Verbum Domini (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen

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'''38.''' Wenn die Gliederung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift festgestellt wird, ist es also entscheidend, den Übergang vom Buchstaben zum Geist zu erfassen. Dieser Übergang findet nicht automatisch und von sich aus statt; vielmehr bedarf es einer Überschreitung des Buchstabens: »Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen Prozess des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten lässt und daher auch ein Prozess des Lebens werden muss«.<ref>[[Benedikt XVI.]], Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): [[AAS]] 100 (2008), 726.</ref> So entdecken wir, warum ein authentischer Interpretationsprozess niemals nur ein intellektueller Prozess ist, sondern auch ein Prozess des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Auf diese Weise werden die in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution [[Dei verbum]] hervorgehobenen Kriterien deutlicher: Eine solche Transzendierung kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll. Diesem Prozess wohnt eine Dramatik inne, denn im Prozess der Transzendierung hat der Übergang, der in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, unvermeidlich auch mit der Freiheit eines jeden Menschen zu tun. Der hl. Paulus hat diesen Übergang in seinem eigenen Leben in ganzer Fülle erfahren. Was die Überschreitung des Buchstabens und sein Verstehen allein vom Ganzen her bedeutet, hat er drastisch ausgedrückt in dem Satz: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (2Kor 3,6). Der heilige Paulus entdeckt, dass der »freimachende Geist einen Namen hat und so die Freiheit ein inneres Maß: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17). Der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.<ref>Ebd.</ref> Wir wissen, wie auch für den hl. [[Augustinus von Hippo|Augustinus]] dieser Übergang dramatisch und befreiend zugleich war. Er glaubte an die Schrift, die ihm zunächst so uneinheitlich und manchmal ungeschliffen vorgekommen war, eben aufgrund dieser Transzendierung, die er vom hl. Ambrosius durch die typologische Auslegung lernte, für die das gesamte Alte Testament ein Weg auf Christus hin ist. Für [[Augustinus von Hippo|Augustinus]] hat die Überschreitung des Buchstabens den Buchstaben selbst glaubwürdig gemacht und ihm ermöglicht, endlich die Antwort zu finden auf die tiefste Unruhe seines Herzens, das nach der Wahrheit dürstete.<ref>Vgl. [[Benedikt XVI.]], [[Generalaudienz]] (9. Januar 2008): L’[[Osservatore Romano]] (dt.), 18. Januar 2008, S. 2.</ref>
 
'''38.''' Wenn die Gliederung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift festgestellt wird, ist es also entscheidend, den Übergang vom Buchstaben zum Geist zu erfassen. Dieser Übergang findet nicht automatisch und von sich aus statt; vielmehr bedarf es einer Überschreitung des Buchstabens: »Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen Prozess des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten lässt und daher auch ein Prozess des Lebens werden muss«.<ref>[[Benedikt XVI.]], Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): [[AAS]] 100 (2008), 726.</ref> So entdecken wir, warum ein authentischer Interpretationsprozess niemals nur ein intellektueller Prozess ist, sondern auch ein Prozess des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Auf diese Weise werden die in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution [[Dei verbum]] hervorgehobenen Kriterien deutlicher: Eine solche Transzendierung kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll. Diesem Prozess wohnt eine Dramatik inne, denn im Prozess der Transzendierung hat der Übergang, der in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, unvermeidlich auch mit der Freiheit eines jeden Menschen zu tun. Der hl. Paulus hat diesen Übergang in seinem eigenen Leben in ganzer Fülle erfahren. Was die Überschreitung des Buchstabens und sein Verstehen allein vom Ganzen her bedeutet, hat er drastisch ausgedrückt in dem Satz: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (2Kor 3,6). Der heilige Paulus entdeckt, dass der »freimachende Geist einen Namen hat und so die Freiheit ein inneres Maß: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17). Der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.<ref>Ebd.</ref> Wir wissen, wie auch für den hl. [[Augustinus von Hippo|Augustinus]] dieser Übergang dramatisch und befreiend zugleich war. Er glaubte an die Schrift, die ihm zunächst so uneinheitlich und manchmal ungeschliffen vorgekommen war, eben aufgrund dieser Transzendierung, die er vom hl. Ambrosius durch die typologische Auslegung lernte, für die das gesamte Alte Testament ein Weg auf Christus hin ist. Für [[Augustinus von Hippo|Augustinus]] hat die Überschreitung des Buchstabens den Buchstaben selbst glaubwürdig gemacht und ihm ermöglicht, endlich die Antwort zu finden auf die tiefste Unruhe seines Herzens, das nach der Wahrheit dürstete.<ref>Vgl. [[Benedikt XVI.]], [[Generalaudienz]] (9. Januar 2008): L’[[Osservatore Romano]] (dt.), 18. Januar 2008, S. 2.</ref>
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====Die innere Einheit der Bibel====
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'''39.''' In der Schule der großen Überlieferung der Kirche lernen wir, im Übergang vom Buchstaben zum Geist auch die Einheit der ganzen Schrift zu erfassen, denn das Wort Gottes, das unser Leben hinterfragt und es ständig zur Umkehr aufruft, ist eines.<ref>Vgl. Propositio 29.</ref> In diesem Zusammenhang werden wir sicher geleitet durch die Worte von Hugo von Sankt Viktor: »Die ganze göttliche Schrift bildet ein einziges Buch, und dieses einzige Buch ist Christus, spricht von Christus und findet in Christus seine Erfüllung«.<ref>De arca Noe, 2,8: [[PL]] 176, 642C-D.</ref> Gewiss, unter rein geschichtlichem oder literarischem Gesichtspunkt ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer Texte, deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne Bücher nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar sichtbare Spannungen zwischen ihnen. Das gilt bereits innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen als das Alte Testament bezeichnen. Es gilt noch mehr, wenn wir als Christen das Neue Testament und seine Schriften gleichsam als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel Israels verknüpfen und sie so als Weg zu Christus auslegen. Im Neuen Testament wird der Ausdruck »die Schrift« (vgl. Röm 4,3; 1Petr 2,6) normalerweise nicht verwendet, sondern vielmehr »die Schriften« (vgl. Mt 21,43; Joh 5,39; Röm 1,2; 2Petr 3,16), die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden.<ref>Vgl. [[Benedikt XVI.]], Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): [[AAS]] 100 (2008), 725.</ref> Daraus wird deutlich, dass es die Person Christi ist, die allen »Schriften« in dem Bezug auf das eine »Wort« Einheit verleiht. So versteht man die Aussage in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution [[Dei verbum]], die auf die innere Einheit der ganzen Bibel als entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens verweist.
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====Die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament====
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'''40.''' Unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Schriften in Christus müssen sich sowohl die Theologen als auch die Seelsorger der Beziehungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bewusst sein. Vor allem ist eindeutig, dass das Neue Testament selbst das Alte Testament als Wort Gottes anerkennt und somit die Autorität der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes aufgreift.<ref>Vgl. Propositio 10; [[Päpstliche Bibelkommission]], [[Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel]] (24. Mai 2001), 3-5: [[Enchiridion Vaticanum|Ench. Vat.]] 20, Nrn. 748-755.</ref> Es erkennt sie implizit an, indem es dieselbe Ausdrucksweise verwendet und oft auf Stellen aus diesen Schriften anspielt. Es erkennt sie explizit an, indem es viele Stellen zitiert und zur Argumentation heranzieht. Die auf den Texten des Alten Testaments gründende Argumentation stellt so im Neuen Testament einen entscheidenden Wert dar, der jenen einfacher menschlicher Beweisführungen übersteigt. Im vierten Evangelium sagt Jesus in diesem Zusammenhang, dass »die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35), und der hl. Paulus präzisiert im besonderen, dass die Offenbarung des Alten Testaments für uns Christen auch weiterhin gilt (vgl. Röm 15,4; 1Kor 10,11).<ref>Vgl. [[Katechismus der Katholischen Kirche]], 121-122.</ref> Außerdem bekräftigen wir, »dass Jesus von Nazaret ein Jude war und das Heilige Land das Mutterland der Kirche ist«;<ref>Propositio 52.</ref> die Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament, und das Christentum nährt sich stets aus dieser Wurzel. Daher hat die gesunde christliche Lehre stets jede Form des Markionismus abgelehnt, der immer wiederkehrt und auf verschiedene Weise dazu neigt, das Alte und das Neue Testament einander entgegenzusetzen.<ref>Vgl [[Päpstliche Bibelkommission]], [[Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel]] (24. Mai 2001), 19: [[Enchiridion Vaticanum|Ench. Vat.]] 20, Nrn. 799-801; [[Origenes]], Homiliae in Numeros 9,4: SC 415,238-242.</ref>
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Außerdem sagt das Neue Testament selbst, dass es mit dem Alten übereinstimmt, und verkündet, dass im Geheimnis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi die Heiligen Schriften des jüdischen Volkes ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben. Es muss jedoch angemerkt werden, dass der Begriff der Erfüllung der Schriften komplex ist, da er eine dreifache Dimension beinhaltet: den grundlegenden Aspekt der Kontinuität mit der Offenbarung des Alten Testaments, einen Aspekt des Bruches sowie einen Aspekt der Erfüllung und Überwindung. Das Geheimnis Christi steht in einer Kontinuität der Absicht zum Opferkult des Alten Testaments; es hat sich jedoch auf eine ganz andere Weise verwirklicht, die vielen Verheißungen der Propheten entspricht, und hat so eine nie dagewesene Vollkommenheit erlangt. Das Alte Testament ist nämlich voller Spannungen zwischen seinen institutionellen und seinen prophetischen Gesichtspunkten. Das Ostergeheimnis Christi, hingegen, stimmt – wenn auch in unvorhersehbarer Weise – mit den Prophezeiungen und dem vorausweisenden Aspekt der Schriften vollkommen überein; dennoch weist es deutliche Gesichtspunkte einer Diskontinuität zu den Institutionen des Alten Testaments auf.
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41. Diese Überlegungen zeigen die unersetzliche Bedeutung des Alten Testaments für die Christen auf, heben aber zugleich die Originalität der christologischen Auslegung hervor. Schon zur Zeit der Apostel und dann in der lebendigen Überlieferung wurde die Einheit des göttlichen Plans in den beiden Testamenten von der Kirche durch die Typologie verdeutlicht, die nicht willkürlicher Art ist, sondern den vom heiligen Text berichteten Ereignissen innewohnt und daher die ganze Schrift betrifft. Die Typologie »findet in den Werken Gottes im Alten Bund „Vorformen“ (Typologien) dessen, was Gott dann in der Fülle der Zeit in der Person seines menschgewordenen Wortes vollbracht hat«.<ref>[[Katechismus der Katholischen Kirche]], 128.</ref> Die Christen lesen also das Alte Testament im Licht des gestorbenen und auferstandenen Christus. Wenn die typologische Auslegung den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes in bezug auf das Neue Testament offenbart, darf sie jedoch nicht dazu verleiten zu vergessen, dass auch das Alte Testament selbst seinen Offenbarungswert behält, den unser Herr selber bekräftigt hat (vgl. Mk 12,29-31). Daher »will das Neue Testament auch im Licht des Alten Testamentes gelesen sein. Die christliche Urkatechese hat beständig auf dieses zurückgegriffen (vgl. 1Kor 5,6-8; 10,1-11.)«.<ref>Ebd., 129.</ref> Aus diesem Grund haben die Synodenväter gesagt, dass »das jüdische Bibelverständnis den Christen beim Verständnis und Studium der Schriften helfen kann«.<ref>Propositio 52.</ref>
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»Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, und das Alte ist im Neuen offenbar«<ref>Quaestiones in Heptateuchum, 2,73: [[PL]] 34, 623.</ref> – so die scharfsinnige und weise Äußerung des hl. [[Augustinus von Hippo|Augustinus]] zu diesem Thema. Es ist also wichtig, sowohl in der Seelsorge als auch im akademischen Bereich die enge Beziehung zwischen den beiden Testamenten deutlich hervorzuheben und mit dem hl. Gregor dem Großen daran zu erinnern, dass »das Neue Testament die Verheißungen des Alten Testaments sichtbar gemacht hat; was dieses in verborgener Weise ankündigt, verkündet jenes offen als gegenwärtig. So ist das Alte Testament Vorausschau des Neuen Testaments; und das Neue Testament ist der beste Kommentar zum Alten Testament«.<ref>Homiliae in Ezechielem, I,VI,15: [[PL]] 76, 836.</ref>
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====Die »dunklen« Stellen der Bibel====
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'''42.''' Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hat sich die Synode auch mit dem Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich muss man sich vor Augen führen, dass die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt, trotz des Widerstands der Menschen. Gott erwählt ein Volk und erzieht es mit Geduld. Die Offenbarung paßt sich dem kulturellen und sittlichen Niveau weit zurückliegender Zeiten an und berichtet daher von Tatsachen und Bräuchen wie zum Beispiel Betrugsmanövern, Gewalttaten, Völkermord, ohne deren Unsittlichkeit ausdrücklich anzuprangern. Das lässt sich aus dem historischen Umfeld heraus erklären, kann jedoch den modernen Leser überraschen, vor allem dann, wenn man die vielen »dunklen« Seiten menschlichen Verhaltens vergisst, die es in allen Jahrhunderten immer gegeben hat, auch in unseren Tagen. Im Alten Testament erheben die Propheten kraftvoll ihre Stimme gegen jede Art von kollektiver oder individueller Ungerechtigkeit und Gewalt. Dadurch erzieht Gott sein Volk in Vorbereitung auf das Evangelium. Es wäre daher falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch erscheinen, nicht zu berücksichtigen. Vielmehr muss man sich bewusst sein, dass die Auslegung dieser Stellen den Erwerb entsprechender Fachkenntnisse voraussetzt, mittels einer Ausbildung, die die Texte in ihrem literarischen und geschichtlichen Zusammenhang und in christlicher Perspektive liest, deren endgültiger hermeneutischer Schlüssel »das Evangelium und das neue Gebot Jesu Christi ist, das im Ostergeheimnis Erfüllung gefunden hat«.<ref>Propositio 29.</ref> Ich fordere daher die Theologen und die Seelsorger auf, allen Gläubigen zu helfen, auch an diese Stellen heranzugehen, und zwar durch eine Lesart, die ihre Bedeutung im Licht des Geheimnisses Christi offenbar werden lässt.
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====Christen und Juden im Hinblick auf die Heiligen Schriften====
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'''43.''' In Anbetracht der engen Beziehungen, die das Neue an das Alte Testament binden, ergibt es sich von selbst, jetzt die Aufmerksamkeit der besonderen Verbindung zwischen Christen und Juden zuzuwenden, die sich daraus ableitet und die niemals vergessen werden darf. Papst [[Johannes Paul II.]] hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«.<ref>[[Johannes Paul II.]], Botschaft an den Oberrabbiner von Rom (22. Mai 2004): L’[[Osservatore Romano]] (dt.), 4. Juni 2004, S. 7.</ref> Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, dass »eine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation (ist), die in geheimnisvoller Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist«.<ref>[[Päpstliche Bibelkommission]], [[Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel]] (24. Mai 2001), 87: [[Enchiridion Vaticanum|Ench. Vat.]] 20, Nr. 1150.</ref> Paulus sagt nämlich über die Juden: »Von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« (Röm 11,28-29).
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Außerdem gebraucht der hl. Paulus das schöne Bild vom Ölbaum, um die ganz engen Beziehungen zwischen Christen und Juden zu beschreiben: Die Kirche der Völker ist wie ein wilder Oliventrieb, der in den edlen Olivenbaum des Bundesvolkes eingepfropft wurde (vgl. 
Röm 11,17-24). Wir nähren uns also aus denselben spirituellen Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken ihrer Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest entschlossen darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen.<ref>Vgl. [[Benedikt XVI.]], Ansprache bei der Abschiedszeremonie auf dem Internationalen Flughafen »Ben Gurion« in Tel Aviv (15. Mai 2009): L’[[Osservatore Romano]] (dt.), 22. Mai 2009, S. 15.</ref> Papst [[Johannes Paul II.]] sagte außerdem: »Wir haben viel gemeinsam, und wir können zusammen so viel für Frieden, für Gerechtigkeit und für eine menschlichere und brüderlichere Welt tun«.<ref>[[Johannes Paul II.]], Ansprache im Oberrabinat »Hechal Shlomo« (23. März 2000): L’[[Osservatore Romano]] (dt.), 7. April 2000, S. 9.</ref>
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Ich möchte noch einmal bekräftigen, wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist. Dort, wo die Möglichkeit besteht, sollten auch öffentliche Gelegenheiten zur Begegnung und Diskussion geschaffen werden, die das gegenseitige Kennenlernen, die Wertschätzung füreinander und die Zusammenarbeit fördern, auch beim Studium der Heiligen Schrift.
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====Die fundamentalistische Auslegung der Heiligen Schrift====
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'''44.''' Nachdem wir uns bis jetzt eingehend dem Thema der Bibelhermeneutik in ihren verschiedenen Aspekten gewidmet haben, können wir nun das auf der Synode mehrmals zur Sprache gebrachte Thema der fundamentalistischen Auslegung der Heiligen Schrift angehen.<ref>Vgl. Propositiones 46.47.</ref> Zu diesem Thema hat die [[Päpstliche Bibelkommission]] im Dokument [[L´interpretation des textes|Die Interpretation der Bibel in der Kirche]] wichtige Hinweise gegeben. In diesem Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Lesarten richten, die das wahre Wesen des heiligen Textes missachten, indem sie subjektivistische und willkürliche Interpretationen unterstützen. Die von der fundamentalistischen Lesart befürwortete »Wörtlichkeit« ist nämlich in Wirklichkeit ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn, indem sie den Weg für Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, zum Beispiel durch die Verbreitung kirchenfeindlicher Auslegungen der Schrift selbst. Der problematische Aspekt »dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift liegt darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. … Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind«.<ref>[[Päpstliche Bibelkommission]], [[L´interpretation des textes|Die Interpretation der Bibel in der Kirche]] (15. April 1993), I,F: [[Enchiridion Vaticanum|Ench. Vat.]] 13, Nr. 2974.</ref> Das Christentum vernimmt im Gegensatz dazu in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet.<ref>Vgl. [[Benedikt XVI.]], Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): [[AAS]] 100 (2008), 726.</ref> Die wahre Antwort auf eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen Schrift im Glauben«. Diese Lesart, »die von alters her in der Überlieferung der Kirche praktiziert wurde, sucht nach der rettenden Wahrheit für das Leben des einzelnen Gläubigen und für die Kirche. Diese Lesart erkennt den historischen Wert der biblischen Überlieferung an. Gerade aufgrund dieses Wertes als historisches Zeugnis will sie die lebendige Bedeutung der Heiligen Schrift wiederentdecken, die auch für das Leben des Gläubigen von heute bestimmt ist«,<ref>Propositio 46.</ref> ohne dabei die menschliche Vermittlung des inspirierten Textes und seine literarischen Gattungen außer acht zu lassen.
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====Der Dialog zwischen Seelsorgern, Theologen und Exegeten====
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'''45.''' Die wahre Hermeneutik des Glaubens bringt einige wichtige Konsequenzen im Bereich der Pastoralarbeit der Kirche mit sich. Gerade die Synodenväter haben in diesem Zusammenhang zum Beispiel regelmäßigere Kontakte zwischen Seelsorgern, Exegeten und Theologen empfohlen. Die Bischofskonferenzen sollten diese Begegnungen fördern, »um eine größere Gemeinsamkeit im Dienst am Wort Gottes zu unterstützen«.<ref>Propositio 28.</ref> Eine solche Zusammenarbeit hilft allen, die eigene Arbeit besser durchzuführen zum Wohl der ganzen Kirche. Sich nämlich in den Gesichtskreis der Pastoralarbeit zu versetzen bedeutet auch für die Wissenschaftler, dem heiligen Text in seinem Wesen als Mitteilung zu begegnen, die der Herr den Menschen für das Heil macht. Darum gilt die Empfehlung, die bereits die dogmatische Konstitution [[Dei verbum]] formuliert: »Die katholischen Exegeten und die anderen Vertreter der theologischen Wissenschaft müssen in eifriger Zusammenarbeit sich darum mühen, unter Aufsicht des kirchlichen Lehramts mit passenden Methoden die göttlichen Schriften so zu erforschen und auszulegen, dass möglichst viele Diener des Wortes in den Stand gesetzt werden, dem Volke Gottes mit wirklichem Nutzen die Nahrung der Schriften zu reichen, die den Geist erleuchtet, den Willen stärkt und die Menschenherzen zur Gottesliebe entflammt«.<ref>[[Zweites Vatikanisches Konzil]], Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung [[Dei verbum]], 23.</ref>
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====Bibel und Ökumene====
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'''46.''' Im Bewusstsein, dass die Kirche ihr Fundament in Christus besitzt, dem fleischgewordenen Wort Gottes, hat die Synode die Zentralität des Bibelstudiums im ökumenischen Dialog hervorgehoben, im Hinblick auf den vollkommenen Ausdruck der Einheit aller Gläubigen in Christus.<ref>Es ist jedoch anzumerken, dass Katholiken und Orthodoxe, was die so genannten deuterokanonischen Bücher des Alten Testaments und ihre Inspiration betrifft, nicht genau denselben Bibelkanon haben wie Anglikaner und Protestanten.</ref> In der Schrift selbst finden wir ja das an den Vater gerichtete innige Gebet Jesu, dass seine Jünger alle eins sein sollen, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 17,21). All das bestärkt uns in der Überzeugung, dass das gemeinsame Hören und Meditieren der Schrift uns eine reale, wenn auch noch nicht volle Gemeinschaft leben lässt,<ref>Vgl. Relatio post disceptationem, 36.</ref> denn »das gemeinsame Hören der Schriften führt zum Dialog der Liebe und lässt den Dialog der Wahrheit wachsen«.<ref>Propositio 36.</ref> Gemeinsam das Wort Gottes hören; die lectio divina der Bibel halten; sich überraschen lassen von der Neuheit des Wortes Gottes, die nie alt wird und sich nie erschöpft; unsere Taubheit für jene Worte überwinden, die nicht mit unseren Meinungen oder Vorurteilen übereinstimmen; hören und studieren in der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten – all das stellt einen Weg dar, der beschritten werden muss, um die Einheit im Glauben zu erreichen, als Antwort auf das Hören des Wortes.<ref>Vgl. [[Benedikt XVI.]], Ansprache an die Mitglieder des Ordentlichen Rates des Generalsekretariats der [[Bischofssynode]] (25. Januar 2007): [[AAS]] 99 (2007), 85-86.</ref> In diesem Sinn waren die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils wirklich erhellend: So »ist die Heilige Schrift gerade beim (ökumenischen) Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet«.<ref>Dekret über den [[Ökumenismus]] [[Unitatis redintegratio]], 21.</ref> Es ist daher gut, das Wort Gottes intensiver zu studieren, sich stärker mit ihm auseinanderzusetzen und unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren.<ref>Vgl. Propositio 36.</ref> Diese liturgischen Feiern nutzen der Ökumene, und wenn sie in ihrer wirklichen Bedeutung erlebt werden, stellen sie tiefe Momente echten Gebetes dar, um Gott zu bitten, den ersehnten Tag, an dem wir alle am selben Mahl teilhaben und aus demselben Kelch trinken können, bald herbeizuführen. Im Rahmen einer richtigen und lobenswerten Förderung dieser Momente muss jedoch darauf geachtet werden, dass sie den Gläubigen nicht als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden, die unter das Sonntagsgebot fällt.
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Innerhalb dieser Tätigkeit, die das Studium und das Gebet betrifft, sehen wir, sachlich betrachtet, dass es auch Aspekte gibt, die noch vertieft werden müssen und in denen wir noch voneinander entfernt sind, wie zum Beispiel das Verständnis der Kirche als maßgebliches Subjekt der Auslegung und die entscheidende Rolle des Lehramts.<ref>Vgl. [[Zweites Vatikanisches Konzil]], Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung [[Dei verbum]], 10.</ref>
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Außerdem möchte ich hervorheben, was die Synodenväter über die Bedeutung gesagt haben, die den Übersetzungen der Bibel in die verschiedenen Sprachen im Rahmen dieser ökumenischen Arbeit zukommt. Wir wissen, dass die Übersetzung eines Textes keine rein mechanische Arbeit ist, sondern in gewissem Sinne zur Auslegung gehört. In diesem Zusammenhang hat der ehrwürdige Diener Gottes Papst [[Johannes Paul II.]] gesagt: »Wer sich erinnert, wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen beeinflusst haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt diese Gemeinschaftsübersetzungen darstellen«.<ref>[[Enzyklika]] Ut unum sint (25. Mai 1995), 44: [[AAS]] 87 (1995), 947.</ref> Darum ist die Förderung der Gemeinschaftsübersetzungen der Bibel Teil der ökumenischen Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die diese wichtige Verantwortung übernommen haben, und sie ermutigen, ihr Werk fortzusetzen.
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====Konsequenzen für die Ausrichtung der theologischen Studien====
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'''47.''' Aus einer angemessenen Hermeneutik des Glaubens ergibt sich noch eine weitere Konsequenz: Es muss gezeigt werden, was sie für die exegetische und theologische Ausbildung insbesondere der Priesteramtskandidaten bedeutet. Es muss dafür gesorgt werden, dass das Studium der Heiligen Schrift wirklich die Seele der Theologie ist, da man in ihr das Wort Gottes erkennt, das heute an die Welt, an die Kirche und an jeden persönlich gerichtet ist. Wichtig ist, dass die in der Nr. 12 der dogmatischen Konstitution [[Dei verbum]] genannten Kriterien wirklich berücksichtigt und vertieft werden. Es muss vermieden werden, einen Wissenschaftsbegriff aufrechtzuerhalten, demzufolge die wissenschaftliche Forschung der Schrift gegenüber einen neutralen Standpunkt einnimmt. Darum ist es notwendig, dass die Studenten zusammen mit dem Studium der Sprachen, in denen die Bibel geschrieben wurde, und der entsprechenden Auslegungsmethoden ein tiefes geistliches Leben pflegen, um zu verstehen, dass man die Schrift nur erfassen kann, wenn man sie lebt.
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Aus dieser Sicht heraus empfehle ich, dass das Studium des überlieferten und niedergeschriebenen Wortes Gottes stets in einem zutiefst kirchlichen Geist geschehen soll. Zu diesem Zweck müssen in der akademischen Ausbildung die Beiträge des Lehramts zu diesen Themen gebührend berücksichtigt werden. »Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt«.<ref>[[Zweites Vatikanisches Konzil]], Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung [[Dei verbum]], 10.</ref> Es muss also darauf geachtet werden, dass die Studien in Anerkennung der Tatsache stattfinden, dass »die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht«.<ref>Ebd.</ref> Ich wünsche daher, dass das Studium der in der Gemeinschaft der Universalkirche ausgelegten Heiligen Schrift, der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils entsprechend, wirklich die Seele der Theologie sein möge.<ref>Vgl. ebd., 24.</ref>
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====Die Heiligen und die Auslegung der Schrift====
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'''48.''' Die Auslegung der Heiligen Schrift bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch jene anhörte, die wirklich das Wort Gottes gelebt haben, also die Heiligen:<ref>Vgl. Propositio 22.</ref> »Viva lectio est vita bonorum«.<ref>[[Gregor der Große]], Moralia in Job, XXIV,VIII,16: [[PL]] 76, 295.</ref> Die tiefste Auslegung der Schrift kommt in der Tat von jenen, die sich durch das Wort Gottes – im Hören, im Lesen und in der ständigen Betrachtung – formen ließen.
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Es ist gewiss kein Zufall, dass die großen Spiritualitäten, welche die Kirchengeschichte gezeichnet haben, aus einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Schrift heraus entstanden sind. Ich denke zum Beispiel an den heiligen Abt Antonius, den das Wort Christi bewegte: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach« (Mt 19,21).<ref>Vgl. [[Athanasius der Große|Athanasius]], Vita Antonii, II: [[PL]] 73, 127.</ref> Nicht weniger eindrücklich fragt der hl. Basilius der Große sich in seinem Werk Moralia: »Was macht den Glauben aus? Die volle und zweifelsfreie Gewissheit der Wahrheit der von Gott inspirierten Worte« … »Was macht den Gläubigen aus? Durch jene volle Gewissheit der Bedeutung der Worte der Schrift gleichgestaltet zu werden ohne zu wagen, etwas wegzunehmen oder hinzuzufügen«.<ref>Regula LXXX, XXII: [[PG]] 31, 867.</ref> Der hl. Benedikt verweist in seiner Regel auf die Schrift als »verläßliche Wegweisung für das menschliche Leben«.<ref>Regel, 73,3: SC 182, 672.</ref> Als der hl. Franz von Assisi – so [[Thomas von Celano]] – hörte, dass die Jünger Christi »weder Gold noch Silber, noch Geld besitzen dürfen, keine Vorratstasche, kein Brot und keinen Wanderstab mit auf den Weg nehmen und weder Schuhe noch zwei Hemden haben sollten ... wurde er sogleich von der Freude im Heiligen Geist erfüllt und rief: „Das ist es, was ich begehre, worum ich bitte, das zu tun ich von ganzem Herzen ersehne!“«.<ref>[[Thomas von Celano]], Vita prima Sancti Francisci, IX, 22: FF 356.</ref> Die hl. Klara von Assisi greift voll und ganz die Erfahrung des hl. Franziskus auf, wenn sie schreibt: »Die Lebensweise des Ordens der Armen Schwestern ... ist diese: Das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu befolgen«.<ref>Regula, I,1-2: FF 2750.</ref> Der hl. Dominikus de Guzmán »erwies sich überall, in den Worten wie in den Werken, als ein Mann des Evangeliums«,<ref>Jordan von Sachsen, Libellus de principiis Ordinis Praedicatorum, 104: Monumenta Fratrum Praedicatorum Historica, Rom 1935, 16, S. 75.</ref> und er wollte, dass auch seine Brüder im Predigerorden »Männer des Evangeliums« sein sollten.<ref>[[Predigerorden]], Erste Konstitutionen oder Consuetudines, II, XXXI.</ref> Die hl. Theresia von Jesus, die in ihren Schriften ständig auf biblische Bilder Bezug nimmt, um ihre mystische Erfahrung zu beschreiben, erinnert daran, dass Jesus selbst ihr offenbart, dass »alles Übel der Welt daher kommt, dass man die Wahrheit der Heiligen Schrift nicht deutlich kennt«.<ref>Leben 40,1.</ref> Die hl. Thérèse vom Kinde Jesu findet die Liebe als ihre persönliche Berufung, indem sie die Schriften erforscht, insbesondere die Kapitel 12 und 13 des Ersten Korintherbriefs.<ref>Vgl. Geschichte einer Seele, Ms B, 3ro.</ref> Die Heilige selbst beschreibt die Anziehungskraft der Schrift: »Sobald sich mein Blick auf das Evangelium richtet, atme ich sofort den Wohlgeruch des Lebens Jesu ein und weiß, wohin ich mich wenden soll«.<ref>Ebd., Ms C, 35vo.</ref> Jeder Heilige ist wie ein Lichtstrahl, der vom Wort Gottes ausgeht: So denken wir auch an den hl. Ignatius von Loyola in seiner Suche nach der Wahrheit und in der geistlichen Entscheidungsfindung; an den hl. Johannes Bosco in seiner Leidenschaft für die Erziehung der Jugend; an den hl. Johannes Maria Vianney in seinem Bewusstsein um die Größe des Priestertums als Gabe und Aufgabe; an den hl. Pio von Pietrelcina als Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit; an den hl. Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit; an die sel. Teresa von Kalkutta, Missionarin der Nächstenliebe Gottes für die Ärmsten der Armen, bis hin zu den Märtyrern des Nationalsozialismus und des Kommunismus, auf der einen Seite vertreten durch eine Karmelitin, die hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und auf der anderen durch den Kardinalerzbischof von Zagreb, den sel. Alois Stepinac.
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'''49.''' Die Heiligkeit in bezug auf das Wort Gottes gehört also gewissermaßen zur prophetischen Überlieferung, in der das Wort Gottes das Leben des Propheten selbst in den Dienst nimmt. In diesem Sinne stellt die Heiligkeit in der Kirche eine Hermeneutik der Schrift dar, der sich niemand entziehen kann. Der Heilige Geist, der die heiligen Autoren inspiriert hat, ist derselbe, der auch die Heiligen antreibt, das Leben für das Evangelium hinzugeben. In ihre Schule zu gehen ist ein sicherer Weg, um zu einer lebendigen und wirkkräftigen Hermeneutik des Wortes Gottes zu gelangen.
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Von dieser Verbindung zwischen dem Wort Gottes und der Heiligkeit wurde uns auf der XII. Generalversammlung der [[Bischofssynode]] unmittelbar Zeugnis gegeben, als am 12. Oktober auf dem Petersplatz die Kanonisierung von vier neuen Heiligen stattfand. Es waren der Priester Gaetano Errico, der Gründer der Kongregation der Missionare von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariä; Mutter Maria Bernarda Bütler, die aus der Schweiz gebürtige Missionarin in Ecuador und in Kolumbien; Schwester Alfonsa von der Unbefleckten Empfängnis, die erste in Indien geborene kanonisierte Heilige, und die junge Ecuadorianerin Narcisa de Jesús Martillo Morán. Durch ihr Leben haben sie in der Welt und der Kirche Zeugnis abgelegt von der immerwährenden Fruchtbarkeit des Evangeliums Christi. Bitten wir den Herrn, dass durch die Fürsprache dieser Heiligen, die gerade in den Tagen der Synodenversammlung über das Wort Gottes heiliggesprochen wurden, unser Leben jener »gute Boden« sein möge, auf den der göttliche Sämann das Wort säen kann, auf dass es in uns Frucht der Heiligkeit bringe, »dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach« (Mk 4,20).
  
 
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Version vom 11. Juli 2015, 09:53 Uhr

Nachsynodales Schreiben
Verbum Domini

unseres Heiligen Vaters
Benedikt XVI.
über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche
18. Oktober 2010
(Offizieller lateinischer Text: AAS 76 [2010/11] 681-787)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. DAS WORT DES HERRN bleibt in Ewigkeit. Dieses Wort ist das Evangelium, das euch verkündet worden ist « (1 Petr 1,25; vgl. Jes 40,8). Mit diesem Satz aus dem Ersten Petrusbrief, der die Worte des Propheten Jesaja aufgreift, stehen wir vor dem Geheimnis Gottes, der sich durch das Geschenk seines Wortes mitteilt. Dieses Wort, das in Ewigkeit bleibt, ist in die Zeit eingetreten. Gott hat sein ewiges Wort auf menschliche Weise ausgesprochen; sein Wort »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14). Das ist die frohe Botschaft. Das ist die Verkündigung, die durch die Jahrhunderte hindurch bis zu uns in unsere Zeit gelangt. Die XII. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, die vom 5. bis zum 26. Oktober 2008 im Vatikan abgehalten wurde, stand unter dem Thema: Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche. Es war eine tiefe Erfahrung der Begegnung mit Christus, dem Wort des Vaters, der dort gegenwärtig ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20). Mit diesem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben komme ich gern der Bitte der Väter nach, den Reichtum, der in dieser Versammlung im Vatikan zum Vorschein gekommen ist, und die in gemeinsamer Arbeit formulierten Weisungen dem ganzen Gottesvolk zu übermitteln.<ref>Vgl. Propositio 1.</ref> Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich die Ergebnisse der Synode unter Bezugnahme auf die vorgelegten Dokumente aufgreifen: die Lineamenta, das Instrumentum laboris, die Vorträge ante und post disceptationem sowie die Texte der Wortmeldungen – der im Sitzungssaal verlesenen ebenso wie jener in scriptis –, die Berichte der Arbeitskreise und ihre Diskussionsbeiträge, die Schlussbotschaft an das Volk Gottes und vor allem einige spezifische Vorschläge (propositiones), die die Väter als besonders wichtig erachtet haben. Auf diese Weise möchte ich einige Grundlinien für eine Wiederentdeckung des göttlichen Wortes – Quelle ständiger Erneuerung – im Leben der Kirche aufzeigen und hoffe zugleich, dass es immer mehr zum Mittelpunkt allen kirchlichen Handelns werden möge.

Damit unsere Freude vollkommen ist

2. Zunächst möchte ich die Schönheit und die Anziehungskraft der erneuerten Begegnung mit dem Herrn Jesus in Erinnerung rufen, die in den Tagen der Synodenversammlung zu spüren war. Indem ich im Namen der Väter spreche, wende ich mich daher an alle Gläubigen mit den Worten aus dem Ersten Johannesbrief: Wir »verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus« (1 Joh 1,2-3). Der Apostel spricht davon, das Wort des Lebens zu hören, zu sehen, anzufassen und zu schauen (vgl. 1 Joh 1,1), denn das Leben selbst wurde in Christus offenbar. Und wir, die wir zur Gemeinschaft mit Gott und untereinander berufen sind, müssen Verkündiger dieses Geschenks sein. Unter diesem kerygmatischen Gesichtspunkt war die Synodenversammlung für die Kirche und für die Welt ein Zeugnis dafür, wie schön die Begegnung mit dem Wort Gottes in der kirchlichen Gemeinschaft ist. Ich rufe daher alle Gläubigen auf, die persönliche und gemeinschaftliche Begegnung mit Christus, dem sichtbar gewordenen Wort des Lebens, neu zu entdecken und ihn zu verkünden, damit das Geschenk des göttlichen Lebens, die Gemeinschaft, in der Welt immer mehr Verbreitung fi nden möge. Am Leben Gottes, der Dreifaltigkeit der Liebe, teilzuhaben, ist in der Tat »vollkommene Freude« (vgl. 1 Joh 1,4). Und es ist die Gabe und unverzichtbare Aufgabe der Kirche, die Freude zu vermitteln, die aus der Begegnung mit der Person Christi kommt, dem Wort Gottes, das mitten unter uns gegenwärtig ist. In einer Welt, die Gott oft als überfl üssig oder fremd empfi ndet, bekennen wir wie Petrus, dass nur er »Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68) hat. Es gibt keine größere Priorität als diese: dem Menschen von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht und uns seine Liebe mitteilt, damit wir Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,10).

Von der Konstitution »Dei verbum« zur Synode über das Wort Gottes

3. Wir sind uns bewußt, dass wir mit der XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode über das Wort Gottes gewissermaßen das Herz des christlichen Lebens thematisiert haben, in Kontinuität mit der vorausgegangenen Synodenversammlung über die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des Lebens und der Sendung der Kirche. Die Kirche gründet in der Tat auf dem Wort Gottes, sie entsteht und lebt aus ihm.<ref> Vgl. XII. ORDENTLICHE GENERALVERSAMMLUNG DER BISCHOFSSYNODE, Instrumentum laboris, 27.</ref> In allen Jahrhunderten seiner Geschichte hat das Volk Gottes stets in ihm seine Kraft gefunden, und die kirchliche Gemeinschaft wächst auch heute im Hören, in der Feier und im Studium des Wortes Gottes. Man muß anerkennen, dass im kirchlichen Leben in den letzten Jahrzehnten die Sensibilität gegenüber diesem Thema zugenommen hat, besonders in bezug auf die christliche Offenbarung, die lebendige Überlieferung und die Heilige Schrift. Seit dem Pontifi kat von Papst Leo XIII. kann man von einer Zunahme der Beiträge sprechen, die darauf ausgerichtet sind, die Bedeutung des Wortes Gottes und der biblischen Studien im Leben der Kirche stärker zu Bewußtsein zu führen.<ref> Vgl. Leo XIII., Enzyklika Providentissimus deus (18. November 1893): ASS 26 (1893-94), 269-292; Benedikt XV., Enzyklika Spiritus paraclitus (15. September 1920): AAS 12 (1920), 385-422; PIUS XII., Enzyklika Divino afflante Spiritu (30. September 1943): AAS 35 (1943), 297-325 </ref>Höhepunkt dieser Entwicklung war das Zweite Vatikanische Konzil, insbesondere die Promulgation der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum. Sie stellt einen Meilenstein auf dem Weg der Kirche dar: »Die Synodenväter … erkennen mit dankbarem Herzen den großen Nutzen an, den dieses Dokument dem Leben der Kirche auf exegetischer, theologischer, geistlicher, pastoraler und ökumenischer Ebene gebracht hat«.<ref>Propositio 2.</ref> Insbesondere ist in diesen Jahren das Bewußtsein um den »trinitarischen und heilsgeschichtlichen Horizont der Offenbarung«<ref>Propositio 2.</ref> gewachsen, in dem Jesus Christus als »der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung«<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 2. </ref> erkannt wird. Die Kirche bekennt unablässig jeder Generation, dass er »durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 4. </ref>

Es ist allgemein bekannt, dass die dogmatische Konstitution Dei verbum der Wiederentdeckung des Wortes Gottes im Leben der Kirche, der theologischen Reflexion über die göttliche Offenbarung und dem Studium der Heiligen Schrift einen großen Impuls gegeben hat. So gab es dann auch in den letzten 40 Jahren auf diesem Gebiet nicht wenige Beiträge des kirchlichen Lehramts.<ref> Unter den Beiträgen verschiedener Art seien erwähnt: Paul VI., Apostolisches Schreiben Summi Dei verbum (4. November 1963): AAS 55 (1963), 979-995; DERS., Motu proprio Sedula cura (27. Juni 1971): AAS 63 (1971), 665-669; JOHANNES PAUL II., Generalaudienz (1. Mai 1985): L’Osservatore Romano (dt.), 10. Mai 1985, S. 2; DERS., Ansprache über die Interpretation der Bibel in der Kirche (23. April 1993): AAS 86 (1994), 232-243; Benedikt XVI., Ansprache an den Internationalen Kongreß zum 40. Jahrestag der Dogmatischen Konstitution »Dei verbum« (16. September 2005): AAS 97 (2005), 957; DERS., Angelus (6. November 2005): L’Osservatore Romano (dt.), 11. November 2005, S. 1. Erinnert werden soll auch an die Beiträge der Päpstlichen Bibelkommission, Bibel und Christologie (1984): Ench. Vat. 9, Nrn. 1208-1339; Einheit und Vielfalt in der Kirche (11. April 1988): Ench. Vat. 11, Nrn. 544-643;Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993): Ench. Vat. 13, Nrn. 2846-3150; Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001): Ench. Vat. 20, Nrn. 733-1150; Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008.</ref> Im Bewußtsein der Kontinuität ihres Weges unter der Führung des Heiligen Geistes fühlte die Kirche sich durch die Feier dieser Synode berufen, das Thema des göttlichen Wortes weiter zu vertiefen, um sowohl die Umsetzung der Konzilsweisungen zu überprüfen als auch den neuen Herausforderungen zu begegnen, die die gegenwärtige Zeit denen stellt, die an Christus glauben.

Die Bischofssynode über das Wort Gottes

4. In der XII. Synodenversammlung haben sich Hirten aus aller Welt um das Wort Gottes geschart und den Bibeltext symbolisch in den Mittelpunkt der Versammlung gestellt, um das wiederzuentdecken, was wir im Alltag allzuleicht als selbstverständlich voraussetzen: dass Gott redet, dass er antwortet auf unser Fragen. <ref> Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (22. Dezember 2008): AAS 101 (2009), 49. </ref> Gemeinsam haben wir das Wort des Herrn gehört und gefeiert. Wir haben einander erzählt, was der Herr im Gottesvolk wirkt, haben Hoffnungen und Sorgen miteinander geteilt. All das hat uns bewußt gemacht, dass wir unsere Beziehung zum Wort Gottes nur innerhalb des »Wir« der Kirche vertiefen können, im Hören aufeinander und in der gegenseitigen Annahme. Daher sind wir auch dankbar für die Zeugnisse über das kirchliche Leben in den verschiedenen Teilen der Welt, die aus den vielfältigen Beiträgen in der Synodenaula hervorgegangen sind. Ebenso bewegend war es, die Bruderdelegierten anzuhören, die die Einladung angenommen haben, an der Synodenversammlung teilzunehmen. Ich denke insbesondere an die Meditation Seiner Heiligkeit Bartholomaios I., des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, die bei den Synodenvätern tiefe Anerkennung gefunden hat.<ref> Vgl. Propositio 37.</ref> Außerdem hat die Bischofssynode zum ersten Mal auch einen Rabbiner eingeladen, um von ihm ein wertvolles Zeugnis über die heiligen Schriften der Juden zu erhalten, die auch Teil unserer Heiligen Schrift sind. <ref> Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), Ench. Vat. 20, Nrn. 733-1150. </ref> So konnten wir mit Freude und Dankbarkeit feststellen, dass »in der Kirche auch heute Pfingsten ist – das heißt, dass sie in vielen Sprachen redet und dies nicht nur in dem äußeren Sinne, dass alle großen Sprachen der Welt in ihr vertreten sind, sondern mehr noch in dem tieferen Sinn, dass die vielfältigen Weisen des Erfahrens von Gott und Welt, der Reichtum der Kulturen in ihr gegenwärtig ist und so erst die Weite des Menschseins und von ihr her die Weite von Gottes Wort erscheint«. <ref> Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie (22. Dezember 2008): AAS 101 (2009), 50.</ref> Außerdem haben wir festgestellt, dass Pfingsten noch in der Entfaltung begriffen ist: viele Völker warten noch darauf, dass das Wort Gottes in ihrer Sprache und in ihrer Kultur verkündet wird.

Natürlich hat uns auf der ganzen Synode das Zeugnis des Apostels Paulus begleitet. Die Vorsehung wollte es ja, dass die XII. Ordentliche Generalversammlung genau in dem Jahr stattfand, das der Gestalt des großen Völkerapostels anläßlich des 2000. Jahrestags seiner Geburt gewidmet war. Sein Leben war ganz vom Eifer für die Verbreitung des Wortes Gottes geprägt. Unweigerlich hören wir in unserem Herzen den Widerhall seiner eindrucksvollen Worte über seine Sendung als Verkündiger des göttlichen Wortes: »Alles aber tue ich um des Evangeliums willen« (1 Kor 9,23). »Denn« – schreibt er im Brief an die Römer –»ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt« (1,16). Wenn wir über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche nachdenken, dann können wir nicht umhin, an den hl. Paulus zu denken und an sein Leben, das er hingegeben hat, um allen Völkern das Heil Christi zu verkünden.

Der Prolog des Johannesevangeliums als Leittext

5. Ich möchte, dass durch dieses Apostolische Schreiben die Ergebnisse der Synode auf das Leben der Kirche nachhaltigen Einfluß nehmen: auf die persönliche Beziehung zur Heiligen Schrift, auf ihre Auslegung in der Liturgie und in der Katechese sowie in der wissenschaftlichen Forschung, damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt, sondern als lebendiges und aktuelles Wort wahrgenommen wird. Zu diesem Zweck möchte ich die Ergebnisse der Synode vorstellen und vertiefen, indem ich immer wieder Bezug nehme auf den Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18), in dem uns die Grundlage unseres Lebens vermittelt wird: Das Wort, das von Anfang an bei Gott ist, ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt (vgl. Joh 1,14). Es ist ein wunderbarer Text, der eine Synthese des gesamten christlichen Glaubens bietet. Aus der persönlichen Erfahrung der Begegnung mit Christus und der Nachfolge Christi heraus gewann Johannes, den die Überlieferung mit dem »Jünger, den Jesus liebte« (Joh 13,23; 20,2; 21,7.20), gleichsetzt, »eine innige Gewißheit: Jesus ist die fleischgewordene Weisheit Gottes, er ist sein ewiges Wort, das ein sterblicher Mensch geworden ist«.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Angelus (4. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 9. Januar 2009, S. 2. </ref>Er, der »sah und glaubte« (Joh 20,8), möge auch uns helfen, das Haupt an die Brust Jesu zu lehnen (vgl. Joh 13,25), aus dessen Seite Blut und Wasser gefl ossen sind (vgl. Joh 19,34), Symbole der Sakramente der Kirche. Dem Vorbild des Apostels Johannes und der anderen inspirierten Autoren folgend, wollen wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, um in der Lage zu sein, das Wort Gottes immer mehr zu lieben.

ERSTER TEIL: VERBUM DEI

»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. … Und das Wort ist Fleisch geworden« ( Joh 1,1.14)

DER GOTT, DER SPRICHT

Gott im Dialog

6. Das Neue der biblischen Offenbarung besteht darin, dass Gott sich im Dialog zu erkennen gibt, den er mit uns führen möchte. <ref>Vgl. Relatio ante disceptationem, I. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum hatte diese Wirklichkeit herausgestellt, indem sie bekannte: So »redet der unsichtbare Gott aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 2. </ref> Wenn wir jedoch bei der Feststellung haltmachen würden, dass Gott sich uns liebevoll mitteilt, hätten wir die Botschaft des Prologs des hl. Johannes noch nicht ausreichend verstanden. In Wirklichkeit ist das Wort Gottes, durch das »alles geworden« (Joh 1,3) und das selbst »Fleisch geworden« ist (Joh 1,14), dasselbe, das »im Anfang « war (Joh 1,1). Wenn wir hier eine Anspielung auf den Beginn des Buches Genesis (vgl. Gen 1,1) sehen, stehen wir in Wahrheit vor einem Anfang absoluter Natur, der uns vom innersten Leben Gottes spricht. Der johanneische Prolog stellt uns vor die Tatsache, dass der Logos von jeher bestanden hat, und dass er seit jeher selber Gott ist. Es gab also in Gott nie eine Zeit, in der der Logos nicht war. Das Wort bestand schon vor der Schöpfung. Das Innerste des göttlichen Lebens ist daher Gemeinschaft, ist das absolute Geschenk. »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,16), sagt derselbe Apostel an anderer Stelle und kennzeichnet damit »das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges«.<ref> Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217-218.</ref> Gott gibt sich uns zu erkennen als Geheimnis unendlicher Liebe, in der der Vater von aller Ewigkeit her sein Wort im Heiligen Geist zum Ausdruck bringt. Das Wort, das von Anfang an bei Gott ist und das Gott ist, offenbart uns daher Gott selbst im Dialog der Liebe zwischen den göttlichen Personen und lädt uns ein, daran teilzuhaben. Als Abbild Gottes, der die Liebe ist, erschaffen und ihm ähnlich, können wir also uns selbst nur in der Annahme des Wortes und in der Fügsamkeit gegenüber dem Wirken des Heiligen Geistes verstehen. Im Licht der durch das göttliche Wort gewirkten Offenbarung klärt sich das Rätsel des menschlichen Daseins endgültig.

Die Analogie des Wortes Gottes

7. Von diesen Überlegungen aus, die sich aus der Betrachtung des im Johannesprolog ausgedrückten christlichen Geheimnisses ergeben, müssen jetzt die Aussagen der Synodenväter über die verschiedenen Weisen, mit denen wir den Ausdruck »Wort Gottes« benutzen, hervorgehoben werden. Zu Recht war die Rede von einer Symphonie des Wortes, eines einzigen Wortes, das sich auf verschiedene Weisen ausdrückt: als »ein mehrstimmiger Gesang«.<ref> Instrumentum laboris, 9.</ref> Die Synodenväter sprachen in diesem Zusammenhang von einem analogischen Gebrauch der menschlichen Sprache in bezug auf das Wort Gottes. Dieser Ausdruck betrifft einerseits die Mitteilung, die Gott über sich selbst macht, andererseits jedoch besitzt er verschiedene Bedeutungen, die sorgfältig betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, sowohl unter dem Gesichtspunkt der theologischen Reflexion als auch unter dem der Anwendung in der Seelsorge. Wie uns der Johannesprolog deutlich zeigt, bezeichnet der Logos ursprünglich das ewige Wort, also den eingeborenen Sohn, der vor aller Zeit aus dem Vater geboren und eines Wesens mit ihm ist: Das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Aber dasselbe Wort, so der hl. Johannes, »ist Fleisch geworden« (Joh 1,14); daher ist Jesus Christus, der aus der Jungfrau Maria geboren ist, wirklich das Wort Gottes, das uns wesensgleich geworden ist. Der Ausdruck »Wort Gottes« bezeichnet hier also die Person Jesu Christi, den menschgewordenen ewigen Sohn des Vaters.

Wenn im Mittelpunkt der göttlichen Offenbarung das Christusereignis steht, dann muß man ebenfalls erkennen, dass die Schöpfung selbst, der liber naturae, auch ein wesentlicher Teil dieser mehrstimmigen Symphonie ist, in der das einzige Wort seinen Ausdruck findet. Ebenso bekennen wir, dass Gott sein Wort in der Heilsgeschichte mitgeteilt hat, dass er seine Stimme vernehmen ließ und mit der Kraft seines Geistes »gesprochen hat durch die Propheten«.<ref> Nizäno-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis: DS 150. </ref> Das göttliche Wort kommt also in der ganzen Heilsgeschichte zum Ausdruck und besitzt seine Fülle im Geheimnis der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung des Sohnes Gottes. Wort Gottes ist auch das von den Aposteln verkündete Wort, in Gehorsam gegenüber dem Gebot des auferstandenen Christus: »Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!« (Mk 16,15). So wird das Wort Gottes also in der lebendigen Überlieferung der Kirche weitergegeben. Schließlich ist das bezeugte und göttlich inspirierte Wort Gottes die Heilige Schrift, das Alte und das Neue Testament. All das macht deutlich, warum wir in der Kirche die Heilige Schrift hoch verehren, obgleich der christliche Glaube keine »Buchreligion« ist: Das Christentum ist die »Religion des Wortes Gottes«, nicht »eines schriftlichen, stummen Wortes, sondern des menschgewordenen, lebendigen Wortes«.<ref> Bernhard von Clairvaux, Homilia super missus est, IV,11: PL 183, 86B.</ref> Daher muß die Schrift als Wort Gottes verkündigt, gehört, gelesen, aufgenommen und gelebt werden, und zwar in der Spur der apostolischen Überlieferung, mit der es untrennbar verknüpft ist.<ref> Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10. </ref>

Wie die Synodenväter gesagt haben, stehen wir wirklich einem analogen Gebrauch des Ausdrucks »Wort Gottes« gegenüber, und wir müssen uns dessen bewußt sein. Die Gläubigen müssen daher besser herangeführt werden, seine verschiedenen Bedeutungen zu erfassen und seinen einheitlichen Sinn zu verstehen. Auch vom theologischen Gesichtspunkt her ist es notwendig, die Artikulierung der verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks zu vertiefen, damit die Einheit des göttlichen Plans und in ihm die Zentralität der Person Christi besser aufscheint.<ref>Vgl. Propositio 3. </ref>

Kosmische Dimension des Wortes

8. Im Wissen um die grundlegende Bedeutung des Wortes Gottes in bezug auf das fleischgewordene ewige Wort Gottes, den einzigen Retter und Mittler zwischen Gott und dem Menschen,<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche Dominus iesus (6. August 2000), 13-15: AAS 92 (2000), 754– 7550.</ref> und im Hören auf dieses Wort werden wir durch die biblische Offenbarung zu der Einsicht geführt, dass es die Grundlage der ganzen Wirklichkeit ist. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es bezüglich des göttlichen Logos: »Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist« (1,3); auch der Kolosserbrief verweist auf Christus, den »Erstgeborenen der ganzen Schöpfung« (1,15), und sagt: »Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen« (1,16). Und der Autor des Hebräerbriefes ruft in Erinnerung: »Aufgrund des Glaubens erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort erschaffen worden und dass so aus Unsichtbarem das Sichtbare entstanden ist« (11,3).

Diese Verkündigung ist für uns ein befreiendes Wort. Denn die Aussagen der Schrift verweisen darauf, dass alles, was geworden ist, nicht Frucht eines irrationalen Zufalls, sondern von Gott gewollt ist, zu seinem Plan gehört, in dessen Mittelpunkt das Angebot steht, am göttlichen Leben in Christus teilzuhaben. Die Schöpfung entsteht aus dem Logos und trägt die unauslöschliche Spur der schöpferischen Vernunft, die ordnet und leitet. Diese frohe Gewißheit besingen die Psalmen: »Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes« (33,6), und: »Der Herr sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und alles war da« (33,9). Die ganze Wirklichkeit bringt dieses Geheimnis zum Ausdruck: »Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament« (19,2). So lädt uns also die Heilige Schrift selbst ein, den Schöpfer kennenzulernen, indem wir die Schöpfung betrachten (vgl. Weish 13,5; Röm 1,19-20). Die christliche Überlieferung hat dieses Schlüsselelement der Symphonie des Wortes vertieft. So sagt zum Beispiel der hl. Bonaventura, der zusammen mit der großen Überlieferung der griechischen Väter alle Möglichkeiten der Schöpfung im Logos sieht,<ref>Vgl. In Hexaemeron, XX,5; Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S.425-426; Breviloquium, I,8: Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S. 216-217.</ref> dass »jedes Geschöpf Wort Gottes ist, weil es Gott verkündigt«.<ref> Itinerarium mentis in Deum, II,12: Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 302-303; Commentarius in librum Ecclesiastes, Kap. 1, Vers 11; Quaestiones, II,3: Opera omnia, VI, Quaracchi 1891, S. 16. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum hat dies so zusammengefaßt: »Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 3; vgl. ERSTES VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über den katholischen Glauben Dei filius, Kap. 2, De revelatione: DS 3004.</ref>

Die Erschaffung des Menschen

9. Die Wirklichkeit entsteht also aus dem Wort als creatura Verbi, und alles ist aufgerufen, dem Wort zu dienen. Die Schöpfung ist der Ort, an dem sich die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und seinem Geschöpf entfaltet; das Heil des Menschen ist also der Beweggrund aller Dinge. Wenn wir den Kosmos vom heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt her betrachten, entdecken wir die einzigartige Stellung, die der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). So können wir die kostbaren Gaben, die wir vom Schöpfer erhalten haben, in ihrer ganzen Tragweite erkennen: den Wert des eigenen Leibes, die Gabe der Vernunft, der Freiheit und des Gewissens. Darin finden wir auch das, was in der philosophischen Tradition als »Naturrecht« bezeichnet wird.<ref>Vgl. Propositio 13. </ref> In der Tat »erfährt jeder Mensch, der auf das Gewissen hört und die Verantwortung wahrnimmt, einen inneren Ruf, Gutes zu tun«<ref>Vgl. Internationale Theologenkommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 39. </ref> und daher Böses zu vermeiden. Wie der hl. Thomas von Aquin sagt, gründen auf diesem Prinzip auch alle anderen Vorschriften des Naturrechts.<ref>Vgl. Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 94, a. 2. </ref> Das Hören auf das Wort Gottes lehrt uns zunächst einmal die Achtung gegenüber dem Anspruch, nach diesem Gesetz, das »ins Herz geschrieben« ist (vgl. Röm 2,15; 7,23), <ref> Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns (11. Mai 2008), Vatikanstadt 2008, Nrn. 13, 32, 109.</ref> zu leben. Jesus Christus gibt dann den Menschen das neue Gesetz, das Gesetz des Evangeliums, das das Naturrecht aufnimmt, es in überragender Weise zur Verwirklichung bringt und uns vom Gesetz der Sünde befreit, aufgrund dessen, wie der hl. Paulus sagt, »das Wollen bei mir vorhanden ist, ich das Gute aber nicht zu verwirklichen vermag« (Röm 7,18). Dieses Gesetz schenkt den Menschen durch die Gnade Anteil am göttlichen Leben und die Möglichkeit, den Egoismus zu überwinden. <ref> Vgl. Internationale Theologenkommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das Naturrecht, Vatikanstadt 2009, Nr. 102.</ref>


Der Realismus des Wortes

10. Wer das göttliche Wort kennt, kennt auch die tiefste Bedeutung eines jeden Geschöpfs. Wenn nämlich alles »Bestand« hat in ihm, der »vor aller Schöpfung« ist (vgl. Kol 1,17), dann schafft derjenige, der sein Leben auf diesem Wort aufbaut, einen wirklich soliden und dauerhaften Bau. Das Wort Gottes drängt uns zu einer Änderung unseres Begriffs von Realismus: Realist ist der, der im Wort Gottes das Fundament von allem erkennt.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Homilie bei der Terz zu Beginn der ersten Vollversammlung der Bischofssynode (6. Oktober 2008): AAS 100 (2008), 758–761.</ref> Das brauchen wir besonders in unserer Zeit, in der viele Dinge, auf die man für den Aufbau des Lebens vertraut und seine Hoffnung zu setzen sucht ist, ihr vergängliches Wesen offenbaren. Haben, Genuß und Macht erweisen sich früher oder später als unfähig, das tiefste Verlangen des menschlichen Herzens zu stillen. Zum Aufbau seines Lebens braucht der Mensch solide Fundamente, die auch dann bestehen bleiben, wenn menschliche Gewißheiten schwinden.

»Herr, dein Wort bleibt auf ewig, es steht fest wie der Himmel«, und die Treue des Herrn währt »von Geschlecht zu Geschlecht« (Ps 119,89-90): Wer auf dieses Wort baut, baut das Haus seines Lebens auf Fels (vgl. Mt 7,24). Möge unser Herz jeden Tag zu Gott sagen können: »Du bist mein Schutz und mein Schild, ich warte auf dein Wort« (Ps 119,114); mögen wir in der Lage sein, jeden Tag wie Petrus im Vertrauen auf den Herrn Jesus zu handeln: »Wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen« (Lk 5,5).

Christologie des Wortes

11. Mit diesem Blick auf die Wirklichkeit als das durch das göttliche Wort vollbrachte Werk der Allerheiligsten Dreifaltigkeit können wir die Worte des Autors des Hebräerbriefes verstehen: »Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat«  (1,1-2). Es ist sehr schön zu sehen, wie bereits das ganze Alte Testament sich uns als Geschichte darstellt, in der Gott sein Wort mitteilt: »Er schloß mit Abraham (vgl. Gen 15,8) und durch Moses mit dem Volke Israel (vgl. Ex 24,8) einen Bund. Dann hat er sich dem Volk, das er sich erworben hatte, durch Wort und Tat als einzigen, wahren und lebendigen Gott so geoffenbart, dass Israel Gottes Wege mit den Menschen an sich erfuhr, dass es sie durch Gottes Wort aus der Propheten Mund allmählich voller und klarer erkannte und sie unter den Völkern mehr und mehr sichtbar machte (vgl. Ps 21,28-29; 95,1-3; Jes 2,1-4; Jer 3,17)«<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 14. </ref> Diese Herablassung Gottes erfüllt sich in unübertrefflicher Weise in der Fleischwerdung des Wortes. Das ewige Wort, das sich in der Schöpfung ausdrückt und sich in der Heilsgeschichte mitteilt, ist in Christus ein Mensch geworden, »geboren von einer Frau« (Gal 4,4). Hier äußert sich das Wort nicht vor allem in einer Rede, in Begriffen oder Regeln. Hier stehen wir vor der Person Jesu selbst. Seine einzigartige Geschichte ist das endgültige Wort, das Gott zur Menschheit spricht. Von da aus versteht man, warum »am Anfang des Christseins … nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee [steht], sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt«. <ref> Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217-218.</ref> Die Erneuerung dieser Begegnung und dieses Bewußtseins erzeugt in den Herzen der Gläubigen das Staunen über die göttliche Initiative, die der Mensch mit seinen rationalen Fähigkeiten und seiner Vorstellungskraft niemals hätte ersinnen können. Es ist eine nie dagewesene und menschlich betrachtet unfaßbare Neuheit: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« ( Joh 1,14a). Diese Worte verweisen nicht auf eine rhetorische Figur, sondern auf eine gelebte Erfahrung! Sie wird vom hl. Johannes vermittelt, einem Augenzeugen: »Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit« ( Joh 1,14b). Der apostolische Glaube bezeugt, dass das ewige Wort einer von uns wurde. Das göttliche Wort drückt sich wirklich in menschli- chen Worten aus.

12. In der Betrachtung dieser »Christologie des Wortes« hat die patristische und mittelalterliche Überlieferung ein eindrucksvolles Wort verwendet: Das Wort hat sich kurz gemacht :<ref>»Ho Logos pachynetai (oder brachynetai)«. Vgl. ORIGENES, Peri Archon, I,2,8: SC 252,127-129. </ref> »Die Kirchenväter lasen in ihrer griechischen Übersetzung des Alten Testaments ein Wort des Propheten Jesaja, das dann auch Paulus zitiert, um zu zeigen, wie die neuen Wege Gottes im Alten Testament schon vorhergesagt waren. „Gott hat sein Wort kurz gemacht, es abgekürzt“, hieß es da ( Jes 10,23; Röm 9,28). … Der Sohn selbst ist das Wort, der Logos; das ewige Wort hat sich klein gemacht – so klein, dass es in eine Krippe paßte. Es hat sich zum Kind gemacht, damit uns das Wort faßbar werde«.<ref> Benedikt XVI., Predigt am Hochfest der Geburt des Herrn (24. Dezember 2006): AAS 99 (2007), 12. </ref> Nun ist das Wort nicht nur hörbar, besitzt es nicht nur eine Stimme, jetzt hat das Wort ein Gesicht, das wir sehen können: Jesus von Nazaret.<ref> Vgl. Schlussbotschaft, II, 4-6. </ref>

Wenn wir die Erzählung der Evangelien verfolgen, stellen wir fest, wie die Menschheit Jesu gerade in bezug auf das Wort Gottes in ihrer ganzen Einzigartigkeit sichtbar wird. Denn in seinem vollkommenen Menschsein erfüllt er Augenblick für Augenblick den Willen des Vaters; Jesus hört sein Wort und gehorcht ihm mit seinem ganzen Sein; er kennt den Vater und hält an seinem Wort fest (vgl. Joh 8,55); er berichtet uns vom Vater (vgl. Joh 12,50): »Die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen« ( Joh 17,8). Jesus zeigt also, dass er der göttliche Logos ist, der sich uns hinschenkt, aber auch der neue Adam, der wahre Mensch, der in jedem Augenblick nicht den eigenen Willen, sondern den des Vaters erfüllt. Er »wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen« (Lk 2,52). In vollkommener Weise hört er das göttliche Wort, verwirklicht es in sich selbst und teilt es uns mit (vgl. Lk 5,1).

Die Sendung Jesu findet schließlich ihre Erfüllung im Ostergeheimnis: Hier stehen wir vor dem »Wort vom Kreuz« (1 Kor 1,18). Das Wort verstummt, wird zur Totenstille, denn es hat sich »ausgesagt« bis hin zum Schweigen, ohne irgend etwas zurückzuhalten, was es uns mitteilen sollte. In der Betrachtung dieses Geheimnisses legen die Kirchenväter der Mutter Gottes in eindrücklicher Weise diese Worte in den Mund: »Wortlos ist das Wort des Vaters, das jedes sprechende Geschöpf erschaffen hat; leblos sind die erloschenen Augen dessen, auf dessen Wort und Zeichen hin alles Lebendige sich bewegt«. <ref> MAXIMUS CONFESSOR, Marienleben, Nr. 89. </ref> Hier wird uns wirklich die »größere« Liebe vermittelt, die das Leben für die Freunde hingibt (vgl. Joh 15,13).

In diesem großen Geheimnis offenbart sich Jesus als das Wort des neuen und ewigen Bundes: Die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen sind einander endgültig begegnet in seinem gekreuzigten Fleisch, in einem unaufl öslichen, immerwährenden Bund. Beim Letzten Abendmahl, bei der Einsetzung der Eucharistie hatte Jesus selbst vom »neuen und ewigen Bund« gesprochen, der in seinem vergossenen Blut geschlossen wurde (vgl. Mt 26,28; Mk 14,24; Lk 22,20), und sich so als das wahre Opferlamm erwiesen, in dem sich die endgültige Befreiung aus der Knechtschaft vollzieht.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 9-10: AAS 99 (2007), 111-112. </ref>

Im lichtvollen Geheimnis der Auferstehung offenbart sich dieses Schweigen des Wortes in seiner wahren und endgültigen Bedeutung. Christus, das fleischgewordene, gekreuzigte und auferstandene Wort Gottes, ist der Herr aller Dinge; er ist der Sieger, der Pantokrator, und so ist alles für immer in ihm vereint (vgl. Eph 1,10). Christus ist also »das Licht der Welt« ( Joh 8,12), das Licht, das »leuchtet in der Finsternis« ( Joh 1,4) und das die Finsternis nicht erfaßt hat (vgl. Joh 1,5). Hier verstehen wir die volle Bedeutung von Psalm 119: »Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade« (V. 105); das Wort, das aufersteht, ist dieses endgültige Licht auf unserem Weg. Von Anfang an wußten die Christen, dass das Wort Gottes in Christus als Person gegenwärtig ist. Das Wort Gottes ist das wahre Licht, das der Mensch braucht. Ja, in der Auferstehung ist der Sohn Gottes als Licht der Welt erstanden. Jetzt können wir, wenn wir mit ihm und für ihn leben, im Licht leben.

13. Sozusagen im Herzen der »Christologie des Wortes« angekommen, ist es wichtig, die Einheit des göttlichen Plans im fleischgewordenen Wort hervorzuheben: Daher präsentiert uns das Neue Testament das Ostergeheimnis in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift als ihre innerste Erfüllung. Der hl. Paulus sagt im Ersten Brief an die Korinther, dass Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist, »gemäß der Schrift« (15,3), und dass er am dritten Tag auferstanden ist, »gemäß der Schrift« (15,4). Damit stellt der Apostel das Ereignis des Todes und der Auferstehung des Herrn in Beziehung zur Geschichte des Alten Bundes Gottes mit seinem Volk. Mehr noch, er gibt uns zu verstehen, dass diese Geschichte aus ihm ihre Logik und ihre wahre Bedeutung erhält. »Im Ostergeheimnis erfüllen sich die Worte der Schrift. Dies heißt: Dieser Tod, der „gemäß der Schrift“ geschehen ist, ist ein Ereignis, das einen „logos“, eine Logik in sich trägt: Der Tod Christi bezeugt, dass das Wort Gottes bis ins Innerste „Fleisch“, menschliche „Geschichte“, geworden ist«. <ref> Benedikt XVI., Generalaudienz (15. April 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 24. April 2009, S. 2.</ref> Auch die Auferstehung Jesu geschieht »am dritten Tag gemäß der Schrift«: Da nach jüdischer Auslegung die Verwesung nach dem dritten Tag einsetzte, erfüllt sich das Wort der Schrift in Jesus, der aufersteht, bevor die Verwesung einsetzt. Auf diese Weise unterstreicht der hl. Paulus, indem er die Lehre der Apostel getreu überliefert (vgl. 1 Kor 15,3), dass der Sieg Christi über den Tod durch die schöpferische Macht des Wortes Gottes geschieht. Diese göttliche Macht weckt Hoffnung und Freude: Das ist letztlich der befreiende Inhalt der österlichen Offenbarung. An Ostern offenbart Gott sich selbst und die Macht der trinitarischen Liebe, die die zerstörerischen Kräfte des Bösen und des Todes vernichtet.

Wenn wir uns diese wesentlichen Elemente unseres Glaubens ins Gedächtnis rufen, können wir die tiefe Einheit zwischen Schöpfung und neuer Schöpfung und der ganzen Heilsgeschichte in Christus betrachten. Um es in einem Bild auszudrücken, können wir den Kosmos mit einem »Buch« vergleichen – so sagte es auch Galileo Galilei – und ihn als »das Werk eines Autors [betrachten], der sich durch die „Symphonie“ der Schöpfung kundtut. Innerhalb dieser Symphonie findet sich an einem bestimmten Punkt das, was man in der Sprache der Musik ein „Solo“ nennen würde: ein Thema, das einem einzelnen Instrument oder einer einzigen Stimme anvertraut ist. Und dieses Thema ist so wichtig, dass von ihm die Bedeutung des gesamten Werkes abhängt. Dieses „Solo“ ist Jesus … Der Menschensohn faßt in sich die Erde und den Himmel zusammen, die Schöpfung und den Schöpfer, das Fleisch und den Geist. Er ist der Mittelpunkt des Kosmos und der Geschichte, da sich in ihm der Autor und sein Werk vereinen, ohne sich zu vermischen«. <ref> DERS., Predigt am Hochfest der Erscheinung des Herrn (6. Januar 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 16. Januar 2009, S. 1. </ref>

Die eschatologische Dimension des Wortes Gottes

14. Mit all dem bringt die Kirche das Bewußtsein zum Ausdruck, dass sie in Jesus Christus dem endgültigen Wort Gottes gegenübersteht; er ist »der Erste und der Letzte« (Offb 1,17). Er hat der Schöpfung und der Geschichte ihren endgültigen Sinn gegeben; deshalb sind wir berufen, in diesem eschatologischen Rhythmus des Wortes die Zeit zu leben, die Schöpfung Gottes zu bewohnen; »daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13)«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 4. </ref> Wie die Väter während der Synode in Erinnerung gerufen haben, »zeigt sich das Besondere des Christentums im Ereignis Jesu Christi, Höhepunkt der Offenbarung, Erfüllung der Verheißungen Gottes und Mittler der Begegnung zwischen dem Menschen und Gott. Er, „der von Gott Kunde gebracht hat“ (vgl. Joh 1,18), ist das einzige und endgültige Wort, das der Menschheit gegeben wurde«.<ref> Propositio 4. </ref> Der hl. Johannes vom Kreuz hat diese Wahrheit wunderbar ausgedrückt: »Da Gott uns seinen Sohn geschenkt hat, der sein einziges und endgültiges Wort ist, hat er uns in diesem einzigen Wort alles auf einmal gesagt und nichts mehr hinzuzufügen ... Denn was er ehedem den Propheten nur teilweise kundgetan hat, das hat er in seinem Sohn vollständig mitgeteilt, indem er uns dieses Ganze gab, seinen Sohn. Wer darum den Herrn jetzt noch befragen oder von ihm Visionen oder Offenbarungen haben wollte, der würde nicht bloß unvernünftig handeln, sondern Gott beleidigen, weil er seine Augen nicht einzig auf Christus richtet, sondern Anderes und Neues sucht«.<ref>HL. Johannes vom Kreuz, Aufstieg auf den Berg Karmel, II,22.</ref>

Folglich hat die Synode empfohlen, »den Gläubigen zu helfen, das Wort Gottes von Privatoffenbarungen zu unterscheiden«.<ref>Propositio 47. </ref> Diese »sind nicht dazu da, die endgültige Offenbarung Christi … zu „vervollständigen“, sondern sollen helfen, in einem bestimmten Zeitalter tiefer aus ihr zu leben«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 67. </ref>Der Wert der Privatoffenbarungen ist wesentlich unterschieden von der einer öffentlichen Offenbarung: Diese fordert unseren Glauben an, denn in ihr spricht durch Menschenworte und durch die Vermittlung der lebendigen Gemeinschaft der Kirche hindurch Gott selbst zu uns. Der Maßstab für die Wahrheit einer Privatoffenbarung ist ihre Hinordnung auf Christus selbst. Wenn sie uns von ihm wegführt, dann kommt sie sicher nicht vom Heiligen Geist, der uns in das Evangelium hinein- und nicht aus ihm herausführt. Die Privatoffenbarung ist eine Hilfe zu diesem Glauben, und sie erweist sich gerade dadurch als glaubwürdig, dass sie auf die eine öffentliche Offenbarung verweist. Die kirchliche Approbation einer Privatoffenbarung zeigt daher im wesentlichen an, dass die entsprechende Botschaft nichts enthält, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; es ist erlaubt, sie zu veröffentlichen, und den Gläubigen ist es gestattet, ihr in kluger Weise ihre Zustimmung zu schenken. Eine Privatoffenbarung kann neue Akzente setzen, neue Weisen der Frömmigkeit herausstellen oder alte vertiefen. Sie kann einen gewissen prophetischen Charakter besitzen (vgl. 1 Thess 5,19-21) und eine wertvolle Hilfe sein, das Evangelium in der jeweils gegenwärtigen Stunde besser zu verstehen und zu leben; deshalb soll man sie nicht achtlos beiseite schieben. Sie ist eine Hilfe, die angeboten wird, aber von der man nicht Gebrauch machen muß. Auf jeden Fall muß es darum gehen, dass sie Glaube, Hoffnung und Liebe nährt, die der bleibende Weg des Heils für alle sind.<ref> Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Die Botschaft von Fatima (26. Juni 2000): Ench. Vat. 19, Nrn. 974-1021. </ref>

Das Wort Gottes und der Heilige Geist

15. Nachdem wir uns beim letzten und endgültigen Wort Gottes an die Welt aufgehalten haben, müssen wir jetzt an die Sendung des Heiligen Geistes in bezug auf das göttliche Wort erinnern, denn es gibt kein wahres Verständnis der christlichen Offenbarung außerhalb des Wirkens des Parakleten. Das hängt damit zusammen, dass die Selbstmitteilung Gottes stets die Beziehung zwischen dem Sohn und dem Heiligen Geist einschließt; Irenäus von Lyon nennt sie »die beiden Hände des Vaters«.<ref> Adversus haereses, IV,7,4: PG 7, 992-993; V,1,3: PG 7, 1123; V,6,1: PG 7, 1137; V,28,4: PG 7, 1200.</ref> Im übrigen ist es die Heilige Schrift, die uns auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Heilsgeschichte und insbesondere im Leben Jesu hinweist: Dieser wird durch das Wirken des Heiligen Geistes von der Jungfrau Maria empfangen (vgl. Mt 1,18; Lk 1,35); zu Beginn seines öffentlichen Wirkens, am Ufer des Jordan, sieht er ihn wie eine Taube auf sich herab- kommen (vgl. Mt 3,16); im selben Geist handelt, spricht und frohlockt Jesus (vgl. Lk 10,21); und im Geist opfert er sich selbst (vgl. Hebr 9,14). Gegen Ende seiner Sendung bringt Jesus dem Bericht des Evangelisten Johannes zufolge die Hingabe seines Lebens eindeutig in Verbindung mit der Sendung des Heiligen Geistes an die Seinen (vgl. Joh 16,7). Der auferstandene Jesus, der an seinem Leib die Zeichen der Passion trägt, gießt dann mit seinem Hauch den Geist über die Seinen aus (vgl. Joh 20,22) und läßt sie so an seiner eigenen Sendung teilhaben (vgl. Joh 20,21). Der Heilige Geist wird die Jünger alles lehren und sie an alles erinnern, was Christus gesagt hat (vgl. Joh 14,26), denn er, der Geist der Wahrheit (vgl. Joh 15,26), wird die Jünger in die ganze Wahrheit führen. In der Apostelgeschichte steht schließlich, dass der Heilige Geist auf die Apostel herabkommt, die am Pfi ngsttag zusammen mit Maria im Gebet versammelt sind (vgl. 2,1-4), und sie für die Sendung, allen Völkern die Frohe Botschaft zu verkünden, ermutigt.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 12: AAS 99 (2007), 113-114.</ref>

Das Wort Gottes kommt also durch das Wirken des Heiligen Geistes in menschlichen Worten zum Ausdruck. Die Sendung des Sohnes und jene des Heiligen Geistes sind untrennbar miteinander verbunden und bilden eine einzige Heilsökonomie. Der Geist, der in der Inkarnation des Wortes im Schoß der Jungfrau Maria wirkt, ist derselbe, der Jesus in seiner ganzen Sendung leitet und der den Jüngern verheißen wird. Derselbe Geist, der durch die Propheten gesprochen hat, stützt und inspiriert die Kirche in ihrer Aufgabe, das Wort Gottes zu verkündigen, und in der Predigt der Apostel; schließlich ist es dieser Geist, der die Autoren der Heiligen Schrift inspiriert hat.

16. Im Bewußtsein dieser pneumatologischen Perspektive haben die Synodenväter an die Bedeutung des Wirkens des Heiligen Geistes im Leben der Kirche und in den Herzen der Gläubigen in bezug auf die Heilige Schrift erinnert:<ref>Vgl. Propositio 5. </ref> Ohne das wirkungsvolle Handeln des »Geistes der Wahrheit« (Joh 14,16) kann man die Worte des Herrn nicht verstehen. Auch der hl. Irenäus sagt: »Jene, die nicht teilhaben am Geist, ziehen nicht aus der Brust ihrer Mutter (der Kirche) die lebensspendende Nahrung, sie erhalten nichts aus der reinsten Quelle, die dem Leib Christi entspringt«.<ref>Adversus haereses, III,24,1: PG 7, 966.</ref> Wie das Wort Gottes im Leib Christi, im eucharistischen Leib und im Leib der Schriften durch das Wirken des Heiligen Geistes zu uns kommt, so kann es nur durch denselben Geist angenommen und wirklich verstanden werden.

Die großen Autoren der christlichen Tradition stimmen überein in ihrer Beurteilung der Rolle, die der Heilige Geist in der Beziehung der Gläubigen zur Heiligen Schrift spielen muß. Der hl. Johannes Chrysostomos sagt, dass die Schrift »der Offenbarung des Geistes bedarf, damit wir reichen Nutzen ziehen können aus der Entdeckung des wahren Sinnes der Dinge, die darin verborgen sind«.<ref>Homiliae in Genesim, XXII, 1: PG 53, 175. </ref> Auch der hl. Hieronymus ist fest davon überzeugt, dass wir »nicht zum Verständnis der Heiligen Schrift gelangen können ohne die Hilfe des Heiligen Geistes, der sie inspiriert hat«.<ref>Epistula 120, 10: CSEL 55, S. 500-506. </ref> Der hl. Gregor der Große hebt sehr schön das Wirken desselben Geistes in der Herausbildung und in der Auslegung der Bibel hervor: »Er selbst hat die Worte der heiligen Testamente erschaffen, er selbst hat ihren Sinn enthüllt«.<ref>Homiliae in Ezechielem I,VII,17: CC 142, S. 94. </ref> Richard von Sankt Viktor ruft in Erinnerung, dass man »Taubenaugen« braucht, die vom Geist erleuchtet und unterwiesen sind, um den heiligen Text zu verstehen.<ref> »Oculi ergo devotae animae sunt columbarum quia sensus eius per Spiritum Sanctum sunt illuminati et edocti, spiritualia sapientes … Nunc quidem aperitur animae talis sensus, ut intellegat Scripturas«: RICHARD VON SANKT VIKTOR, Explicatio in Cantica canticorum, 15: PL 196, 450B.D. </ref>

Hervorheben möchte ich noch, wie wichtig das Zeugnis über die Beziehung zwischen dem Geist und der Schrift ist, das wir in den liturgischen Texten finden, wo das Wort Gottes verkündigt, gehört und den Gläubigen ausgelegt wird. Dies gilt für die antiken Gebete, die in Form einer Epiklese vor den Lesungen den Geist anrufen: »Sende deinen Heiligen Geist, den Beistand, in unsere Herzen, und laß uns die von ihm inspirierten Schriften verstehen; gib, dass ich sie würdig auslege, auf dass die hier versammelten Gläubigen daraus Nutzen ziehen«. Ebenso finden sich Gebete, die nach der Predigt Gott noch einmal um die Gabe des Geistes an die Gläubigen anrufen: »Gott, unser Retter, … wir bitten dich: Sende den Heiligen Geist auf dieses Volk herab. Der Herr Jesus möge bei ihm sein, den Verstand aller ansprechen, die Herzen für den Glauben bereiten und unsere Seelen zu dir führen, barmherziger Gott«.<ref>Sacramentarium Serapionis II (XX): Didascalia et Constitutiones apostolorum, ed. F.X. FUNK, II, Paderborn 1906, S. 161.</ref> Aus alledem wird leicht verständlich, warum man den Sinn des Wortes nicht erfassen kann, wenn man das Wirken des Parakleten in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen nicht annimmt.

Überlieferung und Schrift

17. Indem wir erneut die tiefe Verbindung zwischen dem Heiligen Geist und dem Wort Gottes festgestellt haben, haben wir auch die Grundlagen geschaffen, um den Sinn und den entscheidenden Wert der lebendigen Überlieferung und der Heiligen Schrift in der Kirche zu verstehen. Weil nämlich »Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab« ( Joh 3,16), hat sich das in der Zeit gesprochene göttliche Wort hingegeben und sich der Kirche endgültig »überantwortet«, damit das Heil zu allen Zeiten und an allen Orten kraftvoll verkündet werden kann. Wie uns die dogmatische Konstitution Dei verbum in Erinnerung ruft, hat Jesus Christus selbst »den Aposteln geboten, das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen. Das ist treu ausgeführt worden, und zwar sowohl durch die Apostel, die durch mündliche Predigt, durch Beispiel und Einrichtungen weitergaben, was sie aus Christi Mund, im Umgang mit ihm und durch seine Werke empfangen oder was sie unter der Eingebung des Heiligen Geistes gelernt hatten, als auch durch jene Apostel und apostolischen Männer, die unter der Inspiration des gleichen Heiligen Geistes die Botschaft vom Heil niederschrieben«.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 7.</ref>

Darüber hinaus erinnert das Zweite Vatikanische Konzil daran, dass diese Überlieferung apostolischen Ursprungs eine lebendige und dynamische Wirklichkeit ist: Sie »kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt«, aber nicht in dem Sinne, dass sie sich in ihrer Wahrheit verändert, die immerwährend ist. Vielmehr »wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte« durch die Betrachtung und das Studium, durch Einsicht, die aus tieferer geistlicher Erfahrung stammt, und durch »die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben«.<ref> Ebd., 8. </ref>

Die lebendige Überlieferung ist wesentlich, damit die Kirche im Laufe der Zeit im Verständnis der in den Schriften offenbarten Wahrheit wachsen kann; es wird nämlich »durch dieselbe Überlieferung … der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt, in ihr werden die Heiligen Schriften selbst tiefer verstanden und unaufhörlich wirksam gemacht«.<ref>Ebd. </ref> Letztendlich ist es die lebendige Überlieferung der Kirche, die uns die Heilige Schrift als Wort Gottes angemessen verstehen läßt. Obgleich das Wort Gottes der Heiligen Schrift vorausgeht und sie übersteigt, enthält sie doch, da sie von Gott inspiriert ist, das göttliche Wort (vgl. 2 Tim 3,16) »in ganz einzigartiger Weise«.<ref>Vgl. Propositio 3. </ref>

18. Daraus geht hervor, wie wichtig es ist, dass das Volk Gottes klar unterwiesen wird, den Zugang zur Heiligen Schrift in Verbindung mit der lebendigen Überlieferung der Kirche zu suchen und so in ihr das Wort Gottes selbst zu erkennen. Unter dem Gesichtspunkt des geistlichen Lebens ist es sehr wichtig, dafür zu sorgen, dass diese Haltung bei den Gläubigen zunimmt. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis auf eine von den Kirchenvätern entwickelte Analogie zwischen dem Wort Gottes, das »Fleisch« wird, und dem Wort, das »Buch« wird, hilfreich sein.<ref>Vgl. Schlussbotschaft, II,5. </ref> Die dogmatische Konstitution Dei verbum greift die alte Überlieferung auf, der zufolge »der Leib des Sohnes die uns überlieferte Schrift ist«, wie der hl. Ambrosius sagt,<ref>Expositio Evangelii secundum Lucam 6,33: PL 15, 1677.</ref> und erklärt: »Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters

Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 13. </ref>So verstanden stellt sich uns die Heilige Schrift trotz der Vielfalt ihrer Formen und Inhalte als Einheit dar. Denn »durch alle Worte der Heiligen Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort, in dem er sich selbst ganz aussagt (vgl. Hebr 1,1-3)«,<ref>Katechismus der Katholischen Kirche 102. Vgl. auch RUPERT VON DEUTZ, De operibus Spiritus Sancti, I,6: SC 131, 72-74. </ref> wie bereits der hl. Augustinus deutlich gemacht hat: »Erinnert euch daran, dass Gottes Rede nur eine ist, die sich in der ganzen Heiligen Schrift entfaltet, und dass nur eines das Wort ist, das aus dem Mund aller heiligen Autoren ertönt«.<ref>Enarrationes in Psalmos, 103,IV,1: PL 37, 1378. Ähnliche Aussagen finden sich bei ORIGENES, In Iohannem V,5-6: SC 120, 380-384.</ref>

Letztlich gibt die Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes und unter der Führung des Lehramts an alle Generationen das weiter, was in Christus offenbart wurde. Die Kirche lebt in der Gewißheit, dass ihr Herr, der in der Vergangenheit gesprochen hat, auch heute noch sein Wort in der lebendigen Überlieferung der Kirche und in der Heiligen Schrift mitteilt. Das Wort Gottes schenkt sich uns in der Heiligen Schrift als inspiriertes Zeugnis der Offenbarung, die mit der lebendigen Überlieferung der Kirche die höchste Richtschnur des Glaubens darstellt.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 21.</ref>

Heilige Schrift, Inspiration und Wahrheit

19. Ein Schlüsselbegriff, der dazu dient, die Heilige Schrift als Wort Gottes in menschlichen Worten zu erfassen, ist die Inspiration. Auch hier kann man eine Analogie anführen: So wie das Wort Gottes im Schoß der Jungfrau Maria Fleisch geworden ist durch das Wirken des Heiligen Geistes, wird die Heilige Schrift durch das Wirken desselben Geistes im Schoß der Kirche geboren. Die Heilige Schrift ist »Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde«.<ref> Ebd., 9.</ref> So erkennt man die ganze Bedeutung des menschlichen Autors, der die inspirierten Texte geschrieben hat, und gleichzeitig Gott selbst als den wahren Autor.

In diesem Zusammenhang zeigt sich ganz deutlich, so die Synodenväter, wie entscheidend das Thema der Inspiration für eine adäquate Annäherung an die Schrift und ihre korrekte Hermeneutik ist,<ref> Vgl. Propositiones 5.12. </ref> die wiederum in demselben Geist geschehen muß, in dem sie geschrieben wurde.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 12. </ref> Wenn in uns das Bewußtsein für die Inspiration abnimmt, dann besteht die Gefahr, die Schrift als Objekt historischen Interesses zu lesen und nicht als Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können.

Außerdem haben die Synodenväter hervorgehoben, dass mit dem Thema der Inspiration auch das Thema der Wahrheit der Schrift verbunden ist.<ref>Vgl. Propositio 12. </ref> Eine Vertiefung der Dynamik der Inspiration führt daher zweifellos auch zu einem besseren Verständnis der in den heiligen Büchern enthaltenen Wahrheit. Die Aussagen des Konzils bekräftigen diesbezüglich, dass die inspirierten Bücher die Wahrheit lehren: »Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte. Daher „ist jede Schrift, von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Gott gehörige Mensch bereit sei, wohlgerüstet zu jedem guten Werk“ (2 Tim 3,16-17gr.)«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 11.</ref>

Gewiß wurden in der theologischen Reflexion Inspiration und Wahrheit stets als zwei Schlüsselbegriffe für eine kirchliche Hermeneutik der Heiligen Schrift betrachtet. Dennoch muß man einräumen, dass es heute notwendig ist, diese Wirklichkeiten adäquat zu vertiefen, um besser antworten zu können auf das, was für eine wesensgemäße Auslegung der heiligen Texte erforderlich ist. In dieser Hinsicht möchte ich meinen dringenden Wunsch zum Ausdruck bringen, dass die Forschung in diesem Bereich fortschreiten und für die Bibelwissenschaft und für das geistliche Leben der Gläubigen Früchte tragen möge.

Gott Vater, Quell und Ursprung des Wortes

20. Die Ökonomie der Offenbarung hat ihren Beginn und ihren Ursprung in Gott, dem Vater. Durch sein Wort »wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes« (Ps 33,6). Er ist es, durch den wir »erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi« (2 Kor 4,6; vgl. Mt 16,17; Lk 9,29).

Im Sohn, dem »fleischgewordenen Logos« (vgl. Joh 1,14), der gekommen ist, um den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 4,34), zeigt sich Gott, der Quell der Offenbarung, als Vater und bringt die göttliche Erziehung des Menschen zur Vollendung, die bereits vorher durch die Worte der Propheten und die Wunder, die er in der Schöpfung und in der Geschichte seines Volkes und aller Menschen gewirkt hat, angeregt worden war. Den Höhepunkt der Offenbarung Gottes des Vaters bietet der Sohn mit der Gabe des Parakleten (vgl. Joh 14,16) – des Geistes des Vaters und des Sohnes –, der uns »in die ganze Wahrheit führt« ( Joh 16,13).

So werden alle Verheißungen Gottes zum »Ja« in Jesus Christus (vgl. 2 Kor 1,20). Auf diese Weise eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit, den Weg zu gehen, der ihn zum Vater führt (vgl. Joh 14,6), damit am Ende Gott »alles in allem sei« (1 Kor 15,28).

21. Wie das Kreuz Christi zeigt, spricht Gott auch durch sein Schweigen. Das Schweigen Gottes, die Erfahrung der Ferne des allmächtigen Vaters, ist ein entscheidender Abschnitt auf dem irdischen Weg des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Am Holz des Kreuzes hängend, hat er den Schmerz beklagt, den dieses Schweigen ihm zufügt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34; Mt 27,46). Gehorsam bis zum letzten Atemzug, hat Jesus in der Finsternis des Todes den Vater angerufen. Ihm vertraute er sich im Augenblick des Übergangs durch den Tod zum ewigen Leben an: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist«  (Lk 23,46).

Diese Erfahrung Jesu ist bezeichnend für die Situation des Menschen, der, nachdem er das Wort Gottes gehört und erkannt hat, es auch mit seinem Schweigen aufnehmen muß. Es ist eine Erfahrung, die etliche Heilige und Mystiker gemacht haben und die auch heute zum Weg vieler Gläubigen gehört. Das Schweigen Gottes ist wie eine Verlängerung der Worte, die er zuvor gesprochen hat. In diesen dunklen Augenblicken spricht er im Geheimnis seines Schweigens. Darum erscheint in der Dynamik der christlichen Offenbarung das Schweigen als wichtiger Ausdruck des Wortes Gottes.

DIE ANTWORT DES MENSCHEN AN DEN GOTT, DER SPRICHT

Berufen, in den Bund mit Gott einzutreten

22. Durch die Hervorhebung der Vielgestaltigkeit des Wortes konnten wir uns vor Augen führen, auf wie viele Weisen Gott zum Menschen spricht und ihm entgegenkommt, sich ihm im Dialog zu erkennen gibt. Gewiß, »wenn der Dialog« – wie die Synodenväter betont haben – »im Bezug zur Offenbarung steht, ist damit der Primat des an den Menschen gerichteten Wortes Gottes verbunden«.<ref>Propositio 4.</ref> Das Geheimnis des Bundes bringt die Beziehung zwischen Gott, der durch sein Wort ruft, und dem Menschen, der antwortet, zum Ausdruck, im klaren Bewußtsein, dass es sich nicht um eine Begegnung zwischen zwei gleichrangigen Parteien handelt. Das, was wir den Alten und den Neuen Bund nennen, ist kein Übereinkommen zwischen zwei gleichen Teilen, sondern ein reines Geschenk Gottes. Indem er durch dieses Geschenk seiner Liebe jede Distanz überwindet, macht er uns wirklich zu seinen »Partnern« und verwirklicht so das hochzeitliche Geheimnis der Liebe zwischen Christus und der Kirche. In dieser Perspektive erscheint jeder Mensch als der Empfänger des Wortes: Er wird angesprochen und aufgerufen, durch eine freie Antwort in diesen Dialog der Liebe einzutreten. So befähigt Gott einen jeden von uns, das göttliche Wort zu hören und darauf zu antworten. Der Mensch wurde im Wort erschaffen und lebt in ihm; er kann sich selbst nicht verstehen, wenn er sich diesem Dialog nicht öffnet. Das Wort Gottes offenbart das auf Kindschaft und Beziehung beruhende Wesen unseres Lebens. Wir sind wirklich aus Gnade berufen, Christus, dem Sohn des Vaters, gleichgestaltet und in ihm verwandelt zu werden.

Gott hört den Menschen und antwortet auf seine Fragen

23. In diesem Dialog mit Gott verstehen wir uns selbst und fi nden eine Antwort auf die tiefsten Fragen, die wir in unserem Herzen tragen. Das Wort Gottes stellt sich nämlich nicht gegen den Menschen, es unterdrückt nicht seine echten Wünsche, sondern erleuchtet sie sogar, indem es sie reinigt und zur Vollendung führt. Wie wichtig ist es doch für unsere Zeit zu entdecken, dass nur Gott auf das Verlangen antwortet, das im Herzen eines jeden Menschen wohnt! In unserer Zeit hat sich leider, vor allem im Westen, die Vorstellung verbreitet, dass Gott mit dem Leben und den Problemen des Menschen nichts zu tun hat, dass seine Gegenwart sogar eine Bedrohung für die Unabhängigkeit des Menschen sein kann. In Wirklichkeit zeigt uns die gesamte Heilsökonomie, dass Gott zugunsten des Menschen und seines ganzheitlichen Heils spricht und in die Geschichte eingreift. Unter dem Gesichtspunkt der Seelsorge ist es daher entscheidend zu vermitteln, dass das Wort Gottes im Dialog steht mit den Problemen, denen der Mensch im täglichen Leben gegenübersteht. Gerade Jesus zeigt sich uns als derjenige, der gekommen ist, damit wir das Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Wir müssen daher alles tun, um dem Menschen das Wort Gottes in der ihm eigenen Aufgeschlossenheit gegenüber seinen Problemen nahezubringen, als Antwort auf seine Fragen, als Weitung seines Werthorizontes und zugleich als Erfüllung seiner persönlichen Erwartungen. Die Seelsorge der Kirche muß deutlich machen, dass Gott die Nöte des Menschen und sein Schreien hört. Der hl. Bonaventura sagt in seinem Breviloquium: »Die Frucht der Heiligen Schrift ist nicht irgendeine, sondern sogar die Fülle der ewigen Glückseligkeit. Denn die Heilige Schrift ist ja das Buch, in dem Worte des ewigen Lebens geschrieben stehen, damit wir nicht nur glauben, sondern auch das ewige Leben besitzen, in dem wir sehen und lieben werden und in dem all unsere Wünsche erfüllt werden«.<ref>Prol., Opera Omnia V, Quaracchi 1891, S. 201-202.</ref>

Mit Gott sprechen durch seine Worte

24. Das göttliche Wort führt einen jeden von uns ins Gespräch mit dem Herrn ein: Der Gott, der spricht, lehrt uns, wie wir mit ihm sprechen können. Man denkt unwillkürlich an das Buch der Psalmen, in dem er uns die Worte gibt, mit denen wir ihn anreden, im Gespräch unser Leben vor ihn tragen können und so das Leben selbst in eine Bewegung auf Gott hin verwandeln.<ref> Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 721–730. </ref> In den Psalmen finden wir tatsächlich die ganze Bandbreite der Empfindungen, die der Mensch in seinem Leben haben kann und die mit Weisheit vor Gott gebracht werden: Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Furcht und Zittern kommen hier zum Ausdruck. Zusammen mit den Psalmen denken wir auch an die zahlreichen anderen Texte der Heiligen Schrift, die die Hinwendung des Menschen zu Gott ausdrücken in Form der Fürbitte (vgl. Ex 33,12-16), des Jubelliedes um den Sieg (vgl. Ex 15) oder der Wehklage in der Ausübung der eigenen Sendung (vgl. Jer 20,7-18). Auf diese Weise wird das Wort, das der Mensch an Gott richtet, selbst zum Wort Gottes in Bestätigung des dialogischen Wesens der ganzen christlichen Offenbarung,<ref>Vgl. Propositio 4. </ref> und die gesamte Existenz des Menschen wird zu einem Dialog mit Gott, der spricht und zuhört, der ruft und Bewegung in unser Leben bringt. Das Wort Gottes offenbart hier, dass das gesamte Leben des Menschen unter dem göttlichen Ruf steht.<ref> Vgl. Relatio post disceptationem, 12. </ref>

Das Wort Gottes und der Glaube

25. »Dem offenbarenden Gott ist der „Gehorsam des Glaubens“ (Röm 16,26; vgl. Röm 1,5; 2 Kor 10,5-6) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich „dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft“ und seiner Offenbarung willig zustimmt«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 5. </ref> Mit diesen Worten hat die dogmatische Konstitution Dei verbum die Haltung des Menschen gegenüber Gott treffend zum Ausdruck gebracht. Die eigentliche Antwort des Menschen an Gott, der zu ihm spricht, ist der Glaube. Daraus wird ersichtlich, dass »der Mensch, um die Offenbarung anzunehmen, den Verstand und das Herz öffnen muß für das Wirken des Heiligen Geistes, der ihn das in der Heiligen Schrift gegenwärtige Wort Gottes verstehen läßt«.<ref>Propositio 4.</ref> Tatsächlich ist es gerade die Verkündigung des göttlichen Wortes, die den Glauben hervorruft, durch den wir der uns offenbarten Wahrheit von Herzen zustimmen und unser ganzes Sein Christus anvertrauen: »So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi« (Röm 10,17). Die ganze Heilsgeschichte zeigt uns fortschreitend diese enge Verbindung zwischen dem Wort Gottes und dem Glauben, der in der Begegnung mit Christus Erfüllung findet. Durch ihn nimmt der Glaube die Form der Begegnung mit einer Person an, der man sein Leben anvertraut. Christus Jesus bleibt heute in der Geschichte, in seinem Leib, der Kirche, gegenwärtig. Unser Glaubensakt ist daher ein persönlicher und zugleich kirchlicher Akt.

Die Sünde als Nichthören auf das Wort Gottes

26. Das Wort Gottes offenbart unvermeidlich auch die dramatische Möglichkeit, die der Freiheit des Menschen gegeben ist, sich diesem Dialog des Bundes mit Gott, für den wir geschaffen sind, zu entziehen. Das göttliche Wort enthüllt nämlich auch die Sünde, die im Herzen des Menschen wohnt. Sehr häufig finden wir sowohl im Alten als auch im Neuen Testament die Beschreibung der Sünde als ein Nichthören auf das Wort, als Bundesbruch und damit als Verschlossenheit gegenüber Gott, der zur Gemeinschaft mit sich ruft.<ref>Zum Beispiel Dtn 28,1-2.15.45; 32,1; unter den Propheten vgl. Jer 7,22-28; Ez 2,8; 3,10; 6,3; 13,2; bis hin zu den letzten: vgl. Sach 3,8. Für den hl. Paulus vgl. Rm 10,14-18; 1 Thess 2,13.</ref> Die Heilige Schrift zeigt uns, dass die Sünde des Menschen im wesentlichen Ungehorsam und »Nichthören« ist. Gerade der radikale Gehorsam Christi bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8) entlarvt diese Sünde bis auf den Grund. In seinem Gehorsam wird der Neue Bund zwischen Gott und dem Menschen geschlossen und uns die Möglichkeit der Versöhnung geschenkt. Jesus wurde ja vom Vater gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden und für die der ganzen Welt (vgl. 1 Joh 2,2; 4,10; Hebr 7,27). So werden uns aus Barmherzigkeit die Möglichkeit der Erlösung und der Beginn eines neuen Lebens in Christus angeboten. Es ist daher wichtig, dass die Gläubigen dazu erzogen werden, die Wurzel der Sünde im Nichthören auf das Wort des Herrn zu erkennen und in Jesus, dem Wort Gottes, die Vergebung anzunehmen, die uns für das Heil öffnet.

Maria »Mater Verbi Dei« und »Mater fidei«

27. Die Synodenväter haben erklärt, dass es der XII. Versammlung grundlegend darum ging, »den Glauben der Kirche an das Wort Gottes zu erneuern«. Dazu müssen wir dorthin blicken, wo die Wechselseitigkeit zwischen dem Wort Gottes und dem Glauben vollkommene Erfüllung gefun- den hat: auf die Jungfrau Maria, »die mit ihrem Ja zum Wort des Bundes und zu ihrer Sendung die göttliche Berufung der Menschheit vollkommen erfüllt«.<ref>Propositio 55. </ref> Die durch das Wort geschaffene menschliche Wirklichkeit fi ndet ihre vollendete Gestalt im gehorsamen Glauben Marias. Von der Verkündigung bis Pfingsten zeigt sie sich uns als Frau, die sich dem Willen Gottes ganz und gar übereignet. Sie ist die Unbefleckte Empfängnis, die von Gott »Begnadete« (vgl. Lk 1,28), bedingungslos fügsam gegenüber dem göttlichen Wort (vgl. Lk 1,38). Ihr gehorsamer Glaube prägt ihr Leben in jedem Augenblick angesichts der Initiative Gottes. Als hörende Jungfrau lebt sie in vollem Einklang mit dem göttlichen Wort; die Ereignisse, die ihren Sohn betreffen, bewahrt sie in ihrem Herzen und setzt sie gleichsam zu einem einzigen Mosaik zusammen (vgl. Lk 2,19.51).<ref>Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis (22. Februar 2007), 33: AAS 99 (2007), 132-133. </ref>

In unserer Zeit müssen die Gläubigen unterwiesen werden, die Verbindung zwischen Maria von Nazaret und dem gläubigen Hören auf das göttliche Wort tiefer zu entdecken. Ich fordere auch die Fachleute auf, die Beziehung zwischen Mariologie und Theologie des Wortes weiter zu vertiefen. Das kann sowohl für das geistliche Leben als auch für die theologischen und biblischen Studien sehr nützlich sein. Denn das, was das Glaubensverständnis über Maria aussagt, gehört zum innersten Kern der christlichen Wahrheit. Tatsächlich ist die Inkarnation des Wortes undenkbar ohne die Freiheit dieser jungen Frau, die durch ihre Zustimmung entscheidend zum Eintritt des Ewigen in die Zeit beiträgt. Sie ist die Gestalt der Kirche, die auf das Wort Gottes hört, das in ihr Fleisch wird. Maria ist auch Symbol der Öffnung gegenüber Gott und dem Nächsten; sie ist aktives Hören, das verinnerlicht, assimiliert, in dem das Wort Lebensform wird.

28. Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Vertrautheit Marias mit dem Wort Gottes richten. Das leuchtet ganz besonders eindringlich im Magnifi kat auf. Hier sieht man gewissermaßen, wie sie sich mit dem Wort identifiziert, in es hineintritt; in diesem wunderbaren Glaubensgesang preist die Jungfrau Maria den Herrn mit seinem eigenen Wort: »Das Magnifikat – gleichsam ein Porträt ihrer Seele – ist ganz gewoben aus Fäden der Heiligen Schrift, aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, dass sie im Wort Gottes wirklich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit dem Wort Gottes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes her. So ist auch sichtbar, dass ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken sind, dass ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von Gottes Wort durchdrungen war, konnte sie Mutter des fleischgewordenen Wortes werden«.<ref> Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 41: AAS 98 (2006), 251.</ref>

Die Bezugnahme auf die Mutter Gottes zeigt uns außerdem, dass das Handeln Gottes in der Welt immer unsere Freiheit mit einschließt, denn im Glauben verwandelt uns das göttliche Wort. Auch unser apostolisches und seelsorgliches Handeln kann niemals wirksam sein, wenn wir nicht von Maria lernen, uns vom Wirken Gottes in uns formen zu lassen: »Die fromme und liebevolle Aufmerksamkeit gegenüber der Gestalt Marias als Vorbild und Urbild des Glaubens der Kirche ist von grundlegender Bedeutung, um auch heute eine konkrete Änderung des Beziehungsmusters der Kirche zum Wort zu bewirken, sowohl in der Haltung betenden Hörens als auch in der Großherzigkeit des Einsatzes für die Sendung und die Verkündigung«.<ref>Propositio 55. </ref>

Durch die Betrachtung des Lebens der Mutter Gottes, das völlig vom Wort geprägt ist, entdecken wir, dass auch wir berufen sind, in das Geheimnis des Glaubens einzutreten, durch das Christus in unserem Leben Wohnung nimmt. Jeder gläubige Christ, so der hl. Ambrosius, empfängt und gebiert gewissermaßen das Wort Gottes in sich: Wenn es auch nur eine Mutter Christi dem Fleische nach gibt, so ist doch dem Glauben nach Christus die Frucht aller.<ref>Vgl. Expositio Evangelii secundum Lucam 2,19: PL 15, 1559-1560.</ref> Was an Maria geschehen ist, kann daher in jedem von uns täglich beim Hören auf das Wort und bei der Feier der Sakramente wieder geschehen.

DIE HERMENEUTIK DER HEILIGEN SCHRIFT IN DER KIRCHE

Die Kirche als der ursprüngliche Ort der Bibelhermeneutik

29. Ein weiteres großes, während der Synode aufgekommenes Thema, auf das ich jetzt aufmerksam machen möchte, ist die Auslegung der Heiligen Schrift in der Kirche. Gerade durch die innere Verbindung zwischen Wort und Glauben wird deutlich, dass die authentische Bibelhermeneutik nur im kirchlichen Glauben angesiedelt sein kann, der im »Ja« Marias sein Urbild besitzt. Der hl. Bonaventura sagt in diesem Zusammenhang, dass es ohne den Glauben keinen Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt: »Das ist die Erkenntnis Jesu Christi, aus der die Sicherheit und das Verständnis der ganzen Heiligen Schrift wie aus einer Quelle hervorgehen. Niemand kann zu ihr vordringen und sie erkennen, wenn er nicht vorher den Glauben besitzt, der Licht, Tor und Fundament der ganzen Heiligen Schrift ist«.<ref>Breviloquium, Prol., Opera Omnia, V, Quaracchi 1891, S. 201-202. </ref> Und der hl. Thomas von Aquin sagt unter Berufung auf Augustinus mit Nachdruck: »Auch der Buchstabe des Evangeliums tötet, wenn im Innern die heilsame Gnade des Glaubens fehlt«.<ref>Summa Theologiae, Ia-IIae, q. 106, a. 2. </ref>

So können wir ein grundlegendes Kriterium der Bibelhermeneutik in Erinnerung rufen: Der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung ist das Leben der Kirche. Dies verweist auf den kirchlichen Bezug nicht als äußeres Kriterium, dem die Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist ein Erfordernis, das in der Schrift selbst und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, liegt. Denn »die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahmen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teilnahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), III,A,3: Ench. Vat. 13, Nr. 3035.</ref> »Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde«,<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 12.</ref> müssen also die Exegeten, die Theologen und das ganze Volk Gottes sie als das betrachten, was sie wirklich ist: als das Wort Gottes, das sich uns durch menschliche Worte mitteilt (vgl. 1 Thess 2,13). Das ist eine immerwährende, in der Bibel selbst enthaltene Gegebenheit: »Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom HeiliGeist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2 Petr 1,20). Im übrigen ist es gerade der Glaube der Kirche, der in der Bibel das Wort Gottes erkennt, wie der hl. Augustinus sehr schön sagt: »Ich würde nicht an das Evangelium glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegen würde«.<ref>Contra epistolam Manichaei quam vocant fundamenti, V,6: PL 42, 176.</ref> Der Heilige Geist, der das Leben der Kirche beseelt, ist es, der dazu befähigt, die Schriften authentisch auszulegen. Die Bibel ist das Buch der Kirche, und aus ihrem Eingebettetsein im kirchlichen Leben entspringt auch ihre wahre Hermeneutik.

30. Der hl. Hieronymus erinnert daran, dass wir die Schrift niemals alleine lesen können. Wir finden zu viele verschlossene Türen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem »Wir« in den Kern der Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz (14. November 2007): L’Osservatore Romano (dt.), 23. November 2007, S. 2. </ref> Der große dalmatische Gelehrte, für den »Unkenntnis der Schrift Unkenntnis Christi« <ref>Commentariorum in Isaiam libri, Prol.: PL 24, 17. </ref> ist, sagt, dass die Kirchlichkeit der Bibelauslegung kein von außen auferlegter Anspruch ist: Das Buch ist wirklich die Stimme des pilgernden Gottesvolkes, und nur im Glauben dieses Volkes befi nden wir uns sozusagen in der richtigen Tonart, um die Heilige Schrift zu verstehen. Eine authentische Auslegung der Bibel muß stets in harmonischer Übereinstimmung mit dem Glauben der katholischen Kirche stehen. Zu einem Priester sagte Hieronymus: »Halte fest an der überlieferten Lehre, in der du unterwiesen wurdest, damit du im Sinne der gesunden Lehre ermahnen und jene widerlegen kannst, die ihr widersprechen«.<ref>Epistula 52, 7: CSEL 54, S. 426. </ref>

Ansätze, die unter Ausklammerung des Glaubens an den heiligen Text herangehen, können zwar interessante Elemente zutage fördern, indem sie auf die Struktur des Textes und seine Formen eingehen, ein solcher Versuch wäre jedoch stets nur vorbereitender Art und vom Aufbau her unvollständig. So hat die Päpstliche Bibelkommission ein in der modernen Hermeneutik allgemein anerkanntes Prinzip wiedergegeben und bekräftigt: »Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht«. <ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), II,A,2: Ench. Vat. 13, Nr. 2988. </ref> All das unterstreicht die Beziehung zwischen dem geistlichen Leben und der Hermeneutik der Schrift. Denn »mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht«.<ref>Ebd., II,A,2: Ench.Vat. 13, Nr. 2991. </ref> Die Intensität einer authentischen kirchlichen Erfahrung fördert unwillkürlich ein authentisches Glaubensverständnis hinsichtlich des Wortes Gottes, und umgekehrt ist zu sagen, dass das gläubige Lesen der Schrift das kirchliche Leben selbst steigert. Von diesem Ansatz her können wir das bekannte Wort des hl. Gregor des Großen neu erfassen: »Die göttlichen Worte wachsen mit dem, der sie liest«.<ref>Homiliae in Ezechielem I,VII,8: PL 76, 843D.</ref> So bildet und fördert das Hören auf das Wort Gottes die kirchliche Gemeinschaft mit allen, die im Glauben unterwegs sind.

»Die Seele der heiligen Theologie«

31. Deshalb sei das Studium des heiligen Buches gleichsam die Seele der heiligen Theologie«: <ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 24; vgl. Leo XIII., Enzyklika Providentissimus deus (18. November 1893), Pars II, sub fine: ASS 26 (1893-94), 269-292; Benedikt XV., Enzyklika Spiritus Paraclitus (15. September 1920), Pars III: AAS 12 (1920), 385-422. </ref>

Dieses Wort der dogmatischen Konstitution Dei verbum ist uns in diesen Jahren immer vertrauter geworden. Wir können sagen, dass es in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Zusammenhang mit theologischen und exegetischen Studien oft als Symbol für das neuerliche Interesse an der Heiligen Schrift zitiert wurde. Auch die XII. Versammlung der Bischofssynode hat dieses bekannte Wort oft erwähnt, um auf das Verhältnis hinzuweisen, das in bezug auf den heiligen Text zwischen historischer Forschung und Hermeneutik des Glaubens besteht. In dieser Hinsicht haben die Väter mit Freude das vermehrte Studium des Wortes Gottes in der Kirche innerhalb der letzten Jahrzehnte gewürdigt und ihren herzlichen Dank gegenüber den zahlreichen Exegeten und Theologen ausgedrückt, die durch ihre Hingabe, ihren Einsatz und ihr Fachwissen einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung des Schriftverständnisses geleistet haben und leisten, indem sie sich mit den komplexen Problemen auseinandersetzen, die unsere Zeit der Bibelforschung stellt.<ref>Vgl. Propositio 26.</ref> Ein aufrichtiger Dank gilt auch den Mitgliedern der Päpstlichen Bibelkommission in all diesen Jahren, die in enger Zusammenarbeit mit der Kongregation für die Glaubenslehre fortwährend ihren fachlich versierten Beitrag leisten, indem sie sich besonderen Fragen widmen, die mit dem Studium der Heiligen Schrift verbunden sind. Darüber hinaus hat die Synode die Notwendigkeit verspürt, sich über den gegenwärtigen Stand der Bibelforschung und ihre Bedeutung im theologischen Bereich Gedanken zu machen. Von der fruchtbaren Beziehung zwischen Exegese und Theologie hängt nämlich ein großer Teil der pastoralen Wirkkraft der Arbeit der Kirche und des geistlichen Lebens der Gläubigen ab. Es ist mir daher wichtig, einige Refl exionen aufzugreifen, die in den Auseinandersetzungen der Synode mit diesem Thema zum Vorschein gekommen sind.

Entwicklung der Bibelforschung und kirchliches Lehramt

32. Zunächst muss der Nutzen anerkannt werden, der dem Leben der Kirche aus der historisch-kritischen Exegese und den anderen Methoden der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, erwachsen ist.<ref>Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), A-B: Ench. Vat. 13, Nrn. 2846-3150.</ref> Für die katholische Sichtweise der Heiligen Schrift ist die Berücksichtigung dieser Methoden unverzichtbar und mit dem Realismus der Inkarnation verbunden: »Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem christlichen Prinzip, das wir in Joh 1,14 finden: Verbum caro factum est. Das historische Faktum ist eine Grunddimension des christlichen Glaubens. Die Heilsgeschichte ist keine Mythologie, sondern wirkliche Geschichte und muss deshalb mit den Methoden ernsthafter Geschichtswissenschaft untersucht werden«.<ref>Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 25.</ref> Die Bibelforschung verlangt daher die Kenntnis und den rechten Gebrauch dieser Forschungsmethoden. Obgleich sich in der Moderne die Sensibilität dafür in der Forschung stärker entwickelt hat – wenn auch nicht überall in gleichem Maße –, gab es doch in der gesunden kirchlichen Überlieferung stets eine Liebe zum Studium des »Buchstabens«. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die monastische Kultur, der wir letztlich die Grundlage der europäischen Kultur verdanken und an deren Wurzel das Interesse am Wort steht. Zum Verlangen nach Gott gehört die Liebe zum Wort in all seinen Dimensionen: »Weil im biblischen Wort Gott unterwegs ist zu uns und wir zu ihm, darum muss man lernen, in das Geheimnis der Sprache einzudringen, sie in ihrem Aufbau und in der Weise ihres Ausdrucks zu begreifen. So werden gerade durch die Gottsuche die profanen Wissenschaften wichtig, die uns den Weg zur Sprache zeigen«.<ref>Ders., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 722–723.</ref>

33. Das lebendige Lehramt der Kirche, dessen Aufgabe es ist, »das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären«,<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10.</ref> hat in kluger und ausgewogener Weise dazu beigetragen, die richtige Haltung hinsichtlich der Einführung neuer Methoden der historischen Analyse zu finden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Enzykliken Providentissimus deus von Papst Leo XIII. und Divino afflante Spiritu von Papst Pius XII. Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat die Bedeutung dieser Dokumente für die Exegese und die Theologie anlässlich der Feier des 100. bzw. des 50. Jahrestages ihrer Promulgation in Erinnerung gerufen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache anlässlich des 100. Jahrestages der Enzyklika Providentissimus deus und des 50. Jahrestages der Enzyklika Divino afflante spiritu (23. April 1993): AAS 86 (1994), 232-243.</ref> Durch den Beitrag von Papst Leo XIII. konnte die katholische Interpretation der Bibel vor den Angriffen des Rationalismus bewahrt werden, ohne einen Rückzug in einen geistlichen, unhistorischen Sinn vorzunehmen. Er lehnte die wissenschaftliche Kritik nicht ab, sondern misstraute nur »vorgefassten Meinungen, die angeblich eine wissenschaftliche Grundlage haben, in Wirklichkeit jedoch unterschwellig den Bereich der Wissenschaft überschreiten«.<ref> Ebd., Nr. 4: AAS 86 (1994), 235.</ref> Papst Pius XII. sah sich hingegen den Angriffen der Anhänger einer so genannten mystischen Exegese ausgesetzt, die jeden wissenschaftlichen Ansatz ablehnte. Die Enzyklika Divino afflante Spiritu hat mit großer Feinfühligkeit vermieden, die Vorstellung einer Dichotomie zwischen der »wissenschaftlichen Exegese« für den apologetischen Gebrauch und der »dem internen Gebrauch vorbehaltenen geistlichen Interpretation«, zu erzeugen. Vielmehr spricht sie sowohl von der »theologischen Tragweite des methodisch definierten wörtlichen Sinnes« als auch von der Zugehörigkeit der »Bestimmung des geistlichen Sinnes … zum Bereich der wissenschaftlichen Exegese«.<ref> Ebd., Nr. 5: AAS 86 (1994), 235.</ref> Auf diese Weise lehnen beide Dokumente einen »Bruch zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Sicht des Glaubens, zwischen dem wörtlichen Sinn und dem geistlichen Sinn« ab.<ref> Ebd., Nr. 5: AAS 86 (1994), 236.</ref> Dieses Gleichgewicht floß später in das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 ein: »Die katholischen Exegeten dürfen bei ihrer Interpretationsarbeit nie vergessen, dass sie das Wort Gottes auslegen. Ihr gemeinsamer Auftrag ist noch nicht beendet, wenn die Quellen unterschieden, die Gattungen bestimmt und die literarischen Ausdrucksmittel erklärt sind. Das Ziel ihrer Arbeit ist erst erreicht, wenn sie den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfasst haben«.<ref> Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), III,C,1: Ench. Vat. 13, Nr. 3065.</ref>


Die Bibelhermeneutik des Konzils: Eine zu übernehmende Anleitung

34. Vor diesem Horizont kann man die großen Auslegungsprinzipien der katholischen Exegese, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil – besonders in der dogmatischen Konstitution Dei verbum – dargelegt wurden, um so mehr würdigen: »Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte«.<ref> Nr. 12.</ref> Einerseits hebt das Konzil als wesentliche Elemente zur Erfassung der Aussageabsicht des heiligen Autors die Untersuchung der literarischen Gattungen und die Kontextualisierung hervor. Da aber andererseits die Schrift in demselben Geist ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, führt die dogmatische Konstitution drei grundlegende Kriterien an, die dazu dienen, die göttliche Dimension der Bibel zu berücksichtigen: 1) Auslegung des Textes mit Rücksicht auf die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt, 2) Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich 3) Beachtung der Analogie des Glaubens. »Nur dort, wo beide methodologische Ebenen, die historisch-kritische und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist«.<ref> Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 25.</ref>

Zu Recht haben die Synodenväter gesagt, dass das positive Ergebnis der Anwendung der modernen historisch-kritischen Forschung nicht zu leugnen ist. Während jedoch die heutige akademische – auch die katholische – Exegese im Bereich der historisch-kritischen Methode, einschließlich der in jüngerer Zeit vorgenommenen Ergänzungen, auf hohem Niveau arbeitet, ist ein entsprechendes Studium der theologischen Dimension der biblischen Texte einzufordern, damit die Vertiefung gemäß der drei von der dogmatischen Konstitution Dei verbum angegebenen Elemente voranschreitet. (108)<ref> Vgl. Propositio 26.</ref>

Die Gefahr des Dualismus und die säkularisierte Hermeneutik

35. In diesem Zusammenhang muss auf die große Gefahr eines Dualismus hingewiesen werden, der heute bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift aufkommt. Wenn zwischen den beiden Ansatzebenen unterschieden wird, so geschieht dies keinesfalls in der Absicht, sie voneinander zu trennen, noch sie gegeneinander auszuspielen oder sie auch einfach nur nebeneinanderzustellen. Allein in gegenseitiger Abhängigkeit sind sie sinnvoll. Eine Trennung zwischen ihnen, die zu nichts führt, lässt leider nicht selten Exegese und Theologie einander fremd erscheinen, »selbst auf höchster akademischer Ebene«.<ref> Propositio 27.</ref> Ich möchte hier auf die in besonderer Weise besorgniserregenden Folgen hinweisen, die vermieden werden müssen.

a) Zunächst, wenn die Exegese nur auf die erste Ebene reduziert wird, dann wird die Schrift selbst zu einem Buch der Vergangenheit, »aus dem man wohl moralische Erkenntnisse ziehen und die Geschichte erfahren kann, aber das Buch als solches spricht nur von der Vergangenheit und es handelt sich um eine nicht wirklich theologische, sondern eine rein historiographische Exegese, Geschichte der Literatur«.<ref> Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19; vgl. Propositio 26.</ref> In einer solchen Verkürzung wird das Ereignis der Offenbarung Gottes durch sein Wort, das in der lebendigen Überlieferung und in der Schrift an uns weitergegeben wird, natürlich in keiner Weise verständlich.

b) Das Fehlen einer Hermeneutik des Glaubens in bezug auf die Schrift zeigt sich außerdem nicht nur in Form einer Abwesenheit, sondern an ihre Stelle tritt unvermeidlich eine andere Hermeneutik – eine positivistische, säkularisierte Hermeneutik, deren grundlegender Schlüssel die Überzeugung ist, dass das Göttliche sich in der Menschheitsgeschichte nicht zeigt. Dieser Hermeneutik zufolge muss dann, wenn ein göttliches Element vorhanden zu sein scheint, dieses auf andere Weise erklärt und alles auf das menschliche Element reduziert werden. Infolgedessen werden Auslegungen vorgelegt, die die Historizität der göttlichen Elemente leugnen.<ref> Vgl. ebd.</ref>

c) Eine solche Haltung muss unweigerlich dem Leben der Kirche Schaden zufügen, da sie Zweifel aufkommen lässt an den wesentlichen Geheimnissen des Christentums und ihrem historischen Wert, wie zum Beispiel die Einsetzung der Eucharistie und die Auferstehung Christi. Damit wird nämlich eine philosophische Hermeneutik aufgezwungen, die die Möglichkeit, dass das Göttliche in die Geschichte eintritt und in ihr gegenwärtig ist, leugnet. Die Übernahme einer solchen Hermeneutik in die theologischen Studien führt unvermeidlich zu einem heftigen Dualismus zwischen der Exegese, die nur auf der ersten Ebene stattfindet, und der Theologie, die in eine Spiritualisierung des Schriftsinnes abdriftet, die das historische Wesen der Offenbarung nicht berücksichtigt.

All das kann sich auch auf das geistliche Leben und auf die Seelsorge nur negativ auswirken: »Die Abwesenheit dieser zweiten methodologischen Ebene hat einen tiefen Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der lectio divina aufgerissen. So kommt es auch gerade deshalb manchmal zu Ratlosigkeit bei der Vorbereitung der Homilien«.<ref> Ebd.</ref> Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass dieser Dualismus manchmal dem intellektuellen Ausbildungsweg sogar einiger Priesteramtskandidaten Unsicherheit und wenig Standfestigkeit verleiht.<ref>Vgl. Propositio 27.</ref> »Wo die Exegese nicht Theologie ist, kann die Heilige Schrift nicht die Seele der Theologie sein und umgekehrt, wo die Theologie nicht wesentlich Auslegung der Schrift in der Kirche ist, hat die Theologie kein Fundament mehr«.<ref>Benedikt XVI., Beitrag auf der XIV. Generalkongregation der Synode (14. Oktober 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 31. Oktober 2008, S. 19.</ref> Es ist daher unbedingt notwendig, den Hinweisen der dogmatischen Konstitution Dei verbum in diesem Zusammenhang wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Glaube und Vernunft im Zugang zur Schrift

36. Zu einem umfassenderen Verständnis der Exegese und somit ihrer Beziehung zur gesamten Theologie kann, glaube ich, das beitragen, was in diesem Zusammenhang Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio geschrieben hat. Er sagte nämlich: »Nicht unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht lässt, die es erlaubt, zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, dass auch den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen«.<ref>Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 55: AAS 91 (1999), 49-50.</ref>

Diese weitblickenden Überlegungen machen deutlich, dass im hermeneutischen Zugang zur Heiligen Schrift die richtige Beziehung zwischen Glaube und Vernunft auf dem Spiel steht. Die säkularisierte Hermeneutik der Heiligen Schrift wird ja von einer Vernunft betrieben, die sich grundsätzlich der Möglichkeit verschließen will, dass Gott in das Leben der Menschen eintritt und in menschlichen Worten zu den Menschen spricht. Auch in diesem Fall gilt also die Aufforderung, den Horizont der eigenen Rationalität zu erweitern.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an den IV. nationalen Kongreß der Katholischen Kirche in Italien (19. Oktober 2006): AAS 98 (2006), 804-815.</ref> Bei der Anwendung von Methoden zur historischen Analyse muss man es daher vermeiden, gegebenenfalls vorhandene Kriterien zu übernehmen, die die Offenbarung Gottes im Leben der Menschen von vornherein ausschließen. Die Einheit der beiden Interpretationsebenen der Heiligen Schrift setzt letztlich eine Harmonie von Glauben und Vernunft voraus. Einerseits bedarf es eines Glaubens, der eine angemessene Beziehung zur rechten Vernunft unterhält und daher niemals zum Fideismus verkommt, der fundamentalistische Auslegungen der Schrift unterstützen würde. Andererseits bedarf es einer Vernunft, die sich bei der Untersuchung der in der Bibel vorhandenen historischen Elemente offen zeigt und nicht von vornherein alles zurückweist, was über den eigenen Maßstab hinausgeht. Im Übrigen muss sich die Religion des fleischgewordenen Logos dem Menschen, der aufrichtig nach der Wahrheit und nach dem endgültigen Sinn seines Lebens und der Geschichte sucht, als zutiefst vernünftig erweisen.

Wörtlicher Sinn und geistlicher Sinn

37. Wie die Synodenversammlung gesagt hat, ergibt sich ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz.<ref>Vgl. Propositio 6.</ref> Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in ihrem Mittelpunkt das Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht. Die Väter sind nämlich zunächst einmal und im wesentlichen »Kommentatoren der Heiligen Schrift«.<ref>Vgl. Augustinus, De libero arbitrio, III,XXI,59: PL 32, 1300; De Trinitate, II,1,2: PL 42, 845.</ref> Ihr Vorbild kann »die modernen Exegeten einen wirklich religiösen Zugang zur Heiligen Schrift sowie eine Auslegung lehren, die stets dem Kriterium der Gemeinschaft mit der Erfahrung der Kirche folgt, die vom Heiligen Geist geleitet in der Geschichte unterwegs ist«.<ref>Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instr. Inspectis dierum (10. November 1989),26: AAS 81 (1990), 618.</ref>

Auch wenn die patristische und mittelalterliche Tradition natürlich nicht die philologischen und historischen Ressourcen besaß, die der modernen Exegese zur Verfügung stehen, erkannte sie doch die verschiedenen Sinngehalte der Schrift, angefangen beim wörtlichen; es ist »der durch die Worte der Schrift bezeichnete und durch die Exegese, die sich an die Regeln der richtigen Textauslegung hält, erhobene Sinn«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 116.</ref> Thomas von Aquin sagt zum Beispiel: »Alle Sinngehalte (der Heiligen Schrift) gründen auf dem wörtlichen«.<ref>Summa Theologiae, I, q. 1, a. 10, ad 1.</ref> Man muss sich jedoch stets bewusst sein, dass zur Zeit der Kirchenväter und im Mittelalter jede Form der Exegese, auch die wörtliche, auf der Grundlage des Glaubens betrieben wurde und nicht unbedingt zwischen wörtlichem Sinn und geistlichem Sinn unterschieden wurde. In diesem Zusammenhang sei an das klassische Distichon erinnert, das die Beziehung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift zum Ausdruck bringt:

»Littera gesta docet, quid credas allegoria, 
Moralis quid agas, quo tendas anagogia. 
Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; 
die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 118.</ref>

Wir sehen hier die Einheit und die Unterscheidung von wörtlichem Sinn und geistlichem Sinn, wobei sich dieser wiederum in drei Sinngehalte unterteilt, mit denen die Inhalte des Glaubens, der Moral und der eschatologischen Spannung umschrieben werden.

Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese: »Man ist der Absicht der biblischen Texte nur in dem Maß treu, in dem man versucht, durch ihre Formulierungen hindurch die Wirklichkeit des Glaubens zu erreichen, die in ihnen zur Sprache kommt, und diese mit der Glaubenserfahrung der heutigen Zeit verbindet«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), II,A,2: Ench. Vat. 13, Nr. 2987.</ref> Nur aus dieser Perspektive heraus kann man erkennen, dass das Wort Gottes lebendig ist und sich in der Gegenwart unseres Lebens an jeden Menschen richtet. In diesem Sinne behält das, was die Päpstlichen Bibelkommission gesagt hat, volle Gültigkeit: Sie definiert den geistlichen Sinn dem christlichen Glauben entsprechend als den Sinn, »den die biblischen Texte ausdrücken, wenn sie unter dem Einfluß des Heiligen Geistes im Kontext des österlichen Mysteriums Christi und des daraus folgenden neuen Lebens gelesen werden. Diesen Kontext gibt es tatsächlich. Das Neue Testament erkennt darin die Erfüllung der Schriften. So ist es natürlich, die Schriften im Lichte dieses neuen Kontextes zu lesen, der das Leben im Heiligen Geiste ist«.<ref>Ebd., II,B,2: Ench. Vat. 13, Nr. 3003.</ref>

Die Notwendigkeit der Überschreitung des »Buchstabens«

38. Wenn die Gliederung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift festgestellt wird, ist es also entscheidend, den Übergang vom Buchstaben zum Geist zu erfassen. Dieser Übergang findet nicht automatisch und von sich aus statt; vielmehr bedarf es einer Überschreitung des Buchstabens: »Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen Prozess des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten lässt und daher auch ein Prozess des Lebens werden muss«.<ref>Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 726.</ref> So entdecken wir, warum ein authentischer Interpretationsprozess niemals nur ein intellektueller Prozess ist, sondern auch ein Prozess des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein »vom Geist geleitetes« Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt. Auf diese Weise werden die in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei verbum hervorgehobenen Kriterien deutlicher: Eine solche Transzendierung kann im einzelnen literarischen Fragment nur in Beziehung zur Gesamtheit der Schrift stattfinden. Es ist ja ein einziges Wort, zu dem hin die Überschreitung erfolgen soll. Diesem Prozess wohnt eine Dramatik inne, denn im Prozess der Transzendierung hat der Übergang, der in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, unvermeidlich auch mit der Freiheit eines jeden Menschen zu tun. Der hl. Paulus hat diesen Übergang in seinem eigenen Leben in ganzer Fülle erfahren. Was die Überschreitung des Buchstabens und sein Verstehen allein vom Ganzen her bedeutet, hat er drastisch ausgedrückt in dem Satz: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig« (2Kor 3,6). Der heilige Paulus entdeckt, dass der »freimachende Geist einen Namen hat und so die Freiheit ein inneres Maß: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17). Der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist der Herr, der uns den Weg zeigt«.<ref>Ebd.</ref> Wir wissen, wie auch für den hl. Augustinus dieser Übergang dramatisch und befreiend zugleich war. Er glaubte an die Schrift, die ihm zunächst so uneinheitlich und manchmal ungeschliffen vorgekommen war, eben aufgrund dieser Transzendierung, die er vom hl. Ambrosius durch die typologische Auslegung lernte, für die das gesamte Alte Testament ein Weg auf Christus hin ist. Für Augustinus hat die Überschreitung des Buchstabens den Buchstaben selbst glaubwürdig gemacht und ihm ermöglicht, endlich die Antwort zu finden auf die tiefste Unruhe seines Herzens, das nach der Wahrheit dürstete.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Generalaudienz (9. Januar 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 18. Januar 2008, S. 2.</ref>

Die innere Einheit der Bibel

39. In der Schule der großen Überlieferung der Kirche lernen wir, im Übergang vom Buchstaben zum Geist auch die Einheit der ganzen Schrift zu erfassen, denn das Wort Gottes, das unser Leben hinterfragt und es ständig zur Umkehr aufruft, ist eines.<ref>Vgl. Propositio 29.</ref> In diesem Zusammenhang werden wir sicher geleitet durch die Worte von Hugo von Sankt Viktor: »Die ganze göttliche Schrift bildet ein einziges Buch, und dieses einzige Buch ist Christus, spricht von Christus und findet in Christus seine Erfüllung«.<ref>De arca Noe, 2,8: PL 176, 642C-D.</ref> Gewiss, unter rein geschichtlichem oder literarischem Gesichtspunkt ist die Bibel nicht einfach nur ein Buch, sondern eine Sammlung literarischer Texte, deren Abfassung sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckte und deren einzelne Bücher nicht leicht als Teile einer inneren Einheit erkennbar sind; es bestehen sogar sichtbare Spannungen zwischen ihnen. Das gilt bereits innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen als das Alte Testament bezeichnen. Es gilt noch mehr, wenn wir als Christen das Neue Testament und seine Schriften gleichsam als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel Israels verknüpfen und sie so als Weg zu Christus auslegen. Im Neuen Testament wird der Ausdruck »die Schrift« (vgl. Röm 4,3; 1Petr 2,6) normalerweise nicht verwendet, sondern vielmehr »die Schriften« (vgl. Mt 21,43; Joh 5,39; Röm 1,2; 2Petr 3,16), die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 725.</ref> Daraus wird deutlich, dass es die Person Christi ist, die allen »Schriften« in dem Bezug auf das eine »Wort« Einheit verleiht. So versteht man die Aussage in Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei verbum, die auf die innere Einheit der ganzen Bibel als entscheidendes Kriterium für eine korrekte Hermeneutik des Glaubens verweist.

Die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament

40. Unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Schriften in Christus müssen sich sowohl die Theologen als auch die Seelsorger der Beziehungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bewusst sein. Vor allem ist eindeutig, dass das Neue Testament selbst das Alte Testament als Wort Gottes anerkennt und somit die Autorität der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes aufgreift.<ref>Vgl. Propositio 10; Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 3-5: Ench. Vat. 20, Nrn. 748-755.</ref> Es erkennt sie implizit an, indem es dieselbe Ausdrucksweise verwendet und oft auf Stellen aus diesen Schriften anspielt. Es erkennt sie explizit an, indem es viele Stellen zitiert und zur Argumentation heranzieht. Die auf den Texten des Alten Testaments gründende Argumentation stellt so im Neuen Testament einen entscheidenden Wert dar, der jenen einfacher menschlicher Beweisführungen übersteigt. Im vierten Evangelium sagt Jesus in diesem Zusammenhang, dass »die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35), und der hl. Paulus präzisiert im besonderen, dass die Offenbarung des Alten Testaments für uns Christen auch weiterhin gilt (vgl. Röm 15,4; 1Kor 10,11).<ref>Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 121-122.</ref> Außerdem bekräftigen wir, »dass Jesus von Nazaret ein Jude war und das Heilige Land das Mutterland der Kirche ist«;<ref>Propositio 52.</ref> die Wurzel des Christentums liegt im Alten Testament, und das Christentum nährt sich stets aus dieser Wurzel. Daher hat die gesunde christliche Lehre stets jede Form des Markionismus abgelehnt, der immer wiederkehrt und auf verschiedene Weise dazu neigt, das Alte und das Neue Testament einander entgegenzusetzen.<ref>Vgl Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 19: Ench. Vat. 20, Nrn. 799-801; Origenes, Homiliae in Numeros 9,4: SC 415,238-242.</ref>

Außerdem sagt das Neue Testament selbst, dass es mit dem Alten übereinstimmt, und verkündet, dass im Geheimnis des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi die Heiligen Schriften des jüdischen Volkes ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben. Es muss jedoch angemerkt werden, dass der Begriff der Erfüllung der Schriften komplex ist, da er eine dreifache Dimension beinhaltet: den grundlegenden Aspekt der Kontinuität mit der Offenbarung des Alten Testaments, einen Aspekt des Bruches sowie einen Aspekt der Erfüllung und Überwindung. Das Geheimnis Christi steht in einer Kontinuität der Absicht zum Opferkult des Alten Testaments; es hat sich jedoch auf eine ganz andere Weise verwirklicht, die vielen Verheißungen der Propheten entspricht, und hat so eine nie dagewesene Vollkommenheit erlangt. Das Alte Testament ist nämlich voller Spannungen zwischen seinen institutionellen und seinen prophetischen Gesichtspunkten. Das Ostergeheimnis Christi, hingegen, stimmt – wenn auch in unvorhersehbarer Weise – mit den Prophezeiungen und dem vorausweisenden Aspekt der Schriften vollkommen überein; dennoch weist es deutliche Gesichtspunkte einer Diskontinuität zu den Institutionen des Alten Testaments auf. 41. Diese Überlegungen zeigen die unersetzliche Bedeutung des Alten Testaments für die Christen auf, heben aber zugleich die Originalität der christologischen Auslegung hervor. Schon zur Zeit der Apostel und dann in der lebendigen Überlieferung wurde die Einheit des göttlichen Plans in den beiden Testamenten von der Kirche durch die Typologie verdeutlicht, die nicht willkürlicher Art ist, sondern den vom heiligen Text berichteten Ereignissen innewohnt und daher die ganze Schrift betrifft. Die Typologie »findet in den Werken Gottes im Alten Bund „Vorformen“ (Typologien) dessen, was Gott dann in der Fülle der Zeit in der Person seines menschgewordenen Wortes vollbracht hat«.<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, 128.</ref> Die Christen lesen also das Alte Testament im Licht des gestorbenen und auferstandenen Christus. Wenn die typologische Auslegung den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes in bezug auf das Neue Testament offenbart, darf sie jedoch nicht dazu verleiten zu vergessen, dass auch das Alte Testament selbst seinen Offenbarungswert behält, den unser Herr selber bekräftigt hat (vgl. Mk 12,29-31). Daher »will das Neue Testament auch im Licht des Alten Testamentes gelesen sein. Die christliche Urkatechese hat beständig auf dieses zurückgegriffen (vgl. 1Kor 5,6-8; 10,1-11.)«.<ref>Ebd., 129.</ref> Aus diesem Grund haben die Synodenväter gesagt, dass »das jüdische Bibelverständnis den Christen beim Verständnis und Studium der Schriften helfen kann«.<ref>Propositio 52.</ref>

»Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, und das Alte ist im Neuen offenbar«<ref>Quaestiones in Heptateuchum, 2,73: PL 34, 623.</ref> – so die scharfsinnige und weise Äußerung des hl. Augustinus zu diesem Thema. Es ist also wichtig, sowohl in der Seelsorge als auch im akademischen Bereich die enge Beziehung zwischen den beiden Testamenten deutlich hervorzuheben und mit dem hl. Gregor dem Großen daran zu erinnern, dass »das Neue Testament die Verheißungen des Alten Testaments sichtbar gemacht hat; was dieses in verborgener Weise ankündigt, verkündet jenes offen als gegenwärtig. So ist das Alte Testament Vorausschau des Neuen Testaments; und das Neue Testament ist der beste Kommentar zum Alten Testament«.<ref>Homiliae in Ezechielem, I,VI,15: PL 76, 836.</ref>

Die »dunklen« Stellen der Bibel

42. Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hat sich die Synode auch mit dem Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich muss man sich vor Augen führen, dass die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt, trotz des Widerstands der Menschen. Gott erwählt ein Volk und erzieht es mit Geduld. Die Offenbarung paßt sich dem kulturellen und sittlichen Niveau weit zurückliegender Zeiten an und berichtet daher von Tatsachen und Bräuchen wie zum Beispiel Betrugsmanövern, Gewalttaten, Völkermord, ohne deren Unsittlichkeit ausdrücklich anzuprangern. Das lässt sich aus dem historischen Umfeld heraus erklären, kann jedoch den modernen Leser überraschen, vor allem dann, wenn man die vielen »dunklen« Seiten menschlichen Verhaltens vergisst, die es in allen Jahrhunderten immer gegeben hat, auch in unseren Tagen. Im Alten Testament erheben die Propheten kraftvoll ihre Stimme gegen jede Art von kollektiver oder individueller Ungerechtigkeit und Gewalt. Dadurch erzieht Gott sein Volk in Vorbereitung auf das Evangelium. Es wäre daher falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch erscheinen, nicht zu berücksichtigen. Vielmehr muss man sich bewusst sein, dass die Auslegung dieser Stellen den Erwerb entsprechender Fachkenntnisse voraussetzt, mittels einer Ausbildung, die die Texte in ihrem literarischen und geschichtlichen Zusammenhang und in christlicher Perspektive liest, deren endgültiger hermeneutischer Schlüssel »das Evangelium und das neue Gebot Jesu Christi ist, das im Ostergeheimnis Erfüllung gefunden hat«.<ref>Propositio 29.</ref> Ich fordere daher die Theologen und die Seelsorger auf, allen Gläubigen zu helfen, auch an diese Stellen heranzugehen, und zwar durch eine Lesart, die ihre Bedeutung im Licht des Geheimnisses Christi offenbar werden lässt.

Christen und Juden im Hinblick auf die Heiligen Schriften

43. In Anbetracht der engen Beziehungen, die das Neue an das Alte Testament binden, ergibt es sich von selbst, jetzt die Aufmerksamkeit der besonderen Verbindung zwischen Christen und Juden zuzuwenden, die sich daraus ableitet und die niemals vergessen werden darf. Papst Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid »unsere „bevorzugten Brüder“ im Glauben Abrahams, unseres Patriarchen«.<ref>Johannes Paul II., Botschaft an den Oberrabbiner von Rom (22. Mai 2004): L’Osservatore Romano (dt.), 4. Juni 2004, S. 7.</ref> Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage an den Bruch, von dem das Neue Testament in bezug auf die Institutionen des Alten Testaments spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft. Das Beispiel des hl. Paulus (vgl. Röm 9-11) zeigt im Gegenteil, dass »eine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk … die einzige wirklich christliche Haltung in einer heilsgeschichtlichen Situation (ist), die in geheimnisvoller Weise Teil des ganz positiven Heilsplans Gottes ist«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (24. Mai 2001), 87: Ench. Vat. 20, Nr. 1150.</ref> Paulus sagt nämlich über die Juden: »Von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« (Röm 11,28-29).

Außerdem gebraucht der hl. Paulus das schöne Bild vom Ölbaum, um die ganz engen Beziehungen zwischen Christen und Juden zu beschreiben: Die Kirche der Völker ist wie ein wilder Oliventrieb, der in den edlen Olivenbaum des Bundesvolkes eingepfropft wurde (vgl. 
Röm 11,17-24). Wir nähren uns also aus denselben spirituellen Wurzeln. Wir begegnen einander als Brüder – Brüder, die in gewissen Augenblicken ihrer Geschichte ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, sich aber jetzt fest entschlossen darum bemühen, Brücken beständiger Freundschaft zu bauen.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache bei der Abschiedszeremonie auf dem Internationalen Flughafen »Ben Gurion« in Tel Aviv (15. Mai 2009): L’Osservatore Romano (dt.), 22. Mai 2009, S. 15.</ref> Papst Johannes Paul II. sagte außerdem: »Wir haben viel gemeinsam, und wir können zusammen so viel für Frieden, für Gerechtigkeit und für eine menschlichere und brüderlichere Welt tun«.<ref>Johannes Paul II., Ansprache im Oberrabinat »Hechal Shlomo« (23. März 2000): L’Osservatore Romano (dt.), 7. April 2000, S. 9.</ref>

Ich möchte noch einmal bekräftigen, wie wertvoll für die Kirche der Dialog mit den Juden ist. Dort, wo die Möglichkeit besteht, sollten auch öffentliche Gelegenheiten zur Begegnung und Diskussion geschaffen werden, die das gegenseitige Kennenlernen, die Wertschätzung füreinander und die Zusammenarbeit fördern, auch beim Studium der Heiligen Schrift.

Die fundamentalistische Auslegung der Heiligen Schrift

44. Nachdem wir uns bis jetzt eingehend dem Thema der Bibelhermeneutik in ihren verschiedenen Aspekten gewidmet haben, können wir nun das auf der Synode mehrmals zur Sprache gebrachte Thema der fundamentalistischen Auslegung der Heiligen Schrift angehen.<ref>Vgl. Propositiones 46.47.</ref> Zu diesem Thema hat die Päpstliche Bibelkommission im Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche wichtige Hinweise gegeben. In diesem Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Lesarten richten, die das wahre Wesen des heiligen Textes missachten, indem sie subjektivistische und willkürliche Interpretationen unterstützen. Die von der fundamentalistischen Lesart befürwortete »Wörtlichkeit« ist nämlich in Wirklichkeit ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn, indem sie den Weg für Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, zum Beispiel durch die Verbreitung kirchenfeindlicher Auslegungen der Schrift selbst. Der problematische Aspekt »dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift liegt darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. … Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind«.<ref>Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (15. April 1993), I,F: Ench. Vat. 13, Nr. 2974.</ref> Das Christentum vernimmt im Gegensatz dazu in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Vertreter aus der Welt der Kultur im »Collège des Bernardins« in Paris (12. September 2008): AAS 100 (2008), 726.</ref> Die wahre Antwort auf eine fundamentalistische Interpretation ist die »Auslegung der Heiligen Schrift im Glauben«. Diese Lesart, »die von alters her in der Überlieferung der Kirche praktiziert wurde, sucht nach der rettenden Wahrheit für das Leben des einzelnen Gläubigen und für die Kirche. Diese Lesart erkennt den historischen Wert der biblischen Überlieferung an. Gerade aufgrund dieses Wertes als historisches Zeugnis will sie die lebendige Bedeutung der Heiligen Schrift wiederentdecken, die auch für das Leben des Gläubigen von heute bestimmt ist«,<ref>Propositio 46.</ref> ohne dabei die menschliche Vermittlung des inspirierten Textes und seine literarischen Gattungen außer acht zu lassen.

Der Dialog zwischen Seelsorgern, Theologen und Exegeten

45. Die wahre Hermeneutik des Glaubens bringt einige wichtige Konsequenzen im Bereich der Pastoralarbeit der Kirche mit sich. Gerade die Synodenväter haben in diesem Zusammenhang zum Beispiel regelmäßigere Kontakte zwischen Seelsorgern, Exegeten und Theologen empfohlen. Die Bischofskonferenzen sollten diese Begegnungen fördern, »um eine größere Gemeinsamkeit im Dienst am Wort Gottes zu unterstützen«.<ref>Propositio 28.</ref> Eine solche Zusammenarbeit hilft allen, die eigene Arbeit besser durchzuführen zum Wohl der ganzen Kirche. Sich nämlich in den Gesichtskreis der Pastoralarbeit zu versetzen bedeutet auch für die Wissenschaftler, dem heiligen Text in seinem Wesen als Mitteilung zu begegnen, die der Herr den Menschen für das Heil macht. Darum gilt die Empfehlung, die bereits die dogmatische Konstitution Dei verbum formuliert: »Die katholischen Exegeten und die anderen Vertreter der theologischen Wissenschaft müssen in eifriger Zusammenarbeit sich darum mühen, unter Aufsicht des kirchlichen Lehramts mit passenden Methoden die göttlichen Schriften so zu erforschen und auszulegen, dass möglichst viele Diener des Wortes in den Stand gesetzt werden, dem Volke Gottes mit wirklichem Nutzen die Nahrung der Schriften zu reichen, die den Geist erleuchtet, den Willen stärkt und die Menschenherzen zur Gottesliebe entflammt«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 23.</ref>

Bibel und Ökumene

46. Im Bewusstsein, dass die Kirche ihr Fundament in Christus besitzt, dem fleischgewordenen Wort Gottes, hat die Synode die Zentralität des Bibelstudiums im ökumenischen Dialog hervorgehoben, im Hinblick auf den vollkommenen Ausdruck der Einheit aller Gläubigen in Christus.<ref>Es ist jedoch anzumerken, dass Katholiken und Orthodoxe, was die so genannten deuterokanonischen Bücher des Alten Testaments und ihre Inspiration betrifft, nicht genau denselben Bibelkanon haben wie Anglikaner und Protestanten.</ref> In der Schrift selbst finden wir ja das an den Vater gerichtete innige Gebet Jesu, dass seine Jünger alle eins sein sollen, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 17,21). All das bestärkt uns in der Überzeugung, dass das gemeinsame Hören und Meditieren der Schrift uns eine reale, wenn auch noch nicht volle Gemeinschaft leben lässt,<ref>Vgl. Relatio post disceptationem, 36.</ref> denn »das gemeinsame Hören der Schriften führt zum Dialog der Liebe und lässt den Dialog der Wahrheit wachsen«.<ref>Propositio 36.</ref> Gemeinsam das Wort Gottes hören; die lectio divina der Bibel halten; sich überraschen lassen von der Neuheit des Wortes Gottes, die nie alt wird und sich nie erschöpft; unsere Taubheit für jene Worte überwinden, die nicht mit unseren Meinungen oder Vorurteilen übereinstimmen; hören und studieren in der Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten – all das stellt einen Weg dar, der beschritten werden muss, um die Einheit im Glauben zu erreichen, als Antwort auf das Hören des Wortes.<ref>Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder des Ordentlichen Rates des Generalsekretariats der Bischofssynode (25. Januar 2007): AAS 99 (2007), 85-86.</ref> In diesem Sinn waren die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils wirklich erhellend: So »ist die Heilige Schrift gerade beim (ökumenischen) Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet«.<ref>Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 21.</ref> Es ist daher gut, das Wort Gottes intensiver zu studieren, sich stärker mit ihm auseinanderzusetzen und unter Wahrung der geltenden Normen und der verschiedenen Traditionen die ökumenischen Wortgottesdienste zu vermehren.<ref>Vgl. Propositio 36.</ref> Diese liturgischen Feiern nutzen der Ökumene, und wenn sie in ihrer wirklichen Bedeutung erlebt werden, stellen sie tiefe Momente echten Gebetes dar, um Gott zu bitten, den ersehnten Tag, an dem wir alle am selben Mahl teilhaben und aus demselben Kelch trinken können, bald herbeizuführen. Im Rahmen einer richtigen und lobenswerten Förderung dieser Momente muss jedoch darauf geachtet werden, dass sie den Gläubigen nicht als Ersatz für die Teilnahme an der Heiligen Messe angeboten werden, die unter das Sonntagsgebot fällt. Innerhalb dieser Tätigkeit, die das Studium und das Gebet betrifft, sehen wir, sachlich betrachtet, dass es auch Aspekte gibt, die noch vertieft werden müssen und in denen wir noch voneinander entfernt sind, wie zum Beispiel das Verständnis der Kirche als maßgebliches Subjekt der Auslegung und die entscheidende Rolle des Lehramts.<ref>Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10.</ref>

Außerdem möchte ich hervorheben, was die Synodenväter über die Bedeutung gesagt haben, die den Übersetzungen der Bibel in die verschiedenen Sprachen im Rahmen dieser ökumenischen Arbeit zukommt. Wir wissen, dass die Übersetzung eines Textes keine rein mechanische Arbeit ist, sondern in gewissem Sinne zur Auslegung gehört. In diesem Zusammenhang hat der ehrwürdige Diener Gottes Papst Johannes Paul II. gesagt: »Wer sich erinnert, wie sehr die Debatten rund um die Heilige Schrift besonders im Abendland die Spaltungen beeinflusst haben, vermag zu erfassen, was für einen beachtlichen Fortschritt diese Gemeinschaftsübersetzungen darstellen«.<ref>Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 44: AAS 87 (1995), 947.</ref> Darum ist die Förderung der Gemeinschaftsübersetzungen der Bibel Teil der ökumenischen Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die diese wichtige Verantwortung übernommen haben, und sie ermutigen, ihr Werk fortzusetzen.

Konsequenzen für die Ausrichtung der theologischen Studien

47. Aus einer angemessenen Hermeneutik des Glaubens ergibt sich noch eine weitere Konsequenz: Es muss gezeigt werden, was sie für die exegetische und theologische Ausbildung insbesondere der Priesteramtskandidaten bedeutet. Es muss dafür gesorgt werden, dass das Studium der Heiligen Schrift wirklich die Seele der Theologie ist, da man in ihr das Wort Gottes erkennt, das heute an die Welt, an die Kirche und an jeden persönlich gerichtet ist. Wichtig ist, dass die in der Nr. 12 der dogmatischen Konstitution Dei verbum genannten Kriterien wirklich berücksichtigt und vertieft werden. Es muss vermieden werden, einen Wissenschaftsbegriff aufrechtzuerhalten, demzufolge die wissenschaftliche Forschung der Schrift gegenüber einen neutralen Standpunkt einnimmt. Darum ist es notwendig, dass die Studenten zusammen mit dem Studium der Sprachen, in denen die Bibel geschrieben wurde, und der entsprechenden Auslegungsmethoden ein tiefes geistliches Leben pflegen, um zu verstehen, dass man die Schrift nur erfassen kann, wenn man sie lebt. Aus dieser Sicht heraus empfehle ich, dass das Studium des überlieferten und niedergeschriebenen Wortes Gottes stets in einem zutiefst kirchlichen Geist geschehen soll. Zu diesem Zweck müssen in der akademischen Ausbildung die Beiträge des Lehramts zu diesen Themen gebührend berücksichtigt werden. »Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt«.<ref>Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 10.</ref> Es muss also darauf geachtet werden, dass die Studien in Anerkennung der Tatsache stattfinden, dass »die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht«.<ref>Ebd.</ref> Ich wünsche daher, dass das Studium der in der Gemeinschaft der Universalkirche ausgelegten Heiligen Schrift, der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils entsprechend, wirklich die Seele der Theologie sein möge.<ref>Vgl. ebd., 24.</ref>

Die Heiligen und die Auslegung der Schrift

48. Die Auslegung der Heiligen Schrift bliebe unvollständig, wenn sie nicht auch jene anhörte, die wirklich das Wort Gottes gelebt haben, also die Heiligen:<ref>Vgl. Propositio 22.</ref> »Viva lectio est vita bonorum«.<ref>Gregor der Große, Moralia in Job, XXIV,VIII,16: PL 76, 295.</ref> Die tiefste Auslegung der Schrift kommt in der Tat von jenen, die sich durch das Wort Gottes – im Hören, im Lesen und in der ständigen Betrachtung – formen ließen.

Es ist gewiss kein Zufall, dass die großen Spiritualitäten, welche die Kirchengeschichte gezeichnet haben, aus einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Schrift heraus entstanden sind. Ich denke zum Beispiel an den heiligen Abt Antonius, den das Wort Christi bewegte: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach« (Mt 19,21).<ref>Vgl. Athanasius, Vita Antonii, II: PL 73, 127.</ref> Nicht weniger eindrücklich fragt der hl. Basilius der Große sich in seinem Werk Moralia: »Was macht den Glauben aus? Die volle und zweifelsfreie Gewissheit der Wahrheit der von Gott inspirierten Worte« … »Was macht den Gläubigen aus? Durch jene volle Gewissheit der Bedeutung der Worte der Schrift gleichgestaltet zu werden ohne zu wagen, etwas wegzunehmen oder hinzuzufügen«.<ref>Regula LXXX, XXII: PG 31, 867.</ref> Der hl. Benedikt verweist in seiner Regel auf die Schrift als »verläßliche Wegweisung für das menschliche Leben«.<ref>Regel, 73,3: SC 182, 672.</ref> Als der hl. Franz von Assisi – so Thomas von Celano – hörte, dass die Jünger Christi »weder Gold noch Silber, noch Geld besitzen dürfen, keine Vorratstasche, kein Brot und keinen Wanderstab mit auf den Weg nehmen und weder Schuhe noch zwei Hemden haben sollten ... wurde er sogleich von der Freude im Heiligen Geist erfüllt und rief: „Das ist es, was ich begehre, worum ich bitte, das zu tun ich von ganzem Herzen ersehne!“«.<ref>Thomas von Celano, Vita prima Sancti Francisci, IX, 22: FF 356.</ref> Die hl. Klara von Assisi greift voll und ganz die Erfahrung des hl. Franziskus auf, wenn sie schreibt: »Die Lebensweise des Ordens der Armen Schwestern ... ist diese: Das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu befolgen«.<ref>Regula, I,1-2: FF 2750.</ref> Der hl. Dominikus de Guzmán »erwies sich überall, in den Worten wie in den Werken, als ein Mann des Evangeliums«,<ref>Jordan von Sachsen, Libellus de principiis Ordinis Praedicatorum, 104: Monumenta Fratrum Praedicatorum Historica, Rom 1935, 16, S. 75.</ref> und er wollte, dass auch seine Brüder im Predigerorden »Männer des Evangeliums« sein sollten.<ref>Predigerorden, Erste Konstitutionen oder Consuetudines, II, XXXI.</ref> Die hl. Theresia von Jesus, die in ihren Schriften ständig auf biblische Bilder Bezug nimmt, um ihre mystische Erfahrung zu beschreiben, erinnert daran, dass Jesus selbst ihr offenbart, dass »alles Übel der Welt daher kommt, dass man die Wahrheit der Heiligen Schrift nicht deutlich kennt«.<ref>Leben 40,1.</ref> Die hl. Thérèse vom Kinde Jesu findet die Liebe als ihre persönliche Berufung, indem sie die Schriften erforscht, insbesondere die Kapitel 12 und 13 des Ersten Korintherbriefs.<ref>Vgl. Geschichte einer Seele, Ms B, 3ro.</ref> Die Heilige selbst beschreibt die Anziehungskraft der Schrift: »Sobald sich mein Blick auf das Evangelium richtet, atme ich sofort den Wohlgeruch des Lebens Jesu ein und weiß, wohin ich mich wenden soll«.<ref>Ebd., Ms C, 35vo.</ref> Jeder Heilige ist wie ein Lichtstrahl, der vom Wort Gottes ausgeht: So denken wir auch an den hl. Ignatius von Loyola in seiner Suche nach der Wahrheit und in der geistlichen Entscheidungsfindung; an den hl. Johannes Bosco in seiner Leidenschaft für die Erziehung der Jugend; an den hl. Johannes Maria Vianney in seinem Bewusstsein um die Größe des Priestertums als Gabe und Aufgabe; an den hl. Pio von Pietrelcina als Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit; an den hl. Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit; an die sel. Teresa von Kalkutta, Missionarin der Nächstenliebe Gottes für die Ärmsten der Armen, bis hin zu den Märtyrern des Nationalsozialismus und des Kommunismus, auf der einen Seite vertreten durch eine Karmelitin, die hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), und auf der anderen durch den Kardinalerzbischof von Zagreb, den sel. Alois Stepinac.

49. Die Heiligkeit in bezug auf das Wort Gottes gehört also gewissermaßen zur prophetischen Überlieferung, in der das Wort Gottes das Leben des Propheten selbst in den Dienst nimmt. In diesem Sinne stellt die Heiligkeit in der Kirche eine Hermeneutik der Schrift dar, der sich niemand entziehen kann. Der Heilige Geist, der die heiligen Autoren inspiriert hat, ist derselbe, der auch die Heiligen antreibt, das Leben für das Evangelium hinzugeben. In ihre Schule zu gehen ist ein sicherer Weg, um zu einer lebendigen und wirkkräftigen Hermeneutik des Wortes Gottes zu gelangen.

Von dieser Verbindung zwischen dem Wort Gottes und der Heiligkeit wurde uns auf der XII. Generalversammlung der Bischofssynode unmittelbar Zeugnis gegeben, als am 12. Oktober auf dem Petersplatz die Kanonisierung von vier neuen Heiligen stattfand. Es waren der Priester Gaetano Errico, der Gründer der Kongregation der Missionare von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariä; Mutter Maria Bernarda Bütler, die aus der Schweiz gebürtige Missionarin in Ecuador und in Kolumbien; Schwester Alfonsa von der Unbefleckten Empfängnis, die erste in Indien geborene kanonisierte Heilige, und die junge Ecuadorianerin Narcisa de Jesús Martillo Morán. Durch ihr Leben haben sie in der Welt und der Kirche Zeugnis abgelegt von der immerwährenden Fruchtbarkeit des Evangeliums Christi. Bitten wir den Herrn, dass durch die Fürsprache dieser Heiligen, die gerade in den Tagen der Synodenversammlung über das Wort Gottes heiliggesprochen wurden, unser Leben jener »gute Boden« sein möge, auf den der göttliche Sämann das Wort säen kann, auf dass es in uns Frucht der Heiligkeit bringe, »dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach« (Mk 4,20).

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

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