Wesenheit Gottes gerichtet hielt, so eilte sie ihn voll feurigen Eifers entgegen und befand sich mehr am Ziel als auf dem Weg, mehr dort, wo sie liebte, als wo sie lebte.

660. Zuweilen schlief das göttliche Kind in Gegenwart der seligsten Mutter, damit auch jene Worte in Erfüllung gingen, die der Herr durch den Propheten gesprochen hat: «Ich schlafe, aber mein Herz wacht (Hld 5, 2).» Da aber für Maria der heiligste Leib ihres Sohnes einem reinsten, klarsten Kristall glich, durch welchen sie die Geheimnisse und Akte seiner heiligsten, mit der Gottheit vereinigten Seele erblickte, beschaute sie sich in diesem makellosen Spiegel immer und immer wieder. Zu besonderer Freude gereichte es ihr, dass der höhere Teil der heiligsten Seele ihres Sohnes mit ihren heroischen Akten eines Erdenpilgers und zugleich eines Beseligten vor ihrem Blicke entschleiert war, während das göttliche Kind zu gleicher Zeit den Sinnen nach in größter Ruhe und wunderbarer Schönheit schlief; den alles Menschliche war mit der Gottheit persönlich vereinigt. Welch süße Affekte, welch glühende Seufzer, welch heroische Akte die Himmelskönigin bei solchen Gelegenheiten erweckte, könnte unsere Zunge nicht aussprechen, ohne dem Gegenstand Eintrag zu tun. Doch wo die Worte fehlen, mag der Glaube und das Herz tätig sein.

661. Wenn es Zeit war, dem heiligen Joseph zu seinem Trost das Jesuskind zu geben, so sprach die göttliche Mutter zum Kinde: «Mein Sohn und mein Herr, sieh deinen treuen Diener mit der Liebe eines Sohnes und eines Vaters an und erfreue dich an der Reinheit seiner unschuldigen, dir so wohlgefälligen Seele !» Zum heiligen Joseph sagte sie: «Mein Bräutigam, nimm in deine Arme den Herrn, der mit seiner Hand alle Himmelskreise samt der Erde umfasst, denen er allein aus unendlicher Güte das Dasein gegeben hat. Erhole dich von deiner Ermüdung mit ihm, der die Glorie aller Geschöpfe ist.» Der Heilige nahm diese Gnade mit tiefster Demut an und pflegte seine himmlische Braut zu fragen, ob er das Kind etwas liebkosen dürfe. Von der weisen Mutter hierüber beruhigt, tat er es und vergaß über diesem Trost alle Beschwerden der Arbeit, so dass diese ihm leicht, ja ganz süß wurde. Während des Essens hatten Maria und Joseph das göttliche Kind immer bei sich; hatte die Himmelskönigin das Essen gebracht, so nahm sie das Kind wieder auf ihre Arme und aß mit größter Sittsamkeit; ihrer reinsten Seele aber gab sie noch größere und süßere Erquickung als dem Leib, indem sie ihren Sohn als den ewigen Gott verehrte, anbetete und liebte, während sie ihn als Kind auf ihren Armen hielt und mit der Zärtlichkeit einer liebevollen Mutter liebkoste. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, wie aufmerksam und sorgfältig sie diese zwei Pflichten als Geschöpf gegen den Schöpfer erfüllte: wie sie einerseits Jesus stets in seiner Gottheit als den Sohn des ewigen Vaters, als den König der Könige, den Herrn der Herren, den Schöpfer und Erhalter des Weltalls betrachtete, und andererseits ihn in seiner Kindheit als wahren Menschen schaute und eifrigst bemüht war, ihn zu bedienen und zu nähren. Durch diese zwei so weit voneinander abstehenden Beweggründe der Liebe war sie ganz entzündet und entflammt in heldenmütigen Akten der Bewunderung, des Lobpreises und der zärtlichen Liebe. Was die übrigen Handlungen der beiden heiligen Gatten betrifft, so kann ich nur sagen, dass sie alle die Bewunderung der Engel erregten und dass sie durch ihre vollendete Heiligkeit dem Herrn im höchsten Grad wohlgefielen.

LEHRE der heiligsten Himmelskönigin Maria

662. Meine Tochter, da es wahr ist, dass ich mit meinem heiligsten Sohn und meinem Bräutigam nach Ägypten kam, wo wir weder Freunde noch Verwandte hatten, wo eine fremde Religion herrschte und wir ohne Obdach, ohne menschliche Hilfe für Ernährung meines so inniggeliebten Sohnes waren: so kannst du aus all diesem leicht entnehmen, wie groß durch Zulassung des Herrn unser Leiden und unsere Trübsal war. Dagegen kannst du dir keine Vorstellung machen von der Geduld mit welcher wir unser Leiden trugen; und die Engel sogar können den Lohn nicht begreifen, den der Allerhöchste mir gegeben hat für die Liebe und Ergebung, mit welcher ich alles ertrug, und die größer war als bei dem größten Glück. Allerdings schmerzte es mich sehr, meinen Bräutigam in solcher Not zu sehen; doch auch diesen Schmerz litt ich mit Freuden und pries den Herrn dafür. Meine Tochter, ich verlange, dass du diese höchst edle Tugend der Geduld und ruhigen Großherzigkeit nachahmest in den Gelegenheiten, welche der Herr dir geben wird, und dass du dabei mit Klugheit das Innere und Äußere ordnest, dem Handeln und dem Beschauen den gebührenden Anteil anweisest, ohne dass das eine durch das andere verkürzt wird.

663. Sollte deinen Untergebenen der nötige Lebensunterhalt fehlen, so suche ihn auf gebührende Weise zu erwerben. Und solltest du manchmal zu diesem Zweck deine eigene Ruhe opfern, so verlierst du sie deswegen nicht, besonders wenn du die Ermahnung befolgst, welche ich dir oftmals gegeben habe, Gott bei keiner Beschäftigung aus dem Auge zu verlieren; denn mit seinem Licht und seiner Gnade kannst du alle Geschäfte in Ruhe verrichten, wenn du sorgsam bist. Wenn man sich auf gebührende Weise durch menschliche Mittel helfen kann, so soll man keine Wunder erwarten und nicht der Arbeit ausweichen, in der Hoffnung, Gott werde auf übernatürliche Weise zu Hilfe kommen. Die göttliche Majestät hilft durch liebliche, gewöhnliche, passende Mittel. Gerade die Handarbeit ist aber ein geeignetes Mittel dafür, dass der Körper mit der Seele, so gut er kann, dem Herrn diene, Opfer darbringe und Verdienste erwerbe. Auch kann das vernünftige Geschöpf während der Arbeit Gott loben und ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten. Damit du aber dies tust, richte alle deine Handlungen ausdrücklich auf sein Wohlgefallen hin, berate dich darüber mit ihm, wäge sie ab auf der Waagschale des Heiligtums und achte mit aller Aufmerksamkeit auf das göttliche Licht, welches der Allmächtige dir eingießt.

SECHSUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Wunder, welche Jesus, Maria und Joseph zu Heliopolis in Ägypten wirkten

664. Der Prophet Jesaja hat gesagt, der Herr werde «auf einer leichten Wolke nach Ägypten kommen (Jes 19,1 - 2)», um in jenem Reich Wunder zu wirken. Mag man nun unter dieser Wolke die heiligste Jungfrau oder, wie andere wollen, die aus ihr angenommene Menschheit verstehen, gewiss ist, dass der Prophet mit diesem bildlichen Ausdruck sagen wollte, der Herr werde mittelst dieser himmlischen Wolke das unfruchtbare Land, nämlich die Herzen seiner Bewohner; fruchtbar machen, damit sie von dort an Früchte der Heiligkeit und Erkenntnis Gottes brächten, wie dies nach dem Erscheinen jener himmlischen Wolke auch wirklich der Fall war. Denn bald nachher verbreitete sich in Ägypten der Glaube an den wahren Gott, die Abgötterei wurde zerstört und der Weg zum Himmel geöffnet, der Weg, welchen der Satan bis dahin in der Weise versperrt hatte, dass bei Ankunft des göttlichen Kindes kaum jemand in diesem Land den wahren Gott kannte. Allerdings waren einige wenige durch den Verkehr mit den in jenem Land wohnenden Juden zur Erkenntnis Gottes gelangt; allein sie vermischten damit große Irrtümer, Aberglauben, ja Teufelsdienst, wie früher die Babylonier getan hatten, die sich in Samaria niederließen (2 Kön 17, 2 ff). Seitdem aber die Sonne der Gerechtigkeit Ägypten erleuchtete und die von aller Sünde reine Wolke, die heiligste Jungfrau Maria, das Land fruchtbar machte, brachte es viele Jahrhunderte hindurch reichliche Früchte der Heiligkeit und Gnade. Man sah letztere an den Heiligen, welches dieses Land hervorbrachte, und an den so zahlreichen Einsiedlern, welche machten, dass jene Berge den süßesten Honig der christlichen Heiligkeit träufelten (Joel 3,18).

665. Um die Ägypter auf diese Gnade vorzubereiten, ließ sich der Herr, wie ich gesagt habe, zu Heliopolis nieder. Diese Stadt war sehr bevölkert und voll von Götzenbildern, Tempeln und Altären Satans. Da nun diese alle bei der Ankunft unseres Herrn mit großem Getöse und zum großen Schrecken der Nachbarschaft einstürzten, so geriet auf dieses ungeahnte Ereignis hin die ganze Stadt in große Aufregung und Verwirrung. Außer sich vor Bestürzung liefen alle zusammen, und da zugleich manche von der Neugierde getrieben wurden, die eben angekommenen Fremdlinge zu sehen, geschah es, dass viele Männer und Frauen zusammenkamen, um mit unserer großen Königin und dem glorreichen hl. Joseph zu sprechen. Die göttliche Mutter, welche das Geheimnis und den Willen des Allerhöchsten kannte, antwortete allen auf ihre Fragen und redete ihnen auf so kluge und sanfte Weise zu Herzen, dass die Leute über ihre unvergleichliche Anmut staunten, durch ihre erhabenste Lehre erleuchtet und von den Irrtümern, in denen sie befangen waren, befreit wurden. Zugleich heilte Maria unter den Anwesenden einige Kranke, so dass diese Leute auf jede Weise getröstet wurden. Das Gerücht dieser Wunder verbreitete sich schnell, so dass sich in kurzer Zeit eine Menge Volkes bei der «fremden Heiligen» versammelte. Dies veranlasste die weiseste Herrin, ihren heiligsten Sohn zu bitten, er möge ihr Anweisung geben, was sie mit diesen Leuten tun solle. Das göttliche Kind antwortete. sie solle alle in der Wahrheit unterrichten, zur Erkenntnis des wahren Gottes führen und sie belehren, wie man Gott dienen und die Sünde verlassen müsse.

666. Dieses ihr Amt einer Lehrerin der Ägypter übte unsere himmlische Königin als Werkzeug ihres heiligsten Sohnes aus; er war es, der ihren Worten Kraft verlieh. Darum war auch die Frucht, welche ihre Worte in den Seelen hervorbrachten, so groß, dass, wenn man alle ihre Wunder beschreiben und alle Seelen, welche sich während des siebenjährigen Aufenthaltes der Heiligen Familie in jenem Lande zum wahren Glauben bekehrten, aufzählen wollte, viele Bücher zu schreiben wären; das ganze Land wurde geheiligt und mit Segnungen der Süßigkeit (Ps 21, 4) erfüllt. Wenn U. L. Frau die Leute anhörte oder ihnen antwortete, nahm sie jedes Mal das Jesuskind auf ihre Arme; war es ja der Urheber jener Gnadenwirkung, wie überhaupt aller Gnaden, welche den Sündern verliehen wurden. Maria sprach zu den Leuten in der Weise, wie es ein jeder nach seiner Fassungskraft nötig hatte, um die Lehre des Ewigen Lebens aufzufassen und zu verstehen. Sie unterrichtete sie über Gott und sagte ihnen, Gott sei nur einer; und es könne unmöglich mehrere Götter geben. Auch belehrte sie die Leute über alle jene Glaubensartikel und Wahrheiten, welche die Wesenheit Gottes und die Erschaffung der Welt betreffen. Dann sagte sie ihnen, dass derselbe Gott die Welt erlösen und wiederherstellen werde. Sie erklärte ihnen alle im Dekalog enthaltenen Gebote Gottes - diese Gebote sind ja Vorschriften des Naturgesetzes - und belehrte sie über die Art und Weise, wie sie Gott zu ehren und anzubeten und die Erlösung des Menschengeschlechtes zu erwarten hätten.

667. Maria gab ihnen auch zu verstehen, dass es böse Geister gebe, Feinde des wahren Gottes und der Menschen. Sie deckte ihnen die Irrtümer auf, in welchen sie in Bezug auf die Götzenbilder und deren trügerische Antworten befangen waren. Sie zeigte ihnen, wie abscheulich die Sünden seien, zu denen sie von den bösen Geistern verleitet würden; denn diese bösen Geister seien es, welche sie antrieben, die Orakel zu befragen, und welche dann nachher durch böse Einflüsterungen und Erregung ungeordneter Begierden sie heimlich zur Sünde versuchten. Obwohl die Himmelskönigin ganz rein und von jeder Unvollkommenheit frei war, so verschmähte sie es doch nicht, zur Ehre des Allerhöchsten und zum Heil der Seelen diese Leute von den schändlichen Sünden der Unreinigkeit, in welche ganz Ägypten versunken war, abzuschrecken. Sie erklärten ihnen auch, dass der Erlöser, welcher den Satan besiegen und sie von so großen Übeln befreien würde, nach den Verheißungen, die über ihn aufgeschrieben seien, bereits gekommen sei; dass sie ihn aber auf ihren Armen trage, sagte sie nicht. Damit die Leute diese Lehre besser annähmen und für die Wahrheit noch mehr gewonnen würden, bekräftigte U. L. Frau sie durch große Wunder; sie heilte alle Arten von Krankheiten und auch Besessene, die von verschiedenen Seiten kamen. Manchmal ging sie auch in die Spitäler und erwies dort den Kranken wunderbare Wohltaten. Überall tröstete sie die Betrübten, ermutigte die Leidenden und half den Bedrängten. Alle fesselte sie durch sanfte Liebe, ermahnte sie mit milder Strenge und gewann sie durch Wohltaten.

668. Was die Pflege der Kranken und Verwundeten betrifft, so schwankte die Himmelskönigin zwischen zwei Gefühlen, dem der Liebe nämlich, welches sie anzog, die Wunden der Kranken eigenhändig zu pflegen, und dem der Sittsamkeit, um derentwillen sie niemand berühren wollte. Damit beiden die gebührende Rechnung getragen würde, antwortete ihr heiligster Sohn, sie solle die Männer nur durch Worte heilen, während sie sie ermahne; dagegen könne sie die Frauen eigenhändig pflegen, indem sie deren Wunden berühre und reinige. Und so tat sie auch von dieser Zeit an und übte so das Amt einer Mutter und Krankenwärterin aus, bis, wie ich in der Folge noch sagen werde, nach zwei Jahren auch der heilige Joseph anfing, Kranke zu heilen. Die himmlische Königin half besonders den Frauen mit so unvergleichlicher Liebe, dass sie, obwohl die Reinheit selbst und obwohl sehr zart und von Krankheiten und Gebrechen frei, dennoch deren Wunden versorgte, wenn diese auch voll von Geschwüren waren; sie legte eigenhändig die nötigen Tücher und Binden an, und zwar mit solchem Mitleid, als litte sie selbst die Schmerzen einer jeden Kranken. Manchmal bat sie ihr heiligstes Kind um die Erlaubnis, es aus ihren Armen in die Wiege legen zu dürfen, um die Kranken zu pflegen. Sie wandte sich dann an die Armen; aber auch hierbei war der «Herr der Armen», wenn auch auf andere Weise, mit seiner liebevollen und demütigen Mutter. Und o Wunder! Bei all diesen Liebesdiensten schaute die sittsamste Jungfrau niemals in das Gesicht eines Mannes oder einer Frau; selbst wenn die Wunde sich im Gesichte befanden, war ihre Sittsamkeit so groß, das sie trotz des Anschauens der Wunde nachher niemand von Angesicht gekannt hätte, wenn ihr nicht auf andere Weise, nämlich durch ein inneres Licht, alle bekannt gewesen wären.

669. Die Krankheiten waren in Ägypten häufig und gefährlich, sowohl wegen der übergroßen Hitze des Landes, als auch wegen der vielen Ausschweifungen dieses unglücklichen Volkes. Überdies herrschte während des Aufenthaltes des Jesuskindes und seiner heiligsten Mutter einige Male die Pest in Heliopolis und an anderen Orten. Da strömten dann, getrieben durch die Not und angezogen durch den Ruf der Wunder, welche Jesus und Maria wirkten, eine Menge Leute aus dem ganzen Land zu ihnen und kehrten dann gesund an Leib und Seele zurück. Damit aber die Gnade des Herrn sich noch reichlicher über die Einwohner ergieße und die mitleidsvollste Mutter in den Werken der Barmherzigkeit, welche sie als lebendiges Werkzeug ihres göttlichen Sohnes verrichtete. einen Gehilfen habe, ordnete Gott auf ihre Bitte an, dass auch der heilige Joseph das Amt zu lehren und die Kranken zu heilen ausübte. Die heilige Jungfrau erlangte ihm hierfür besondere innere Erleuchtung und besondere Gnaden der Heiligkeit. So begann der heilige Bräutigam im dritten Jahr ihres Aufenthaltes in Ägypten von diesen Gaben des Himmels Gebrauch zu machen; er unterrichtete und heilte gewöhnlich die Männer, die heiligste Jungfrau dagegen die Frauen. Durch diese ununterbrochenen Wohltaten, namentlich durch die wirksame Gnade, welche von den Lippen unserer Königin strömte, brachten sie unglaubliche Früchte hervor, da alle, durch die Bescheidenheit und Heiligkeit Mariä angezogen und gewonnen, ihr von Herzen zugetan waren. Man bot der seligsten Jungfrau oftmals Geschenke an; doch sie nahm niemals etwas für sich selbst an und bewahrte auch nichts, sondern wollte immer mit ihrem heiligen Bräutigam von der Arbeit ihrer Hände leben. Fand sie es manchmal gerecht und schicklich, eine Gabe anzunehmen, so verteilte sie alles unter die Armen und Notleidenden. Nur zu diesem Zweck nahm sie manchmal Gaben frommer Personen zu deren Troste an, und in solchen Fällen schenkte sie oftmals den Gebern zum Dank eine von ihr verfertigte Arbeit. Aus dem Gesagten kann man schließen, wie viele und große Wunder Jesus, Maria und Joseph während der sieben Jahre in Ägypten gewirkt haben; denn alle im besondern aufzuzählen und zu beschreiben, ist unmöglich. (Dass der göttliche Heiland so viele und große Wunder in Ägypten gewirkt hat wie sie von der ehrwürdigen Verfasserin beschrieben werden ist nicht zu verwundern. Er wollte, wie der hl. Chrysostomus [Homil 8 in Mt] sagt, auf eine seiner würdige Weise die Aufnahme vergelten. welche ihm Ägypten während seiner Verbannung gewährte. Die heiligen Väter und ältesten Kirchenschriftsteller werden nicht müde, die Menge und Größe dieser Wunder zu rühmen. Man vergleiche außer dem bisher angeführten Zitate auch Origenes [Homil in divers.]. Die oben angeführten Krankenheilungen, welche die gütigste Mutter gewirkt hat veranschaulichen recht lebhaft nicht nur die mütterliche Liebe Mariä, sondern auch die Gabe der Krankenheilung [gratia sanitatum], die ihr in so hohem Grad verliehen war, dass sie von der heiligen Kirche als das «Heil der Kranken» im vollsten Sinne des Wortes bezeichnet wird. Es ist für ein gläubiges Herz höchst erfreulich zu vernehmen, wie Maria dieses Vorrecht welches sie in unseren Tagen zu Lourdes in so wunderbarer und großartiger Weise offenbart. schon in Ägypten zu offenbaren begann. Der Herausgeber).

LEHRE, welche mir die heiligste Himmelskönigin Maria gab

670. Meine Tochter, du bist von Staunen ergriffen über die Werke der Barmherzigkeit, welche ich in Ägypten an so vielen armen Kranken geübt habe, die ich pflegte, um ihnen die Gesundheit des Leibes und der Seele zu verschaffen. Wie sich diese Verrichtung mit meiner Sittsamkeit und Liebe zur Zurückgezogenheit vertragen hat, wirst du verstehen, wenn du auf die unermessliche Liebe hinsiehst, mit welcher mein heiligster Sohn nach seiner Geburt jenem Land Hilfe bringen und in dessen Bewohnern die ersten Funken des Liebesfeuers entzünden wollte, welches in seinem Herzen für das Heil der Menschen glühte. Diese Liebe teilte er mir mit und machte mich zum Werkzeug seiner Liebe und Macht; sonst hätte ich aus mir selbst mich nicht zu so vielen Werken erkühnt, da ich immer geneigt war, zu schweigen und mit niemanden zu verkehren. Aber der Wille meines Sohnes und Herrn war in allem die Richtschnur meines Verhaltens. Von dir, meine Freundin, verlange ich, dass du nach meinem Beispiel am Wohl und am Heil deines Nächsten arbeitest, und zwar soviel möglich mit der Vollkommenheit und in der Weise, wie ich dies getan habe. Du hast die Gelegenheiten hierfür nicht zu suchen, der Herr wird sie dir senden; nur wenn ein wichtiger Grund es nötig erscheinen lässt, wirst du selbst dich dazu anbieten. In allen Gelegenheiten aber gib dir Mühe, erleuchte und belehre mit Hilfe des dir verliehenen Lichtes so viele du nur kannst, nicht als hättest du das Amt einer Lehrerin, sondern wie jemand, der trösten will und Mitleid hat mit seinen leidenden Brüdern und der von ihnen Geduld lernen will, so dass große Demut und kluge Zurückhaltung mit der Übung der Liebe Hand in Hand gehen.

671. Deine Untergebenen sollst du ermahnen, zurechtweisen und zu dem anleiten, was das Vollkommenste und Gottgefälligste ist; denn nächst der Vollkommenheit, welche du selbst zu üben hast, ist das Wichtigste, was du für den Herrn tun kannst, dies, dass du nach deinen Kräften und mit Hilfe der dir verliehenen Gnade auch andere hierzu anleitest und ermunterst. Für diejenigen, mit welchen du nicht sprechen kannst, bete beständig, auf dass sie zum Heil gelangen; so kannst du die Liebe auf alle ausdehnen. Und weil du auswärtige Kranke nicht pflegen kannst, so ersetze dies an den Kranken deines Hauses, indem du selbst ihnen Dienste leistest, ihnen Freude machst und für die Reinlichkeit sorgst. Du sollst dich aber hierbei nicht wegen deines Amtes als Oberin der Kranken betrachten; denn für sie bist du die Mutter und sollst dies durch mütterliche Sorge und Liebe für alle zeigen. Im übrigen hast du dich immer als die geringste anzusehen. Die Welt verwendet gewöhnlich die Ärmsten und Verachtesten zur Pflege der Kranken, da sie in ihrer Unwissenheit die Erhabenheit dieses Dienstes nicht kennt; da du arm und die geringste bist, so gebe auch ich dir das Amt der Krankenwärterin, damit du mir in ihrer Ausübung nachfolgst.

SIEBENUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Tod der unschuldigen Kinder. Mitleiden Mariä

Herodes beschließt den Mord der unschuldigen Kinder. Die heiligste Jungfrau erhält hiervon Kenntnis. Der hl. Johannes wird verborgen und vor dem Tod bewahrt ===

672. Lassen wir jetzt das Jesuskind mit seiner heiligsten Mutter und dem heiligen Joseph in Ägypten, beschäftigt, dieses Land durch ihre Gegenwart und ihre Wohltaten zu heiligen, ein Glück, welches Judäa nicht verdiente; und kehren wir zu Herodes zurück, um zu sehen, wohin ihn seine teuflische Arglist und Heuchelei geführt hat. Der ungerechte König wartete auf die Rückkehr der Weisen und ihren Bericht, dass sie den neugeborenen König der Juden gefunden und angebetet hätten; dann hätte der Unmensch ihnen das Leben genommen. Doch er sah sich getäuscht, da er erfuhr, dass die Weisen zu Bethlehem bei Maria und Joseph gewesen, aber einen anderen Weg genommen und bereits außerhalb der Grenzen Palästinas seien; denn von allen diesen Ereignissen und von einzelnen Begebenheiten, die im Tempel geschehen waren, hatte er Kunde erhalten. Er hatte nämlich, gerade durch seine Arglist missleitet, einige Tage gewartet, bis ihm das lange Ausbleiben der morgenländischen Könige befremdend erschien und sein besorgter Stolz ihn bewog, sich nach ihnen zu erkundigen. Er fragte nun nochmals einige Gesetzesgelehrten; und da sie in ihren Aussagen, die sie nach der Heiligen Schrift und dem wirklichen Tatbestand machten, miteinander übereinstimmten, so gab er Befehl, unsere Königin mit ihrem süßesten Kind und dem glorreichen heiligen Joseph aufs sorgfältigste zu suchen. Allein der Herr, welcher dem heiligen Joseph befohlen hatte, in der Nacht Jerusalem zu verlassen, hatte dafür gesorgt, dass ihre Abreise verborgen blieb, damit niemand von ihr wisse und keine Spur von ihrer Flucht entdeckt werde. So konnten also weder die Diener des Herodes noch jemand anderer sie entdecken, und darum brachten sie ihm die Antwort, ein solcher Mann, eine solche Frau und ein solches Kind seien in der ganzen Gegend nicht zu finden.

673. Auf diese Nachricht entbrannte Herodes in Wut (Mt 2, 16); er fand keinen Augenblick mehr Ruhe und wusste keine Mittel und Wege, um dem Unglück, das er von dem neuen König befürchtete, zu entgehen. Der Satan aber, welcher wohl wusste, dass Herodes zu jeder Missetat bereit sei, flüsterte ihm mit aller Macht unheilvolle Pläne ein, wodurch Herodes wieder getröstet wurde; er schlug ihm vor, von seiner königlichen Macht Gebrauch zu machen und alle Knäblein dieser Gegend, die nicht über zwei Jahre alt seien, zu ermorden; unter diesen werde unfehlbar auch der während dieser Zeit geborene König der Juden sein. Der tyrannische König hatte an diesem Gedanken, der noch keinem andern Barbaren eingefallen war, große Freude und willigte in denselben ein, ohne den Schrecken und Abscheu zu empfinden, welchen eine solche Bluttat in jedem vernünftigen Menschen erregen konnte. Nachdem er überlegt, wie er zur Befriedigung seiner Wut diesen Plan ausführen könne, ließ er Soldaten versammeln unter dem Befehl einiger Männer, denen er besonders Vertrauen schenkte. Diesen befahl er unter schweren Strafen, alle Kinder, die nicht mehr als zwei Jahre alt seien, in Bethlehem und der Umgegend zu ermorden. Der Befehl wurde ausgeführt und darum war die ganze Gegend voll Bestürzung, Klagen und Tränen der Väter, der Mütter und Verwandten dieser unschuldigen Kinder, die zum Tod verurteilt worden waren, ohne dass jemand widerstehen oder helfen konnte.

674. Dieser gottlose Befehl des Herodes wurde sechs Monate nach der Geburt unseres Erlösers gegeben. Am Tage, da man mit dessen Ausführung begann, hatte unsere Königin ihr göttliches Kind auf den Armen. In seine Seele blickend, sah sie darin wie in einem klaren Spiegel alles, was zu Bethlehem vorging, und zwar deutlicher, als wenn sie bei dem Klagegeschrei der Kinder und ihrer Eltern gegenwärtig gewesen wäre. Die Himmelskönigin sah auch, wie ihr heiligster Sohn für die Eltern der unschuldigen Kinder zum himmlischen Vater betete, ihm diese letzteren als die Erstlingsfrüchte seines Todes aufopferte und den himmlischen Vater bat, ihnen, da sie seinetwegen geopfert wurden, den Gebrauch der Vernunft zu verleihen, damit sie ihr Leben freiwillig aufopferten, den Tod zur Ehre Gottes annähmen und so durch ihr Leiden die Krone der Märtyrer verdienten. Der ewige Vater gewährte alle diese Bitten. Unsere Königin schaute alles in ihrem göttlichen Sohn und schloss sich seiner Aufopferung und seinen Bitten an. Sie nahm auch teil an dem Schmerz, dem Mitleiden und den Tränen der Eltern über den Tod ihrer Söhne; ja, sie war in Wahrheit und vor allen anderen die «Rache (Jer 31,15)», welche die Kinder Bethlehems beweinte, die ja auch die ihrigen waren. Keine andere Mutter wusste sie so wie sie zu beweinen; denn keine wusste in solcher Weise Mutter zu sein, wie unsere Königin es war.

675. U. L. Frau wusste damals noch nicht, was die heilige Elisabeth auf die Weisung, welche sie ihr bei der Abreise nach Ägypten durch einen Engel hatte zukommen lassen, zur Rettung ihres Kindes Johannes getan hatte (oben Hauptstück 22, Nr. 623). Maria zweifelte zwar nicht, dass sich an Johannes alle Geheimnisse erfüllen würden, weiche sie im göttlichen Lichte über sein Amt als Vorläufer erkannt hatte; aber sie wusste doch nicht, welche Sorge und Mühe die Grausamkeit des Herodes der heiligen Matrone Elisabeth und ihrem Sohn verursacht hatte und durch welches Mittel sie seiner Wut entgangen seien. Die süßeste Mutter wagte nicht, ihren heiligsten Sohn hierüber zu fragen, wegen der Ehrfurcht und Klugheit, welche sie betreffs solcher Offenbarungen ihm gegenüber beobachtete; sie schwieg also in Demut und Geduld. Unser Herr aber entsprach ihrem mitleidsvollen Verlangen und teilte ihr mit, Zacharias, der Vater des heiligen Johannes, sei vier Monate nach der Geburt Jesu. also ungefähr drei Monate nach der Flucht nach Ägypten, gestorben; die heilige Elisabeth, jetzt Witwe, habe keine andere Gesellschaft als die ihres kleinen Johannes und lebe mit ihm zurückgezogen an einem abgelegenen Ort; denn auf die Mahnung des Engels und die Wahrnehmung hin, dass Herodes seinen grausamen Plan auszuführen beginne, habe sie sich entschlossen, mit ihrem Sohn in die Wüste zu fliehen, und unter den wilden Tieren zu leben, um der Verfolgung des Herodes zu entgehen; sie habe diesen Entschluss auf Antrieb und mit Billigung des Allerhöchsten gefasst und halte sich in einer Höhle verborgen, wo sie mit großer Mühe und Beschwerde ihr und des kleinen Johannes Leben friste.

676. Die Himmelskönigin ward auch inne, dass die hl. Elisabeth nach drei Jahren dieses einsamen Lebens im Herrn sterben werde; Johannes aber werde in der Wüste bleiben (Antra deserti teneris sub annis, civium turmas fugiens petisti ! Offic. eccl. Man vergleiche Suarez, de Inc. I disp. 24. s. 3. Der Herausgeber). ein engelgleiches Leben führen und die Wüste nicht verlassen, bis er von Gott Befehl erhalte, als Vorläufer des Herrn Buße zu predigen. Alle diese Geheimnisse offenbarte das Jesuskind seiner heiligsten Mutter. Es zeigte ihr auch, welch große, verborgene Gnaden die heilige Elisabeth und ihr Sohn in der Wüste empfangen würden. Maria sah dies auf dieselbe Weise, wie sie den Tod der unschuldigen Kinder geschaut hatte. Dabei wurde ihr Herz von Freude und Mitleid durchdrungen: von Freude, da sie nun wusste, dass der kleine Johannes und seine Mutter gerettet seien; von Mitleid, wegen der Beschwerden, die sie in der Einsamkeit zu leiden hatten. Maria bat sogleich ihren heiligsten Sohn um Erlaubnis, von da an die Sorge für ihre Base Elisabeth und für den kleinen Johannes übernehmen zu dürfen. Sie sendete ihnen dann mit Erlaubnis unseres Herrn oftmals Engel, um ihnen zu dienen und auch einige Lebensmittel zu bringen, welche den größten Teil ihres Unterhaltes in jener Wüste ausmachten. So unterhielt die seligste Jungfrau von Ägypten aus mittelst der heiligen Engel einen beständigen, doch verborgenen Verkehr mit ihnen. Und als für die heilige Elisabeth die Stunde des Todes kam, sandte Maria ihr eine große Zahl von Engeln, welche ihr beistehen und zugleich ihres Sohnes Johannes, welcher damals vier Jahre zählte, sich annehmen sollten. Johannes beerdigte darauf seine verstorbene Mutter mit Hilfe der Engel in der Wüste. Von da an sandte die Himmelskönigin dem heiligen Johannes täglich die Speise, bis er alt genug war, um sich selbst mit Kräutern, Wurzeln und Waldhonig seine Nahrung zu verschaffen. Diese bildeten bei seiner wunderbaren Enthaltsamkeit seine ganze Nahrung; doch hiervon wird später die Rede sein.

677. Keine erschaffene Zunge kann aussprechen, kein Verstand begreifen, welche Fortschritte an Verdiensten, an Heiligkeit und Gnade die seligste Jungfrau Maria bei all diese Wunderwerken gemacht hat. Aus allem wusste sie mit mehr als englischer Klugheit Nutzen zu ziehen. Während sie mit ihrem göttlichen Sohn zum ewigen Vater für die unschuldigen Kinde betete, wurde sie von Bewunderung und Rührung ergriffen und zum Lob Gottes bewogen, da sie sah, wie freigebig die göttliche Vorsehung gegen diese Kinder war. Sie sah nämlich, wie wenn sie gegenwärtig gewesen wäre, die überaus große Zahl der Kinder, welche starben; sie sah, wie sie alle den Vernunftgebrauch erhielten, obwohl die größten nicht älter waren als zwei Jahre, andere nur acht Tage. zwei Monate, andere sechs Monate usw. Sie sah, wie diesen Kindern eine hohe Erkenntnis Gottes und eine vollkommene Liebe nebst dem Glauben und der Hoffnung eingegossen wurde, kraft deren sie heroische Akte des Glaubens, der Anbetung, der Liebe zu Gott, sowie des Mitleids für ihre Eltern erweckten. Sie beteten für diese, Gott möge ihnen zum Lohn für ihren Schmerz Licht und Gnade verleihen, um die ewigen Güter zu erlangen. Den Märtyrertod nahmen sie freiwillig an, und da ihnen die natürliche Zartheit ihres kindlichen Alters blieb, war ihr Leiden schmerzlicher, aber auch verdienstlicher. Die Engel standen ihnen in großer Zahl bei und trugen sie in die Vorhölle oder den Schoß Abrahams; dort erfreuten sie durch ihre Ankunft die heiligen Altväter, indem sie ihre Hoffnung auf baldige Erlösung bestärkten. Dies alles war die Frucht der Gebete des göttlichen Kindes und seiner Mutter. Maria entbrannte beim Anblick solcher Wunder in heißester Liebe und sprach: «Laudate pueri Dominum - Lobet, ihr Kinder; den Herrn (Ps 113,1) !» Sie, die Königin der Himmel, lobpries im Verein mit den Kindern den Urheber dieser Wunderwerke, welche der Güte und Allmacht Gottes würdig waren. Die reinste Jungfrau allein verstand und verehrte diese Wunder mit der gebührenden Weisheit und Hochachtung; aber sie erkannte auch allein ohne gleichen den Gipfelpunkt der Demut und besaß sie in ihrer ganzen Vollkommenheit, wiewohl sie Gott so nahe stand. Obgleich sie nämlich die Mutter der Reinheit, Unschuld und Heiligkeit war, verdemütigte sie sich dennoch tiefer, als je ein Mensch in seiner Sündhaftigkeit sich verdemütigen konnte. Nur Maria erreichte diesen Höhepunkt der Demut, dass sie sich aufs tiefste verdemütigte, wiewohl sie größere Gnaden und Gaben erlangt hatte als alle anderen Geschöpfe zusammen. Sie allein erkannte aber auch auf gebührende Weise, dass ein Geschöpf die Wohltaten des Herrn nicht mit dem entsprechenden Dank erwidern kann, und noch viel weniger seine unendliche Liebe, von welcher jene Wohltaten ausströmen. Darum verdemütigte sich die Himmelskönigin bei dieser Erkenntnis und nach ihr bemaß sie ihre Liebe, ihre Dankbarkeit, ihre Demut. Allem gab sie die höchste Vollkommenheit, soweit sie als bloßes Geschöpf fähig war, Gott würdig zu danken, einzig durch die Erkenntnis, dass dies für niemand auf anderem Weg (d. h. ohne Demut) möglich sei.

678. Zum Schluss dieses Hauptstückes möchte ich bemerken, dass mir die große Meinungsverschiedenheit, welche in Bezug auf manche der hier beschriebenen Ereignisse unter den heiligen Vätern und Schriftstellern herrscht, gar wohl bekannt ist. Es gibt z. B. verschiedene Ansichten in Betreff der Zeit, zu welcher Herodes seinen grausamen Plan an den unschuldigen Kindern ausführte; ferner wird gezweifelt, ob auch die neugeborenen Knäblein ermordet worden seien oder bloß die, welche schon einige Tage alt waren und das zweite Jahr noch nicht überschritten hatten. Und so gibt es noch mehrere Zweifel. Ich will mich jedoch nicht dabei aufhalten, sie auseinanderzusetzen; denn es ist dies für meinen Zweck nicht nötig und ich schreibe nur, was mir mitgeteilt und diktiert wird, oder was mir der Gehorsam manchmal auferlegt zu fragen, damit mehr Zusammenhang in diese Geschichte komme. Zudem geziemte es sich nicht, in diese Schrift Streitfragen einzuführen; denn von Anfang ist mir, wie ich seinerzeit bemerkt habe, vom Herrn die Weisung zugekommen, ich solle dieses ganze Werk schreiben ohne Rücksicht auf Meinungen. einzig nach der Wahrheit, welche das göttliche Licht mich lehren werde. Das Urteil, ob das, was ich schreibe, mit der Heiligen Schrift, sowie mit der Majestät und Größe des behandelten Gegenstandes übereinstimmt, und ob die Dinge unter sich selbst im rechten Zusammenhang stehen, dies überlasse ich der Weisheit meiner Obern, sowie dem Urteile gelehrter und frommer Männer. Die Meinungsverschiedenheit ist bei den Schriftstellern gewissermaßen unvermeidlich, da die einen diesem, die anderen jenem Autor folgen und die jüngeren an denjenigen unter den älteren sich halten, der ihnen mehr entspricht; doch die einen wie die anderen stützen sich - ich rede hier nicht von den kanonischen Büchern auf Vermutungen oder zweifelhafte Autoren. Ich aber konnte beim Schreiben nicht diese Methode befolgen, da ich eine unwissende Frau bin.

LEHRE der heiligsten Himmelskönigin Maria

679. Meine Tochter, als Lehre dieses Hauptstückes möge dir dienen einerseits der Schmerz, mit dem du es geschrieben, und anderseits die Erfahrung, die du durch fremden Schaden hierbei gemacht hast. Der Schmerz soll dir zur Lehre sein; ich meine den Schmerz, den du empfindest in Anbetracht, dass ein edles Geschöpf, das von Gottes Hand nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen und mit erhabenen, ja himmlischen Fähigkeiten ausgerüstet ist, mit der Fähigkeit nämlich. Gott zu erkennen, zu lieben, ewig zu schauen und zu genießen, dass ein solches Geschöpf diese hohe Würde vollständig vergisst und sich zu so tierischen und schrecklichen Plänen verleiten und erniedrigen lässt, dass es das Blut unschuldiger Kinder vergießt, welche niemand ein Leid zufügen konnten. Dieses Mitleid muss dich bewegen, den Untergang so vieler Seelen zu beweinen, welche namentlich in dem gegenwärtigen Jahrhunderte verloren gehen, in diesem Jahrhundert, in welchem der nämliche Ehrgeiz. der den Herodes beseelte, grausamen Hass und schreckliche Feindschaft unter den Kindern der Kirche angestiftet hat und den Verlust zahlloser Seelen herbeiführt. Das Blut meines heiligsten Sohnes, das für ihre Erlösung vergossen wurde, geht an ihnen verloren. Weine bitterlich über ein solches Verderben.

680. Lerne aber auch aus dem Beispiel anderer und erwäge, was eine blinde Leidenschaft vermag, wenn man ihrem Verlangen nachgibt; denn wenn sie das Herz ganz einnimmt, so entflammt sie sie entweder mit dem Feuer der Begierlichkeit, wenn sie ihr Verlangen erreicht, oder mit dem Feuer des Zornes, wenn sie nicht dazu gelangen kann. Meine Tochter, fürchte diese Gefahr, nicht nur angesichts der Untaten, welche des Herodes Ehrgeiz angestiftet, sondern auch angesichts dessen, was du stündlich an anderen wahrnimmst. Gib acht, dass du dein Herz an nichts, so klein es auch scheinen mag, hängst; denn das kleinste Fünkchen genügt, den größten Brand anzufachen. Diese Lehre bezüglich der Abtötung deiner Neigungen, habe ich dir schon oft gegeben und werde sie noch öfter wiederholen, weil die größte Schwierigkeit für die Tugend darin besteht, allem Sinnlichen und Vergnüglichen abzusterben und weil du in der Hand des Herrn kein Werkzeug nach seinem Wunsche sein kannst, wenn du nicht sogar jede Vorstellung von einem Geschöpf aus deinem Geist verbannst, damit sie keinen Zutritt zu deinem Willen finde. Darum muss es ein unverletzliches Gesetz für dich sein, alles, was außer Gott und seinen Engeln und Heiligen existiert, so zu betrachten, als bestünde es nicht. Dies muss dein Geschäft sein; zu diesem Zweck offenbart dir der Herr seine Geheimnisse und ladet dich zu seinem vertrauten und innigen Verkehr ein; zu demselben Zweck lade auch ich dich hierzu ein. So sollst du nur mit Gott leben und leben wollen.

ACHTUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Das Jesuskind beginnt zu reden. Maria bereitet ihm die Kleider

Das Jesuskind fängt im Alter von einem Jahre an mit dem hl. Joseph zu reden. Maria denkt daran ihm Schuhe zu machen und es allein gehen zu lassen. Sie feiert zum ersten Mal den Jahrestag der Menschwerdung und der Geburt unseres Herrn.

681. Eines Tages, da Maria und Joseph über die Geheimnisse des Herrn sprachen und das Jesuskind das erste Jahr zurückgelegt hatte, geschah es, dass das göttliche Kind sein Stillschweigen brach und mit lauter Stimme und deutlichen Worten den hl. Joseph, der ihm die Dienste eines besorgten Vaters leistete, anredete, wie es mit der göttlichen Mutter schon seit der Geburt geredet hatte (s. oben Hauptstück 10). Die heiligsten Gatten sprachen eben über die unendliche Vollkommenheit Gottes und insbesondere über seine unermessliche Liebe, die ihn bewogen, seinen eingebornen Sohn als Lehrer und Erlöser der Menschen vom Himmel zu senden und ihm Menschengestalt zu geben, damit er in dieser mit den Menschen verkehre und die Leiden auf sich nehme, welche die verdorbene Natur verdient hatte. Bei dieser Erwägung ward der hl. Joseph von höchstem Staunen über die Werke des Herrn und von feurigen Gefühlen des Lobes und Dankes für dessen Liebe ergriffen. Da sprach das Jesuskind auf den Armen seiner Mutter, als auf seinem ersten Lehrstuhl, mit lauter Stimme zum hl. Joseph: «Mein Vater, ich bin vom Himmel gekommen, um das Licht der Welt zu sein und sie von der Finsternis der Sünde zu erlösen; um als guter Hirte meine Schafe zu suchen und zu kennen, ihnen die Weide des ewigen Lebens zu geben, den Weg zu dazu zu lehren und die Pforten, die durch ihre Sünden verschlossen waren, zu öffnen. Ich will, dass ihr beide Kinder des Lichtes seid, da ihr das Kind so nahe bei euch habt.»

682. Diese Worte des Jesukindes, voll des Lebens und göttlicher Kraft, gossen neue Liebe, Ehrfurcht und Freude in das Herz des hl. Joseph. In tiefster Demut kniete er zu den Füßen des göttlichen Kindes nieder und dankte ihm, dass das erste Wort, welches er von seinen Lippen vernommen, der Name «Vater» war. Er bat es unter vielen Tränen, dass sein göttliches Licht ihn erleuchte, ihn zur vollkommenen Erfüllung seines Willens führe und ihn lehre, dankbar zu sein für die unaussprechlichen Wohltaten, welche er von seiner freigebigen Hand erhalten. Die Eltern, welche große Liebe für ihre Kinder hegen, sind hocherfreut, ja stolz, wenn sie einige Anzeichen entdecken, dass ihre Kinder sich durch Weisheit oder Tugend auszeichnen werden; und wenn dies auch nicht der Fall ist, so geben sie mit Freuden auf die Kindereien acht, welche sie sagen oder tun. Dies alles bewirkt die natürliche Zuneigung zu den Kleinen. Der heilige Joseph war nun freilich nicht der leibliche Vater des göttlichen Kindes, sondern nur sein Nährvater; allein seine Liebe zu ihm übertraf dennoch ohne Maß alle Liebe, welche je ein leiblicher Vater für seine Kinder gehegt hat; denn in ihm war die Gnade und selbst die Natur mächtiger als in anderen Vätern, ja als in allen Vätern zusammen. Nach dieser Liebe aber und nach seiner Hochschätzung für das Glück, der Nährvater des Jesuskindes zu sein, muss man die Freude seiner reinsten Seele bemessen, da er sich Vater des Sohnes Gottes, des Sohnes des ewigen Vaters nennen hörte und zugleich sah, dass das göttliche Kind so schön, so voll der Gnade war und schon das erste Mal mit so erhabener Weisheit zu ihm redete.

683. Die liebevollste Mutter hatte das göttliche Kind während des ganzen ersten Jahres in Windeln eingewickelt gehabt, wie man dies bei anderen Kindern zu tun pflegt. Der Sohn Gottes wollte sich nämlich hierin von keinem anderen Kind unterscheiden, teils zum Beweis seiner wahren Menschheit, teils zum Zeugnis seiner Liebe zu den Sterblichen; denn für sie litt er diese Beschwerde, von der er sich hätte befreien können. Da nun die weiseste Mutter dachte, die geeignete Zeit sei gekommen, ihr göttliches Kind aus den Windeln zu nehmen und ihm, wie man sich auszudrücken pflegt, Schuhe zu geben, kniete sie sich, während es in der Wiege lag, vor ihm nieder und sprach: «Mein Sohn. süßeste Liebe meiner Seele, mein Herr, als deine Dienerin verlange ich, in allem nach deinem Wohlgefallen zu handeln. Schon lange bist du, o Licht meiner Augen, in die Windeln eingebunden gewesen und hast dadurch die Gewalt deiner Liebe zu den Menschen geoffenbart. Es ist jetzt Zeit, die Bekleidung zu wechseln. Sage mir, mein Herr, was soll ich tun, um dich auf die Füßchen zu stellen.»

684. «Meine Mutter», antwortete das göttliche Kind. «aus Liebe zu den Seelen die ich erschaffen habe und die zu erlösen ich gekommen bin, sind mir die Bande meiner Kindheit nicht beschwerlich gefallen. In meinem Vollalter soll ich ja gefangen genommen, gebunden und meinen Feinden ausgeliefert werden, und zwar zum Tod für sie. Ist der Gedanke hieran für mich süß wegen des Wohlgefallens meines ewigen Vaters, so wird mir alles übrige leicht sein. Was die Kleidung betrifft, so werde ich in dieser Welt nur ein Kleid tragen. Ich will von der Welt nur soviel, als ich zu meiner Bedeckung bedarf. Zwar gehört alles Erschaffene mir, da ich ihm das Dasein gegeben habe; allein ich habe es den Menschen überlassen, damit sie mir um so mehr zu verdanken haben und damit sie von mir lernen, nach meinem Beispiel und aus Liebe zu mir alles für das zeitliche Leben Überflüssige abzutun und zu verachten. Meine Mutter, zur Bekleidung gib mir einen langen Rock von einfacher, gewöhnlicher Farbe. Diesen allein werde ich tragen. denn er wird mit mir wachsen; dies wird auch der Rock sein, über welchen bei meinem Tod das Los geworfen wird. Selbst über diesen soll nicht ich, sondern sollen andere verfügen, damit die Menschen sehen, dass ich leben will, wie ich geboren wurde, nämlich in Armut und Entblößung von allen sichtbaren Dingen. Diese sind irdisch, weswegen sie das menschliche Herz niederdrücken und verfinstern. Schon im Augenblick meiner Empfängnis in deinem jungfräulichen Schoß habe ich auf alles, was die Welt enthält, verzichtet, obwohl wegen der Vereinigung meiner menschlichen Natur mit der göttlichen Person alles mein Eigentum ist. Ich wollte mit den sichtbaren Dingen nichts anderes zu tun haben, als dass ich sie alle meinem ewigen Vater aufopferte. Aus Liebe zu ihm habe ich auf alles verzichtet und nur dasjenige angenommen, was zur Erhaltung des natürlichen Lebens notwendig ist, um dann auch dieses für die Menschen hinzugeben. Durch dieses Beispiel, will ich die Menschen lehren und mahnen, dass sie die Armut lieben, nicht aber verachten; denn wenn ich, der Herr aller Dinge, allem entsage und alles verschmähe, wird es für diejenigen, die an mich glauben, eine Schande sein, das, was ich zu verachten gelehrt habe, so heftig zu begehren.»

685. Diese Worte des göttlichen Kindes brachten in seiner heiligsten Mutter verschiedene, wunderbare Wirkungen hervor. Die Erinnerung an den Tod und die Bande ihres heiligsten Sohnes durchbohrte ihr unschuldiges, mitleidsvolles Herz; das Beispiel seiner äußersten Armut und Entäußerung aber erfüllte sie mit Bewunderung und spornte sie zur Nachahmung an. Die unermessliche Liebe ihres Kindes zu den Menschen entflammte sie mit Eifer, im Namen aller Menschen dem Herrn für diese Liebe zu danken. In solchen Anmutungen erweckte sie heldenmütige Akte zahlreicher Tugenden. Da sie vernahm, das Jesuskind wolle nur einen Rock und keine Fußbekleidung, so sagte sie zu ihm: «Mein Sohn und Herr, deine Mutter hat nicht das Herz, dich in so zartem Alter mit blossen Füßen den Boden betreten zu lassen; lass sie doch irgendwie bekleiden. Auch weiß ich, dass das raue Kleid, welches du von mir begehrst und unter welchem du kein Linnen tragen willst, in deinem kindlichen Alter deinen zarten Leib gar sehr verletzen wird.» Darauf antwortete das Jesuskind: «Meine Mutter, ich nehme eine arme Fußbekleidung an, bis für mich die Zeit zum Predigen gekommen sein wird; denn dieses muss ich barfuss tun. Dagegen werde ich kein Linnen tragen; es verzärtelt das Fleisch und ist Ursache mancher Sünden; durch mein Beispiel aber will ich viele lehren, aus Liebe zu mir und zu meiner Nachfolge darauf zu verzichten.»

686. Die Himmelskönigin kam alsbald mit größter Sorgfalt dem Willen ihres heiligsten Sohnes nach; sie verschaffte sich natürlich Wolle, spann sie eigenhändig sehr fein, ohne sie zu färben, und wob davon ein Röckchen von einem Stück, ohne Naht, ähnlich dem Gestrickten, und noch ähnlicher dem dreifädigem Leinengewebe. Es war nicht glatt, wie Tuch, sondern schnurförmig; sie verfertigte es auf einem kleinen Webstuhl, wie man die Maschenarbeiten macht; und es ist geheimnisvoll, dass dies Röckchen ungenäht und von einem Stück war. Zwei Dinge waren an diesem wunderbar: einmal. dass es ganz gleich war, ohne jede Runzel; zweitens, dass es auf die Bitte und nach dem Willen U. L. Frau seine natürliche Wollfarbe in eine andere veränderte, welche zwischen dem Braun und Grau vollkommen in der Mitte war und keiner anderen Farbe glich; denn sie war weder ganz braun, noch ganz silberfarben, noch ganz grau, sondern hatte von allen diesen Farben etwas. Die seligste Jungfrau verfertigte für das göttliche Kind auch Schuhe von starkem Garn, grob wie aus Hanf geflochten. Außerdem machte sie noch ein Halbröckchen von Leinen, welches dem Jesuskind der Sittsamkeit wegen als Unterkleid dienen sollte. Ich werde im folgenden Hauptstück erzählen, was bei der Bekleidung des göttlichen Kindes geschah.

687. Als der Jahrestag der Menschwerdung und der Geburt unseres Herrn wiederkehrte, feierte die Himmelskönigin diese für sie so festlichen Tage, und diese Gewohnheit, die sie mit dem ersten Jahre angefangen, bewahrte sie ihr ganzes Leben lang (Die Bollandisten sagen vom Feste Mariä Verkündigung: «Festum hoc solemne in tanta antiquitate eminet, ut liceat pie meditan: originem ejus debere adscribi gratissimo affectui Deiparce Virginis, quae singulari veneratione ac devotissimo cultu quotannis recolere solita fuerit divinum beneficium hoc die sibi et toti generi humano praestitum.» [Ad 25. Mart] Der Herausgeber).; es wird dies im dritten Teile bezüglich der übrigen, noch folgenden Geheimnisse ihres Lebens gesagt werden (Teil 3, Nr. 642 ff). Vor dem Tag der Menschwerdung hielt sie eine Novene mit erhabenen Übungen, entsprechend den neun Tagen, während welcher sie Gott mit den wunderbarsten Gnaden auf jenes Geheimnis vorbereitet hatte, wie wir im Beginn dieses zweiten Teiles gesehen haben. Am Tag der Menschwerdung oder der Verkündigung selbst lud sie ihre Schutzengel und alle heiligen Engel des Himmels ein, ihr diese erhabenen Geheimnisse feiern und dem Herrn würdig dafür danken zu helfen. Auch an das Jesuskind stellte sie, in Kreuzesform auf die Erde niedergeworfen, die Bitte, es möge in ihrem Namen den ewigen Vater für alle Gnaden lobpreisen, die er ihr und dem Menschengeschlecht erwiesen, indem er seinen eingeborenen Sohn dahingab. Ebenso tat sie am Jahrestag der Geburt unseres Herrn. Sie wurde an diesen Tagen von Gott mit außergewöhnlichen Gnaden beschenkt, weil sie beständig das dankbare Andenken an diese erhabenen Geheimnisse erneuerte. Sie hatte erkannt, dass dem ewigen Vater das Schmerzensopfer wohlgefiel, welches sie, in Kreuzesform auf die Erde hingeworfen, zum Andenken daran darbrachte, dass ihr göttliches Lamm einst ans Kreuz genagelt werden sollte; darum verrichtete sie diese Übung an allen Festtagen und flehte dabei zu Gott, dass er seine Gerechtigkeit besänftigen und den Sündern Barmherzigkeit erweisen möge. Dann erhob sie sich, von Liebesfeuer entbrannt, und beschloss die Feier dieser Feste mit wunderbaren Lobliedern. Sie sang diese abwechselnd mit den heiligen Engeln, welche einen Chor bildeten und ihren Vers mit himmlisch lieblicher Musik sangen; die Antwort der Himmelskönigin aber war für die Ohren des Herrn noch lieblicher und angenehmer, als alle Chöre der Seraphim und Seligen zusammen; denn das Echo ihrer erhabensten Tugenden klang hinauf bis zur Wohnung der allerheiligsten Dreifaltigkeit und zum Thron der Majestät des ewigen Gottes.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin gab

688. Meine Tochter, es ist dir und allen Geschöpfen zusammen unmöglich, vollkommen zu begreifen, wie groß der Geist der Armut gewesen ist, den mein heiligster Sohn besaß und den er auch mich gelehrt hat. Doch kannst du aus dem, was ich dir geoffenbart habe, einerseits die Erhabenheit dieser Tugend, welche ihrem Urheber und Lehrmeister so lieb war und anderseits den Abscheu, den er vor dem Laster der Habsucht gehabt hat, wenigstens zum großen Teil erkennen. Freilich konnte der Schöpfer die Dinge nicht hassen, die er ins Dasein gerufen hatte; aber er sah in seiner unendlichen Weisheit das unaussprechliche Verderben welches die ungeordnete Gier nach irdischen Gütern unter den Menschen anrichten würde; er sah, wie diese unsinnige Liebe zum Zeitlichen den größten Teil des Menschengeschlechtes in das Verderben stürzen werde. Und eben deshalb, weil er sah, dass eine so große Menge Sünder und Verworfene durch das Laster des Geizes und der Habgier verloren gehen würden, war sein Hass gegen diese Laster so unaussprechlich groß.

689. Um diesem Verderben vorzubeugen und ein Gegenmittel zu bieten, hat mein göttlicher Sohn die Armut erwählt und dieselbe nicht nur durch Worte, sondern auch durch das Beispiel seiner wunderbaren Entäußerung gelehrt. Wenn die Menschen von diesem Heilmittel keinen Gebrauch machen, so ist die Sache des Arztes, welcher das Heilmittel bereitet hat, gerechtfertigt. Die nämliche Lehre habe auch ich mein ganzes Leben hindurch ausgesprochen und ausgeübt; durch sie haben die heiligen Apostel die Kirche gepflanzt; dasselbe haben die Ordensstifter und überhaupt alle Heiligen, welche die Kirche verbessert und ihre Stütze gebildet haben, gelehrt und getan. Sie alle haben die Armut als einziges und wirksames Mittel der Heiligkeit geliebt; die Reichtümer dagegen haben sie gehasst als die Quelle aller Übel und die Wurzel der Laster. Ich will, dass auch du diese Armut liebst und mit aller Sorgfalt suchst; denn sie ist der Schmuck der Bräute meines süßesten Sohnes, und ich versichere dich, Teuerste, dass er sie ohne diesen Schmuck nicht als Bräute anerkennt, sondern sie verstößt als solche, die ihm gar sehr ungleich sind. Eine reiche Braut, welche an allen unnötigen Bequemlichkeiten Überfluss hat, passt keineswegs zu einem ganz armen und von allem entblößten Bräutigam. Bei solcher Ungleichheit kann von gegenseitiger Liebe keine Rede sein.

690. Wenn du nach Maßgabe deiner Kräfte als echte Tochter mir vollkommen nachfolgen willst, wie du es schuldig bist, so ist es klar, dass ich, die ich arm war, dich nicht als Tochter anerkennen werde, wenn du nicht auch arm bist; ich werde an dir nicht lieben, was ich für meine eigene Person verabscheut habe. Auch ermahne ich dich, die Wohltaten des Herrn, die du in so reichem Maß empfängst, ja nicht zu vergessen; denn wenn du auf die Dankbarkeit nicht sehr bedacht bist, wird die schwerfällige Natur dich leicht und wie von selbst zu dieser roen Vergessenheit hinziehen. Darum erneuere jeden Tag öfters das Andenken an jene Wohltaten und danke dem Herrn jedesmal mit einem Herzen voll Liebe und Demut. Vor allen Wohltaten sind aber namentlich diese denkwürdig, dass er dich gerufen und erwartet, dass er deine Fehler langmütig ertragen, als sehe er sie nicht, und dass er dir außerdem wiederholt zahlreiche Gnaden verliehen hat. Das Andenken an diese Wohltaten wird in deinem Herzen eine zarte und kräftige Liebe unterhalten, so dass du mit Umsicht und Eifer wirken wirst; der Herr aber wird dich dann mit neuen Gnaden belohnen, weil ihm ein treuer und dankbares Herz überaus wohlgefällig ist, wie es ihm umgekehrt im höchsten Grad missfällt, wenn seine Gnaden und Wohltaten keine Hochschätzung und dankende Anerkennung finden; denn wie er seine Gaben mit der Fülle seiner Liebe spendet, so will er auch, dass wir dieselben durch emsige, hochherzige und liebevolle Dankbarkeit erwidern.

NEUNUNDZWANZIGSTES HAUPTSTÜCK: Kleidung Jesu. Gebete für das Menschengeschlecht

Die heiligste Mutter zieht dem Jesuskind den ungenähten Rock und die Schuhe an. Handlungen und Übungen welche unser Herr dabei verrichtet hat.

691. Bevor die weiseste Mutter Maria ihr göttliches Kind mit dem Rock, dem Unterkleid und den Sandalen, die sie eigenhändig verfertigt hatte, bekleidete, warf sie sich vor ihm auf die Knie nieder und sprach: «Höchster Herr, Schöpfer Himmels und der Erde, wenn es möglich gewesen wäre, so hätte ich dich gerne so bekleidet, wie es der Würde deiner göttlichen Person geziemt. Auch wäre es mein Verlangen gewesen, dir diese Kleidung aus meinem Herzblut bereiten zu können; doch ich glaube, dass sie dir wohlgefallen wird, weil sie arm und einfach ist. Verzeihe mir, mein Herr und Gott, das Mangelhafte daran. Nimm das Verlangen eines unnützen Geschöpfes, das nur Staub und Asche ist, an und erlaube mir, dass ich dich bekleide.» Das Jesuskind nahm diesen Dienst seiner reinsten Mutter wohlgefällig an. Maria aber bekleidete es sofort mit dem Rock und den Schuhen und stellte es auf die Füße. Das Röckchen hatte ganz das rechte Maß, es bedeckte seine Füßchen. ohne die Erde zu berühren, und die Ärmel reichten bis zur Mitte der Hand, obwohl U. L. Frau nichts angemessen hatte. Der Kragen war rund, vorne geschlossen, etwas hoch und wie dem Hals angepasst; darum zog die göttliche Mutter den Rock über den Kopf des Kindes an, ohne den Kragen zu öffnen; denn das Kleid passte sich gefügig nach ihrem Willen an. Unser Herr legte diesen Rock niemals ab, bis die Henkersknechte ihn entblößten, zuerst um ihn zu geißeln, dann um ihn zu kreuzigen; denn er wuchs immer im gleichen Verhältnis mit seinem heiligsten Leib. (Dass die seligste Jungfrau selbst dieses Kleid verfertigt hat ähnlich wie Anna das Gewand des kleinen Samuel (1 Sam 2,19), ist eine alte Tradition. Dass jenes Kleid mit dem göttlichen Kind gewachsen ist wird man leichter annehmen, wenn man bedenkt was Gott an den Israeliten in der Wüste getan: «Vestimentum tuum, quo operiebaris, nequaquam vetustate defecit et pes tuus non est subtritus, en quadragesimus annus est.» [Dtn 8, 4]. Daraus schließen die Exegeten, dass die Kleider der Kinder mit diesen wuchsen: «Hinc rursum videntur vestes hae cum parvulis crevisse.» [Corn. a Lap.] Der hl Justinus sagt: «Juniorum quoque [vestimenta] una cum ipsis creverunt» [Dialog. cum Tryph.] Der Herausgeber). Dasselbe gilt auch von den Sandalen und dem Unterkleid, welche die aufmerksame Mutter ihm anzog. Während zweiunddreißig Jahren wurde nichts daran verdorben oder abgenützt; der Rock verlor auch die Farbe und Frische nicht, womit er aus den Händen der Himmelskönigin gekommen war; noch viel weniger wurde er schmutzig, sondern er blieb immer in demselben Zustand. Jenes Kleid, welches der Erlöser der Welt ablegte, als er den Aposteln die Füße waschen wollte, war ein Mantel den er über den Schultern trug; derselbe war gleichfalls von der heiligsten Jungfrau verfertigt worden, als sie nach Nazareth zurückgekehrt waren; auch er wuchs wie der Rock, war auf dieselbe Weise gewoben und von der nämlichen Farbe, nur ein wenig dunkler.

692. Das Jesuskind, der Herr der Ewigkeit. seit seiner Geburt in Windeln gewickelt und gewöhnlich auf den Armen seiner heiligsten Mutter getragen, stand also jetzt auf den Füßen und erschien als der «Schönste unter den Menschenkindern (Ps 45, 3)». Die Engel waren voll von Verwunderung, dass derjenige, welcher die Himmel mit Licht und die Felder mit Schönheit bekleidet, eine so arme, geringe Kleidung gewählt hatte. Das göttliche Kind konnte sogleich vollkommen auf seinen Füßen gehen; allein es tat dies nur in Gegenwart seiner Eltern; den Auswärtigen blieb dies Wunder noch eine Zeit lang verborgen, indem die Himmelskönigin das Kind auf die Arme nahm, wenn Fremde kamen oder wenn sie das Haus verließ. Unbeschreiblich groß war die Freude, welche Maria und Joseph empfanden, als sie sahen, wie ihr Kind gehen konnte und wie es so wunderbar schön war.

Bis zum Alter von anderthalb Jahren nahm das göttliche Kind seine Nahrung an der Brust seiner reinsten Mutter, von da an aber nicht mehr. Es genoss fortan gewöhnliche Nahrung, jedoch immer nur wenige und geringe. Dieselbe bestand anfangs aus Suppe in Öl, nebst Früchten oder Fischen. So lange das Kind im Wachsen begriffen war, gab ihm die jungfräuliche Mutter wie bisher dreimal täglich zu essen, nämlich am Morgen, am Nachmittag und bei Anbruch der Nacht. Niemals begehrte das göttliche Kind Speise; doch die liebevolle Mutter war immer bedacht, ihm sie rechtzeitig zu reichen, bis es groß geworden war und dann zur nämlichen Stunde aß, wie seine Eltern, und nicht öfters. So blieb es, bis Jesus das volle Mannesalter erreicht hatte; wie er es dann gehalten hat, wird seinerzeit gesagt werden. Wenn das göttliche Kind mit seinen Eltern zu Tische saß, warteten diese immer, bis es am Anfang der Mahlzeit den Segen gab und an derem Ende das Dankgebet sprach.

693. Nachdem das Jesuskind zu gehen begonnen hatte, zog es sich manchmal in die Betkammer seiner Mutter zurück und blieb dort einige Zeit allein. Die weiseste Königin wünschte den Willen ihres heiligsten Sohnes in diesem Stück zu kennen, ob er nämlich allein bleiben oder sie bei sich haben wolle. Während Maria hierüber nachdachte, gab ihr der Herr zur Antwort: «Liebe Mutter, du darfst immer mit mir eintreten und bei mir bleiben, damit du mir nachfolgst und, soweit es in deinen Kräften steht, meine Werke nachahmst; denn es ist meine Wille, dass die hohe Vollkommenheit, in welcher ich die Seelen zu sehen wünschte, in dir verwirklicht und ausgeprägt werde. Hätten die Menschen dem Wunsche, den ich von Anfang an gehabt habe, sie mit Heiligkeit und Gnade zu erfüllen, nicht widerstanden, so würden sie dieselbe in reichster Fülle und im Überfluss erhalten haben. Da aber das Menschengeschlecht dieses verhindert hat, so will ich, dass sich all mein Wohlgefallen in dir allein erfülle und dass in deiner Seele alle jene Gnadenschätze niedergelegt werden, welche die übrigen Menschen verscherzt und verloren haben. Achte darum auf meine Werke, um mir in ihnen nachzufolgen.»

694. Auf diese Weisung hin wurde die Himmelskönigin aufs neue die Schülerin ihres heiligsten Sohnes. Von da an fanden so große und tiefe Geheimnisse zwischen beiden statt, dass es unmöglich ist, sie auszusprechen; erst am Tag der Ewigkeit werden sie bekannt werden. Das göttliche Kind warf sich oftmals zur Erde nieder; zu anderen Malen streckte es, vom Boden in die Luft erhoben, die Arme kreuzweise aus, indem es immer zum ewigen Vater für das Heil der Sterblichen betete. Seine liebevollste Mutter aber ahmte ihn in allem nach; denn die inneren Akte der heiligsten Seele ihres liebsten Sohnes waren ihr gerade so sichtbar, wie seine äußerlichen, körperlichen Handlungen. Von diesem Schauen der reinsten Jungfrau habe ich in dieser Geschichte schon öfters gesprochen und ich muss auch in der Folge noch oftmals daran erinnern; denn dieses Schauen war für sie das Licht und Vorbild nach welchem sie die Heiligkeit Jesu in sich abbildete. Dies war für die göttliche Mutter eine so ganz einzige Gnade, dass alle Geschöpfe zusammen sie weder zu fassen noch auszusprechen vermögen. Die Himmelskönigin genoss nicht immer die Vision der Gottheit, wohl aber hatte sie allezeit die Anschauung der Menschheit und der heiligsten Seele ihres Sohnes und all ihrer Akte; insbesondere schaute sie die Wirkungen, welche die hypostatische und beseligende Vereinigung in derselben hervorbrachte. Zwar sah sie die Glorie und die Vereinigung nicht immer dem Wesen nach, aber sie sah die inneren Akte, durch welche die Menschheit die mit ihr vereinigte Gottheit verherrlichte und liebte, und dies war ausschließlich das Vorrecht der jungfräulichen Mutter.

695. Bei den genannten Übungen kam es auch öfters vor, dass das Jesuskind vor den Augen seiner heiligsten Mutter weinte und Blut schwitzte: denn letzteres war schon vor dem blutigen Angstschweiß im Ölgarten oftmals der Fall gewesen.(Alles, was den blutigen Schweiß am Ölberg veranlasste, war dem göttlichen Kind schon in diesem Alter bekannt und die Erwägung dessen, namentlich des Undankes und des Verderbens so vieler Seelen, konnte auch die nämliche Wirkung hervorbringen. Der Herausgeber). Die seligste Jungfrau trocknete ihm dann das Angesicht ab; in seinem Innern aber schaute sie die Ursache dieser Betrübnis und diese war keine andere als der Untergang derjenigen, welche, undankbar für die Wohltaten ihres Schöpfers und Erlösers, die Werke seiner unendlichen Macht und Güte an sich vereiteln. Zu anderen Malen sah die glückseligste Mutter, wie ihr Sohn im hellsten Glanze strahlte; sie hörte, wie die Engel ihm süße Loblieder sangen und schaute, wie der ewige Vater an ihm, seinem einzigen, geliebten Sohn, sein Wohlgefallen hatte. Diese Wunder nahmen ihren Anfang, als das göttliche Kind ein Jahr alt war und zu gehen begann. Seine heiligste Mutter war allein Zeugin; ihrem Herzen mussten die Wunder anvertraut werden, da sie die Einzig-Erwählte ihres Sohnes und Schöpfers war. Die Akte der Liebe, des Lobes, der Ehrfurcht und Dankbarkeit, in welchen sie sich ihrem göttlichen Sohn anschloss, die Gebete, die sie für das Menschengeschlecht verrichtete, alles dieses übersteigt meine Fassungskraft, und ich weiß nicht auszudrücken, was ich davon verstehe; ich überlasse es daher dem christlichen Glauben und der christlichen Frömmigkeit.

696. Das Jesuskind wuchs heran, zur Bewunderung und Freude aller, die es kannten. Als es das sechste Jahr erreicht hatte, fing es an, zuweilen sein Haus zu verlassen, um die armen Kranken in den Spitälern zu besuchen und sie auf wunderbare, geheimnisvolle Weise in ihren Leiden zu trösten und zu ermutigen. Viele Bewohner von Heliopolis kannten das göttliche Kind; denn durch die Macht seiner Gottheit und seiner Heiligkeit zog es aller Herzen an sich. Manche boten ihm Geschenke an, die es, je nach den Gründen, welche es in seiner Weisheit erkannte, entweder ausschlug oder annahm und an die Armen austeilte. Seine höchst weisen Reden und seine überaus sittsame und würdevolle Haltung erregten solche Bewunderung, dass viele die Eltern beglückwünschten und selig priesen, einen solchen Sohn zu haben. Dabei kannte freilich die Welt die Geheimnisse und die Würde des Sohnes und der Mutter noch nicht; allein der Herr der Welt, welcher seine heiligste Mutter zu ehren begehrt, wollte, dass man sie in ihm und seinetwegen verehre, soweit dies damals möglich war, wo die Menschen den besonderen Grund, um dessentwillen ihr weit größere Ehre gebührte, noch nicht kannten.

697. Wie es bei Kindern, die in gleichem Alter und in gleichen äußeren Verhältnissen stehen, zu geschehen pflegt, dass sie nämlich häufig beieinander sind, so geschah es auch hier; es versammelte sich um das Jesuskind eine große Anzahl Kinder aus Heliopolis. Da sie noch nicht Verstand genug hatten, um zu erforschen und sich ein Urteil darüber zu bilden, ob das Jesuskind mehr als ein gewöhnlicher Mensch sei und da sie anderseits auch nicht so viele Bosheit hatten, um dem Licht zu widerstehen, so teilte der Lehrmeister der Wahrheit allen diesen Kindern soviel Licht mit, als ein jedes bedurfte. Das Jesuskind lehrte sie den wahren Gott kennen, unterrichtete sie über die Tugenden und gab ihnen Lehren und Weisungen über den Weg zum Ewigen Leben, und zwar in noch reichlicherer Fülle als selbst den Erwachsenen. Und da seine Worte lebendig und wirksam waren, so zog das göttliche Kind diese Kleinen an, rührte sie und prägte seine Worte so tief in ihre Herzen ein, dass alle, welche dieses Glückes teilhaftig wurden, später große Männer und Heilige geworden sind; denn der so frühzeitig in ihre Seelen gestreute himmlische Same brachte mit der Zeit seine Frucht.

698. Die göttliche Mutter wusste um alle diese Wunderwerke. Wenn ihr heiligster Sohn den Willen seines ewigen Vaters betreffs der ihm anbefohlenen Schäflein vollbracht hatte und wieder allein mit ihr war, warf sich die Königin der Engel auf die Erde nieder, um ihm zu danken für die Wohltaten, welche er den unschuldigen Kleinen, die ihn doch nicht als ihren wahren Gott erkannten, erwiesen hatte; sie küsste ihm als dem Hohenpriester des Himmels und der Erde die Füße. Dasselbe tat sie, wenn er ausging; er aber richtete sie dann mit kindlichem Wohlgefallen und Freundlichkeit vom Boden auf. Die göttliche Mutter erbat sich auch seinen Segen für alles, was sie tat, und ließ niemals eine Gelegenheit vorbeigehen, ohne alle Tugendakte mit höchstem Eifer zu üben. Niemals ließ sie eine Gnade unbenützt; immer wirkte sie mit der ganzen Fülle derselben mit, so dass die ihr verliehene Gnade immer mehr zunahm. Die große Königin suchte auch verschiedene Mittel und Wege, um sich zu verdemütigen; sie betete das menschgewordene Wort an, indem sie bald die tiefsten Kniebeugungen vor ihm machte, bald voll Inbrunst der Liebe sich vor ihm auf ihr Angesicht warf, bald andere Akte der Ehrfurcht, voll Heiligkeit und Weisheit verrichtete. Und alles dieses geschah mit solcher Weisheit, dass selbst die Engel die ihr zur Seite standen, mit Verwunderung erfüllt wurden. Indem sie chorweise das Lob Gottes verkündeten, sprachen sie zueinander: «Wer ist diese reine Kreatur, von Lust überfließend (Hld 8, 5) für unseren Schöpfer und ihren Sohn? Wer ist sie, die mit solchem Fleiß und solcher Weisheit den Allerhöchsten ehrt, dass sie an Eifer, an Bereitwilligkeit und an Liebe uns alle unvergleichlich übertrifft?»

699. In dem Maß, als das wunderbare, holdselige Kind heranwuchs, beobachtete es auch im Verkehr mit seinen EItern größeren Ernst als früher. Die zärtlicheren Liebkosungen, die übrigens, wie gesagt wurde, immer maßvoll waren, unterblieben; denn in seiner Miene zeigte sich die verborgene Gottheit in solcher Majestät, dass, wenn es dieselbe nicht durch sanfte Freundlichkeit gemildert hätte, die Eltern oft aus Ehrfurcht nicht gewagt hätten, mit ihm zu sprechen. Allein bei seinem Anblick empfanden Maria und Joseph mächtige, himmlische Gnadenwirkungen, durch welche sie nicht bloß die Kraft und Stärke der Gottheit, sondern zugleich auch die Güte eines höchst liebevollen Vaters kundgab. Denn bei all der Majestät und Würde, welche der Jesusknabe an den Tag legte, zeigte er sich doch auch zugleich als Kind der göttlichen Mutter und behandelte den hl. Joseph als den, welcher dem Namen und Amt nach sein Vater war; er gehorchte ihnen, wie der demütigste Sohn seinen Eltern. Alle diese verschiedenen Pflichten und Arten des Verhaltens; die würdevolle Haltung wie den Gehorsam, die Majestät wie die Demut, den göttlichen Ernst wie die menschliche Freundlichkeit ordnete das menschgewordene Wort mit unendlicher Weisheit und gab jedem, was ihm gebührte, so dass Größe und Erniedrigung einander keinen Eintrag taten. Die Himmelskönigin aber war voll Aufmerksamkeit auf diese Geheimnisse; sie allein durchschaute, soweit es einem bloßen Geschöpf möglich ist, auf tiefe und würdige Weise die Werke ihres heiligsten Sohnes, sowie die Ordnung, welche seine unendliche Weisheit dabei einhielt. Mit Worten beschreiben wollen, welche Wirkungen all dies in ihrer reinsten und weisesten Seele hervorbrachte und wie sie, ihren heiligsten Sohn nachahmend, sich zum lebendigen Abbild seiner unaussprechlichen Heiligkeit machte, dies hieße Unmögliches versuchen. Ebenso sind unzählbar die Seelen, welche in Heliopolis und in ganz Ägypten bekehrt und gerettet, die Kranken, welche geheilt, die Wunder, welche von Jesus, Maria und Joseph während ihres siebenjährigen Aufenthaltes gewirkt wurden. Eine solche glücksbringende Schuld war die Grausamkeit des Herodes für Ägypten! Ja, so groß ist die Kraft der unendlichen Güte und Weisheit, dass sie selbst das Böse und die Sünden zu großen Gütern lenkt und solche daraus zieht. Stößt man sie auf einer Seite zurück und verschließt man ihren Erbarmungen die Türe, so ruft sie an anderen Orten und bewirkt, dass man sie einlässt; denn Gottes Verlangen, dem Menschengeschlecht gnädig zu sein und seine glühende Liebe können selbst durch die vielen Wasser unserer Sünden und Undankbarkeiten nicht ausgelöscht werden (Hld 8, 7).

LEHRE, welche mir Maria, die heiligste Himmelskönigin gab

700. Meine Tochter, von der Zeit an, da du das erste Mal den Auftrag erhieltest, diese Geschichte meines Lebens zu beschreiben, hast du auch schon erkannt, dass, um von anderem zu schweigen, der Herr hierbei auch die Absicht gehabt hat, der Welt zu erkennen zu geben, was die Menschen seiner und meiner Liebe, welche sie so wenig beachten, ja ganz vergessen, schuldig sind. Freilich ist alles darin eingeschlossen und ausgedrückt, dass er uns geliebt hat bis zum Tod am Kreuz; dies ist die äußerste Grenze, bis zu welcher die Wirkungen seiner unermesslichen Liebe gehen konnten. Allein es gibt viele Undankbare, welchen das Andenken an diese Wohltat Ekel einflößt. Für diese nun wie überhaupt für alle würde es ein neuer Antrieb und Sporn sein, wenn sie wenigstens dasjenige einigermaßen erkennten, was der Sohn Gottes während der dreiunddreißig Jahre seines Lebens für sie getan hat; jedes seiner Werke hat ja einen unendlichen Wert, und ein jedes verdient eine Dankbarkeit von ewiger Dauer. Der Allmächtige hat mich von allem Zeuge sein lassen und ich versichere dich, liebste Tochter, vom ersten Augenblick seiner Empfängnis in meinem Schoß an, hat er nie aufgehört, für das Heil der Menschen zu seinem Vater zu rufen und zu flehen. In jenem Augenblick schon hat er angefangen. das Kreuz zu umarmen, nicht bloß mit dem Verlangen seines Herzens, sondern soviel möglich schon in der Tat, indem er als Kind die Haltung eines Gekreuzigten annahm und diese Übungen sein ganzes Leben hindurch fortsetzte. Und hierin habe ich ihn nachgeahmt, indem ich mich an seine Werke und seine Gebete für die Menschen anschloss und zwar von dem ersten Akt an, mit welchem er für die seiner heiligsten Menschheit verliehenen Wohltaten dankte.

701. Die Sterblichen mögen nun sehen, ob ich, die ich Zeugin und Mitwirkerin ihrer Erlösung gewesen bin, nicht auch am Tag des Gerichtes Zeugnis geben werde, wie sehr Gottes Sache ihnen gegenüber gerechtfertigt ist; sie mögen erwägen, ob es nicht im höchsten Grad gerecht ist, dass ich alsdann meine Fürsprache denjenigen verweigere, welche törichterweise so viele und mehr als hinreichende Gnaden und Wohltaten verachtet und vergessen haben, welche meine und meines heiligsten Sohnes Liebe ihnen geschenkt hat ! Welche Antwort, welche Ausflucht, welche Entschuldigung werden sie alsdann vorbringen, da sie so gut unterrichtet, ermahnt und von der Wahrheit erleuchtet sind ? Wie können solche Undankbare und Hartnäckige Barmherzigkeit erwarten von einem höchst gerechten Gott, der ihnen bestimmte und gelegene Zeit gegeben und während ihrer sie eingeladen, gerufen, erwartet und mit unermesslichen Wohltaten beschenkt hat, was alles sie aber verscherzt und verloren haben, um der Eitelkeit nachzugehen? Fürchte, meine Tochter, fürchte diese größte aller Gefahren und Verblendungen ! Erneuere oftmals in dir das Andenken an die Werke meines allerheiligsten Sohnes, sowie an die meinigen und ahme sie mit allem Eifer nach. Setze die Kreuzesübungen mit Erlaubnis der Obern fort, damit du dabei vor Augen habest, was du nachahmen und wofür du danken sollst. Wisse aber auch, dass mein Sohn und Herr, ohne soviel zu leiden, die Welt hätte erlösen können; er wollte jedoch aus unermesslicher Liebe zu den Seelen seine Schmerzen erhöhen und steigern. Der einer solchen Güte gebührende Dank soll darin bestehen, dass das Geschöpf sich nicht begnügt, für Gott nur weniges zu tun, wie es die Menschen in ihrer unseligen Blindheit gewöhnlich machen. Füge du eine Tugendübung, eine Mühe an die andere, damit du deiner Pflicht nachkommest und meinem Herrn und mir Gesellschaft leistest in den Leiden, die wir auf Erden erduldet. Opfere alles für die Seelen auf und vereinige es vor dem Angesicht des ewigen Vaters mit den Verdiensten des Erlösers.

DREISSIGSTES HAUPTSTÜCK: Jesus. Maria und Joseph kehren auf Befehl des Herrn nach Nazareth zurück

702. Das Jesuskind hatte sein siebentes Jahr in Ägypten zurückgelegt. (Dass der Aufenthalt der heiligen Familie in Ägypten sieben Jahre dauerte, ist nicht nur die gewöhnliche Annahme der Theologen, wie z. B. des hl. Anseim von Canterbury, des hl. Thomas von Aquin, Johannes Bonaventura, Anton von Padua und anderen, sondern auch die allgemeine Überlieferung des christlichen Volkes. Der Herausgeber). Die von der ewigen Weisheit festgesetzte Zeit jener geheimnisvollen Verbannung war damit abgelaufen und der Jesusknabe musste nun nach Nazareth zurückkehren, damit die Prophezeiungen erfüllt würden (Hos 11,1). Der ewige Vater teilte eines Tages diesen Willen der Menschheit seines heiligsten Sohnes in Gegenwart der göttlichen Mutter mit, während beide ihren Übungen oblagen. Maria schaute diesen Willensbeschluss des ewigen Vaters in der heiligsten, mit der Gottheit vereinigten Seele Jesu und sah, wie ihr göttlicher Sohn diesen Befehl des ewigen Vaters entgegennahm, um ihn auszuführen. Die große Herrin unterwarf sich gleichfalls dem göttlichen Willen, obwohl sie in Ägypten bereits mehr bekannte und aufrichtig ergebene Personen hatte als zu Nazareth. Weder der Sohn noch die Mutter offenbarten diesen neuen Befehl des Himmels dem hl. Joseph. Aber in der folgenden Nacht sprach der Engel des Herrn im Traum zu ihm, wie der heilige Matthäus (Mt 2,19) berichtet, und gab ihm die Weisung, das Kind und die Mutter zu nehmen und in das Land Israel zurückzukehren, da Herodes und diejenigen, welche mit ihm dem göttlichen Kind nach dem Leben gestrebt, gestorben seien. So sehr liebt Gott die gute Ordnung in allen erschaffenen Dingen; obwohl das Jesuskind wahrer Gott war und seine Mutter den hl. Joseph an Heiligkeit hoch überragte, wollte Gott doch nicht, dass die Reise nach Galiläa von seinem heiligsten Sohn oder dessen heiligster Mutter angeordnet werde, sondern er übergab dies dem hl. Joseph, welcher der heiligen Familie als Haupt vorstand. Durch dieses Beispiel wollte der Herr allen Menschen vor Augen stellen, was ihm wohlgefällt, dass nämlich alles durch die natürliche, von seiner Vorsehung bestimmte Ordnung geleitet werde, und dass am geheimnisvollen Leib der heiligen Kirche die Untergebenen denen gehorchen müssen, welche das Amt des Oberen bekleiden, wenn sie auch diese durch andere Eigenschaften und durch Tugend übertreffen sollten.

703. Der hl. Joseph teilte dem Jesuskind und dessen reinster Mutter den Befehl des Herrn alsbald mit. Beide antworteten, der Wille des himmlischen Vaters solle geschehen. Sie beschlossen also, ohne Verzug abzureisen und verteilten die wenigen Gerätschaften ihres Hauses an die Armen. Dies geschah durch die Hand des göttlichen Knaben. Maria gab nämlich das Almosen, welches sie den Armen zu geben hatte, gewöhnlich dem Jesukind, da sie wusste, dass es als Gott der Barmherzigkeit mit eigenen Händen Barmherzigkeit ausüben wolle. Wenn die heiligste Mutter ihm diese Almosen gab, kniete sie nieder und sagte: «Mein Sohn und Herr, nimm, was du begehrst, um es an die Armen, die ja unsere Freunde und deine Brüder sind. zu verteilen.» In das glückliche Haus, welches von Jesus, dem Hohenpriester selbst, durch seinen siebenjährigen Aufenthalt zum Tempel geweiht und geheiligt worden war, zogen einige der frömmsten Personen von Heliopolis ein; ihre hohe Tugend hatte ihnen ein Glück verdient, das sie selbst nicht kannten; doch erachteten sie sich nach allem, was sie gesehen und erfahren hatten, für sehr glücklich, da zu wohnen, wo die frommen Fremdlinge sich so lange aufgehalten hatten. Sie wurden auch für diese fromme Gesinnung mit reichem Licht und reichlichen Gnaden belohnt um zur ewigen Seligkeit zu gelangen.

704. Die heilige Familie machte ihre Rückreise von Heliopolis nach Palästina in Begleitung derselben Engel, mit welchen sie die erste Reise gemacht hatte. Die Himmelskönigin saß auf einem Eselein, das göttliche Kind auf ihrem Schoß; der hl. Joseph ging zu Fuß, ganz nahe bei dem Kind und der Mutter. Der Abschied von ihren Freunden und Bekannten war für alle sehr schmerzlich, da diese so große Wohltäter verloren; unter unglaublichem Weinen und Schluchzen sagten sie ihnen Lebewohl; denn sie fühlten und sprachen es auch aus, dass sie all ihren Trost ihren Schutz, ihre Hilfe in der Not verlören. Hätte die göttliche Allmacht den Abschied nicht erleichtert, so hätten die Ägypter wegen ihrer großen Liebe zu der Heiligen Familie große Schwierigkeiten gemacht, dieselbe abziehen zu lassen; denn sie hatten in ihren Herzen ein geheimes Gefühl, dass, wenn die Sonne verschwinde, welche ihnen bisher Licht und Trost gespendet hatte, die Nacht ihres Elendes wieder anbreche. Ehe die Heilige Familie in die Wüste kam, zog sie durch einige ägyptische Ortschaften, überall Gnaden und Wohltaten spendend; denn die Wunder, welche sie bis dahin gewirkt, waren bereits in dem ganzen Land bekannt. Daher kamen überall die Kranken und Notleidenden, suchten bei ihnen Hilfe und fanden sie auch an Leib und Seele. Sie heilten viele Kranke und trieben viele Teufel aus, ohne dass diese wussten, wer sie in den Abgrund der Hölle geschleudert habe; sie fühlten nur die göttliche Kraft, welche sie austrieb und den Menschen soviel Gutes tat.

705. Ich werde nicht im besonderen berichten, was dem göttlichen Kind und seiner heiligsten Mutter bei dieser Rückkehr aus Ägypten begegnet ist; denn es ist nicht nötig und ich müsste sonst diese Geschichte zu weitläufig machen. Es genügt zu sagen, dass alle, welche mit mehr oder weniger Frömmigkeit und Liebe zu ihnen kamen, von der Wahrheit erleuchtet, durch die Gnade gestärkt, von göttlicher Liebe verwundet sie wieder verließen. Sie fühlten eine geheime Kraft, welche sie bewog, das Gute zu wählen, den Weg des Todes zu verlassen und die Pfade des Ewigen Lebens zu suchen. Sie kamen, vom Vater gezogen, zu dem Sohn und kehrten zu dem Vater zurück, von dem Sohn geleitet durch das göttliche Licht, welches er in ihrem Verstand entzündete, damit sie die Gottheit des Vaters erkennen möchten. Seine eigene Gottheit verbarg der Heiland, da es noch nicht Zeit war, dieselbe zu offenbaren; doch immer und allezeit teilte er jenes Feuer mit, welches er in der Welt zu entzünden und zu verbreiten gekommen war (Lk 12, 49).

706. Nachdem die von Gott bestimmten Geheimnisse in Ägypten erfüllt waren, verließen unsere heiligen Wanderer die bevölkerten Gegenden und das Land, in welchem sie so viele Wunder gewirkt hatten und traten in die Wüste ein, durch die sie von Palästina her gekommen waren. Sie hatten in ihr ähnliche Prüfungen zu bestehen, wie das erste Mal, da sie aus Palästina flohen; denn der Herr ließ Not und Drangsal zu, um auch zur rechten Zeit Hilfe zu senden. Diese kam manchmal durch die heiligen Engel geradeso, wie bei der ersten Reise; andere Male gebot das Jesuskind den Engeln, seiner heiligsten Mutter und ihrem Bräutigam Speise zu bringen; und damit der hl. Joseph über solche Gnadenerweise sich noch mehr erfreute, ließ ihn das göttliche Kind den Befehl vernehmen, welchen es den himmlischen Geistern gab. Der heilige Patriarch sah dann, wie die Engel überaus schnell und bereitwillig gehorchten; er sah, wie sie die Speisen brachten und dies war ihm ein großer Trost in dem Schmerz, den er darüber empfand, dass ihm der nötige Lebensunterhalt für den König und die Königin des Himmels fehlte. Wieder andere Male machte das göttliche Kind von seiner Allmacht Gebrauch und vermehrte ein Stück Brot in der Weise, dass alles nötige vorhanden war. Im übrigen ging diese Reise in ähnlicher Weise vor sich, wie die erste, welche oben im 22. Hauptstück beschrieben wurde. Es schien mir darum nicht nötig, es nochmals zu beschreiben. Da sie aber an die Grenzen Palästinas kamen, erfuhr der besorgte Bräutigam, dass Archelaus seinem Vater Herodes auf dem Thron von Judäa gefolgt sei. Da Joseph fürchtete, Archelaus habe mit dem Thron auch die Grausamkeit gegen das Jesuskind geerbt, änderte er den Weg; er ging nicht nach Jerusalem, überhaupt nicht nach Judäa, sondern zog durch das Land der Stämme Dan und Issachar zum unteren Galiläa, der Küste des Mittelländischen Meeres entlang, wobei er Jerusalem rechts liegen ließ.

707. So kamen sie nach Nazareth ihrer Heimat; denn das göttliche Kind sollte «Nazarener» genannt werden. Dort fanden sie ihr altes, armes Häuschen in der Hut jener heiligen, mit dem hl. Joseph im dritten Grad verwandten Frau, welche, wie ich im 17. Hauptstück des dritten Buches (Nr. 227) berichtete, den heiligen Joseph bedient hatte, als die Himmelskönigin im Haus der hl. Elisabeth weilte. Vor der Abreise von Judäa nach Ägypten hatte der hl. Joseph dieser Frau geschrieben, sie möge für das Haus und für alles, was in demselben zurückgeblieben war, Sorge tragen. Sie fanden alles wohlbewahrt, und die Base empfing sie mit großer Freude; denn sie hatte eine große Liebe zu unserer Königin, deren Würde ihr damals freilich noch unbekannt war. Maria trat mit ihrem heiligsten Sohn und mit ihrem Bräutigam Joseph in das Haus. Hier warf sie sich alsbald auf die Erde nieder, um den Herrn anzubeten und ihm zu danken, dass er sie von der Grausamkeit des Herodes befreit, in den Gefahren ihrer Verbannung und ihrer so langen und beschwerlichen Reisen beschützt und an den Ort ihrer Ruhe geführt habe; vor allem aber dafür, dass sie da ankomme mit ihrem göttlichen Sohn, der bereits so groß und voll der Gnade und Tugend war.

708. Die seligste Jungfrau richtete sofort ihr Leben und ihre Übungen nach der Weisung des göttlichen Kindes ein, nicht als hätte sie unterwegs irgend eine Störung eintreten lassen, denn auch auf dem Weg hatte die weiseste Königin in Nachahmung ihres heiligsten Sohnes ununterbrochen die vollkommensten Handlungen verrichtet; aber da sie jetzt ruhig in ihrem Haus war, konnte sie manches tun, was ihr außerhalb des Hauses unmöglich gewesen. Überall war es indes ihre größte Sorge, mit ihrem göttlichen Sohn am Heil der Seelen mitzuwirken; denn dies Werk war ihr vom ewigen Vater aufgetragen. Unsere Königin ordnete darum ihre Übungen mit dem göttlichen Erlöser zu diesem erhabensten Zweck und diese Übungen waren die Hauptbeschäftigung Jesu und Mariä, wie wir im Verlauf dieses Teiles sehen werden. Auch der heilige Joseph richtete alles ein, was sein Amt und seine Geschäfte anging, um mit seiner Arbeit für das göttliche Kind, für die Mutter und für sich selbst den Unterhalt zu verdienen. Wie groß war doch das Glück dieses heiligen Patriarchen ! Für die übrigen Kinder Adams war es eine Plage und Strafe, dass sie zur Arbeit im Schweiß ihres Angesichtes verurteilt wurden, um ihr zeitliches Leben zu erhalten; für den heiligen Joseph war es Segen, Wohltat und Freude ohne gleichen, dass er auserwählt war, durch seine Arbeit und seinen Schweiß die göttliche Mutter und Gott selbst zu ernähren, Gott, welchem Himmel und Erde gehört mit allem, was darin ist.

709. Den Dank für diese Sorge und Arbeit des hl. Joseph nahm die Königin der Engel auf sich. Sie diente ihm und bereitete ihm seine ärmliche Kost mit unvergleichlicher Aufmerksamkeit und mit wohlwollendster Dankbarkeit. In allem war sie ihm gehorsam. Von sich selbst dachte sie gering, als wäre sie seine Magd, nicht aber seine Braut, und, was noch mehr ist, die Mutter des Schöpfers und Herrn der Welt. Sie erachtete sich jeden Dinges für unwürdig, selbst der Erde, welche sie trug; denn sie glaubte, von Rechts wegen müsse alles ihr mangeln. Auf die Überzeugung, dass sie aus nichts geschaffen sei und dass sie weder die Wohltat der Erschaffung, noch, wie sie glaubte, nachher irgend eine andere Wohltat von Gott habe verdienen können, gründete sie eine so tiefe Demut, dass sie sich in ihren Augen stets bis zum Staube, ja unter den Staub erniedrigte. Für jede, auch die geringste Wohltat dankte sie mit wunderbarer Weisheit dem Herrn, als dem ersten Urheber alles Guten und den Geschöpfen, als den Werkzeugen seiner Macht und Güte. Den einen dankte sie, dass sie ihr Wohltaten erwiesen, den anderen, dass sie ihr Wohltaten verweigerten; wieder anderen dankte sie, dass sie mit ihr Geduld hatten. Sie betrachtete sich als die Schuldnerin aller, erfüllte alle mit Segnungen und Gnaden und erniedrigte sich unter die Füße aller. Sie forschte nach Mitteln und Wegen, nach Kunstgriffen und Regeln, um keine Zeit, keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, ohne das Heiligste, Vollkommenste und Höchste in den Tugenden geübt zu haben, zur Bewunderung der Engel. zur Freude und zum Wohlgefallen des Allerhöchsten.

LEHRE, welche mir die Himmelskönigin gab

710. Meine Tochter, in den Anordnungen, die der Allerhöchste über mich getroffen hat, da er mir befahl, von einer Gegend in die andere, von einem Reich in ein anderes zu ziehen, ist mein Herz niemals verwirrt, mein Geist niemals traurig geworden, weil ich allezeit bereit war; den Willen Gottes zu erfüllen. Seine Majestät gab mir zwar wohl die höchst erhabenen Absichten seiner Werke zu erkennen; allein er tat dies nicht immer gleich im Anfang, damit ich inzwischen mehr leide; denn ein Geschöpf soll keine anderen Gründe für seine unterwürfige Ergebung suchen als den, dass der Schöpfer es befiehlt und dass er alles leitet. Dies allein zu wissen genügt jenen Seelen, welche nur verlangen. Gott Freude zu machen, ohne dass sie zwischen Glück und Unglück einen Unterschied machen und ohne dass sie darauf achten, was ihren Neigungen zusage. Ich will, dass du in dieser Weisheit Fortschritte machst und nach meinem Beispiel, sowie wegen deiner Verpflichtungen gegen meinen Sohn Angenehmes und Widerwärtiges in diesem sterblichen Leben mit derselben Miene, mit Gleichmut und Ruhe annehmst. Das eine darf dich nicht betrüben, das andere dich nicht zu eitler Freude fortreißen; nur daran sollst du denken, dass der Allerhöchste alles nach seinem Wohlgefallen anordnet.

711. Das Menschenleben ist ein Gewebe verschiedener Ereignisse; die einen sind für die Menschen erfreulich, die andern sind schmerzlich, die einen werden verabscheut, die andern begehrt. Da aber das Menschenherz so eng und klein ist, so beobachtet der Mensch diesen beiden entgegengesetzten Dingen gegenüber ein verschiedenes Verhalten: er nimmt nämlich mit übermäßiger Freude an, was er liebt und begehrt; dagegen ist er trostlos und betrübt, wenn ihm etwas begegnet, das ihm verhasst und zuwider ist. Diese Änderungen und Aufregungen sind aber allen oder doch vielen Tugenden gefährlich. Denn die ungeordnete Liebe zu einer Sache erregt, wenn man sie nicht erlangt, alsbald im Herzen das Verlangen nach einer anderen und so sucht man in diesen neuen Wünschen den Verdruss über das, was man nicht erlangte, zu lindern. Wird aber der Wunsch befriedigt, dann ist das Herz wie berauscht von Freude, zu haben, was es begehrte; und von dieser geht man weiter zu noch ungeordneteren Wünschen und Leidenschaften. Sei also, Teuerste, vor dieser Gefahr auf der Hut, und um sie mit der Wurzel auszureißen, bewahre dein Herz in heiliger Freiheit. Schaue allein auf Gottes Vorsehung und lass dich nicht hinneigen zu dem, was du verlangst und was dich erfreuen würde; fürchte aber auch nicht, was dir peinlich ist. Erfreue dich einzig im Willen deines Herrn. Lass dich nicht fortreißen von deinen Wünschen, und nicht entmutigen durch Furcht vor irgend einem Ereignis. Lass dich von deinen heiligen Übungen nicht abbringen durch die äußeren Beschäftigungen und noch viel weniger durch menschliche Rücksicht oder durch den Gedanken an die Geschöpfe. Habe in allem vor Augen, was ich tat, und folge meinen Fußstapfen mit Liebe und Sorgfalt.

Fortsetzung: II. Teil: Buch 5+6

Literatur

  • II. Band: Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria, ein Wunder seiner Allmacht, ein Abgrund seiner Gnaden, der ehrwürdigen Schwester Maria von Jesus vom Orden des heiligen Franziskus, Äbtissin des Klosters der Unbefleckten Empfängnis in Agreda geoffenbart. Unter Zugrundelegung der «Nueva Edicíon de la Mística Ciudad des Dios», Barcelona 1911-14, ins Deutsche übertragen von Schwester Assumpta Volpert, Dienerin des Heiligen Geistes, Illustrationen: Schwester Serviane Wollseifen SSpS, Vorwort von Albert Drexel, Miriam Verlag Jestetten 1992 (8 Bücher in vier Bänden; Imprimatur Erzbischöfliches Ordinariat Salzburg am 31. Mai 1954, Zl. 1311; 6. Auflage [1. Auflage war 1954], Buch 3+4: 480 Seiten, Hardcover, ISBN 3-87449-128-5).
  • Gesamtwerk: Maria von Agreda: Die mystische Stadt Gottes, Christiana Verlag Stein am Rhein 31. Dezember 1974 (1. Auflage, 8 Bücher mit 2488 Seiten, broschiert) 2008 (ISBN 3-7171-0735-4).